Unicorn Chronicles: Einhornherz und Drachenschmerz - Isabella Benz - E-Book

Unicorn Chronicles: Einhornherz und Drachenschmerz E-Book

Isabella Benz

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Beschreibung

Er hat sie verraten. Sie will ihn vergessen. Ausgerechnet Paris – Évelynes Suche nach ihrem Vater führt die Einhornbändigerin mitten ins Hoheitsgebiet der Familie Durand. Prompt nutzen diese die Gelegenheit und enführen Évelynes Einhorn. Évelyne gibt alles, um ihr Einhorn zu retten, doch sie stößt auf einen unerwarteten Gegner: ihren besten Freund Aiden, der angeblich die Welt bereist. Aiden, der sie seit Wochen belügt. Aiden, der ihr Herz noch immer ins Taumeln bringt. Er arbeitet für die Durands und damit gegen Évelyne.

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Was bisher geschah
Prolog
1 Eine Nachricht von Aiden
2 Paris
3 Spuren der Vergangenheit
4 Pont de St. Hilaire
5 Spionin wider Willen
6 Chartres
7 Ein klebriger Köder
8 Verbrannte Tannennadeln
9 Nicolas Bouillot
10 Jacques’ Klauen
11 Verborgener Keller
12 Todesmaschine
13 Vormundschaft
14 Unerwartetes Wiedersehen
15 Kein Team
16 Spiel mit dem Feuer
17 Verstrickt
18 Der Betörer
19 Das Rätsel ›v‹
20 Tödliches Geheimnis
21 Eine gestohlene Nacht
22 Tauschhandel
23 Außer Kontrolle
24 Zertrümmert
25 Hass und Liebe
26 Drachenmord
27 Die Vollversammlung
28 Verrat
29 Freund und Feind
30 Einhornherz
31 Einhornraub
32 Schlaf, Kindchen schlaf
33 Die Saat des Hasses
34 Dynamit
35 Die Ausgestoßene
36 Das wahre Band
37 Drachenschmerz
38 Gabriel Morel
39 Rache
40 Zum Preis des Todes
41 Vergebung
Epilog
Nachwort und Danksagung
Content Notes
DIE AUTORIN

 

 

WELTENBAUM VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

06/2024 1. Auflage

 

Einhornherz & Drachenschmerz

 

© by Isabella Benz

© by Weltenbaum Verlag

Egerten Str. 42

79400 Kandern

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Magicalcover

Druck: CreativWorkDesign

Lektorat: Angellika Bünzel

Korrektorat: Michael Kothe

Sensitivity Reading (in Ausschnitten): Jade S. Kye

Buchsatz: Giusy Amé

Autorenfoto: Privat

 

 

ISBN 978-3-949640-74-2

 

www.weltenbaumverlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

Isabella Benz

 

 

 

Einhornherz

und

Drachenschmerz

 

 

Unicorn-Chronicles

Band 2

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch erhebt keinen Wirklichkeitsanspruch, obwohl reale Orte und Institutionen erwähnt werden. Es ist ein Unterhaltungsroman, dessen beschriebene Figuren, Begebenheiten, Gedanken und Dialoge fiktiv sind. Sollten sich dennoch Parallelen zur Wirklichkeit auftun, ist dies reiner Zufall.

 

 

 

Der Roman behandelt Themen, die für manche Personen belastend sein können. Zum Teil klingen diese bereits im Klappentext an, z. B. die Angst vor Pferden. Bei Bedarf findest du eine Liste der Themen am Ende dieses Buches sowie auf meiner Homepage https://www.isabella-benz.de.

 

 

 

Für Kora, Batavi und Ganador, ohne die diese Geschichte niemals entstanden wäre.

 

Was bisher geschah

 

Als Évelyne erfährt, dass sie von einer Einhornbändigerin abstammt, ist sie alles andere als begeistert. Seit einem Reitunfall fürchtet sie sich vor Pferden. Eine Verbindung zu einem Einhorn aufbauen? Für Évelyne unmöglich. Doch in Montpellier verwandelt ein Lebensräuber Menschen in Untote und Évelyne kann ihn nur aufhalten, wenn sie ihr Erbe akzeptiert. Allerdings hat ihre verstorbene Mutter Blanche nicht nur Évelyne ihr Erbe verschwiegen, sondern auch den anderen Wesenshütern die Existenz ihrer Kinder. Kurz vor ihrem Tod bat Blanche die Drachenreiterin Rebecca, Évelyne und ihren Bruder Léon vor der Familie Durand zu schützen, deren Oberhaupt Jacques die Wesenshüter in Westeuropa anführt. Rebecca stellt sich der Aufgabe – selbst dann noch, als Aiden und Évelyne nach einem Schulwechsel dieselbe Klasse besuchen und sich anfreunden. Doch schließlich offenbart Évelynes Einhorn Aiden, wessen Tochter sie ist. Er sucht Abstand zu ihr, da ihre Mutter versehentlich den Drachen seines Vaters tötete und angeblich auch dafür verantwortlich ist, dass sein Drache an seinem siebzehnten Geburtstag nicht schlüpfte. Als der Lebensräuber Évelyne bedroht, kehrt er jedoch an ihre Seite zurück. Dadurch findet Aiden seinen Drachen, dessen Ei der Lebensräuber gegen eine Attrappe ausgetauscht hatte. Im Kampf gegen die Untotenarmee baut Évelyne endlich eine Verbindung zu ihrem Einhorn auf. So kann sie Aiden retten, der den Lebensräuber tötet. Nach einer Aussprache vereinbaren sie, gemeinsam nach Évelynes verschwundenem Vater zu suchen. Derweil eröffnet Jacques Durand seinem Sohn Clément, dass er das perfekte Druckmittel gegen Évelyne ergattert hat: ihren Vater.

