Unheilvolles Lançon - Cay Rademacher - E-Book

Unheilvolles Lançon E-Book

Cay Rademacher

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Beschreibung

Der elfte Fall für Capitaine Roger Blanc Mai in der Provence. Das idyllisch am Étang de Berre gelegene Château Richelme ist ein exklusives, vielfach ausgezeichnetes provenzalisches Weingut – auch weil die Besitzer allerneuste Technik einsetzen. Als eine Kameradrohne zur Kontrolle über die Reben fliegt, filmt sie für wenige Sekunden zufällig eine Frau, die leblos in der Garrigue liegt. Die Winzerin alarmiert Capitaine Roger Blanc, doch als er das Weingut erreicht, ist die Unbekannte spurlos verschwunden. Niemand wird vermisst gemeldet, es gibt keine brauchbaren Indizien. Aber die Menschen auf Château Richelme wecken Blancs Misstrauen: ein berühmter Winzer, der im Sterben liegt. Eine Winzerin, die das Schloss an einen zwielichtigen Makler verkaufen will. Ein zorniger Sohn, der es unbedingt behalten möchte. Ein alter Freund, der zugleich ein ewiger Rivale ist. Zwei Mitarbeiter, die um ihre Jobs fürchten. Alle haben mehr als ein Geheimnis zu verbergen. Schließlich erkennt Capitaine Blanc, dass jemand auf Château Richelme über Leichen geht, um sein Ziel zu erreichen. Und die Unbekannte wird nicht das einzige Opfer bleiben ... Mord in der Provence – Capitaine Roger Blanc ermittelt: Band 1: Mörderischer Mistral Band 2: Tödliche Camargue Band 3: Brennender Midi Band 4: Gefährliche Côte Bleue Band 5: Dunkles Arles Band 6: Verhängnisvolles Calès Band 7: Verlorenes Vernègues Band 8: Schweigendes Les Baux Band 9: Geheimnisvolle Garrigue Band 10: Stille Sainte-Victoire Band 11: Unheilvolles Lançon Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 501

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Mai in der Provence. Das idyllisch am Étang de Berre gelegene Château Richelme ist ein exklusives, vielfach ausgezeichnetes provenzalisches Weingut – auch weil die Besitzer allerneuste Technik einsetzen. Als eine Kameradrohne zur Kontrolle über die Reben fliegt, filmt sie für wenige Sekunden zufällig eine Frau, die leblos in der Garrigue liegt. Die Winzerin alarmiert Capitaine Roger Blanc, doch als er das Weingut erreicht, ist die Unbekannte spurlos verschwunden. Niemand wird vermisst gemeldet, es gibt keine brauchbaren Indizien. Aber die Menschen auf Château Richelme wecken Blancs Misstrauen: ein berühmter Winzer, der im Sterben liegt. Eine Winzerin, die das Schloss an einen zwielichtigen Makler verkaufen will. Ein zorniger Sohn, der es unbedingt behalten möchte. Ein alter Freund, der zugleich ein ewiger Rivale ist. Zwei Mitarbeiter, die um ihre Jobs fürchten. Alle haben mehr als ein Geheimnis zu verbergen. Schließlich erkennt Capitaine Blanc, dass jemand auf Château Richelme über Leichen geht, um sein Ziel zu erreichen. Und die Unbekannte wird nicht das einzige Opfer bleiben …

© in medias res

Cay Rademacher, geboren 1965, ist freier Journalist und Autor. Seine Provence-Serie umfasst elf Fälle, zuletzt ›Stille Sainte-Victoire‹ (2023). Bei DuMont erschienen auch seine Romane aus dem Hamburg der Nachkriegszeit: ›Der Trümmermörder‹ (2011), ›Der Schieber‹ (2012) und ›Der Fälscher‹ (2013). Außerdem veröffentlichte er die Kriminalromane ›Ein letzter Sommer in Méjean‹ (2019), ›Stille Nacht in der Provence‹ (2020) und ›Die Passage nach Maskat‹ (2022) sowie das Sachbuch ›Drei Tage im September‹ (2023). Cay Rademacher lebt mit seiner Familie bei Salon-de-Provence in Frankreich.

CAY RADEMACHER

UNHEILVOLLES LANÇON

Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc

Von Cay Rademacher sind bei DuMont außerdem erschienen:

Der Trümmermörder

Der Schieber

Der Fälscher

Mörderischer Mistral

Tödliche Camargue

Brennender Midi

Gefährliche Côte Bleue

Dunkles Arles

Verhängnisvolles Calès

Verlorenes Vernègues

Schweigendes Les Baux

Geheimnisvolle Garrigue

Stille Sainte-Victoire

Ein letzter Sommer in Méjean

Stille Nacht in der Provence

Die Passage nach Maskat

Drei Tage im September

E-Book 2024

© 2024 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

unter Verwendung eines Fotos von Zdenek Matyas

Photography/ Shutterstock und fhm/ gettyimages

Karte: Kartografie Angelika Solibieda, Cartomedia Karlsruhe

Satz: Angelika Kudella, Köln

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1005-6

www.dumont-buchverlag.de

Dieu n’avait fait que l’eau, mais l’homme a fait le vin.

Victor Hugo

Die Frau, die auf dem Felsen lag

Vor etwas weniger als einer Stunde hatte eine aufgeregte Zeugin bei Capitaine Roger Blanc angerufen: Auf einem Felsen in der Garrigue liegt eine leblose Frau, weniger als zehn Minuten Fahrtzeit von der Gendarmerie-Station entfernt! Blanc und Sous-Lieutenant Fabienne Souillard hatten Dienst und waren zu dem wuchtigen Gesteinsbrocken auf den verlassenen, von struppigem Buschwerk und kleinen Wäldern überwucherten Hügeln neben der Nachbarstadt Lançon gefahren, den ihnen die Zeugin beschrieben hatte. Doch als sie dort angelangt waren, gab dessen karger Gipfel keinen Hinweis auf ein Drama preis: keinen leblosen Körper, noch nicht einmal Blutstropfen, keine Patronenhülse, keine Stofffetzen, gar nichts. Blanc atmete durch und wechselte einen ratlosen Blick mit Fabienne. Sie standen auf einer Anhöhe, die wie eine archaische Burg aus dem trockenen Gebüsch ragte: Es war ein grauer, von Regen und Wind zernarbter Monolith, mindestens zwanzig Meter hoch. In seinen lotrechten Flanken taten sich etliche kleine, bizarr geformte Höhlen auf. Mit ein wenig Fantasie konnte Blanc in diesen düsteren Löchern Augenhöhlen erkennen, offene Münder, Totenschädel – riesige steinerne Fratzen, die ihn auszulachen schienen. Nur eine Seite der Anhöhe war zugänglich, dort war wohl vor Jahren schon eine steile Treppe ohne Geländer in den Fels gemeißelt worden, die bis auf ein Plateau hinaufführte, das kaum größer war als eine gewöhnliche Terrasse.

Blancs Puls rauschte in den Ohren, er war zu einem Tatort gerufen worden, zu einer leblosen Frau, Adrenalin flutete seinen Körper, die Erregung musste irgendwo hin, aber wo? Er musterte die Umgebung, langsamer diesmal, systematischer. Der Felsboden war pockennarbig, auf dem grauen Stein lagen hier und dort dünne Decken aus weißen oder gelben Flechten. Zwei vom Regen über die Äonen ausgewaschene Becken wirkten irreal symmetrisch, als hätte hier jemand einst kleine rechteckige Swimmingpools in den Boden gehauen. Eine vom Mistral buschig kurz gehaltene Feige wuchs aus einer Spalte, ihre grünen Früchte waren noch so klein wie Fingerkuppen. Rote und blass-violette Spornblumen krallten sich in Felsspalten fest, ihre winzigen Blüten glichen Sternen. In der Nacht zuvor hatte es geregnet. Das Wasser war schon wieder in den zahllosen Rissen versickert, doch die Luft roch noch brackig. Eine ungeübte Hand hatte zwei kleine Herzen in den Felsboden geritzt.

»Da lag eine Tote. Ich habe sie doch sogar gefilmt!«, sagte die Zeugin, die hinter Blanc und Fabienne auf das Plateau geklettert war. Sie deutete auf das größere und tiefere der rechteckigen Becken. »Der Körper lag da drin. Als wäre das ein Grab. Ich habe die Tote aufgenommen«, wiederholte sie, und in ihrer Stimme mischte sich Fassungslosigkeit mit Trotz. Blanc musterte sie: Die Frau war sich ihrer Sache sehr sicher.

Ein Samstagmorgen Mitte Mai, normalerweise versprach das ein paar ruhige Stunden auf der Gendarmerie-Station. Alkoholunfälle, Messerstechereien vor Clubs, Betrunkene, die auf ihre Frauen und Kinder losgingen – die ganzen Charts der hässlichen Verbrechen würden erst bei Dunkelheit gespielt und wären also ein Job für den Spätdienst.

Hatte Blanc gedacht.

Doch dann war der Notruf über die 17 gekommen. Eine atemlose Stimme, eine verrückte Geschichte: Eine Frau hatte mit ihrer Drohne mitten in der Landschaft, einige Kilometer von jeder größeren Ortschaft entfernt, eine Tote auf einem Felsen gefilmt. Blanc hatte versucht, die Anruferin zu beruhigen, während er ihre Angaben notierte: Name, Fundort, war sonst noch jemand in der Garrigue zu sehen? Nein. Fabienne hatte währenddessen die Identität der Zeugin überprüft: Alice Merlin war die Besitzerin eines angesehenen Weinguts am Ufer des Étang de Berre, an der Grenze zwischen den Gemeinden Lançon-Provence und Saint-César. Sie hatte noch nie Ärger mit Gendarmerie oder Police Nationale gehabt, hatte selbst noch nie eine Anzeige aufgegeben, war überhaupt niemals zuvor auffällig geworden.

