Unheimliche Begegnungen - Aus der Zwischenwelt - Michael E. Vieten - E-Book

Unheimliche Begegnungen - Aus der Zwischenwelt E-Book

Michael E. Vieten

4,9

Beschreibung

"Was zwischen Himmel und Erde bisweilen geschieht, ist seltsamer als wir uns vorstellen können."Nachdem Theresa verstorben ist, verliert Josef seinen Lebensmut. Dunkle Tage der Trauer reihen sich aneinander. Doch dann erscheint sie ihm eines Abends auf ihrem alten Sessel in der Stube. Trotz seiner Furcht vor dem Unerklärlichen überwiegt die Freude über das unverhoffte Wiedersehen. Bald trifft er auf Menschen, die sich ihm anvertrauen und von unheimlichen Ereignissen berichten. Hat Theresa etwas damit zu tun? Kennt sie all diese armen Seelen aus der Zwischenwelt, und führt sie die Menschen, die ihnen begegnet sind, zu ihm?10 Erzählungen von Menschen aus dem Diesseits mit Begegnungen aus dem Jenseits.

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Was zwischen Himmel und Erde bisweilen geschieht, ist nicht nur seltsamer, als wir es uns vorstellen, es ist sogar seltsamer, als wir es uns vorstellen können. Doch nur weil wir uns etwas nicht vorstellen können, bedeutet das noch lange nicht, dass es das nicht gibt.

Vieten, Michael E., Unheimliche Begegnungen – Aus der Zwischenwelt

2. überarbeitete Ausgabe 2017

Informationen über den Autor und seine Arbeit auf:www.mvieten.de

Inhalt

AUS DER ZWISCHENWELT

DREI SCHWESTERN IM ZAUBERWALD

DER LETZTE WOLF DES HOCHWALDS

MOSELBLÜMCHEN

MARIECHEN

DAS HÜGELGRAB

KONRAD

TANNECK

WALPURGISNACHT

GUTE TAGE

DIE KAMMER

In Gedenken an Cornelia. Verstorben im Juni 2010. Wir sehen uns wieder.

AUS DER ZWISCHENWELT

Im Stundenglas meines Lebens befindet sich nur noch wenig Sand. Unaufhaltsam rieselt er herab. Für meine geliebte Theresa ist das letzte Korn bereits gefallen. Bald werde ich ihr folgen. Dann finde auch ich meinen Frieden.

Mein Leben war zunächst nichts Besonderes. Ich wuchs behütet auf, absolvierte eine Lehre als Kaufmann und ging bis zur Rente meiner Arbeit nach.

Vor ein paar Jahren starb meine Frau Theresa. Seither lebe ich allein in unserem Haus. Kinder hatten wir keine.

Meinen bescheidenen Besitz werde ich der kleinen Gemeinde vererben, in der ich lebe. Bis dahin nutze ich die mir verbleibende Zeit und schreibe nieder, worüber ich berichten möchte.

Ich heiße Josef. Josef Kling.

Der Tod von Theresa war ein großer Verlust für mich. Ich verlor meinen Lebenswillen.

Oft saß ich alleine in der Stube und starrte auf ihren Sessel. Darauf lag immer noch jenes Strickzeug, welches ihr an einem kalten Winterabend aus der Hand fiel, nachdem das Leben aus ihr gewichen war.

Ich habe schon oft davon gehört, dass nach dem Tod eines geliebten Menschen Uhren stehen bleiben, und aufhören zu ticken. Unsere alte Wanduhr blieb nicht stehen, und sie schlägt weiterhin pünktlich zu jeder viertel Stunde.

Eines Abends, ich starrte bereits eine lange Zeit auf den leeren Sessel, erfüllt von Gram und begleitet von dem Ticken und Schlagen der Uhr, da saß Theresa plötzlich wieder dort und strickte.

Die Nadeln klapperten in ihren Händen, hin und wieder zog sie mit einer Bewegung des Oberkörpers Garn nach, und der Knäuel am Boden wickelte sich Zentimeter um Zentimeter ab. Genau so saß sie immer dort. In all den Jahren.

Nun aber war sie tot und saß dennoch da.

Während ich noch überlegte, ob ich schreien und fortlaufen oder mich darüber freuen sollte, dass sie wieder da war, begann sie, mit mir zu schimpfen. Über die Unordnung in der Küche und dass mein Bett nicht gemacht sei. Obendrein sähe meine Kleidung ungepflegt aus und der Garten wirke vernachlässigt. Außerdem solle ich mich rasieren und die Haare schneiden lassen. Kaum wäre sie fort, würde alles verkommen und sie müsste sich vor den Nachbarn schämen.

Ich erschrak zunächst, aber die Freude über ihr Erscheinen war größer als der Schreck. Ich versicherte ihr, dass ich mich um alles kümmern würde. Sie beruhigte sich und kündigte ihren Besuch für den nächsten Abend an, um sich zu vergewissern, ob ich alle Arbeiten zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt hatte.

Und tatsächlich. Am darauf folgenden Tag war sie wieder da und erschien künftig in unregelmäßigen Abständen auf ihrem Sessel in unserer Stube. Dann unterhielten wir uns über meinen durchlebten Tag und die gemeinsamen Erlebnisse aus der Vergangenheit. Nur über den Ort, an dem sie jetzt war, erfuhr ich nichts. Sie dürfe nicht darüber sprechen, sonst ließe man sie nicht mehr zu mir. Das wollte ich auf keinen Fall riskieren und fragte fortan nicht mehr danach.

Seit dem Abend ihres ersten Erscheinens interessierte ich mich nicht nur für das Diesseits, sondern auch für das Jenseits. Nicht, dass ich Todessehnsucht gehabt hätte. Nein, nein. Aber ich lauschte gespannt allen Geschichten, die man mir anvertraute und in denen es um Wesen ging, die aus dem Jenseits Kontakt zu den Lebenden suchten.

Dabei war ich ein geduldiger Zuhörer und spottete nie über die Ängste der Menschen, die mir von den unglaublichsten Vorfällen berichteten. So sprach es sich später herum und wurde bekannt, dass in einem kleinen Dorf im Hunsrück ein alter Mann lebt, bei dem man Rat und Zuspruch suchen kann, wenn man eine unheimliche Begegnung hatte.

Manchmal hegte ich den Verdacht, Theresa hätte ihre Hand im Spiel. Natürlich habe ich sie danach gefragt. Zugegeben hat sie es aber nicht.

„Unsinn“, sagte sie nur.

Dennoch sorgte sie immer dafür, dass ich Zuhause war, wenn jemand nach mir verlangte. Und sie legte großen Wert darauf, dass ich mich gewissenhaft um unser Haus und den Garten kümmerte. Damit meinen Besuchern alles aufgeräumt und gepflegt erschien. Ganz so, als hätte sie selbst dafür gesorgt.