Prolog

 

Aiden

 

Sie schmiegte ihren Körper an seinen und küsste ihn auf die Wange. Ihre Lippen wanderten zu seinem Mund, schmeckten süß, nach Trauben und Schokolade. Mit einem wohligen Seufzen sank er in ihre Arme.

 

Eine Krähe krächzte.

Direkt vor ihm stieß sich das Tier vom Asphalt ab und glitt durch den Schein einer Straßenlaterne. Aiden schluckte schwer. Dass ihn nur der Vogel aufgeschreckt hatte und er nicht gegen einen Laternenpfahl gelaufen war, grenzte an ein Wunder. Der Tagtraum hatte ihn komplett verschlungen. Wie so oft in letzter Zeit.

Obwohl er noch vor einer halben Stunde bei Évelyne gewesen war, sehnte er sich bereits wieder nach ihr. Trotzdem hatte er abgelehnt, die Nacht bei ihr zu verbringen, und sie damit verletzt. Er kickte einen Stein fort, der durch das Laub auf dem Bürgersteig purzelte. Wieso konnte er ihr nicht einfach sagen, wovor er Angst hatte? Als ob sie ihn auslachen würde. Ach, Schluss damit!

Er holte das Smartphone aus der Hosentasche und schrieb ihr eine Nachricht: ›Tut mir leid wegen vorhin. Reden wir morgen? Keine Ausflüchte mehr, versprochen.‹Im selben Moment, da er die Botschaft abschickte, klickte einige Meter vor ihm eine Autotür. Aiden hob den Kopf und erstarrte.

Eine junge Frau stieg im Lichtkegel der nächsten Laterne aus einem Wagen. Ihr Afro war zu einem lockeren Knoten hochgesteckt, aus dem sich einzelne enge Korkenzieherlocken gelöst hatten. Ihre dunkelbraunen Iriden glänzten und die vom Gloss schimmernden Lippen zeigten ein ebenso herzliches Lächeln.

»Na, überrascht?«, begrüßte Likeleli ihn auf Englisch.

Aiden öffnete den Mund – und schwieg. Er hätte sich längst bei ihr melden müssen, doch den Gedanken schob er seit Wochen von sich, weil er nicht wusste, was er ihr sagen sollte. Es stimmt, wir haben die Verlobung aufgelöst, weil alle dachten, mein Drache sei tot. Und ja, er ist wieder da, aber ich kann dich trotzdem nicht heiraten.

»Was ziehst du denn für ein Gesicht?«

»W-wegen der Verlobung ...«

»Ach das.« Likeleli winkte ab. »Vergiss es. Wenn mir das wichtig gewesen wäre, hätte ich direkt nach deinem Geburtstag darauf bestanden, dass wir verlobt bleiben. Faktisch warst du immer ein Drachenreiter.«

Er schnaubte. Ein Drachenreiter ohne Drachen.

»Was ich damit sagen will: Ich hatte selbst schon überlegt, mich von dir zu trennen. Mal ehrlich, ich mag dich, aber ich habe der Hochzeit nur zugestimmt, weil es gefühlt alle von uns erwartet haben. Dieses komische Netzwerk junger Drachenreiterinnen und Drachenreiter ist doch eine einzige Single-Verkupplungs-Börse, auch wenn das niemand ausspricht. Und mir reicht dieser Druck langsam. Also, was meinst du? Brechen wir das ungeschriebene Gesetz?«

Aidens Mundwinkel zuckten, doch er unterdrückte das Grinsen, ehe es seine Gesichtszüge eroberte. »Du kommst wohl kaum extra aus Lesotho, um mir das zu sagen. Was machst du hier? Und wieso hast du nicht vorher Bescheid gegeben?«

»Weil ich inkognito eingereist bin. Weder deine Mutter noch Jacques Durand sind informiert und das sollte erstmal so bleiben. Offiziell warte ich in Algier auf die Einreiseerlaubnis.« Eine frische Herbstbrise wirbelte die Blätter vom Asphalt auf. Likeleli fröstelte und vergrub die Hände in den Taschen ihres moosgrünen Mantels. Davon abgesehen wirkte sie erstaunlich unbekümmert.

»Hast du keine Angst, dass ich dich verrate?«

Sie legte den Kopf schief und eine Locke streifte ihr spitzes Kinn. »Wie lange kennen wir uns jetzt? Wir konnten uns mal vorstellen, den Rest unseres Lebens miteinander zu verbringen. Ich vertraue dir. Habe ich dich falsch eingeschätzt?«

»Kommt darauf an, warum du dich einschleichst und es meiner Mutter verheimlichst.«

»Warum ich es Jacques Durand verheimliche, spielt für dich keine Rolle? Dachte ich mir schon. Ich hörte, eure Familien haben so ihre Differenzen? Es soll um eine junge Einhornbändigerin gehen.«