»Wir beeilen uns besser, das ist kein Fehlalarm«, meinte Fabienne, nachdem Blanc aufgelegt hatte. »Die Story klingt vielleicht irre, aber Madame Merlin scheint nicht gerade eine Hysterikerin zu sein. Ihr gehört Château Richelme, sie ist Millionärin. Da siehst du keine Gespenster.«

»Es sei denn, sie ist selbst die beste Kundin ihres Weinguts.« Blanc nickte dann jedoch widerstrebend. »Sie klang zwar ziemlich beunruhigt, aber nicht verwirrt. Sie schien klar im Kopf zu sein.« Blanc und Fabienne stiegen in den wuchtigen Peugeot 5008 und fuhren mit Blaulicht und Sirene die etwa fünfzehn Kilometer von Gadet Richtung Garrigue. Auf der breiten Route Départementale 113 drängte Blanc, der gerne Vollgas fuhr, den Wagen durch den schon ziemlich dichten Verkehr.

Fabienne deutete auf das dunkelgraue T-Shirt, das Blanc zum ersten Mal trug. »Hat dir das jemand geschenkt, der eine Fahrt mit dir überlebt hat?«

Quer über die Brust lief ein Spruch: T’inquiètes, je gère – »Mach dir keine Sorgen, ich habe alles im Griff.«

»Das T-Shirt hat mir Astrid geschenkt«, gestand Blanc stolz. »Als sie in der Pubertät war, habe ich das jeden Tag von ihr gehört, an manchen Tagen war das überhaupt der einzige Satz, den sie für mich übrighatte. Hat mich damals wahnsinnig gemacht. Jetzt ist sie zwanzig und ich kann darüber lachen.«

»Muss toll sein, so eine Tochter zu haben«, erwiderte Fabienne und schloss die Augen. Sie schüttelte auf einmal so heftig den Kopf, als wollte sie einen Gedanken aus ihrem Hirn schütteln.

Fabienne wünschte sich Kinder. Sie hatte eine Fehlgeburt hinter sich, jetzt war sie wieder schwanger. Blanc wartete darauf, dass sie noch etwas sagte; es war noch so früh, dass er den Ansatz eines Bauches nur deshalb erahnte, weil er um ihren Zustand wusste. Doch sie schwieg, und er war klug genug, sie nicht zu drängen.

Die Route Départementale führte an einem Feld voller Mohnblumen vorbei, der leichte Wind schickte Wellen durch den roten Blütensee. Sie bogen auf eine winzige Straße ein, die sich in Serpentinen die Hügel hinaufwand. Zu beiden Seiten wuchsen Pinien, Kiefern, mediterrane Eichen, Ginster- und Wacholderbüsche. Der Wald schien das Heulen ihrer Sirene zu verschlucken; Blanc kam es so vor, als hätte jemand in einem Film, in dem er die Hauptrolle spielte, plötzlich den Ton abgedreht. Er schaltete die Sirene aus, er musste sowieso niemanden mehr überholen.

»Einsame Gegend«, murmelte Fabienne und blickte nachdenklich aus dem Seitenfenster, dann studierte sie die Navigationsapp auf ihrem iPhone. Sie gab ihm ein Zeichen, auf einem unbefestigten Parkplatz am Straßenrand zu halten. »Den Rest der Strecke müssen wir zu Fuß gehen. Es sind nur ein paar Hundert Meter.«

Sie liefen auf einem Wanderweg durch das Gestrüpp. Graues Geröll bedeckte den Boden, eckige, faustgroße Steine, die von Sonne und Regen über die Jahre aus dem Felsen gesprengt worden waren und auf denen man leicht umknicken konnte, wenn man nicht aufpasste. Eine hohe, wie ein »Y« geformte Kiefer stand einem Wächter gleich neben einem Felsen, die noch tiefstehende Sonne ließ die dunkelgrünen Blätter der niedrigen Korkeichen silbrig schimmern. Wilder Spargel wuchs im Schatten des Unterholzes, die knopfgroßen Blüten gelber Kornblumen leuchteten überall, als hätte ein achtloser Maler mit dem Pinsel Farbtropfen über die Garrigue verspritzt.

Blanc wunderte sich immer wieder über das zähe Buschwerk, das auf diesem trockenen, steinigen Untergrund gedieh. Eine Dornenranke umschlang plötzlich seinen rechten Fuß, er löste sie vorsichtig von seinem Turnschuh. Er trug alte Jeans und eine noch ältere Baseballcap der New York Yankees zum T-Shirt seiner Tochter, alles luftig und robust genug, um durch die Garrigue zu streifen. Allerdings stand die Luft zwischen den Hügeln schon heiß wie in einem Ofen, bereits gegen zehn Uhr morgens hörten die Vögel auf zu singen, weil sie Kraft für die langen Mittagsstunden sparen wollten. Er hatte in der Eile des Aufbruchs nicht an eine Wasserflasche gedacht. Eh merde, wenn sie eine Tote fanden, würden sie Stunden hier ausharren müssen.

Fabienne stieß ihn an und deutete mit der Hand nach rechts. »Sieh mal.«

Die Garrigue war hügelig, als wären die Wellen des Ozeans hier versteinert. Es war anstrengend, hinauf- und hinunterzulaufen, aber die meisten Abhänge waren nicht sehr steil. Blanc konnte Hunderte Meter weit blicken. Wenige Wege leuchteten nach einer für ihn unerklärlichen Ordnung mal hier, mal dort als blassgelbe Linien im Gestrüpp. Und auf einer dieser Linien stieg eine Staubfahne hoch; Blanc meinte auch, ein fernes Knattern zu hören, bevor es verklang.

»Das war ein Motorrad«, sagte Fabienne. »Eine leichte Maschine oder ein Motorroller oder so etwas.« Sie fuhr eine schwere Ducati und machte sich nie die Mühe, während eines langen Tages ihre ledernen Motorradstiefel gegen bequemere Schuhe zu tauschen. Sie kannte sich mit Zweirädern tausendmal besser aus als Blanc. »Das ist vielleicht einer von den Verrückten, die mit ihren Enduros durch die Landschaft brettern.«

»Vielleicht«, erwiderte Blanc, womit er sowohl Zustimmung als auch Skepsis andeuten wollte. Fast jedes Wochenende beschwerten sich Wanderer oder Jäger über die Fahrer von Geländemaschinen, die auf den Hügeln oder in den Wäldern Moto-Cross-Rennen veranstalteten. Die meisten waren Jugendliche, einige gar noch halbe Kinder aus den schwierigen Stadtvierteln von Miramas oder Vitrolles, stets hatten sie die Nummernschilder ihrer kleinen, aber mordsmäßig laut frisierten Maschinen abmontiert, und selbstverständlich war das alles illegal. Und eben weil es verboten war und sie andauernd jemand anzeigen wollte, rasten sie normalerweise erst spätnachmittags oder abends herum, wenn die meisten Naturfreunde bereits beim Apéritif saßen. Aber gegen zehn Uhr morgens? Blanc fragte sich, ob es ein Zufall war, dass man sie wegen einer Toten verständigt hatte und sie diesen Motorradfahrer nun davonfahren sahen. Selbstverständlich nützte es nichts, jetzt noch die Kollegen in Gadet zu alarmieren, um den Unbekannten zu stellen. Vom Fahrer blieb allein die Staubwolke, die sich im hitzeträgen Wind nur langsam auflöste. Wer weiß, wohin das Motorrad verschwunden war. Sie gingen weiter, Fabienne checkte die Navigations-App. Sie mussten gleich da sein.

Tatsächlich saß Alice Merlin ein Stück weit vor dem Felsen, den sie beschrieben hatte, auf dem Boden im Schatten eines Feigenbaums. Sie erhob sich, als sie Blanc und Fabienne erblickte, und reichte ihnen die Hand. »Ich wollte dort nicht allein hinaufgehen«, erklärte sie und deutete auf die schroffe Anhöhe. Ihre Stimme klang gepresst, wahrscheinlich vor Aufregung, dachte Blanc. Sie kletterten die halsbrecherische Treppe hinauf. Es war, wie Blanc auf halber Höhe erkannte, der letzte große Felsen der Garrigue, dahinter senkte sich die Landschaft sanft Richtung Étang de Berre hin ab. Die ersten vielleicht hundert Meter waren auch noch mit Buschwerk bedeckt, aus dem hier und dort kleinere Steinbrocken ragten. Über das untere Ende des Hangs erstreckten sich dann jedoch zunächst lange Olivenhaine. Die Bäume standen Reihe um Reihe, Blanc musste unwillkürlich an ein Bild aus einem Geschichtsbuch seiner Schulzeit denken, das ihn als Jungen fasziniert hatte: die Phalanx Alexanders des Großen. Dichte Kampfformationen von Soldaten, schier unbezwingbar wirkend. Genauso kamen ihm die Olivenbäume vor, als würden sie sich zur Schlacht aufstellen gegen einen unsichtbaren Feind, der jeden Augenblick von oben aus der Garrigue brechen könnte. Absurd. In der weiten, bis zum Ufer des Étang de Berre reichenden Senke hinter den Olivenbäumen wuchsen fast überall Weinstöcke, ein hellgrünes Blättermeer, die Wege zwischen den Reben glichen schwarzen Furchen. Undeutlich erkannte er zu seiner Rechten, vielleicht zwei oder drei Kilometer entfernt, den runden Turm und die ockerroten Dächer von Château Richelme, das Schloss war eine Insel im Rebenmeer. Über allem waberte bläulicher Dunst, den die Hitze aus dem riesigen Étang de Berre brannte. Ein Bussard umkreiste den Felsen, den sie gerade hinaufstiegen, drehte dann jedoch ab und verschwand plötzlich aus dem diesigen Himmel, als hätte ihn die Luft verschluckt.