Bei der Gartenarbeit an einem sonnigen Spätsommertag im September begegnete ich einer fremden Frau an meinem Zaun. Sie bat mich in einem zunächst belanglos eröffneten Gespräch über das angenehme Wetter, ob ich einen Moment Zeit für sie hätte. Sie hieß Frederike Stahl, und sie erkundigte sich nach meinem Nachbarn Thadeus Reinhardt.

Nun, Bedeutendes konnte ich ihr nicht erzählen. Ich traf ihn hin und wieder auf meinen Spaziergängen. Aber er sprach meist nicht viel und ging seines Weges.

Ich suchte etwas Abwechslung nach der anstrengenden Arbeit, und in der Vorfreude auf ein interessantes Gespräch bat ich Frederike Stahl in den Garten. Dann bereitete ich einen kühlen Eistee zu.

Wir verbrachten den Rest des Nachmittags in meinem Pavillon, und sie erzählte mir von einer unglaublichen Geschichte, die sich nicht weit von meinem Haus zugetragen hatte.

DREI SCHWESTERN IM ZAUBERWALD

Nachdem die kleine Glocke leise geläutet hatte, machten sie sich auf den Weg in den großen Saal.

Der Duft der Speisen zog von der Küche über die Eingangshalle bis in die Flure und Zimmer und lockte zum letzten gemeinsamen Essen des Tages. So, wie an jedem Abend, bewegten sich fast alle Bewohner des Seniorenheims langsam auf die weit geöffneten Flügeltüren zu.

Manche unterhielten sich. Andere blieben stumm. Einige hatten Mühe damit, ihren Platz an den Tischen zu erreichen. Sie waren nicht mehr gut zu Fuß oder sie vergaßen jeden Tag erneut, an welchem Tisch sie saßen, was sie gegessen hatten und wer die Personen um sie herum waren.

Plötzlich unterbrach ein lautes, dumpf krachendes Geräusch jedes Gespräch und jeden Schritt. Bewegungslose Stille. Ein letztes, kaum hörbares Stöhnen.

Aus der Küche, am hinteren Ende des Saals, drang das Rauschen der Abzugshauben. Jemand von Küchenpersonal klapperte mit Geschirr.

Alle standen stumm da und starrten auf den leblosen Körper auf dem Boden der Eingangshalle. Vor ihren Füßen lag Thadeus Reinhardt. Aus seinem Kopf ergoss sich ein kleines Rinnsal Blut auf die blauweißen Fliesen. Es war gerade so viel, dass alle wussten, jede Hilfe käme zu spät und so wenig, dass es mit einem Lappen schnell aufgewischt war.

Thadeus Reinhardt wurde zwei Wochen zuvor von den Sozialbehörden wegen angeblicher Verwahrlosung und Verwirrtheit in das Pflegeheim eingewiesen. Zu seinem Schutz stand er unter ständiger Aufsicht und durfte das Heim nur in Begleitung von Pflegepersonal verlassen.

Empört verweigerte er jegliche Nahrungsaufnahme und Teilnahme am Heimalltag. Sein bis dahin ausgezeichneter Gesundheitszustand verschlechterte sich, und er wurde schwächer. Die Heimleitung entschied, ihn zwangsweise zu ernähren. Doch sein körperlicher Verfall setzte sich fort.

Thadeus Reinhardt wartete eine günstige Tageszeit ab, in der er kurz unbeaufsichtigt war.

Obwohl er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, schleppte er sich unbemerkt das Treppenhaus hinauf in den obersten Stock, lehnte sich über das Geländer und ließ sich in die Eingangshalle hinunter fallen.

Thadeus Reinhardts Lebenslicht erlosch an einem milden Spätsommertag im September. Wenige Tage vor seinem siebzigsten Geburtstag.

Frederike Stahl erfuhr von seinem Tod, während sie in der Verlagskantine vor ihrem Mittagessen saß. Fast alle Tische waren um diese Zeit mit Kollegen besetzt. Überall wurde laut gesprochen. Dutzende Gerüche waberten aus der Küche in den viel zu warmen Raum.

In ihrer Handtasche klingelte das Mobiltelefon. Sie legte ihr Besteck beiseite, schluckte den letzten Bissen Hühnerbrust herunter und griff nach dem Gerät. Dann nahm sie das Gespräch an und hielt sich mit der Hand das andere Ohr zu.

In dem Telefonat stellte sich ein Herr mit angenehm verbindlicher Stimme als Notar Walter Hoffmann vor und überbrachte ihr die Todesnachricht.

Mangels noch lebender Verwandtschaft hatte Thadeus Reinhardt Frederike Stahl seinen gesamten, wenn auch bescheidenen, Besitz vererbt.

Ein kleines Haus im Hunsrück, ein paar Hundert Euro auf einem Bankkonto und Aufzeichnungen in der Art eines Tagebuchs.

Walter Hoffmann und Frederike Stahl vereinbarten einen Termin in der darauf folgenden Woche in seinem Notariat zur Schlüsselübergabe und Erledigung der Formalitäten. Dann beendeten sie ihr Gespräch.

Sie kaufte sich bei der Kantinenwirtin einen großen Becher Kaffee, setzte sich wieder an ihren Tisch und schaute aus dem Fenster.

Seit mehr als zwanzig Jahren war sie die Lektorin von Thadeus Reinhardt. In dieser Zeit hatten sie sich nur selten getroffen. Er war als Autor wirtschaftlich nicht sehr erfolgreich. Zu wenige Menschen interessierten sich mittlerweile für Lyrik. So konnte er zwar einige Tausend Gedichtbände verkaufen, lebte aber zeitweise auch von staatlichen Zuwendungen.

Frederike Stahl gefielen seine melancholischen Gedichte sehr. Ihre Grundhaltung im Leben war ebenfalls nachdenklich bis hin zu einer gewissen Schwermut. Also empfahl sie die Werke immer wieder für Aufnahme in das Verlagsprogramm oder den Druck einer neuen Auflage, sobald seine bisher erschienenen Bücher vergriffen waren.

Über die Zeit von zwei Jahrzehnten bildete sich so ein Verhältnis zwischen den beiden, welches von Nähe und Distanz gleichermaßen geprägt war.

Nun war er also tot, hatte sich das Leben genommen. Es überraschte sie nicht. Thadeus Reinhardt war eine empfindsame Seele. Eigentlich gehörte er in eine längst vergangene Zeit.