Das klang, als hätten sich die Gerüchte um Évelyne verselbstständigt. Aiden sah sich besorgt um. Die Straße lag in der späten Abendstunde verlassen da, doch die hohen Mauern und die dahinter befindlichen Gärten boten perfekte Versteckmöglichkeiten, falls ihn jemand in Durands Auftrag beschattete. Er trat näher zu Likeleli und senkte die Stimme: »Was genau weißt du darüber?«

»Nur das Offensichtlichste. Die Einhornbändigerin Blanche Leroy versteckt ihre Kinder vor der Westeuropäischen Vereinigung. Der Vorsitzende Jacques Durand findet es heraus. In das Versteckspiel involviert sind die Drachenreiterin Rebecca Parker und ihr Sohn Aiden.«

»Ich habe Évelyne nicht versteckt. Clément wusste vor mir, wer sie ist.«

»Verstehe. Ich habe mich schon gefragt, wie du dich ausgerechnet in Leroys Tochter verlieben konntest, aber das erklärt einiges. Begleitest du mich ein Stück?« Likeleli deutete die Straße hinab, vorbei an der Kreuzung, an der er zu seinem Zuhause abbiegen musste.

Aiden straffte die Schultern. Seite an Seite passierten sie die Anwesen. Die roten Mauern, die die Villen umgaben, schmückte hier und da immergrüner Oleander, dessen gelbe Blüten mittlerweile welkten.

»Warum misstrauen du und deine Familie Jacques Durand?«, fuhr Likeleli nach einigen Schritten fort.

»Vertraut ihr in der Südostafrikanischen Vereinigung euren Vorsitzenden bedingungslos?«

»Die meisten glauben zumindest, dass sie stets das Beste für uns im Sinn haben. Bei euch wirkt das anders.«

»Machtspielchen gibt es in jeder Vereinigung.«

»Machtspielchen, die so weit gehen, dass eine Wesenshüterin ihre Kinder vor der Vereinigung versteckt?«

Aiden zuckte mit den Achseln. Er wusste schlicht nicht, was Blanche zu diesem Schritt bewogen hatte. Évelyne hoffte noch immer, Clément würde sein Versprechen erfüllen und ihr verraten, was zwischen ihrer Mutter und seinem Vater vorgefallen war, doch der Phoenixsänger wich ihr seit Wochen aus. Angeblich glättete er in der Zentrale der Westeuropäischen Vereinigung die Wogen, die Fourniers Rachefeldzug aufgewirbelt hatte. Der Gedanke schob Aiden unweigerlich das Bild des dunkel gewandeten Fourniers ins Gedächtnis, der ihn aus toten Augen vorwurfsvoll anstarrte, eine Hand auf seiner durchtrennten Kehle.

»So schlimm?«

»Bitte?« Aiden blinzelte.

Likeleli blieb im Schatten zwischen zwei Laternen stehen und packte ihn am Arm. »Wen hat Jacques Durand ermordet?«

»Was? W-wie kommst du ...?«

»Ich habe dich gefragt, weshalb ihr ihm misstraut, und du machst ein Gesicht, als würdest du an einen Toten denken. Leugnen ist zwecklos. Du weißt mindestens von einem Opfer Durands.«

Aiden stutze. Sein Gedankenkarussell trug ihn oft zu dem Mord auf dem Krankenhausdach, aber das konnte Likeleli nicht wissen. »Wovon sprichst du?«

»Ach, komm!« Sie trat so dicht an ihn heran, dass er ihr blumiges Deo roch. »Hendrik Visser verschwindet spurlos auf hoher See. Timeon Beck wird mit einer Überdosis Heroin in seinem Haus aufgefunden. Blanche Leroy stirbt beim Kampf gegen Untote. Gabriel Morel nimmt sich das Leben. Chiara Greco kommt bei einem Autounfall ums Leben, ihre Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Und das waren nur die letzten fünf Jahre.«

»Wenn du glaubst, Jacques Durand hätte mit all diesen Toten zu tun, weißt du mehr als ich.«

»An wen hast du denn gerade gedacht?«

»An den Anschlag auf das Krankenhaus. Von irgendwelchen Morden, die auf Durands Konto gehen, weiß ich nichts. Hast du Beweise?«

»Nein, aber es sind alles Personen aus seinem näheren Umfeld, die angeblich verunglückt oder verschwunden sind.«

Ein Schauder kletterte Aidens Wirbelsäule hinauf. Er kannte Jacques Durand als gerissenen und skrupellosen Vorsitzenden, aber traute er ihm auch mehrfachen Mord zu? Visser, Beck, Morel, Greco, aber Blanche ... Nein. »Leroy kannst du von der Liste streichen. Meine Mum war dabei, als sie starb. Das waren Untote.«

»Hat Leroy ihr das gesagt?«

»Wenn es dir wichtig ist, fragen wir sie.« Er wies zu der Kreuzung, die einige Meter hinter ihnen lag.