Die Gegend wirkte einsam und wild, doch das war eine Täuschung. Château Richelme, in dem Einheimische und Touristen von morgens bis abends an sieben Tagen in der Woche Wein kaufen konnten, lag an der Route Départementale 10. Die Städte Lançon und Saint-César waren wenige Kilometer entfernt, und selbst der Tower und die ins Wasser des Étang hineingebaute Startbahn des Flughafens Marseille-Provence waren am flirrenden Horizont zu erkennen. Sogar der Felsen, den er endlich mit hämmerndem Puls erklommen hatte, konnte nicht immer so einsam sein wie an diesem Morgen. Nahe an den lotrechten Wänden waren mehrere massive Edelstahlringe in den Boden gedübelt worden.

»Der Felsen ist ein sehr beliebtes Ziel für Kletterer. Manche seilen sich an, die Freeclimber probieren es so«, erklärte Fabienne, die Blancs Blick gefolgt war. Sie hatte sich, wie es ihre Angewohnheit war, während der Fahrt online über den Tatort informiert – falls es denn ein Tatort war.

»Der Felsen befindet sich auf unserem Land und ist also eigentlich Privatbesitz, aber wir erlauben die Kletterei. Wenn wir es verbieten würden, würden die Leute trotzdem kommen, und dann gäbe es Unfälle«, ergänzte Alice Merlin. »Genauer gesagt: noch mehr Unfälle, als sie hier sowieso schon passieren. Der Felsen ist wirklich steil. Außerdem unterschätzen manche Kletterer, wie windig es hier werden kann, vor allem bei Mistral.«

Blanc musterte die Zeugin kurz: Mitte vierzig, sportlich, schlank, lange hellblonde Haare, graue, leicht mandelförmige Augen. Sie war einerseits so gekleidet, als könnte sie stundenlang zwischen ihren Weinstöcken arbeiten: Trekkingschuhe, Jeans, weißes T-Shirt. Andererseits hatte sie einen blauen Seidenschal von Hermès um ihren Hals geschlungen, trug eine Sonnenbrille von Gucci und war dezent geschminkt. Ihm war nicht entgangen, dass Fabienne, die Frauen liebte, Alice Merlin durchaus attraktiv fand. Er würde die Befragung übernehmen müssen.

Falls es denn notwendig war.

Alice Merlin wirkte verwirrt. Irgendwie merkte man ihr an, dass sie eine Person war, die selten von diesem Zustand gequält wurde. »Ich habe die Frau gesehen«, wiederholte sie nun schon zum dritten Mal.

»Hier kann ein Mensch nicht einfach verschwinden, während Sie vor dem Felsen auf uns gewartet haben, Madame«, erwiderte Blanc höflich. »Die Treppe ist der einzige Weg hinauf, und Sie haben vor den Stufen gestanden. Sie hätten es bemerkt, wenn die Frau hinuntergekommen wäre.«

Die Zeugin seufzte. »Bitte verzeihen Sie mir. Ich muss präziser sein, aber so etwas erlebt man ja nicht jeden Tag.« Sie atmete tief durch. »Ich war unten im Schloss«, sie deutete vage Richtung Château Richelme, »und habe die Drohne gesteuert. Sie nimmt die Landschaft auf, über die sie fliegt. Und auf dem Monitor habe ich plötzlich eine Frau gesehen, genau hier.« Sie deutete auf das größere der beiden Becken.

»Sie haben die Frau mit einer Drohne gefilmt?«, vergewisserte sich Blanc erstaunt.

»Ja«, erwiderte Alice Merlin knapp und mit einer winzigen Perle Ungeduld in der Stimme, so als sei das vollkommen normal für eine Winzerin, über die Garrigue zu fliegen und zu filmen. »Zuerst habe ich gedacht, das ist eine Kletterin, die sich vom Aufstieg erholt, oder eine Wanderin, was weiß ich. Doch diese … diese Person lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht auf dem Felsboden. Mit dem Gesicht auf dem bloßen Stein, so ruht sich doch niemand aus bei der Hitze! Und außerdem trug die Frau, eh bien, unpassende Kleidung für die Garrigue. Irgendwie einen weiten Rock, eine weite Bluse, so etwas trägt man, ich weiß nicht, eher in der Stadt als in der Natur. Und um den Kopf hatte sie vielleicht ein Tuch geschlungen, jedenfalls konnte ich auf den Drohnenaufnahmen bloß die verwaschenen Farben von altem Stoff erkennen.«

»Aber Sie wussten trotzdem sofort, dass es sich um eine Frau handelte?«, hakte Blanc nach.

»Ohne Zweifel. Und sie hat sich nicht bewegt. Also habe ich die Gendarmerie verständigt. Und dann habe ich mich selbst auf den Weg gemacht, um nachzusehen. Aber ich bin nur ein paar Minuten vor Ihnen beim Felsen angekommen. Ich kann mir das alles nicht erklären.«

»Sind Sie während des Aufstiegs von Château Richelme bis zum Felsen jemandem begegnet, Madame?«, fragte Fabienne. Alice Merlin schüttelte bloß den Kopf.

Eine einzige kleine weiße Wolke schwebte am Himmel, ein Schaf, das der Hütehund vergessen hatte. Wind trug das Grummeln eines Automotors zu ihnen hinauf, obwohl die nächstgelegene Kurve der Route Départementale sicherlich mindestens einen Kilometer entfernt war. Der Lärm brachte Blanc auf eine Idee.

»Haben Sie ein Motorrad gesehen? Oder Motorenlärm gehört?«, wollte er wissen.

Alice Merlin blickte ihn etwas unsicher an. »Vielleicht. Ich erinnere mich nicht genau. Ich habe jedenfalls nicht darauf geachtet. Ich wollte so schnell wie möglich zum Felsen.«

»Fahren Sie selbst Motorrad? Oder jemand, der auf dem Schloss wohnt oder zu tun hat?«

Sie nickte zerstreut, offenbar war ihr das nicht sonderlich wichtig. »Mein Mann, früher zumindest, jetzt nicht mehr.« Sie schien einen Moment lang an etwas ganz anderes zu denken, dann nahm sie sich zusammen. »Mein Sohn fährt ebenfalls Motorrad, seit er sechzehn ist. Unser Vorarbeiter hat eins, glaube ich, auch wenn er meistens mit einem alten Auto zu uns kommt. Und manchmal rasen leider Moto-Cross-Fahrer herum. Wir haben schon mehrmals welche aus den Weinstöcken vertreiben müssen, die haben vor nichts mehr Respekt.«

Blanc blickte wieder über die weite Landschaft und stellte sich ein winziges Fluggerät über Weinreben, Olivenhainen, Ginstersträuchern und Disteln vor. Künstliches Insekt, Spionageauge, Waffe. Merde, das war nicht die Ukraine, warum sollte man hier mit so einem Gerät herumfliegen? »Wo ist Ihre Drohne?«

»Unten beim Schloss. Sie ist so programmiert, dass sie automatisch zu ihrer Basis zurückkehrt, sobald ihre Batterien schwach werden. Damit sie nicht irgendwo abstürzt. Deshalb konnte ich auch nur eine einzige Schleife über den Felsen fliegen und habe dabei zufällig den Körper entdeckt. Die Drohne hatte aber schon nicht mehr ausreichend Energie für eine zweite Runde.«

Blanc sah sie aufmerksam an. »Madame Merlin, wieso steuern Sie eine Drohne über diese Wildnis? Suchen Sie etwas? Überwachen Sie jemanden? Jagen Sie damit Moto-Cross-Fahrer?«

»Nein, nein, mon Dieu! Die Drohne ist für den Wein.«

»Den Wein?« Blanc blickte auf die endlosen Reihen der Reben und dachte, dass er sie vom Felsen aus gewissermaßen auch aus Drohnenperspektive sah. Grüne Blätter, dunkle Furchen, was gab es da zu filmen?

»Mein Mann Francis und ich waren die ersten Winzer in der Region, die Drohnen eingesetzt haben. Inzwischen machen das aber viele«, erklärte Alice Merlin und zuckte mit den Achseln. Für sie war eine Drohne offenbar ein ebenso alltägliches Arbeitsgerät wie ein Trecker für einen Bauern. »Wir müssen das ganze Jahr auf unsere Reben achten. Im Winter auf die nackten Rebstöcke, jetzt auf die Blätter, im Spätsommer auf die Trauben. Der Weinstock darf nie zu trocken sein – und wir müssen Schädlinge bekämpfen. Wie die Flavescence Dorée.«

»Goldgelbe Vergilbung«, das klang gar nicht so schrecklich, aber Blanc meinte sich zu erinnern, dass er davon schon einmal in der Zeitung gelesen hatte, weil es eine Katastrophe für Winzer war. »Die Drohne sprüht Schutzmittel?«, riet er.

Alice Merlin sah ihn einen Moment lang ungläubig an, dann lachte sie auf. Sehr hell und so jugendlich, dass es nicht einmal unhöflich wirkte. »Sie dürfen sich nicht so ein großes Gerät wie aus dem Krieg vorstellen, mon Capitaine. Unsere Drohnen sind klein, die können eine Kamera tragen, aber keinen Tank mit Chemikalien. Auf unserem Gut versprühen wir übrigens auch sonst kaum Gift, auch nicht vom Boden aus. Die Flavescence Dorée ist ein Bakterium, das von der Amerikanischen Rebzikade übertragen wird, die ursprünglich aus der Region der Großen Seen stammt. Seit achtzig Jahren ist sie auch in Frankreich, bei uns in der Provence ist sie vor allem in den letzten zehn Jahren zur Plage geworden. Das Insekt saugt am Fuß des Weinstocks den Saft und infiziert dabei die Pflanze. Aber erst bis zu fünf Jahre später sehen wir die Symptome. Die Blätter vergilben, manche färben sich golden, daher der Name. Der Weinstock verkrüppelt, die Beeren schrumpfen, die Trauben werden bitter, man kann nichts machen, außer den befallenen Weinstock auszureißen und zu verbrennen. Dann muss man die benachbarten Stöcke beobachten. Sind die auch schon angesteckt …« Sie seufzte. »Deshalb ist es so wichtig, die goldene Verfärbung der Blätter so früh wie möglich zu erkennen, bevor sich die Krankheit ausbreiten kann. Dann müssen wir nur einen Weinstock vernichten, die anderen aber können wir retten.« Sie deutete auf die langen grünen Reihen weit unter ihnen. »Doch wir können unmöglich jeden Tat Dutzende Arbeiter durch die Weinstöcke schicken. Das wäre viel zu langsam. Und viel zu teuer.«

»Drohnen sind billiger«, folgerte Fabienne und lächelte anerkennend. Sie mochte auch Hightech.