Frederike Stahl konnte einige seiner Gedichte auswendig vortragen. Sie erinnerte sich an die ersten Zeilen, die er seinerzeit an den Verlag geschickt hatte, und flüsterte sie fast ohne Stimme vor sich hin. Wer sie dabei beobachtete, sah nur, dass sich ihre Lippen bewegten.

Das Herz meiner Zeit, ich spür’ es nicht mehr.

Wann schlug es zuletzt? Es ist so lang’ her.

Wo ist sie geblieben, die Liebe im Sturm?

Wo ist deren Wächter auf dem mächtigen Turm?

Stets ein Auge auf alles, was sich regt.

Der Wächter ist fort, weil sich nichts mehr bewegt.

Wo sind die Werte, Maße, Gewichte?

Die neue Zeit macht alles zunichte.

Verzweifelt irrt man jetzt umher.

Die alten Ziele, es gibt sie nicht mehr.

Und was man noch in den Händen hält.

Rinnt wie Sand durch die Finger,

der unendlich tief fällt.

Er bedeckt wie ein Tuch die Spuren von gestern.

In sanften Konturen schickt sich der Rest an.

Vergessen zu werden unter rieselndem Sand.

Der immer noch fällt aus meiner eigenen Hand.

Darunter ist alle Erinnerung versunken.

Und wir sind schon im Sand ertrunken.

Das letzte Korn ist nun gefallen.

Ich höre noch Rufe aus der Ferne hallen.

Dann ist es vorbei und alles steht still.

Weil das Herz meiner Zeit nicht mehr schlagen will.

Um nicht vor den Kollegen zu weinen, rief Frederike Stahl sich selbst zur Ordnung, trank den letzten Schluck Kaffee aus, brachte ihr Tablett zur Geschirrrückgabe und verließ die Kantine.

Am Freitag in der darauf folgenden Woche würde sie in den Hunsrück fahren und das Wochenende nutzen, um sich Thadeus Reinhardts Nachlass anzusehen.

Nach ihrem Termin in Walter Hoffmanns Notariat fuhr Frederike Stahl in das abgelegene Dorf und suchte nach Thadeus Reinhardts Adresse.

Von der Straße aus war das einstöckige, kleine Haus kaum zu sehen. Sie parkte ihren Wagen und betrat das Anwesen durch ein eisernes Gartentor.

Das Haus war eines der ältesten Gebäude im Ortskern und stand zurückgesetzt und halb verdeckt von hohen, dicht gewachsenen Fliederbüschen auf einem großen Grundstück.

Ein schmaler Weg aus Natursteinplatten führte über den seit Wochen nicht mehr gemähten Rasen zu einer mit einem kleinen Fenster versehenen Haustür.

Mit dem Schlüssel, den ihr Walter Hoffmann ausgehändigt hatte, öffnete sie und trat in einen Flur, dessen Boden noch aus schwarz-weißen Fliesen aus einer längst vergangenen Zeit bestand.

Der schmale Gang reichte bis an das andere Ende des Hauses. Dort befand sich ebenfalls eine Tür mit einem kleinen Fenster. Sie führte auf den hinteren Teil des Grundstücks hinaus in den Garten.

Frederike Stahls Blick fiel durch dieses Fenster auf die sich im lauen Wind bewegenden Fliederbüsche.

Sie teilte Thadeus Reinhardts offensichtliche Vorliebe für blühenden Flieder. Das gesamte Anwesen war davon umgeben, und sie erinnerte sich an dessen zarten Duft im Frühjahr.

Links und rechts des Flurs führten weiß lackierte Holztüren in weitere Räume. Sonnenlicht flutete durch die offen stehenden Türen und erhellte den niedrigen Gang.

Obwohl das Haus seit mindestens zwei Wochen nicht gelüftet wurde, roch es angenehm nach Holz und getrockneten Pflanzen. Sie schloss die Haustüre und betrat den ersten Raum auf der rechten Seite. Dort befand sich die Küche. Auf dem Boden waren die gleichen Fliesen wie im Flur verlegt. Die geringe Deckenhöhe verriet das hohe Alter des Gebäudes.

Die Einrichtung war nicht mehr neu, und es hatte sich überall eine feine Staubschicht abgesetzt, aber es wirkte alles ordentlich und sauber.

Sie verließ die Küche und schaute sich die anderen Räume an. Die Böden dort bestanden aus gepflegten Holzdielen. Die Möbel waren alt, aber auch in diesen Zimmern erschien ihr alles aufgeräumt und an seinem Platz.

„Merkwürdig“, dachte sie. „Thadeus Reinhardt wurde wegen Verwahrlosung und Verwirrtheit in das Pflegeheim eingewiesen. Danach sah es aber in seinem Haus überhaupt nicht aus.“

Frederike Stahl entschied sich dafür, die Nacht in dem Gästezimmer gegenüber der Küche zu verbringen. Das ersparte ihr die Suche nach einem Hotel. Sie holte ihr Gepäck aus dem Wagen sowie einen kleinen Karton, den ihr Walter Hoffmann übergeben hatte. Sie trug ihn in die Küche.

Die Nachmittagssonne schien durch die Fenster und erfüllte den Raum mit einem hellen, warmen Licht.

Frederike Stahl beschloss, sich einen Tee zu brühen, und stellte den Karton auf dem Tisch ab.

Sie fand sich sofort zurecht. Den Tee, den Zucker und sogar eine Zitrone aus dem Kühlschrank griff sie ohne langes Suchen. Während sie eine große Kanne für den Tee vorbereitete und das Wasser auf dem Herd aufkochte, dachte sie erneut an Thadeus Reinhardts angebliche Verwahrlosung und Verwirrtheit, und wie wenig dieses aufgeräumte Haus dazu passte.

Die Schränke in der Küche waren logisch eingeräumt, alles stand beieinander, und im Kühlschrank fand sie kein einziges verdorbenes Lebensmittel.

Sie goss das heiße Wasser in die Kanne, nahm einen Becher aus dem Schrank und setzte sich damit an den Tisch. Während sie ihren Tee trank, öffnete sie den Karton und nahm einen an sie gerichteten Brief von Thadeus Reinhardt heraus. Er war fehlerfrei, in geschwungener und deutlich zu lesender Handschrift mit Tinte geschrieben.

Liebe Frau Stahl,

meine Zeit ist nun vorüber. Ich danke Ihnen für die äußerst angenehme Zusammenarbeit und bitte Sie um Verzeihung, dass ich Ihnen nun Umstände bereite.

Meine Eltern sind verstorben, ich habe keine Geschwister, und um die Hand meiner großen Liebe anzuhalten, habe ich versäumt.

Ein großer Fehler, war sie doch die Schönste von Allen. Doch uns hat es niemals gegeben, wir fanden nirgendwo statt. Also blieb ich allein und lebte bis vor ein paar Monaten mein lauwarmes Leben.