»Sie wird dadurch kaum wieder auferstehen. Aber es gibt eine Person, die in dieses Raster fällt und vielleicht noch am Leben ist. Mein Onkel Diboko.«

Likeleli sprach so leise, dass Aiden einen Moment brauchte, um sie zu verstehen. Dann keuchte er überrascht auf. Ihr Onkel Diboko Khoabane, der Botschafter der Südostafrikanischen Vereinigung, war kurz vor den Sommerferien auf dem Rückflug nach Lesotho verunglückt. Wenn Aiden sich recht erinnerte, hatte Likeleli seine damaligen Beileidsbekundungen seltsam distanziert aufgenommen. »Der Absturz wurde doch bestätigt, oder?«

»Aber von meinem Onkel und seinem Drachen fehlt jede Spur. Wenn er bei dem Flugzeugabsturz gestorben wäre, hätten wir wenigstens Lekethos Leiche finden müssen.«

»Du denkst, er war nicht in der Maschine.«

»Richtig.«

Aiden betrachtete sie, doch ihr Gesicht lag zu tief in den Schatten, um ihre Miene zu deuten. »Warum glaubst du das?«

»Weil mein Onkel den Durands im Weg stand.«

»Das spricht eher für seinen Tod.«

»Solange seine Leiche nicht gefunden wurde, besteht Hoffnung. Was weißt du über den Absturz?«

»Nichts. Warst du deshalb so distanziert zu mir? Dachtest du ernsthaft, ich hätte es dir verheimlicht, wenn jemand in meinem Wissen deinen Onkel entführt hätte?«

»Quatsch. Ich fürchtete eher, die Durands könnten dich benutzen. Immerhin wohnte Clément zu dem Zeitpunkt bei euch.«

Ein freudloses Lächeln umspielte Aidens Mundwinkel. Clément war offiziell nach Montpellier gekommen, um zu prüfen, ob Aiden auf die Liste der Ausgestoßenen gehörte, doch seine eigentliche Aufgabe hatte stets darin bestanden, Évelyne zu finden. »Lass mich raten: Die Geschichte rund um Blanche und Ève hat dich überzeugt, mir doch zu vertrauen? Und jetzt soll ich nach deinem Onkel suchen?«

»Nein. Ich werde selbst nach ihm suchen, sobald Jacques meinen Status als Botschafterin akzeptiert hat.«

»Du wirst die neue Botschafterin?«

»Traust du mir das etwa nicht zu?«

»Du eröffnest mir gerade, dass wegen Jacques zig Wesenshüter verschwunden oder verunglückt sind, einschließlich deinem Onkel. Deine Eltern kennen diesen Verdacht garantiert. Und trotzdem lassen sie dich zu ihm?«

»Sie fanden meine Argumente überzeugend.«

Ein ungutes Gefühl wand sich durch Aidens Magengrube. »Welche Argumente?«

»Erstens ...« Likeleli zählte mit, indem sie die linke Hand hob und den kleinen Finger abspreizte. »... wird Jacques Durand mich kaum als Bedrohung wahrnehmen, dazu ist er viel zu arrogant. Zweitens ist mein Französisch passabel genug, um mich zu verständigen. Und drittens habe ich eine Eintrittskarte, die mir sein Vertrauen sichern wird.«

Aiden atmete so heftig durch, dass seine Nasenflügel flatterten. »Du sprichst von mir. Ich soll deine Eintrittskarte sein. Tut mir leid, aber das wird nicht funktionieren. Wie du bereits sagtest: Das Verhältnis zwischen unseren Familien ist unterkühlt.«

»Dann wird es Durand umso mehr freuen, wenn du dich auf seine Seite schlägst.«

Aiden lachte auf, doch der Laut stockte ihm in der Kehle, als Likeleli keinerlei Spuren eines Scherzes zeigte. »Das wird er uns niemals abkaufen. Was ist mit den Nixenflüsterern in Jacques Umfeld? Manche schmecken Lügen noch aus tausend Wahrheiten heraus. Mit so einer Scharade fliegen wir sofort auf.«

»Nicht, wenn wir vorher die richtigen Schritte einleiten.«

»Und die wären?«

»Wir erfinden einen Grund, weshalb du Montpellier verlassen musst. Den tischst du deinen Eltern auf.« Ihre Stimme klang sanft wie ein Glockenspiel, ihre Worte hingegen glichen harten Paukenschlägen.

»Ich soll sie anlügen?«

»Ja. Dasselbe gilt übrigens für deine Einhornbändigerin.«

Aiden versteifte sich. »Nein, vergiss es.«

»Sie darf von unseren Plänen nichts wissen, sonst werden Durands Nixenflüsterer unsere Intrige sofort entlarven. Wenn sie dir glauben sollen, dass du dich von ihr abgewandt hast, musst du dich wirklich von ihr trennen. Und sollte Jacques es von dir fordern, musst du sie vielleicht sogar ausliefern.«

»Ausgeschlossen.« Aiden wich zurück.

»Jacques Durand aufzuhalten, ist wichtiger als Évelyne.« Likeleli folgte ihm.

»Dein Onkel ...«

»... ist vielleicht tot, ja.« Sie blieb im Licht einer Laterne stehen. Ihre schwarzen Iriden funkelten verärgert. »Glaubst du, ich würde von dir verlangen, sie zu verraten, wenn ich keinen sehr guten Grund hätte?«

Aiden verharrte. Likelelis Brust hob und senkte sich schnell, dennoch lag eine feste Entschlossenheit in ihrem Blick. Sie wollte ihren Onkel finden. Unbedingt. Doch hinter diesem Wunsch verbarg sich noch ein anderes Ziel. »Worum geht es hier wirklich?«

»Um alles.«

1 Eine Nachricht von Aiden

 

Évelyne

 

Ein Lufthauch kitzelte meine Nasenspitze. Ich drehte mich zur Seite, duckte mich. Schon kreiste die Waffe über meinem Kopf. Meine Kampfpartnerin vollführte eine Pirouette, die ich nutzte, um mich mit einem Hechtsprung in Sicherheit zu bringen. Unsere Schritte wirbelten den Sand der Waldlichtung auf. Sie setzte mir nach. Diesmal parierte ich ihren Hieb mit dem Säbel und fing ihre zweite Klinge mit dem Dolch ab. Ihr Atem schlug mir ins Gesicht, vermischte sich mit meinem. Wir maßen unsere Kräfte. Eine Sekunde. Zwei. Drei.