»Ja, nur zwanzig Euro für jeden zwanzigminütigen Einsatz, dann müssen die Akkus geladen oder gewechselt werden. Wir mieten die Drohnen. In zwanzig Minuten schafft eine Drohne etwa zehn Hektar. Nur ein paar Flugstunden, und Sie haben das ganze Weingut erfasst. Der Apparat fliegt dicht über den Weinstöcken und nimmt mit einer Spezialkamera kontinuierlich die Blätter auf. Die Bilder werden an einen Computer in meinem Büro gesendet. Eine spezielle Software analysiert den Rotanteil der Blätter, den man mit dem bloßen Auge gar nicht wahrnimmt. Überschreitet der einen gewissen Grenzwert, wissen wir, dass diese Pflanze befallen ist – noch bevor die goldene Verfärbung erscheint. Wir können den kranken Weinstock entfernen, ehe er andere infiziert. Das ist Hightech, ganz ohne Chemie. Das ist die Zukunft.«

Es war für Blanc schwer zu entscheiden, ob Fabienne mehr von den technischen Details beeindruckt war oder doch eher von der Frau, die die Details vortrug. Jedenfalls nickte sie so begeistert, als spielte sie mit dem Gedanken, sich selbst so eine Drohne zu kaufen.

Blanc war weniger enthusiastisch. »Die Weinreben sind da unten«, er deutete ins Tal. »Die Frau, die Sie gesehen haben wollen, lag hier oben.« Er deutete auf das Becken im Felsen. »Was immer diese Person gehabt haben mag, ganz sicher war es nicht die Flavescence Dorée. Warum haben Sie die Drohne bis hier oben gelenkt, wenn jede Minute in der Luft Sie einen Euro kostet?«

»Es war der letzte Kontrollflug, ich hatte alle Hektar gecheckt. Die Drohne hatte den äußersten, der Garrigue am nächsten gelegenen Rand der Weinstöcke erreicht, der nur etwa eintausend Meter von uns entfernt ist. Der Batteriestand war ziemlich niedrig, aber eben noch nicht ganz im roten Bereich. Die Drohne schafft fünf Meter pro Sekunde, sie war also in nur zwanzig Sekunden über dem Felsen. Ich dachte mir, ich riskiere deshalb diesen Abstecher. Zum einen wollte ich nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Manchmal entzünden Kletterer Lagerfeuer in den Becken oder lassen ihren Müll zurück. Zum anderen, eh bien, wenn Sie ein paar Stunden lang auf Weinstöcke gestarrt haben, dann ist dieser Ausblick wie eine Wohltat für die Augen. Zumindest, wenn man keine Tote sieht«, setzte Alice Merlin betrübt hinzu.

»Wir haben die Tote noch nicht gesehen«, erinnerte Blanc sie. »Wenn die Drohnenaufnahmen auf dem Computer gespeichert sind, dann müsste darauf ein Körper zu erkennen sein.«

Die Winzerin nickte. »Gehen wir ins Schloss. Vielleicht glauben Sie mir dann.«

»Ich glaube Ihnen«, versicherte Fabienne. »Und mein Capitaine glaubt sowieso nichts, was er nicht mit eigenen Augen gesehen hat, machen Sie sich nichts draus.«

Alice Merlin führte sie die Treppe hinunter und dann auf einen Weg hangabwärts durch die Garrigue. Ein winziger Schatten huschte über einen Stein und verschwand in einer Spalte, so schnell, dass Blanc nicht erkennen konnte, was es war, vermutlich eine Eidechse. Er blickte zurück: Aus dieser Perspektive sah der Felsen auf einmal aus wie der Sphinx. Die anderen Brocken, die aus dem Buschwerk ragten, erinnerten ihn auch an etwas, das er vor langer Zeit gesehen hatte, aber er kam nicht darauf, was es war. Erst nach vielleicht zehn Minuten, sie waren schweigend gewandert und hatten schon beinahe das Schloss erreicht, erinnerte er sich wieder: Moais. Die steinernen Köpfe der Osterinsel. Sein Vater hatte GEO abonniert, und Blanc war noch zu jung gewesen, um den Artikel zu lesen. Doch er hatte stundenlang die Fotos der magischen Köpfe auf der Pazifikinsel betrachtet. Mit Geneviève hatte er dorthin fliegen wollen. Zuerst hatten sie an ihre Hochzeitsreise gedacht, aber sie hatten nicht genug Geld für den Flug gehabt. Und später war dieser Traum, wie so viele Träume ihrer Ehe, von der Routine zerrieben worden. Sphinx, Moais … Vielleicht dachte er deshalb an solche verrückten Sachen, weil Mai war und er damit seit bald einem Jahr in der Provence Dienst tat. Ein Jahr ohne richtigen Urlaub. Er sollte verreisen. Mit Paulette. Er sollte es nicht schon wieder vermasseln.

»Pardon?« Blanc räusperte sich. Alice Merlin hatte etwas gesagt, doch er hatte nicht zugehört.

»Wir vermieten Gästezimmer im Schloss. Und wir wohnen selbstverständlich auch da.«

Château Richelme war, vermutete Blanc, im 19.Jahrhundert erbaut worden, offenbar von jemandem, der eine Art Loire-Schloss in der Provence haben wollte, aber doch irgendwie anders: ein kleiner Palast, gelb verputzt, gepflegt, eine Platanenreihe schützte die südliche Fassade vor der Sonne. Doch an diese Residenz war ein Glockenturm gebaut worden, schlank, hoch, mit einem geschwungenen Dachfirst, wie er die Kirchtürme in den Dörfern der Haute Provence zierte. Das verlieh dem prachtvollen Gebäude eine religiöse Aura. Blanc fragte sich flüchtig, ob dieser Effekt vom einstigen Bauherren gewollt oder bloß das Resultat davon war, dass jemand unbekümmert alte Architekturformen für ein Traumhaus gemischt hatte.

»Die Büros befinden sich im Stockwerk über dem Laden«, fuhr die Winzerin fort.

Sie deutete auf ein ehemaliges Wirtschaftsgebäude einige Hundert Meter neben dem Schloss, nahe an der Route Départementale 10. Es war ebenfalls gelb verputzt, groß wie ein Flugzeughangar, wirkte aber trotzdem auch herrschaftlich. Eine schmiedeeiserne Pergola, auf der, selbstverständlich, wilder Wein rankte, beschattete den Eingang. Neben der Tür standen eine alte Weinpresse, ein riesiger, rosafarben blühender Oleander – und eine kleine schwarze Drohne. Das Fluggerät war tatsächlich, schätzte Blanc, kaum mehr als einen Meter lang und genauso breit. Es wirkte wie eine Spinne, aus deren Beinen acht kleine Rotoren herauswuchsen. Die Rotoren bewegten sich leicht im Wind. Die Drohne stand auf einer Art hölzernem Podest. Jemand hatte ihren Akku herausgenommen. Er steckte in einem Ladegerät daneben, dessen Kontrollleuchte rot blinkte.

»Das ist Ihr Augenzeuge, mon Capitaine«, sagte Alice Merlin. »Die Aufnahmen sehen wir uns drinnen an.«

Sie betraten den Laden, in dem weiß lackierte Säulen die hölzerne Decke trugen. Auf den Regalen, die aus alten Transportkisten gezimmert waren, standen neben Wein und Olivenöl auch bunte Keramikteller und Pyramiden aus Seifenblöcken. Blanc atmete tief ein. Ein Duft nach Wein und Seife lag in der Luft, ein Duft, der rief: »Kauf mich!« Tatsächlich stellten gerade zwei Paare, Blanc vermutete, dass es Touristen waren, Wein- und Olivenölflaschen in ihre Einkaufswagen. Sie wurden von einer jungen Frau beraten, deren weiße Bluse ein Wappen und der Aufdruck Château Richelme zierten. Die Frau grüßte Alice Merlin höflich und, wie Blanc fand, mit einem ganz leichten Anflug von Angst. Als fürchtete sie eine Kontrolle oder Zurechtweisung. Strenge Chefin, dachte er.

Die Winzerin erwiderte den Gruß mit einem knappen Kopfnicken und deutete auf eine steinerne Wendeltreppe hinter einer Pforte an der Rückseite des Ladens. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Im Obergeschoss gelangten sie in einen hellen Raum, in dem einige Ledersessel standen, auf einem niedrigen Tisch lagen Zeitschriften und Bildbände über Weine der Provence. Ein Mann sprang auf, als er sie sah. Er war etwa sechzig Jahre alt und schlank, hatte Haare, von denen Blanc nicht entscheiden mochte, ob sie nun extrem hellblond oder doch schon weiß waren. Er trug ein rosafarbenes Hemd mit einem schilfgrünen Einstecktuch. Seine Hose hatte dieselbe Farbe wie das Tuch, seine Segeltuchschuhe waren weiß, mit einem rosafarbenen Zierstreifen. In den Händen hielt er einen Strohhut und wirkte wie jemand, der sehr reich war und sich sehr entspannt geben wollte. Doch neben dem Sessel, auf dem er gesessen hatte, stand ein schmaler Aktenkoffer aus Aluminium, weshalb Blanc vermutete, dass dieser Mann kein Tourist war.