Ich übergebe meinen Nachlass und mein Tagebuch in Ihre Hände. Schon bei unserem ersten Treffen vor vielen Jahren habe ich die Zeichen gesehen. Sie sind ein besonderer Mensch, Sie werden mich verstehen. Tun Sie mit dem Tagebuch, was Sie für richtig halten. Nur verraten Sie die drei Schwestern in meinem Zauberwald nicht.

Ihr ergebener

Thadeus Reinhardt.

Endlich durfte Frederike Stahl ihrer Trauer um Thadeus Reinhardt nachgeben. Hier war sie allein, niemand konnte sie sehen. Sie legte den Brief beiseite und weinte. Ihre Tränen liefen heiß an ihren Wangen herab und tropften auf die Tischplatte. Auch sie fühlte sich oft als eine verlorene Seele. Auch sie hatte ihr Lebensglück nie gefunden. Oft kämpfte sie gegen ihren inneren Dämon, der ihr immer wieder vorwarf, ihr ersehntes, großes Ziel verpasst zu haben.

Sie wischte sich die Tränen fort, wusch sich im Bad das Gesicht und kehrte in die Küche zurück. Dann bemühte sie sich, wieder die erfolgreiche Lektorin mit dem besonderen Gespür für außergewöhnlich gute Texte zu sein, und schlug Thadeus Reinhardts Tagebuch auf.

Seine Notizen begannen im März. Das war erst wenige Monate her. Den letzten Eintrag schrieb er an dem Tag, bevor er in das Pflegeheim kam.

Was hatte Thadeus Reinhardt bewogen, nur die zurückliegenden sieben Monate seines Lebens aufzuschreiben? Bis dahin hatte er offenbar kein Tagebuch geführt.

Seine Aufzeichnungen hatte er in eine einfache, rotschwarze Chinakladde ohne Linierung geschrieben. Wie der an sie gerichtete Brief waren auch diese Zeilen in geschwungener und deutlich zu lesender Handschrift mit Tinte verfasst.

Frederike Stahls Zweifel an Thadeus Reinhardts angeblicher Verwirrtheit wuchsen weiter. Sie goss sich noch einen Becher Tee ein und begann zu lesen.

Meine liebe Frau Stahl.

Überrascht las sie den ersten Satz noch einmal.

Thadeus Reinhardt hatte seine Aufzeichnungen schon vor sieben Monaten an sie persönlich gerichtet. Neugierig las sie weiter.

Mein Dasein war nichts Besonderes. Zu privatem Glück war ich außerstande, finanzieller Erfolg blieb mir verwehrt. Wäre mein Leben letzte Woche zu Ende gegangen, ich hätte nichts zu berichten gehabt. Vor ein paar Tagen jedoch geschah etwas, für das sich die Mühen meiner 69 Jahre gelohnt haben.

Schon seit Jahren erledige ich meine Einkäufe zu Fuß. Ich nutze dafür einen alten Pfad durch den Wald. Er führt auf einer längst vergessenen Straße, zum Teil auch neben dieser her, in den nächsten Ort. Dort bekomme ich alles, was ich brauche, packe es in meinen Rucksack und trage es nach Hause.

Ich habe immer mein kleines Notizbuch dabei. Darin schreibe ich mir die Reime zu neuen Gedichten auf.

Es gibt einen besonderen Platz im Wald, an dem ich oft eine Rast einlege. Genau dort hatte ich eine wunderbare Begegnung. Deswegen nenne ich diesen Wald fortan den Zauberwald.

An besagter Stelle stehen drei große Fichten. Es sind keine Tannen, wie man denken könnte. Ich kenne den Unterschied wohl. Ihre Stämme bilden ein Dreieck. Dazwischen befindet sich ein kleiner, unbewachsener, dick mit heruntergefallenen Fichtennadeln gepolsterter, trockener Platz. Geradezu geschaffen, um mich dort auszuruhen. Dann lese ich aus meinem Notizbuch, trage die Zeilen zur Probe laut vor und korrigiere die eine oder andere Zeile. Das wiederhole ich solange, bis ein Gedicht mir gut genug scheint, um es Ihnen vorzulegen.

Vor ein paar Tagen, es war ein nasskalter Nachmittag, kam ich wieder mit dem schweren Rucksack aus dem Nachbarort und sehnte mich schon nach besagter Stelle, um zu rasten. Schneeregen fiel durch die kahlen Äste der Buchen und Eichen auf das modernde Laub des letzten Herbstes am Boden. Wasser sammelte sich auf meinem Hut und tropfte mir vor den Augen von der Krempe herab.

Erschöpft stellte ich den Rucksack auf einen trockenen Fleck zwischen den Fichten und lehnte ihn an einen der drei mächtigen Stämme. Dann nahm ich daneben Platz und ruhte mich aus. Durch das dichte Nadeldach drang kein einziger Tropfen. Ich schloss die Augen und atmete den würzigen Duft von Rinde, Harz und Fichtennadeln tief ein.

Einige Minuten später nahm ich mein kleines Notizbuch zur Hand, stand auf und rief die Zeilen in den Wald.

An dieser Stelle hatte ich immer das Gefühl, dass man mir zuhört, dass jemand meine Werke zu würdigen weiß. Außer ihnen natürlich, Frau Stahl, und die geschätzten, aber leider wenigen Leser.

Plötzlich traf mich ein dicker Zapfen an der Schulter und kullerte mir vor die Füße. Ich schaute nach oben und scherzte in die Kronen über mir: "Soll ich aufhören? Gefällt es euch nicht?"

Dann las ich laut und mit kräftiger Stimme weiter.

Erneut traf mich ein Zapfen. Diesmal am Oberschenkel. Nun, das konnte aber nicht sein, wenn er doch von oben nach unten fällt. Jemand musste den Zapfen nach mir geworfen haben. Aber es war niemand zu sehen. Ich rief: "Hallo", und das er heraus kommen möge.

Ich lauschte in den Wald hinein. Aber bis auf die überall herabrieselnden, halb gefrorenen Wassertropfen war nichts zu hören. Ich steckte das Notizbuch ein und griff nach meinem Rucksack.

Plötzlich hörte ich ein leises Kichern. Doch ich konnte wieder niemanden entdecken. Abermals rief ich in den Wald hinein, und eine zarte Kinderstimme antwortete: "Ich bin hier, sieh genau hin."

Dann trat ein kleines Mädchen in einem Trägerkleidchen hinter einem der mächtigen Fichtenstämme hervor und lächelte mich auf eine zauberhafte Weise an.

Unter ihrem Kleid trug sie nur ein dünnes Hemdchen mit Puffärmeln, und ihre Füße steckten in flachen, schwarzen Riemchenschuhen.