Ihre Lippen bogen sich zu einem siegessicheren Grinsen. Blitzartig wich sie zurück und traf mich mit der hölzernen Waffe an der Hand. Der Schmerz entriss mir den Säbel, dafür stieß ich meinen Dolch vor. Während Olives Klinge an meinem Hals lag, bohrte ich meine in ihre Seite.

»Sieht nach einem Unentschieden aus, Moreau.«

»Scheint so, Rocard. Genug für heute?«

»Ja, bitte.« Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Stirn. Unter dem tannengrünen Longshirt und der gleichfarbigen Leggings juckte mich der Schweiß.

Auch Olives hellbraune Haut glänzte verräterisch und einige dunkle Strähnen, die sich aus ihrem Trainingsdutt gelöst hatten, klebten ihr an den Wangen. Aus unserem Rucksack angelte sie zwei Wasserflaschen und warf mir eine zu. »Hier. Nicht, dass deine Drachenglucke mir noch vorwirft, du verdurstest meinetwegen.«

»Lass das Rebecca bloß nicht hören.«

»Was soll sie machen? Leugnen kann sie es schlecht. Sie übertreibt total.«

Wem sagst du das?, dachte ich und suchte den Himmel nach einem Schimmern in Drachenform ab, doch entweder tarnte Rebeccas Drachin Enya sich extrem gut oder sie überwachte Jolie.

»Reine Kompensation. Das wird besser, sobald Aiden zurück ist.«

Olives beiläufiger Satz versetzte mir einen scharfen Stich zwischen die Rippen. Ich setzte eine steinerne Miene auf. Möglichst unbekümmert bückte ich mich nach dem Säbel, spürte jedoch Olives forschenden Blick auf mir.

»Hast du etwas von ihm gehört? Seit seinem Geburtstag, meine ich?«

»Nein.« Das knappe ›Danke‹ auf meine dreiminütige Sprachnachricht wertete ich auch höchstens als Lebenszeichen und selbst das lag fast drei Wochen zurück.

Ich steckte Dolch und Säbel in den Gürtel, verstaute die Trinkflasche im Rucksack und wollte ihn gerade aufsetzen, als Olive ihn mir abnahm. Wortlos packte sie ihre Flasche ein, schlüpfte in die Riemen und musterte mich aus ihren bernsteinfarbenen Augen. Ich funkelte zurück. Wo blieb ihr Spott? Mit dem konnte ich besser umgehen als mit diesem beschissenen Mitleid. Hastig wandte ich mich ab. Olive folgte mir zurück nach Vailhauquès.

Wir gingen querfeldein, beschattet von Bäumen, deren feuchtes Laub den Boden bedeckte.

»Hast du es schon mitbekommen?«, fragte Olive nach einer Weile.

»Was?« Dass Aiden eine Drachenreiterin heiratet?

»Es gab einen neuen Fall von Brandstiftung. Diesmal hat es eine Kirche erwischt.«

Ich atmete auf, froh, dass Olive das Gespräch kein zweites Mal auf Aiden lenkte, dann sickerte die Bedeutung ihrer Worte zu mir durch und die Erleichterung zerplatzte. Seit Anfang Januar erschütterte wöchentlich mindestens eine Schreckensmeldung die französischen Nachrichten. Vor drei Tagen erst war ein Hotel ausgebrannt, das wegen Renovierungsarbeiten geschlossen hatte. Nun also eine Kirche. »Wurde jemand verletzt?«

»Rauchvergiftungen. Ein paar Leute wollten eine Madonnenstatue retten. Ist ihnen wohl sogar gelungen. Sie sind außer Gefahr. Angeblich tappen die Ermittelnden im Dunkeln, aber die Presse ist sich sicher, dass die Anschläge zusammenhängen. Macht nicht wirklich Lust auf Schule, oder?«

»Jetzt haben wir ja erstmal Wochenende und bald sind Ferien. Außerdem passen sie doch auf die Schulen besonders gut auf.«

»Hoffen wir es.« Olive umklammerte die Rucksackträger so fest, dass ihre Knöchel sich weiß färbten.

Ihre Angst schob mir die Videoaufnahmen der zerstörten Grundschule ins Gedächtnis: ein dreistöckiges Gebäude in einem Vorort von Paris. Die rechte Seite war komplett eingestürzt. Die Wände links standen zum Teil, doch der Ruß hatte sie schwarz gefärbt. Die Bombe war zu Jahresbeginn detoniert, als sich niemand im Gebäude befunden hatte. Anfangs hielt die Polizei das für ein Versehen, mittlerweile spekulierten die Medien, dass die Attentäter absichtlich ›Personenschäden‹ vermieden. Durch die Rauchvergiftungen war ihnen das zum ersten Mal missglückt. Wie lange mochte es dauern, bis die Nachrichten von Toten berichteten? Hoffentlich schnappte die Polizei die Täter vorher.