»Ich habe keine Zeit, Mister Lloyd«, sagte Alice Merlin, bevor der Mann auch nur den Mund aufgemacht hatte. »Wenn Sie sich bitte noch etwas gedulden wollen. Ich habe einen …«, sie zögerte, »Geschäftstermin«, vollendete sie nicht sehr überzeugend.

Blanc und Fabienne bedachten den Mann mit einem unverbindlichen Lächeln und sagten nichts. Während er seiner Gastgeberin in den nächsten Raum folgte, wurden Blanc zwei Dinge klar: Alice Merlin wollte nicht, dass jemand wusste, dass Gendarmen bei ihr waren. Und sie kannte diesen Mister Lloyd offenbar ganz gut, aber er würde kein Geld darauf wetten, dass sie ihn auch mochte.

Ihr Büro war überraschend modern, Stahl, Glas, Leder, weiß lackiertes Holz, es hätte auch irgendwo in Paris sein können, wenn nicht das große Fenster einen Blick auf die Weinberge gestattet hätte. Oben am Hang erkannte er den Felsen, auf dem er noch vor Kurzem gestanden hatte.

»Bitte setzen Sie sich doch.« Die Winzerin wies auf zwei Marcel-Breuer-Stühle, elegante Designerstücke, die so fragil wirkten, dass Blanc sich fragte, ob Alice Merlin jemals übergewichtige Gäste empfing. Sie hatte bereits einen Monitor von der Größe eines Heimkinobildschirms auf ihrem Schreibtisch eingeschaltet und drehte ihn so, dass Fabienne und er das Bild gemeinsam mit ihr studieren konnten.

Im ersten Moment dachte er an ein abstraktes Kunstwerk, dann erkannte er Reihen von Weinstöcken, die von oben nach unten über den Monitor liefen. Nur waren die Blätter, die er eben noch vom Felsen aus sattgrün leuchten gesehen hatte, nun stumpf und braunrot verfärbt. Und wie ein Phantombild schimmerte unterhalb der Weinstöcke eine Landkarte durch.

»Eine Falschfarbenaufnahme, die von der Drohne in etwa zehn Meter Höhe gemacht wurde«, erklärte Alice Merlin. »Wir legen das Foto über eine digitale Landkarte, die wir zuvor erstellt haben. So können wir jeden Weinstock auf den Zentimeter genau lokalisieren, damit wir, falls einer infiziert ist, problemlos den richtigen finden und vernichten.«

Sie tippte auf der Computertastatur. Die Weinstöcke leuchteten nun wieder grün, die geisterhafte Landkarte verschwand. Dann setzte sich alles in Bewegung. Blanc erkannte, dass sie bloß ein Standfoto aus einem Film gesehen hatten, den ihre Gastgeberin jetzt wieder anlaufen ließ. Die Drohne flog noch zwei, drei Sekunden weiter über Weinreben, dann schien sie einige Meter höher zu steigen. Nun überquerte sie einen Olivenhain. Die Kronen wirkten wie kleine Pilze, jeder Baum zeichnete einen Schatten auf den geharkten Boden, die Morgensonne musste zum Zeitpunkt der Aufnahmen noch ziemlich tief gestanden haben. Anders als bei den endlosen, gleichförmigen Weinstöcken hatte er dank der weiter auseinanderstehenden und höheren Bäume nun auch einen Maßstab, um die Geschwindigkeit der Drohne einzuschätzen: so schnell wie ein Fahrradfahrer, vermutete er. Sie raste nicht, aber trotzdem war jedes Detail nur wenige Sekunden lang auf dem Monitor zu sehen. Jetzt kam die Garrigue ins Bild. Die Drohne stieg noch etwas höher, flog eine Kurve. Ein Schatten bewegte sich im Gebüsch, vielleicht ein Hase oder Fuchs. Die Drohne flog höher und höher – und plötzlich erschien der Felsen auf dem Monitor, zuerst klein, dann rasch größer werdend. Der Apparat hatte inzwischen so viel an Höhe gewonnen, dass er sich von oben auf das kleine Plateau hinabsenkte. Die Drohne flog eine Schleife, vielleicht acht oder zehn Meter über dem Boden und … Alice Merlin tippte so heftig auf die Tastatur, dass es sich wie ein kleiner Schlag anhörte.

Das Bild fror ein. Man sah das größere der beiden Steinbecken am oberen rechten Rand. Die Drohnenkamera hatte bei diesem Flugmanöver auch zum Teil die niedrig stehende Sonne erfasst, die Aufnahme war deshalb überbelichtet und wirkte, als wären Farben und Formen in Licht aufgelöst.

»Da.« Die Winzerin zeigte mit dem Finger auf das Steinbecken.

Fabienne und Blanc beugten sich näher zum Monitor. Eine Frau, ohne Zweifel. Sie lag auf dem Boden des Beckens und damit halb im Schatten, den der über ihr aufragende steinerne Rand warf. Sie schien tatsächlich einen weiten blauen Rock und ein rotes Oberteil zu tragen. Die Farben wirkten verwaschen, doch das mochte an der Überbelichtung liegen. Ihr Hinterkopf wurde von einem Kopftuch verhüllt oder möglicherweise einem Handtuch, das sie sich um die Haare gewickelt hatte, auch das war schwer zu entscheiden. Ihre Züge sah man nicht, denn sie lag mit dem Gesicht auf dem Felsboden. Die Arme lagen eng am Körper, die Handflächen wiesen nach oben.

»Sie hat nichts in der Hand«, murmelte Fabienne. Sie musterte die Aufnahme. »Und in der Nähe des Körpers liegt auch nichts, kein Rucksack, keine Tasche, kein Seil. Sie ist keine Kletterin, die sich nach dem anstrengenden Aufstieg erholt.«

»Vielleicht eine Freeclimberin«, meinte Blanc.

»Die einen Rock trägt?«

Blanc hätte gern ihre Schuhe gesehen, doch ihre Füße lagen im Schatten. »Können Sie bitte die Falschfarben einschalten?«

Alice Merlin bearbeitete schweigend die Tastatur, und das Bild verwandelte sich in eine monochrome braunrote Aufnahme. So wirkte es wie ein sepiagetöntes Foto, das vor hundert Jahren aufgenommen worden war, was vielleicht besser zu einer Frau passte, die einen langen Rock und Kopftuch trug, ihnen aber keine neuen Erkenntnisse brachte. Blanc hatte gehofft, dass durch diesen magischen Trick Blut oder was auch immer sichtbar werden würde, doch außer den Farben hatte sich nichts geändert. Alice Merlin schaltete wieder in den normalen Modus.

»Können Sie den Ausschnitt bitte heranzoomen?«, fragte Fabienne.

Die Frau im Steinbecken wurde größer und größer, dabei verschwammen die Konturen immer mehr, weil mit jeder Vergrößerung das Bild pixeliger wurde. Blanc verglich die Handgröße der Unbekannten mit einer blühenden Spornblume, die neben dem Körper aus einer Spalte wuchs. Ein erwachsener Leib, vermutete er, nicht der eines Kindes. Aber ob die Frau achtzehn oder achtzig war, selbst das konnte er nicht einschätzen. Die Handinnenflächen schienen nicht sehr faltig zu sein, doch das mochte auch eine durch das Licht und die schlechte Bildqualität hervorgerufene Illusion sein.

»Wäre die Batterie noch voller gewesen, hätte ich die Drohne tiefer gehen und genau über dem Becken in der Luft stehen lassen können, um schärfere Aufnahmen zu bekommen«, entschuldigte sich Alice Merlin. »Aber das Gerät ist leider so programmiert, dass der Pilot nicht mehr eingreifen kann, sobald es den automatischen Rückflug einleitet.«

»Es war richtig, dass Sie uns gerufen haben, Madame«, versicherte Blanc. »Die Frau wirkt wahrhaftig nicht so, als würde sie gerade ein Nickerchen machen. Und auch ihre Kleidung ist, eh bien, ungewöhnlich. Man fragt sich schon, was sie in dieser Aufmachung da zu suchen hatte.«

»Falls sie überhaupt freiwillig auf diesem Felsen war«, ergänzte Fabienne.

Sie ließen Alice Merlin die Filmaufnahmen davor und die wenigen Sekunden des Rückflugs in langsamer Geschwindigkeit abspielen und starrten gebannt auf den Monitor. Doch auf keiner Aufnahme war eine zweite Person zu erkennen oder überhaupt irgendetwas Ungewöhnliches.

»Das ist gespenstisch. Da ist tatsächlich niemand«, murmelte Fabienne.

»Es gab mindestens den Motorradfahrer«, erinnerte Blanc sie. »Die Drohne nimmt bloß einen kleinen Ausschnitt auf, sie soll ja kein Landschaftspanorama filmen.« Er versuchte sich den Flug im Geiste vorzustellen. »Der Apparat bewegt sich zehn oder zwanzig Meter über dem Boden. Er hat acht Motoren. Das Sirren der Propeller müsste man also hören, oder nicht?« Er blickte ihre Gastgeberin an.

Alice Merlin nickte. »Selbstverständlich. Man hört die Drohne auf mehr als dreißig Meter Entfernung.«

Blanc nickte. »Und die Vögel haben morgens bereits nicht mehr gezwitschert, weil es so heiß ist. Der Wind ist nur schwach, zu schwach jedenfalls, um in Wipfeln oder Buschwerk zu rauschen. In der Garrigue ist es also unheimlich still. Alors: Sollte da oben jemand gewesen sein, dann hätte er die Drohne rechtzeitig gehört und gesehen, um sich vor ihrer Kamera zu verstecken. Dass wir niemanden auf den Aufnahmen entdeckt haben, ist deshalb noch lange kein Beweis dafür, dass da oben auch wirklich niemand war.«

»Was machen wir jetzt?«, wollte Fabienne wissen.