Keinesfalls war das eine geeignete Bekleidung für einen Spaziergang im Wald an einem kalten Tag im März.

"Kindchen", sagte ich. "Was machst du in diesem Aufzug hier. Du holst dir den Tod, bei diesem Wetter."

Doch sie lachte nur und begann, um die drei Fichtenstämme herum zu laufen. Dabei wechselte sie von einem Bein auf das andere und sang: "Aber das bin ich doch schon, aber das bin ich doch schon, aber das bin ich doch schon …"

Ich drehte mich mit ihr und ließ sie nicht aus den Augen. Doch mir wurde nach kurzer Zeit schwindelig. Ich musste mich hinsetzen und ließ mich wieder neben den Rucksack fallen.

"Was bist du schon?", fragte ich sie.

Sie unterbrach ihr Spiel, trat in die Mitte des Platzes unter den Fichten und blieb vor meinen Füßen stehen. Aus lebhaften, dunkelgrünen Augen schaute sie mich an. Ihre schulterlangen blonden Haare wurden von einem Haarreif ordentlich gehalten. Ich kannte kein zweites Kind, welches sich heutzutage noch derart kleidete.

"Na, tot. Ich bin schon lange tot und viel älter als du."

Ich zweifelte natürlich an dem Wahrheitsgehalt ihrer Behauptung.

"Weißt du nicht, dass man nicht lügen darf? Und außerdem bist du höchstens neun oder zehn Jahre alt."

Sie bekam ganz große Augen und holte tief Luft.

"Aber, ich lüge nicht. Frag doch meine Schwestern. Ich bin über 100 Jahre alt."

Ich wurde ungehalten und wollte mich von dem Kind nicht weiter an der Nase herumführen lassen. Außerdem hatte der Schneeregen nachgelassen, und es wurde Zeit für den Heimweg. Es dämmerte bereits.

"Jetzt übertreibst du es aber. Ich sehe hier niemand außer uns. Wie heißt du überhaupt?"

Ich erhob mich, wendete mich von ihr ab und bückte mich nach dem Rucksack.

"Marie", sprach eine junge Frau hinter mir. "Sie heißt Marie."

Ich erschrak und fuhr herum. Vor mir standen Marie und zwei weitere junge Mädchen. Ich trat einen halben Schritt zurück und wäre beinahe über mein Gepäck gestolpert. Die Drei kicherten, und die Älteste der Drei sagte: "Seht nur, wie ungeschickt unser Dichter ist."

"Wer seid ihr, wo kommt ihr her, was macht ihr hier?", stammelte ich.

"Wir sind die Pfeiffer Schwestern. Ich bin Anne, das ist Lisa und Marie kennst du ja schon."

Die Drei sahen sich tatsächlich sehr ähnlich. Dass sie Geschwister waren, schien zu stimmen. Auch ihre Kleidung glich der von Marie. Nur ihre blonden Haare waren länger und zu einem Zopf geflochten. Lisa musste so um die vierzehn Jahre alt sein und Anne nicht älter als siebzehn oder achtzehn.

"Wir sind aus Dhronecken."

So langsam schien sich die Sache aufzuklären. Dhronecken ist ein kleines Dorf ganz in der Nähe.

"Was macht ihr um diese Zeit und bei diesem Wetter so leicht bekleidet im Wald?"

"Er kennt unsere Geschichte nicht", sagte Lisa und sah Anne dabei an.

"Ich habe ihm schon gesagt, dass wir tot sind", sprach Marie etwas altklug dazwischen.

Lisa schaute mich an.

"Wir wurden an dieser Stelle im Spätsommer 1909 während eines schweren Gewitters vom Blitz erschlagen. Wir waren auf dem Heimweg vom Wochenmarkt in Thalfang. Früher führte die Straße durch den Wald. Nachdem die neue Straße gebaut wurde, verwilderte der alte Weg, und es blieb nur noch dieser schmale Pfad übrig."

"Ja, schade", bedauerte Marie. "Früher konnten wir die Leute erschrecken. Das war lustig. Jetzt ist es hier langweilig. Nur du kommst ab und zu hierher und liest uns Gedichte vor. Anne mag deine Gedichte sehr."

Sogleich zog Anne sie am Ärmel. Marie blickte zu ihr auf und lächelte sie über das ganze Gesicht an.

Von dem Schicksal der Pfeiffer Schwestern hatte ich noch nichts gehört. Ich zog erst vor 20 Jahren in diese Gegend.

"Dann seid ihr Geister?", fragte ich ungläubig.

"Ja, aber du brauchst keine Angst zu haben. Wir tun niemandem etwas."

"Was macht ihr hier?"

"Früher haben wir uns einen Spaß daraus gemacht, die Leute zu erschrecken. Aber jetzt kommt außer dir niemand mehr hierher."

Ich wollte den letzten Rest Tageslicht nutzen, um sicher nach Hause zu kommen. Andererseits konnte ich mich von den Dreien nicht losreißen.

"Wo seid ihr, wenn ihr nicht hier seid?"

"Toooooot", zog Marie das Wort in die Länge und schüttelte ihren Kopf, als würde sie die Geduld mit mir, dem alten Herrn, der immer noch nicht verstand, was gerade mit ihm geschah, verlieren.

"Ja, das weiß ich ja jetzt."

Eigentlich wollte ich von ihr wissen, wie es ist, wenn man tot ist. Aber ich zügelte meine Neugier und nahm mir vor, später noch einmal danach zu fragen.

"Ich muss jetzt gehen, es wird dunkel."

Anne trat einen Schritt vor.

"Kommst du morgen wieder und liest uns deine Gedichte vor?"

"Das kann ich gerne machen. Seid ihr denn jeden Tag hier?"

"Wir können hier sein, wann immer wir wollen."

"Dann komme ich morgen wieder und mache uns ein Feuer. Mir ist doch sehr kalt, so früh im Jahr im Wald."

Ich drehte mich um, hob meinen Rucksack vom Boden hoch und schnallte ihn mir um. Als ich mich von den Dreien verabschieden wollte, waren sie bereits verschwunden.

Ich lief um die Bäume herum und rief nach ihnen. Doch niemand war zu sehen, niemand antwortete mir.

Mit dem letzten Tageslicht verließ ich den Wald. Die feuchte und kalte Frühjahrsluft war mir in die Kleidung gekrochen. Mit zügigen Schritten lief ich nach Hause und freute mich auf einen warmen Ofen.

Als ich Zuhause eintraf, war es bereits dunkel. Ich zündete in der Stube den Ofen an und verräumte den Einkauf in der Küche.