»Ich habe neulich einen Artikel gelesen, in dem ein Reporter vermutete, die Anschläge hätten mit dem Krankenhaus in Montpellier begonnen.«

»Das ist Quatsch. Wenn Fournier noch leben würde, stünden Aiden, Jolie und ich ganz oben auf seiner Abschussliste.«

»Vielleicht ahmen ihn andere nach und versuchen auf ihre Weise, die Menschheit zu dezimieren.«

»Du meinst Ausgestoßene? Das ergibt keinen Sinn. Wieso zerstören sie dann öffentliche Gebäude, ohne jemanden zu verletzen?«

»Keine Ahnung. Aber es würde erklären, weshalb alle Ermittlungen ins Leere laufen. Wesenshüter sind geübt darin, ihre Spuren zu verwischen.«

»Das können andere auch.« Ich schüttelte den Kopf.

Die Anschläge waren grausig, aber ich weigerte mich, sie zu meinem Problem zu machen. Mich belasteten genug eigene. Rebecca sperrte mich in Südfrankreich ein. Bei der Suche nach meinem Vater kam ich keinen Schritt weiter. Und ich vermisste Aiden. Ich vermisste das Training mit ihm. Vermisste es, in Schlabberklamotten neben ihm im Bett zu liegen. Vermisste seine tiefe Ruhe, die mich erdete, wann immer mir alles zu viel wurde. Aber Aiden war fort und vielleicht würde er niemals zurückkehren. Nicht zu mir.

»Fährst du in den Ferien eigentlich weg?«, wechselte ich das Thema.

»Nein, ich muss für die Abschlussprüfungen lernen.« Olive rümpfte die Nase und ich erkannte bereits daran, dass sie gleich ihre Mutter imitieren würde. »Ein guter Schulabschluss ist sehr wichtig, Olive. Du verbaust dir mit deinen Noten deine ganze Zukunft.«

Ich lachte leise. »Immer noch keine Idee, wie es nach der Schule weitergeht?«

»Und selber?«

Ich zuckte mit den Schultern. Vor ein paar Monaten wollte ich noch in Montpellier studieren oder eine Ausbildung anfangen. Egal was, Hauptsache, ich blieb in Aidens und Jolies Nähe. Mittlerweile wäre ich am liebsten nach Australien oder Neuseeland ausgewandert. Leider war das dank eines gewissen Einhorns unmöglich.

Olives grüner Kleinwagen parkte hinter dem Ortsschild von Vailhauquès. Nachdem wir die Übungswaffen und den Rucksack im Kofferraum verstaut hatten, knallte sie die Heckklappe zu. »Falls du mich mit ein paar Trainingseinheiten vor dem Schreibtisch retten willst, bin ich allzeit bereit.« Sie küsste mich zum Abschied auf die Wangen und verharrte auf meiner linken Seite. »Deine Aufpasserin fliegt gerade über den Wald«, raunte sie, ehe sie den Wagen umrundete und sich auf den Fahrersitz schwang.

Während der Motor stotternd ansprang, spähte ich zu den Baumwipfeln und entdeckte ein Flimmern. Die darin verborgenen Umrisse zu erkennen, erforderte viel Übung, so schnell passten sich die Schuppen der Umgebung an. Die Drachin landete auf einer Anhöhe, von der aus sie unsere Straße perfekt beobachten konnte. Ich seufzte. Wieso hatte meine Mutter ausgerechnet Rebecca gebeten, mich vor Jacques Durand zu beschützen? Sie nahm ihre Aufgabe viel zu ernst. Seit Wochen hatte ich nichts von den Durands gehört und meine Versuche, Clément zu kontaktieren, endeten stets mit einer Nachricht auf seiner Mailbox, die er ignorierte.

›Der Plan liegt vorerst auf Eis‹, hatte er mir zwei Wochen nach Aidens Abflug zerknirscht mitgeteilt.

Ich hatte ihn angefleht, mir trotzdem zu verraten, was zwischen meiner Mutter und seinem Vater vorgefallen war, doch er war ausgewichen. Angeblich, um mich nicht mit etwas zu belasten, das nun keine Rolle spielte. Ständig stieß ich gegen Mauern und, verdammt, ich hasste es, mich so ohnmächtig zu fühlen.

Im Flur unseres kleinen Hauses schloss ich die Tür hinter mir ab und schlüpfte aus den verschwitzten Turnschuhen. »Bin wieder da!«

Niemand antwortete. Ich sah mich verwirrt um. Auf der Kommode neben der Ladestation des Telefons fand ich eine Notiz, die mir in Terezas krakeliger Handschrift verriet: ›Sind mit Léon im Kino. Rebecca weiß Bescheid.‹

Deshalb war Enya also gleich aufgetaucht. Super, sturmfrei mit Drachenbabysitter! Ich ging in mein Zimmer. Wie immer fiel mein Blick als erstes auf das Buch, das auf dem Nachttischchen wartete. Ein Kassenzettel lugte anklagend zwischen den Seiten hervor. Clément hatte mir zu Weihnachten eine Kiste Bücher geschickt, die allesamt die Probleme der Artenvielfalt beleuchteten. Anfangs hatte ich noch gehofft, dass sich darin ein Hinweis verbarg, warum Rebecca mich vor seinem Vater schützen sollte, doch nachdem ich alle Bücher einmal durchgeblättert und angelesen hatte, war diese Hoffnung verflogen – zusammen mit meinem Interesse an den Büchern.