»Madame, würden Sie uns bitte eine Kopie der Filmaufnahmen auf einen USB-Stick ziehen? Vielleicht können die Kriminaltechniker noch etwas mehr erkennen als wir.« Dann wandte er sich an Fabienne. »Wir gehen auf der Gendarmerie-Station die Vermisstenanzeigen durch. Ich kann mich zwar an keine Meldung erinnern, die in den letzten Tagen eingegangen wäre, aber wir sollten das besser noch einmal überprüfen.«

»Wir sollten uns nicht nur die Meldungen aus der Region vornehmen, sondern aus ganz Frankreich. Vielleicht hat irgendwo jemand eine Frau als vermisst gemeldet, die einen irgendwie altmodisch, ja beinahe schon folkloristisch wirkenden weiten Rock und eine Art von Kopftuch trug, als sie verschwand. Diese Kleidung ist ja schon ungewöhnlich.«

Blanc blickte Alice Merlin an. »Bitte erzählen Sie uns etwas mehr über Château Richelme.«

»Warum?«, fragte sie erstaunt. »Der Felsen steht zwar auf unserem Land, aber er hat doch nichts mit unserem Wein zu tun. Da klettern jeden Tag Fremde herum.«

Blanc wunderte sich, dass die Winzerin nicht gern über ihr Weingut reden wollte, ließ sich aber nichts anmerken. »Reine Routine«, versicherte er. »Wir möchten uns nur ein Bild der Lage machen.«

»Nun gut«, antwortete sie, »Château Richelme ist kein besonders großes Gut: 180Hektar Weinstöcke, beinahe noch mal so viele Hektar Olivenbäume. In guten Jahren schaffen wir 120000 Hektoliter Wein – Rosé, Rot, Weiß und Schaumwein, wir haben alles. Außerdem produzieren wir etwa 100000Liter Olivenöl. In schlechten Jahren, und das bedeutet: in besonders trockenen Jahren, schaffen wir von beidem ein Drittel weniger.«

»Letztes Jahr war sehr trocken«, bemerkte Blanc.

»Aber dieses Jahr werden wir eine gute Ernte einfahren«, versicherte Alice Merlin rasch, für sein Gefühl etwas zu rasch. »Wir beginnen mit der Lese Mitte August, meistens sind wir die ersten in der Region. Das liegt an der Nähe zum Étang de Berre, der hält die Luft feucht und verhindert im Winter Frost. Bei uns reifen die Trauben früh: Muscat, Sauvignon, Chardonnay.«

»Wie viele Leute arbeiten hier?«, fragte Fabienne.

Die Winzerin wog nachdenklich den Kopf. »Es ist schwer, das exakt zu sagen. Einige junge Frauen arbeiten das ganze Jahr über im Laden; zur Sommersaison, wenn die meisten Touristen kommen, stellen wir noch Aushilfskräfte zusätzlich ein. Ein paar Landarbeiter haben das ganze Jahr in den Weinstöcken und Olivenhainen zu tun. Zur Weinlese kommen dann zwischen sechzig und hundert Helfer, allerdings sind die immer schwerer zu bekommen. Früher kamen die meisten aus Osteuropa und dem Maghreb. Während der Pandemie durften viele nicht reisen, und seither«, sie hob in einer Geste des Fatalismus die Schultern, »nun, seither haben offenbar immer weniger Menschen Lust auf diese Jobs. Ist auch nicht so schlimm«, setzte sie eilig hinzu. »Wir haben uns letztes Jahr Weinlesemaschinen angeschafft. Das spart viele Arbeitskräfte.«

»Drohnen, Maschinen … Sie gehen mit der Zeit, Madame.«

Die Winzerin bedachte Blanc mit einem schwer zu deutenden Blick. Misstrauen? Spott? Trotz? »Ein Weingut ist ein Unternehmen, mon Capitaine, wir setzen Millionen um. Warum sollen nur Autohersteller Roboter anschaffen?«

»Sie kennen sich mit Autoherstellern aus?«, fragte er spöttisch.

»Machen Sie sich ruhig über mich lustig. Ich habe ein Jahr lang bei Renault gearbeitet.«

Blanc hob entschuldigend die Hände. »Dann wissen Sie mehr als ich. Meine Erfahrung mit Renault beschränkt sich auf einen chronisch anfälligen Wagen.«

»Dann fahren Sie einen Espace. Mit dem Modell hatten wir nichts als Ärger.«

»Sie kennen sich wirklich aus, Madame«, sagte Blanc und lächelte liebenswürdig. »Verraten Sie mir, wie Sie von einer Autofabrik zu Château Richelme gekommen sind?«

»Aus Liebe.«

»Zum Wein?«

»Zu meinem Mann.« Sie drehte ein auf ihrem Schreibtisch stehendes, gerahmtes Foto so, dass Fabienne und er es sehen konnten: ein Mann Mitte vierzig, dichte, kurz geschnittene braune Haare, dunkle Augen, Hakennase, hagere, schon beinahe ausgemergelte Züge. Marathonmann, dachte Blanc sofort, der Typ, der sich mit stundenlangem Training jedes Gramm Fett aus dem Körper brennt.

»Francis hat Château Richelme wieder aufgebaut«, fuhr seine Frau fort. »Er stammt aus einer Bauernfamilie von Berre und hatte schon als Junge auf dem Weingut Calissanne gearbeitet, das sind heute praktisch unsere Nachbarn. Damals verfiel Château Richelme, und das dürfen Sie wörtlich nehmen: Das Schloss war eine Ruine, die Weinstöcke waren verwildert oder verdorrt, die Olivenbäume waren seit Jahren nicht mehr beschnitten worden. Die Besitzer hatten weder das Geld noch die Kraft, um das Gut zu erhalten. Francis hat Önologie studiert – und er hatte das Geld. Seine Großeltern hatten in den Sechzigerjahren einige Felder an Shell verkauft, die darauf ihre Raffinerie errichtet haben. Seither war die Familie Merlin reich, und Francis war der einzige Sohn …« Ihre Stimme verlor sich für einen Moment, sie blickte aus dem Fenster. »Francis und ich haben dieselbe Klasse besucht. Wir mochten uns, aber mehr nicht, es war vielleicht zu früh. Kurz vor dem Baccalaureat sind meine Eltern versetzt worden. Sie hatten beide auf dem Flughafen Marignane im Management gearbeitet und bekamen Posten in Orly angeboten. Also sind wir nach Paris gezogen. Später war ich an der Uni, dann habe ich bei Renault angefangen, an die Provence habe ich nur selten gedacht und an ein Weingut nie.« Sie lachte und schüttelte den Kopf, verwundert über sich selbst. »Aber dann habe ich einen Sommer hier Urlaub gemacht. Es gab ein Open-Air-Konzert in Salon, Francis und ich haben uns dort zufällig getroffen und … eh bien, so etwas nennt man wohl Liebe auf den zweiten Blick. Jedenfalls bin ich hier geblieben.«

»Und Sie sind Winzerin geworden«, ermunterte sie Fabienne, als Alice Merlin nicht fortfahren wollte.

»Francis ist der Winzer in der Familie. Er hat Château Richelme gekauft, als es die Vorbesitzer endlich losschlagen wollten. Alles, was mit dem Wein zu tun hat, vom Pflanzen der ersten Setzlinge bis zum Abfüllen der Flaschen, ist sein Werk. Er ist die Seele von Château Richelme. Ich bin bloß die Kassiererin. Francis sorgt dafür, dass der Wein in die Welt geht. Ich sorge dafür, dass das Geld der Welt zu uns hereinkommt. Management und Verkauf, das ist das, was ich gelernt habe – und was ich mag. Und ich liebe das Produkt. Seien wir ehrlich: Ein Auto ist letztlich eine Kiste mit vier Rädern. Dafür brennt man nicht. Aber Wein … Nach fünf Jahren trägt ein Rebstock erstmals Trauben, nach zehn Jahren sind die Früchte endlich wirklich gut. Du musst den Weinstock hegen und pflegen, und das dürfen Sie ruhig wörtlich nehmen. Das ist, nun, schwer in Worte zu fassen, aber selbst für Management und Marketing ist das wichtig. Wein ist lebendig, verstehen Sie?«

»Und Wein ist wertvoll«, ergänzte Blanc. Bevor ihn ein gewisser Staatssekretär im Innenministerium versetzt hatte, war er Korruptionsermittler in Paris gewesen. Wann immer es um viel Geld ging, wurde er hellhörig.

»Deshalb verkaufen wir unseren Wein auch über unseren Webshop in die ganze Welt. Deshalb trage ich ein Halstuch von Hermès und Rouge auf den Wangen, auch wenn ich zwischen den Rebstöcken stehe – damit ich mich von einer Sekunde auf die nächste in einer Zoom-Konferenz sehen lassen kann. Deshalb präsentieren wir sogar Filme auf TikTok.«

»Auf TikTok sind Minderjährige unterwegs. Die dürfen gar keinen Wein kaufen«, brummte Blanc.