Meine Gedanken kreisten um diese unglaubliche Begegnung im Wald. Ich empfand die Anwesenheit der drei Schwestern als sehr angenehm und freute mich auf den nächsten Tag.

Nachdem ich mir ein kleines Abendbrot zubereitet hatte, setzte ich mich in der Stube an den Ofen, aß und trank und versank in den Erinnerungen an die vergangenen Stunden.

Ich dachte an das furchtbare Schicksal von Anne, Lisa und Marie und wie unbeschwert sie damit umgingen. Wie es wohl war, wenn man tot war? Wo verbringt man dann seinen Tag? Gibt es dort überhaupt einen Tag, eine Nacht, ist es warm oder kalt, hell oder dunkel?

An diesem Abend ging ich erst spät zu Bett und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Frederike Stahl legte Thadeus Reinhardts Tagebuch aus der Hand und war davon überzeugt, der Mann war offenbar doch verwirrt. Was für eine wilde Geschichte.

Drei vom Blitz erschlagene Schwestern erscheinen ihm im Wald. Was sollte sie davon halten? Anscheinend litt er mehr unter seinem mäßigen Erfolg als Dichter, als er zugeben wollte und tröstete sich mit Lesungen im Wald, vor einem Publikum, welches seiner durchaus lebhaften Fantasie entsprungen war.

Erst jetzt bemerkte sie, dass die Sonne hinter den hohen Fliederbüschen verschwunden war und es bereits dämmerte. Sie schaltete die Lampe über dem Küchentisch an und schaute nach etwas Essbarem für ihr Abendbrot.

Die Vorräte in den Schränken waren gut sortiert. Sie hatte die Auswahl zwischen allerlei Konserven und entschied sich für eine Reissuppe mit Hühnerfleisch und Gemüse.

Während sie die Suppe in einem Topf auf dem Herd erwärmte und darin herum rührte, kehrten ihre Gedanken zu Thadeus Reinhardt zurück.

Von Walter Hoffmann wusste sie, dass Dorfbewohner die Behörden eingeschaltet hatten, nachdem sie ihn dabei beobachten konnten, wie er Hausrat in den Wald getragen hatte und er seine Zeit nur noch dort verbrachte. Gleichzeitig zeigte er keinerlei Interesse mehr für seine Nachbarn oder andere Dorfbewohner. Natürlich sah dieses Verhalten danach aus, als wäre er nicht mehr ganz richtig im Kopf.

Frederike Stahl nahm den Topf von der Herdplatte und füllte eine große Tasse mit der Reissuppe. Dann nahm sie wieder am Küchentisch Platz, stellte die Suppentasse vor sich und zog Thadeus Reinhardts Tagebuch zu sich heran. Während sie mit der rechten Hand den Löffel hielt, vorsichtig darüber pustete und die dampfende Suppe in ihren Mund schob, blätterte sie mit der Linken um und las weiter.

Früh am Morgen erwachte ich und bereitete mir ein kräftiges Frühstück zu. Dann suchte ich alle meine Gedichtbände zusammen und brach auf in den Wald. Es sollte ein sonniger, trockener Frühjahrstag werden. Die Sonne hatte schon ein wenig Kraft und vertrieb den letzten Nebel von den Wiesen.

Am frühen Vormittag traf ich bei den drei Fichten ein, stellte den Rucksack ab und begann damit, Holz zu sammeln.

Ich hatte nach den vergangenen, nasskalten Tagen etwas Mühe, genug trockene Äste zu finden, aber für ein kleines Feuer sollte es reichen. Ich zündete es an, nahm davor Platz und rief nach Marie. Ich konnte es kaum erwarten, die drei Schwestern wieder zu sehen.

Plötzlich standen sie vor mir und Anne fragte sogleich nach meinen Versen.

"Aber ja, ich habe sie dabei", beruhigte ich sie und begann, vorzulesen.

Nach jedem Gedicht klatschten die Drei Beifall und forderten mich auf, das nächste vorzutragen. Nachdem das Feuer herunter gebrannt war, machte ich eine Pause und sammelte weitere trockene Äste. Als die Flammen erneut hoch loderten, bat Anne mich, ein von ihr selbst geschriebenes Gedicht vortragen zu dürfen.

"Ich habe es geschrieben, bevor wir an jenem Tag in den Wald aufbrachen. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, es jemandem vorzulesen."

Ich setzte mich wieder an das Feuer und hörte ihr gespannt zu.

Schmetterling, oh Schmetterling.

Sag’ mir schnell, wo fliegst du hin?

Könntest du mich doch nur heben.

So vieles könnten wir erleben.

So leicht dein Flug, so bunt dein Kleid.

Sag’ mir, ist dein Weg noch weit?

Du reist so leicht und ohne Rast.

Erzähl was du gesehen hast.

Hast du den Herbst schon mal gesehen?

Wenn Blätter bunt zu Boden gehen.

Der Regen jede Wiese tränkt.

Und eine raue Zeit anfängt.

Was ist im Winter, wenn es kalt?

Wird ein Schmetterling nicht alt?

Hast du erlebt, wie Flocken fallen?

Und Krähenrufe einsam hallen.

Du siehst zwar, wie man Scheite hackt.

Doch weißt du wie der Ofen knackt?

Wenn Frühling kommt, ist es nicht weit.

Bis du dich endlich hast befreit.

Wenn Sommer wird und Bäche rauschen.

Dann, nur dann, möcht’ ich gern’ tauschen.

An solchen Tagen beneid‘ ich dich sehr.

Wo ich fliegen möchte und noch viel mehr.

Beneid‘ ich dich um die Leichtigkeit.

Schmetterling sag, ist dein Weg noch weit?

Gerührt, mit Tränen in den Augen stand ich auf und verneigte mich vor Anne. Ich hatte soeben als Erster ein über 100 Jahre altes Gedicht gehört, vorgetragen aus dem Jenseits von der Verfasserin persönlich. Über meinen Beifall war Anne stolz und verlegen zugleich.

Der Tag verging, und ich vergaß sogar, zu essen und zu trinken. Ich gab Anne meine Bücher, und sie las uns laut daraus vor. Als es dämmerte und ich mich auf den Heimweg machen wollte, bat Lisa mich um einen Gefallen.

Bevor sie starb, spielte sie so gern auf ihrer Geige.

"Hast du eine Geige? Ich könnte euch darauf etwas vorspielen. Ich liebte es so sehr."

Ehe ich mich vor Jahrzehnten entschied, Lyriker sein zu wollen, bildete ich mir ein, die Welt mit meinen musikalischen Bemühungen beglücken zu können. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass mir das notwendige Talent fehlte. Mein Instrument legte ich beiseite und bewahrte es fortan an einem trockenen Platz in seinem Kasten auf. Es war inzwischen sicher verstimmt, aber für unsere Zwecke ausreichend.