Ich holte ein Handtuch aus dem Kleiderschrank. Als ich die Türen wieder schloss, bemerkte ich mein Handy, das auf dem Schreibtisch blinkte. Ich öffnete die Nachrichtenapp – und zuckte heftig zusammen. In vier Chats warteten neue Nachrichten: bei Madeleine, Léon, Toine und ... »Aiden?«

Ich schwankte zum Bett und setzte mich auf die Matratze. Der Teaser neben seinem Bild war furchtbar nichtssagend: ›Hallo Évelyne, ich weiß es ist lange her, ab...‹ Das konnte alles bedeuten. Von: ›Aber ich komme endlich zu dir zurück.‹ Bis zu: ›Aber ich muss dir sagen, dass es aus ist.‹

Ich atmete tief durch. Der Inhalt der Nachricht änderte sich nicht, nur weil ich Angst hatte, sie zu lesen. Ich gab mir einen Ruck und tippte auf den Teaser.

 

Hallo Évelyne, ich weiß, es ist lange her, aber ich bin leider immer noch unentschlossen, wie es weitergehen soll. Dafür habe ich einen Tipp für dich: Honoré Favre hat letztes Jahr eine Ferienwohnung in Paris gekauft. Vielleicht findest du dort etwas über deinen Vater heraus. Das Appartement trägt die Nummer 317. Der Schlüssel ist in einem Safe neben der Tür. Der Code lautet 78789. Ich kann leider nicht selbst nachschauen, aber ich wünsche dir viel Erfolg!

 

Es folgte ein Link mit Koordinaten.

Ich starrte die Nachricht an, las sie wieder und wieder. Was soll das? Zuerst versprichst du mir, dass wir gemeinsam nach meinem Vater suchen, dann brichst du auf einen spontanen Selbstfindungstrip auf und jetzt stößt du zufällig auf einen Hinweis?Wie hast du diese Ferienwohnung gefunden? Mein Daumen schwebte über dem Hörersymbol. Anstatt Aiden anzurufen, löschte ich das Licht des Displays. Er wollte keinen Kontakt zu mir, bis er sich entschieden hatte, was ihm wichtiger war: Seine Gefühle für mich oder die Drachen. Und allmählich war ich es leid, auf ihn zu warten.

Ich packte das Handtuch. Im Bad zog ich mich aus und sprang unter die Dusche. Als das Wasser auf meinen Kopf prasselte, lehnte ich die Stirn an die Fliesen. Hatte ich mich in Aiden getäuscht? Vermutlich. Der Mitschüler, in den ich mich vergangenen Sommer verliebt hatte, wäre niemals so fies gewesen, mich hinzuhalten. Also wieso klammerte sich mein Herz noch immer an ihn? Er lieferte mir einen Hinweis, der die Suche nach meinem Vater voranbringen konnte. Darauf sollte ich mich konzentrieren. Es war an der Zeit, Mauern einzureißen. Und als Erstes würde die fallen, die mich in Montpellier hielt.

In den Duft meines Kokosnussshampoos gehüllt recherchierte ich, wo sich das Appartement befand und wann der erste Zug nach Paris fuhr. Dann packte ich meinen Wanderrucksack. Als der Schlüssel kurz nach elf im Schloss klapperte und Léons Stimme im Erdgeschoss erscholl, stellte ich mich schlafend. Gegen drei Uhr schlüpfte ich in eine Thermostrumpfhose, eine bequeme Jogginghose und einen Hoodie. Den Rucksack geschultert schlich ich die Stufen hinab und pirschte durch das Wohnzimmer zur Terrassentür.

»Unterwegs zu einem kleinen Nachtspaziergang?«

Ich wirbelte herum und prallte mit dem Schienbein gegen den niedrigen Tisch. Zischend sog ich Luft durch die Zähne ein, während die Stehlampe flackernd anging. Madeleine saß auf der Couch, eine Decke auf ihrem Schoß. Ihr Bob, dessen längste Strähnen bis zum Kinn reichten, wirkte zerzaust. Sie verzog den Kiefer, vermutlich, um ein Gähnen zu unterdrücken.

»Hat Tereza dich aus dem Bett geschmissen oder warum schläfst du hier?« Ich grinste, bemüht, locker zu klingen, und verfluchte gleichzeitig meine zittrige Stimme.

»Nenn es mütterliche Intuition. Deine Zahnbürste fehlt.« Sie musterte den Rucksack, als wüsste sie genau, dass die verräterische Zahnbürste dort in einem Kulturbeutel steckte.

»Und seit wann lauerst du mir lieber auf, anstatt mit mir zu reden?«

»Ich wollte dich nicht nur wegen eines Bauchgefühls wecken. Und ich habe gehofft, du würdest mir noch genug vertrauen, um dich nicht ohne mein Wissen fortzuschleichen.«

Autsch. Der Vorwurf saß. »Es ist nicht wegen dir, sondern wegen Rebecca.«

»Schon klar.« Madeleine klopfte auffordernd neben sich.

Mein Blick schoss zur Terrassentür. Wenn ich jetzt losrannte, erwischte ich den Bus noch.