»Sollen sie auch nicht. Wir erklären den Wein- und Olivenanbau. Uralte Kulturtechniken. Wenn man die Kinder da nicht früh genug heranführt, dann stirbt dieses Wissen irgendwann aus. Und wir präsentieren den Felsen.« Alice Merlin deutete aus dem Fenster auf die Landschaft. »Wir zeigen Filme von Freeclimbern. Das ist gut fürs Image und macht unseren Namen bekannter.«

»Und den Felsen auch«, sagte Fabienne und musterte die Winzerin. »Wenn Sie den Felsen im Netz zeigen, weiß die ganze Welt davon. Jeder weiß, wo er steht. Wie man dort hinaufkommt. Wie es da oben aussieht. Dass da zum Beispiel steinerne Becken sind, in denen man einen Körper ablegen kann.«

Alice Merlin starrte sie an. »Sie wollen doch nicht etwa damit andeuten, dass ich für … diesen Vorfall irgendwie mitverantwortlich bin?!«

»Selbstverständlich nicht, Madame«, versicherte Blanc rasch, obwohl klar war, dass Fabienne genau das angedeutet hatte. »Meine Kollegin hat nur gerade erkannt, dass nicht nur Menschen, die schon einmal auf dem Weingut waren, diesen Felsen kennen können, sondern jeder, der schon mal auf Ihrem Webshop oder Ihrem TikTok-Kanal war. Das macht es für uns nicht gerade einfacher, die Identität der Unbekannten festzustellen.« Er machte eine Pause und beschloss, das Thema zu wechseln. »Ihr Gatte ist seit Jahrzehnten fast täglich in den Weinstöcken unterwegs, nicht wahr? Wenn sich jemand auskennt, dann er. Deshalb würde ich ihm gerne die Drohnen-Aufnahmen zeigen. Möglicherweise erkennt er darauf Details, die uns entgangen sind.«

Alice Merlin atmete tief durch und sagte einige Augenblicke lang gar nichts, sondern starrte bloß aus dem Fenster. »Selbstverständlich sollte Francis die Bilder sehen«, hob sie endlich an, »und … Es ist nur … Er hat … andere Sorgen.« Sie straffte sich. »Mein Mann hat Krebs. Er liegt seit drei Monaten im Hôpital Nord in Marseille.«

»Das tut uns leid, Madame«, erwiderte Blanc mitfühlend. »Selbstverständlich können wir Ihrem Mann diese Aufnahmen auch erst dann zeigen, wenn er sich wieder erholt hat. Wir haben Zeit.«

»Aber meinem Mann läuft die Zeit davon.« Alice Merlin war sehr blass geworden. Sie kritzelte etwas auf einen Zettel. »Hier ist die Zimmernummer im Krankenhaus und seine Durchwahl. Sie sollten ihn besuchen und ihm den Film zeigen. Mon Capitaine, Sie sollten das bald tun.«

Die kleine Welt von Château Richelme

Ein paar Minuten später standen Blanc und Fabienne allein im Laden zwischen Kartons voller Weinflaschen und Holzregalen, auf denen würfelförmige Seifenstücke zu Pyramiden gestapelt waren. Die Touristen waren gegangen, die junge Verkäuferin hatte sich hinter die Kasse zurückgezogen. Alice Merlin hatte ihnen gesagt, dass sie ihren »Geschäftsfreund« nun wirklich nicht länger warten lassen könne, ihnen die Aufnahmen auf einen USB-Stick kopiert, sie hinauskomplimentiert und Mister Lloyd hereingewunken.

Fabienne blickte auf ihr iPhone. »Einige Sequenzen ihrer Werbefilme sind ganz sicher mit einer Drohne aufgenommen worden. Diese TikTok-Videos zeigen wirklich alles«, sagte sie unzufrieden. »Du kannst sogar die in den Stein gehauenen Stufen erkennen, also weiß jeder, dass hier nicht nur durchtrainierte Freeclimber hochkommen können. Sollten wir es tatsächlich mit einem Verbrechen zu tun haben, dann könnte das jeder getan haben.«

Blanc schüttelte skeptisch den Kopf. »Je länger ich darüber nachdenke, desto stärker glaube ich, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die sich in der Region sehr gut auskennen. Denn warum lag die Frau reglos auf dem Felsen? Darauf kann es doch nur zwei Antworten geben: Entweder ist sie freiwillig hochgestiegen und hatte oben eine fatale Begegnung. Jemand hat sie niedergeschlagen oder was auch immer. Dann fliegt plötzlich die Drohne näher. Der unbekannte Täter versteckt sich, wartet einige Augenblicke, bis der Apparat wieder fort ist. Er ahnt, dass die Frau gefilmt worden ist, und schleppt sie weg, bevor jemand zum Felsen hinaufsteigen kann, um nachzusehen.« Er zögerte kurz, suchte nach den richtigen Worten. »Oder aber es war so: Die Frau wird irgendwo anders niedergeschlagen. Der Täter schleppt sie auf den Felsen und legt sie in eins der Becken, weil er glaubt, dass man ihren Körper dort nicht so leicht finden wird. Oben wird er allerdings von der Drohne überrascht, erkennt seinen Irrtum und schafft den Körper wieder fort, vielleicht kippt er ihn über eine der Steilkanten in die Tiefe, was weiß ich. So oder so: Der Täter, falls es denn wirklich einen Täter gibt, steigt zwar auf den Felsen, weiß aber gerade nicht, dass dort oben hin und wieder eine Drohne herumfliegt und alles filmt. Also muss es jemand sein, der Château Richelme, die Garrigue und diesen Felsen kennt, doch nicht die Drohnenaufnahmen, die Alice Merlin im Internet hochlädt.«

»Oder er kennt sie, aber er denkt nicht daran, als er auf den Felsen steigt. Wer merkt sich schon eine Milliarde TikTok-Videos?«

Blanc nickte. »Falls also tatsächlich irgendjemand beim Verschwinden dieser Frau seine Hand im Spiel hat, dann ist er von hier.«

Fabienne seufzte. »D’accord. Dann müssen wir ja nur noch die Kleinigkeit klären, ob irgendjemand überhaupt seine Hand im Spiel hat. Und was diese Frau da oben zu suchen hatte. Und, verdammt, wer diese Frau überhaupt ist.« Sie blickte sich im Laden um. Neue Kunden waren nicht eingetreten. Die Verkäuferin, die noch immer hinter der Kasse stand, beachtete sie nicht, weil sie mit fliegenden Daumen auf ihr Smartphone tippte. »Wenn du eine Frau suchst, frag eine andere Frau«, flüsterte sie und grinste plötzlich. »Überlass sie mir.«

»Du kommst mit Frauen sowieso besser klar als ich.«

Blanc folgte Fabienne quer durch den Laden zur Kasse. Die Verkäuferin legte ihr Handy ab, als sie bemerkte, dass sie näher kamen. Sie war klein, kaum eins sechzig, hatte ihre langen schwarzen Haare zum Pferdeschwanz gebunden und musterte sie mit ihren mandelförmigen Augen. Man merkte ihr an, dass sie die Lage nicht richtig einschätzen konnte. Irgendwie ahnte sie, dass Blanc und Fabienne keine normalen Kunden waren, wusste aber nicht genau, wen sie vor sich hatte.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« Ihre Stimme klang mädchenhaft, auch ihr Parfum, das sie im Näherkommen bemerkten, duftete süßlich nach Teenager. Sie war sicher schon Anfang oder Mitte zwanzig, gab sich jedoch noch wie eine Schülerin auf dem Lycée.

Fabienne lächelte hinreißend und legte mit einer sanft wirkenden Geste ein Dokument auf den Verkaufstresen neben der Kasse: ihren gelben Dienstausweis.

»Gendarmerie. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen, Mademoiselle.«

Die junge Frau erwiderte reflexartig das Lächeln, las dann den Titel auf dem Dokument und wurde blass. Ihre Augenlider zuckten. »Ich …«, stammelte sie und warf Blanc einen hilfesuchenden Blick zu, doch der zwang sich zu einer unbeweglichen Miene. »… Ich frage meine Chefin.«

»Sie müssen Madame Merlin nicht stören«, versicherte Fabienne. »Und wir haben wirklich nur ein paar Fragen. Mademoiselle …?«

»Filhol. Sophie Filhol. Nennen Sie mich Sophie, alle nennen mich so.« Sie lächelte schüchtern.

»Wie lange arbeiten Sie schon hier, Sophie?«

»Seit beinahe einem Jahr. Ich habe letzten Sommer angefangen. Ich mag den Job«, setzte sie ungefragt hinzu.

Während sie noch sprach, holte Fabienne nach und nach ihr iPhone, einen Adapter und den USB-Stick aus der Tasche ihrer Jeans. »Einen Moment bitte.« Sie hantierte mit den Geräten, dann zeigte sie der Verkäuferin ein Standbild der Drohnenaufnahme. Die Unbekannte auf dem Felsen.

»Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen? Vielleicht auf dem Weingut? Oder als Kundin?«

Sophie blickte mit großen Augen auf den Screen, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Nein. Ist sie etwa …«

»Wissen Sie, wo dieses Bild gemacht wurde?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Kennen Sie den Felsen von Château Richelme?«, mischte sich Blanc zum ersten Mal ein. »Auf dem die Freeclimber herumklettern?«

»Man kann ihn von hier aus sehen, ja.«

»Aber waren Sie selbst schon einmal oben?«

Sie errötete. »Nein. Die Aussicht soll toll sein. Aber ich bin nicht schwindelfrei, mich würden Sie da niemals hochkriegen.«

Fabienne wollte etwas sagen, doch dann hob sie den Kopf und lauschte. Auch Blanc hatte es gehört. Motorenlärm. Das Kreischen einer kleinen Maschine, die jemand hochdrehen ließ. Sie blickten aus einem Ladenfenster und sahen eine Staubfahne auf genau jenem Wanderweg, den sie mit Alice Merlin vom Felsen aus in Richtung Schloss hinuntergegangen waren. Ein Fahrer mit Moto-Cross-Helm und dunkler Schutzbrille.

Einige Sekunden darauf raste der Mann auf den Parkplatz vor dem Laden. Der Fahrer drehte noch mal am Gasgriff und riss das Vorderrad hoch, fuhr mehrere Meter nur auf dem Hinterrad weiter, fing die Maschine ab und brachte sie direkt neben dem Eingang zum Stehen. Der Lärm erstarb, der Motor tickte vor Hitze, es stank nach Zweitaktöl und Abgasen. Der Fahrer zog den Helm ab und kam mit großen Schritten in den Laden. Blanc hätte schwören können, dass er direkt auf Sophie zugehen wollte, um sie zu küssen. Und er hätte schwören können, dass die Verkäuferin ihm für eine Sekunde einen warnenden Blick zuwarf. Jedenfalls stoppte er mitten im Laden, als wäre er gegen eine Glaswand gelaufen.