Lisa konnte sich vor Freude kaum beherrschen.

Bevor ich mich für diesen Tag verabschiedete, umarmte sie mich und stimmte summend all die Stücke an, die sie uns am Morgen vortragen wollte. Dann wurden die Umrisse der Drei unscharf, und sie verschwanden vor dem Hintergrund des abendlichen Waldes.

Nachdem ich Zuhause angekommen war, verspürte ich großen Hunger und Durst. Trotzdem suchte ich zunächst die Geige und den Bogen hervor und kontrollierte beides.

Alles war noch einwandfrei. Ich stimmte das Instrument, so gut ich konnte, und legte es zurück in den Kasten. Dann erst versorgte ich mich selbst und schlief auf dem Sessel in der Stube ein.

Es war ein anstrengender Tag für mich, aber ich war schon lange nicht mehr so glücklich gewesen.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit steifen Gliedern. Der Ofen war kalt. Neben mir stand das Geschirr von meinem Abendessen, und das Licht hatte die ganze Nacht gebrannt. Der Rücken schmerzte, ich hatte mich offenbar verlegen oder im Wald verkühlt. Dennoch konnte ich es kaum erwarten, in meinen Zauberwald aufzubrechen und Lisa die Geige zu überreichen. Hastig räumte ich auf, frühstückte und verließ das Haus. Wieder kündigte sich ein sonniger Tag an, und diesmal hatte ich mich mit einem Apfel und etwas Tee versorgt.

Da es wärmer als am Vortag war, verzichtete ich zunächst darauf, ein Feuer zu entfachen, und rief sofort nach Lisa. Ich war sehr gespannt, was sie uns vortragen würde.

Sogleich erschienen die Drei, und ich gab Lisa die Geige.

Sie zupfte ein wenig an den Saiten, spannte die eine, lockerte die andere und legte das Instrument an die vor Aufregung gerötete Wange. Dann schloss sie ihre Augen und kurz darauf erklangen ihre zauberhaften Melodien durch den Frühjahrswald.

Anne und Marie setzten sich zu mir, und wir lauschten einem einzigartigen Spiel.

Sonnenstrahlen fielen durch die kahlen Äste. Sie wärmten die Luft und den Boden.

Vereinzelte Insekten summten auf der Suche nach den ersten, frühen Blüten des Jahres umher, und Lisa gab nur für uns ihr Konzert. Ein Moment jenseits aller Wirklichkeit. Unvergesslich. Voller Zauber und mit einer tiefen Zufriedenheit erfüllend, welche ich noch nie in meinem Leben verspürte.

Wenn ich in jenem Augenblick hätte sterben müssen, wäre es für mich in Ordnung gewesen. Nichts und Niemand konnte mich in dem Moment von diesem Ort vertreiben. Mit keinem auf der Welt hätte ich tauschen wollen. Was für eine Verschwendung, diese drei wunderbaren Menschen durch ein Unwetter zu verlieren.

Am Nachmittag entfachte ich ein Feuer und blieb bis über die Dämmerung hinaus. Ich hatte große Mühe, auf meinem Heimweg in der Dunkelheit nicht zu stürzen.

So vergingen die folgenden Tage wie im Fluge, und bald ging ich abends nicht mehr nach Hause. Ich schlief am Lagerfeuer und verbrachte so die Nächte im Wald. Ich kehrte nur noch selten heim und erlebte meinen Sommer mit Anne, Lisa und Marie. Ich war wie verzaubert von ihrem angenehmen Wesen, all ihrem Liebreiz und genoss ihre Gesellschaft in jeder Minute.

Wir dichteten, musizierten, tanzten, lachten und erzählten uns Geschichten. Ich berichtete aus meinem Leben und was es heute an modernem Zeugs so alles gibt. Gespannt lauschten sie meinen Worten über Telefon, Autos und Fernsehen. Wobei ich ihnen versicherte, dass sie nichts Wesentliches verpasst hätten und sich die Menschen mittlerweile oft nach dem einfachen Dasein vor Hundert Jahren sehnten.

Marie hatte viel Spaß daran, mit uns fangen zu spielen und von ihren Streichen zu erzählen, als die alte Straße noch an den drei Fichten vorbei führte und sie allerlei Schabernack mit den Reisenden trieben.

Manchmal mussten wir so sehr lachen, dass uns der Bauch schmerzte. Endlich war ich nicht mehr einsam. Endlich war ich glücklich und hatte eine Familie gefunden. Bisweilen vergaß ich, dass die Drei nicht mehr lebten, dass sie Wesen aus einer anderen Welt waren.

Die Einkäufe brachte ich nicht mehr in mein Haus, sondern zu dem Platz unter den drei Fichten. Bettzeug, Decken, Geschirr, Gefäße und Besteck folgten. Lediglich die Kleidung wusch und richtete ich noch daheim und pflegte meinen Körper, wenn auch nicht mehr so sorgfältig wie bisher üblich.

Während ich darauf wartete, dass die Maschine ihren Waschgang beendete und ich die Wäsche entnehmen und zum Trocknen aufhängen konnte, schrieb ich an diesem Tagebuch.

Bei einem der kurzen Aufenthalte in meinem Haus, ich zog mir soeben frische Kleidung über, klopfte die Alte von nebenan an der Tür.

Ich mochte jene Frau nie, war aber immer höflich zu ihr. Auf ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft habe ich stets geachtet. Nichts ist mir mehr zuwider, als Streitereien um Belanglosigkeiten.

An diesem Tage allerdings fragte die Alte so forsch nach meinem Verbleiben in den letzten Monaten, dass ich sie schroff zurückwies und ihr sagte, dass es sie nichts anginge. Beleidigt zog sie davon.

Wenige Tage später traf ich sie im Wald, ganz in der Nähe der drei Fichten. Sie hatte unser Lager entdeckt.

Marie hatte ihren Spaß mit ihr und der Alten einen gehörigen Schrecken eingejagt. Bleich und schwer atmend kam sie mir auf dem schmalen Weg entgegen und stolperte an mir vorbei in Richtung Dorf.

Als ich am Tag darauf von meinem Einkauf im Nachbarort zurückkehrte, berichtete Marie mir aufgeregt, dass meine Nachbarin erneut bei den Fichten gewesen war. Diesmal begleitet von einer Frau und einem Polizisten. Sie hätten die umherliegenden Sachen durchstöbert und sich ein paar Minuten später wieder auf den Weg gemacht.

Anne meinte, es wäre besser für mich, wenn Marie sich mit den Dreien keinen Spaß erlauben würde.

Ich bekam Angst um mein kleines Paradies und beschloss, am nächsten Tag in das Dorf zu gehen und die Alte zur Rede zu stellen, auf dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten scheren soll.

Diese Aufzeichnungen sendete ich dem Notar Walter Hoffmann in einem Umschlag zu, mit der Bitte, es zu meinen übrigen Unterlagen zu legen und es ihnen im Falle meines Todes auszuhändigen.

Frederike Stahl las die abschließenden Zeilen und legte das Tagebuch zur Seite.

An jenem Tag schrieb Thadeus Reinhardt ein letztes Mal seine Erlebnisse auf. Schon am folgenden Tag wurde er in das Pflegeheim eingewiesen.

Der Hausrat im Wald und sein Verhalten, vor allem der Nachbarin gegenüber, ließen den Behörden wohl kaum eine andere Möglichkeit, als ihn in Gewahrsam zu nehmen.

Für die Beamten lebte er verwahrlost und verwirrt alleine im Wald. Auch Frederike Stahl konnte seine Aufzeichnungen nicht anders deuten.

Hätte Thadeus Reinhardt ihr von den drei Schwestern in seinem Zauberwald erzählt, hätte sie ihn sicher gefragt, ob er getrunken hatte.

Sie erhob sich, verräumte das Geschirr und suchte nach etwas zu trinken.

Unter dem Fenster stand ein hölzernes Regal. Darin lagen mehrere Flaschen. Sie wählte einen roten Wein, nahm ein Glas aus dem Küchenschrank, löschte das Licht und setzte sich in der Stube in Thadeus Reinhardts großen, alten Sessel.

„Was für eine unglaubliche Geschichte“, dachte sie und trank einen Schluck Wein.

Ober am Ende Opfer der Einsamkeit geworden war und sich das alles so sehr gewünscht hatte, dass es in seiner Fantasie täglich gegenwärtig wurde?

Konnte er am Ende nicht mehr unterscheiden, zwischen Wunsch und Wirklichkeit? War das aggressive Verhalten der Nachbarin gegenüber ein Indiz auf den geistigen Verfall?

Frederike Stahl verbrachte diesen Abend ohne Licht in der dunklen Stube, in Thadeus Reinhardts Sessel. Sie trank seinen Wein und schaute stundenlang aus dem Fenster.

Als der volle Mond von einem sternenklaren Himmel herab hell über die Fliederbüsche hinweg in das Zimmer schien, ging sie zu Bett und fiel in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Warm strahlte die Herbstsonne in das Gästezimmer. Als Frederike Stahl erwachte, war es schon früher Vormittag. Sie stand auf, kochte sich in der Küche einen Kaffee und zog sich an. Dann suchte sie sich im Kühlschrank ein Frühstück zusammen. Während sie aß, beschloss sie, in den Wald zu gehen und nach den drei Fichten zu suchen.

Da sie die Stelle nicht kannte, klingelte sie bei Thadeus Reinhardts Nachbarin und fragte nach dem Weg. Die Alte war freundlich und bot ihr an, sie zu begleiten. Doch Frederike Stahl lehnte dankend ab, ließ sich den Weg erklären und ging los.

Der Spaziergang durch den von der Sonne durchfluteten Herbstwald tat ihr gut. Sie spürte die wärmenden Strahlen durch das bunte Herbstlaub auf der Haut. Es roch nach Pilzen und welkem Laub. Hummeln und Bienen summten durch das Gehölz, auf der Suche nach den letzten Blüten des Jahres. Ein leichter Wind wehte durch die Kronen der Bäume, hier und da löste sich ein Blatt und segelte lautlos zu Boden.

Bald hatte sie die drei Fichten im Wald erreicht und sah sich um. Überall lag Thadeus Reinhardts Hausrat herum.

Über einen Teller kroch eine Schnecke, Ameisen krabbelten über seine Gedichtbände, und an der Feuerstelle stand ein halb voller Becher mit einer braunen Flüssigkeit darin.

Der Platz glich dem Lager eines Obdachlosen.

Decken, Kleidung, Gefäße, Besteck und leere Lebensmittelverpackungen lagen verstreut unter den Bäumen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, den Platz zu räumen, nachdem Thadeus Reinhardt in das Pflegeheim eingewiesen wurde.

Mit einer Schnur befestigt hing eine Geige von einem Ast herab. Darunter, an den Baumstamm gelehnt, stand der Bogen. Frederike Stahl hockte sich davor, griff nach dem Geigenbogen und stocherte damit in den Decken und den umherliegenden Kleidungsstücken und Plastiktüten.

"Ich soll Ihnen sagen, dass Sie sich nicht um ihn sorgen sollen. Es geht ihm gut, er ist jetzt genau dort, wo er sein möchte."

Frederike Stahl erschrak, fuhr herum und sprang auf. Ihr Herz klopfte ihr bis in den Hals hinauf. Vor Schreck ließ sie den Geigenbogen fallen, bekam für einen Moment keine Luft und rang nach Atem.

Vor ihr stand ein kleines Mädchen in einem Trägerkleidchen und lächelte sie an. Unter ihrem Kleid trug sie nur ein dünnes Hemdchen mit Puffärmeln und ihre Füße steckten in flachen, schwarzen Riemchenschuhen. Aus lebhaften, dunkelgrünen Augen schaute sie Frederike Stahl an. Ihre schulterlangen blonden Haare wurden von einem Haarreif ordentlich gehalten.

"Marie", entfuhr es Frederike Stahl. "Um Gottes Willen, hast du mich erschreckt."

Doch Marie lachte nur fröhlich und begann, um die drei Fichtenstämme herum zu laufen. Dabei wechselte sie von einem Bein auf das andere und sang: "Ja, ja, so sind sie, die Geister im Wald, nehmt euch in acht, nehmt euch in acht."

Dann wurden ihre Konturen blasser. Sie lachte und sang und tanzte um die Stämme der mächtigen Bäume herum, bis sie nicht mehr zu sehen war.

Frederike Stahl nahm den Geigenbogen wieder auf und stellte ihn an den Baum, an dessen Ast Lisas Geige hing.

Sie suchte alle umherliegenden Gedichtbände für Anne zusammen und legte sie daneben. Dann trat sie ein paar Schritte zurück, schaute stumm auf den Platz unter den Fichten und nahm Abschied von Thadeus Reinhardt, Anne, Lisa und Marie.

Erst viel später erfuhr ich, dass Frederike Stahl die Geschichte von Thadeus Reinhardt, Anne, Lisa und Marie unter seinem Namen veröffentlicht hatte.

Das kleine Buch „Drei Schwestern im Zauberwald“ wurde ein großer Erfolg und es wurde sogar in fremde Sprachen übersetzt.