Der Fahrer trug schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt, schwarze Sportschuhe. Er war etwa eins fünfundachtzig groß, hager, aber sportlich. Auf seinem rechten Unterarm zeigte er eine auffällige Tätowierung: die Umrisse des Schlosses, darunter in einer geschwungenen, klassisch wirkenden Schrift: Château Richelme. Diese Verzierung hatte er sich erst in den letzten Tagen stechen lassen, denn die Haut war noch gerötet, glänzte von einer Heilsalbe, der Unterarm war angeschwollen. Seine Augen waren grau, ein Grau, wie es Blanc noch nie als Augenfarbe gesehen hatte, wie Granitfelsen im ewigen Eis. Doch ansonsten glich sein Gesicht genau jenem des Mannes, dessen Foto Fabienne und er auf dem Schreibtisch der Winzerin studiert hatten, bloß gut zwanzig Jahre jünger.

»Sind Sie Monsieur Merlin?«, fragte Blanc und hatte nun seinerseits den Dienstausweis gezogen. »Wir hätten da ein paar Fragen.« Er erinnerte sich an das, was Alice Merlin ihnen gesagt hatte: Das Paar hatte einen Sohn. Und der fuhr Motorrad.

»Warum sind Sie hier?« Der junge Mann machte sich nicht die Mühe, höflich zu sein. »Was wollen Sie?«

»Zunächst einmal möchten wir Ihren Namen wissen.« Blanc machte sich die Mühe, höflich zu sein.

»Justin Merlin. Fahnden Sie nach mir?«

»Hätten wir einen Grund dafür?«

Justin Merlin schnaubte bloß und wechselte einen raschen Blick mit Sophie. »Was wollen Sie?«, wiederholte er.

Fabienne schenkte ihm dasselbe hinreißende Lächeln wie vorhin der Verkäuferin. »Eine schöne alte Husqvarna«, sagte sie und deutete nach draußen. »Das Motorrad ist doch schon beinahe ein Sammlerstück.«

Justin Merlin blinzelte verwundert, entspannte sich, fast hatte Blanc den Eindruck: gegen seinen Willen. »Eine Vierhunderter Husqvarna, genau so eine, wie Steve McQueen sie im Film On Any Sunday gefahren ist. Eine alte Wettkampfmaschine. Die habe ich selbst wieder fitgemacht.«

»Mit Straßenzulassung?«, fragte Fabienne und klang dabei betont verwundert.

Er lachte. »Nein, keine Chance. Die Maschine hat nicht mal einen Halter für das Nummernschild.« Er räusperte sich, als ihm wieder einfiel, wen er vor sich hatte. »Ich fahre damit nicht über öffentliche Straßen«, erklärte er, und das klang wenig überzeugend. »Ich tobe mich nur auf unserem Land aus.« Er deutete Richtung Garrigue.

»Waren Sie heute Morgen lange unterwegs?«, wollte Blanc wissen.

Er zuckte mit den Achseln. »Eine Stunde. Oder zwei. Ich weiß nicht mehr, wann ich losgefahren bin.«

»Haben Sie keine anderen Motorradfahrer gesehen?«, fragte Fabienne.

»Nein. Oder, na ja, von Weitem eine Staubwolke. Aber mehr habe ich nicht erkannt. Wenn Sie mit dieser Karre über die Hügel rasen, hat man wirklich keinen Blick übrig fürs Sightseeing.«

Fabienne nickte verständnisvoll. »Kann ich mir vorstellen.«

»Sie fahren auch Motorrad?«

»Eine Ducati.«

»Straßenmaschinen sind nicht so mein Ding. Aber alles ist besser als ein Auto, was?« Er grinste verschwörerisch.

Fabienne lächelte. Der Typ ahnte nicht einmal, dass er dabei war, sich in Schwierigkeiten hineinzureden. »Haben Sie Wanderer gesehen? Oder Mountainbiker?«

»Nein.«

»Freeclimber auf dem Felsen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich war ganz allein da draußen. Ich habe niemanden gesehen.«

Fabienne zeigte ihm die Aufnahme auf ihrem Handy. »Auch nicht diese Frau?«

Justin Merlin zögerte mehr als eine Winzigkeit. »Nie gesehen«, sagte er schließlich.

Blanc betrachtete den jungen Mann. Er atmete jetzt schneller, auf seiner Stirn glitzerten Schweißperlen. Blanc war sich sicher, dass er log. »Nehmen Sie sich ruhig Zeit«, meinte er und deutete auf Fabiennes Handy. »Wir können die Aufnahme auch ausdrucken und sie Ihnen auf der Gendarmerie-Station vorlegen.«

»Nein, nicht nötig.« Das war schon beinahe auffällig laut. Justin Merlin hatte entschieden keine Lust, der Gendarmerie-Station einen Besuch abzustatten.

Fabienne hielt ihm das iPhone provozierend nahe vors Gesicht. Sie lächelte aber immer noch liebenswürdig. »Können Sie denn erkennen, wo die Frau liegt?«

»Klar.« Er deutete auf die Steinformation, die einen Schatten über einen Teil des Körpers warf. »Das ist eins der beiden Becken oben auf dem Felsen. Ich klettere da gerne hoch. Das habe ich schon als Kind gemacht. Meine Kumpels und ich haben da manchmal ein Lagerfeuer entzündet, und wenn mein Vater uns erwischt hat, dann …« Seine Stimme verlor sich. Sophie wirkte, als müsste sie sich ungeheuer beherrschen, ihn nicht in die Arme zu nehmen.

»Warum zeigen Sie mir das?« Justin Merlin tat so, als deutete er auf das Handy. Tatsächlich nutzte er die Geste, um das Gerät und Fabiennes Hand ein paar Zentimeter von seinem Gesicht fortzudrücken, als fürchtete er, es könnte ihn mit irgendetwas anstecken. »Suchen Sie diese Frau?«

»Ja«, erklärte Blanc und wählte die nächsten Worte sorgfältig, um Justin Merlin nicht zu viel zu verraten. »Es könnte sein, dass sie vermisst wird.« Kurz berichtete er, wie Alice Merlin sie informiert hatte, vom Drohnenflug mit dem letzten Batteriestrom, der unscharfen Aufnahme, dem leeren Becken. Blanc vermied allerdings jede Andeutung darüber, dass die Frau möglicherweise tot war. In seiner Erzählung war sie eine Unbekannte, die zuerst da war, dann nicht mehr da war, und das war ein Rätsel, das die Gendarmen aufklären sollten, auch wenn sich alles vermutlich als ganz harmlos herausstellen würde. Reine Routine.

»Dann bin ich ja beruhigt«, erwiderte Justin Merlin, und jeder im Raum hörte, dass er es nicht war.

»Sind Sie der einzige Motorradfahrer auf diesem Gut?«, fragte Blanc.

»Jetzt ja, leider.« Justin Merlin deutete auf eine Wand im Laden. »Auf der Rückseite des Gebäudes haben wir uns eine Garage für unsere Karren eingerichtet, direkt neben dem Lagerraum für die Weinkartons. Da steht neben der Husqvarna auch noch die Goldwing meines Alten.«

Zum ersten Mal erlosch Fabiennes Lächeln. »Wir haben von der Krankheit Ihres Vaters gehört. Es tut mir leid.«

»Ja … Nun, jedenfalls fährt mein Vater die Goldwing aus naheliegenden Gründen nicht mehr.«

»Niemand sonst benutzt diese Maschine?«, warf Blanc ein.

Justin Merlin lachte kurz auf. »Sie sind kein Motorradfahrer, sonst würden Sie das nicht fragen. Die Goldwing ist so etwas wie ein Cadillac auf zwei Rädern, ein Straßenkreuzer. Da setzt man sich nicht einfach drauf und fährt los. Das muss man erst einmal lernen. Abgesehen davon würde der Feldmarschall ausrasten, wenn er erfahren würde, dass jemand seine Goldwing auch nur anfasst.« Er lachte freudlos. »Eigentlich keine schlechte Idee. Ich fasse die Goldwing an und erzähle es ihm. Das würde den Alten so aufregen, dass er aus dem verdammten Krankenhaus rausrennen würde, um seine Karre zu polieren!«

Blanc blickte ihn halb mitfühlend, halb misstrauisch an. »Das verdammte Krankenhaus? Wie meinen Sie das?«

»Der stirbt dort, das kann man sehen! Wäre er zu Hause, dann würde es ihm besser gehen.« Justin Merlin klang auf einmal traurig und sehr erschöpft. »Ich gehe mal zu meiner Mutter hoch.«

»Mister Lloyd ist da«, informierte ihn Sophie. Es klang wie eine Warnung.

»Nicht mehr lange«, erwiderte Justin Merlin düster und ging ohne Abschiedsworte Richtung Treppe.

»Danke für Ihre Auskünfte«, rief ihm Blanc nach und nickte Sophie zu. »Sollten wir noch Fragen haben, dann melden wir uns.« Das war keine leere Drohung, er war sich ziemlich sicher, dass er zumindest mit dem Junior von Château Richelme noch einmal sehr ernsthaft würde reden müssen.

Zusammen mit Fabienne verließ er den Laden und blinzelte draußen in die Sonne. Der Himmel war eine weite blaue Leinwand, doch der Große Künstler hatte sich nicht die Mühe gemacht, ein paar Wolken hineinzumalen. Blanc spürte einen Windhauch auf der Haut, schwer zu sagen, aus welcher Richtung er kam, vermutlich aus der Garrigue, den Hügel hinunter, denn er brachte einen Duft nach Ginster und Erde mit. Ein Maitag, der sich wie Juli anfühlte. Er hätte wirklich an eine Wasserflasche denken sollen; auf einem Weingut konnte man kein Wasser kaufen.

Fabienne stieß ihn an und deutete unauffällig auf das Ende der Pergola. Dort hatte sich ein Mann auf einen Korbstuhl gesetzt und hantierte mit einem Gerät herum. Die Drohne, erkannte Blanc erstaunt.

»Sieht so aus, als setzt der Typ gerade die Batterie wieder ein.«

»Wenn er das tun darf, dann ist er kein gewöhnlicher Arbeiter«, erwiderte Blanc.