»Lass es, Évelyne. Enya wacht im Garten und sie hat bessere Ohren als ich.«

Ich stöhnte frustriert, stellte den Rucksack ab und setzte mich zu Madeleine. »Irgendeine Idee, wie ich ihr entkomme?«

»Kommt darauf an, wo du hinwillst.«

Ich zögerte, unsicher, wie sie auf mein Ziel reagieren würde. Aber sie anzulügen, war keine echte Option. »Paris.«

»Ooookaaaaay.« Madeleines Brauen kletterten empor, bis sie unter dem wirren Pony verschwanden. »Zieht es dich aus einem bestimmten Grund ins Hoheitsgebiet der Familie Durand?«

»Mich hat niemand verzaubert, falls du das denkst.«

»Ich frage nur und ich warte auf eine Antwort.«

»I-ich ... Also, e-es könnte sein ...« Verdammt, es war so absurd. Bestimmt lachte Madeleine mich gleich aus. »Papa ist vielleicht dort.«

»Nicolas? Wie kommst du darauf?«

»Ich habe vorhin eine Nachricht erhalten. Mit einem Link zu einer Ferienwohnung. Fournier hat sie letztes Jahr unter seinem alten Namen gekauft: Honoré Favre.«

»Schön und gut, aber weshalb sollte dein Vater dort sein?«

»Erinnerst du dich an Papas zweiten Brief? Er bestätigt, dass Blanche und Papa Honoré Favre die Welt der Wesenshüter vergessen lassen wollten.«

»Und weiter?«

»Ich glaube, Papa und Favre kamen beide mit dem Pulver in Berührung. Sie haben die Welt der Wesenshüter vergessen, einschließlich Léon und mir. Und sie sind danach zusammen untergetaucht, Honoré Favre als Henri Fournier und Papa ... Papa als ... keine Ahnung.«

»Wenn das wahr ist, Ève«, sagte Madeleine so behutsam, als könnten ihre Worte mich in Stücke reißen, »wieso ist Nicolas noch immer verschwunden? Honoré Favre hat sich an alles erinnert, nachdem Ai..., also, der Drache geschlüpft ist.«

Du verletzt mich nicht, nur weil du seinen Namen nennst, dachte ich, nickte jedoch. »Vermutlich. Dieses Pulver bestand vor allem aus der Schale des Dracheneis. Als Cian schlüpfte, verlor sie ihre Magie und das Pulver seine Wirkung.«

»Aber dann wäre Nicolas längst wieder hier. Er wäre zu uns zurückgekommen.«

»Es sei denn, etwas oder jemand hat ihn aufgehalten. Was, wenn Fournier Papa überwältigt und in dieser Wohnung eingesperrt hat?«

»Dann wäre er dort verhungert.«

Der Satz traf mich wie ein Peitschenhieb. Mühsam rang ich die Bilder nieder, die sich in meine Gedanken drängten. »Ich muss nachsehen. Verstehst du das denn nicht?«

»Doch, natürlich verstehe ich das. Aber ausgerechnet ein Appartement in Paris? Das klingt nach einer Falle.«

»Unwahrscheinlich.«

»Wieso? Was macht dich so sicher, dass dieser Hinweis echt ist?«

»Weil ...« Ich sammelte mich, kratzte all meine Kraft zusammen und gestand: »Er kommt von Aiden.«

Madeleines Pupillen weiteten sich. »So ist das«, murmelte sie vor sich hin, ehe ihre Aufmerksamkeit wieder mir galt. »Wieso schaut er nicht selbst nach?«

»Angeblich kann er nicht.«

»Aha.« Sie betrachtete die Fernsehgarnitur auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, doch ihr Blick wirkte glasig.

»Woran denkst du?«

»Dass wir dringend Schlaf brauchen.«

»Aber ...«

»Wenn wir uns morgen ohne aufzufallen durch das Hoheitsgebiet der Familie Durand bewegen wollen, müssen wir fit sein.«

Mir klappte der Mund auf. Fassungslos beobachtete ich, wie sie aufstand, vor dem Fernseher in die Hocke ging und die Schublade mit den Fotoalben öffnete. Sie zog ein älteres hervor, erhob sich und bemerkte, dass ich reglos auf der Couch verharrte.

»Worauf wartest du? Marsch ins Bett!«

»Du begleitest mich?«

»Sicher.«

»G-Gut.« Überfordert von der unerwarteten Hilfe rieb ich mir über die Schläfen. »Ich buche schnell den Zug um.«

»Kein Zug. Wir fahren mit dem Auto. Auf dem Gare de Lyon bist du mir viel zu sehr auf dem Präsentierteller. Außerdem schöpft unsere Drachendame keinen Verdacht, wenn ich morgen früh in die Stadt fahre. Du versteckst dich unter einer Decke auf der Rückbank.«

»Das fällt dir jetzt spontan ein?«

Madeleines rechter Mundwinkel zuckte. »Ich kenne dich seit siebzehneinhalb Jahren, meine Liebe. Bei dir muss man auf alles vorbereitet sein. Und jetzt: Ab. Ins. Bett!«

2 Paris

 

Évelyne

 

Madeleine manövrierte unseren Kombi im Schneckentempo durch die schmale Rue de Valois und parkte in der ersten freien Lücke. Auf das Lenkrad gestützt spähte sie durch die Windschutzscheibe die mehrstöckigen Außenfassaden empor. Über den schieferfarbenen Dächern hing eine graue Wolkendecke, die Paris in trübes Licht tauchte. Ein Schwarm Spatzen kreiste über den Palais. Hier und da hockten Tauben, eine auf dem schwarzgoldenen Geländer eines französischen Balkons, eine andere auf einem Blumenkasten.

»Kein Phoenix in Sicht.«

»Mmh«, murrte Madeleine. »Die Fenster gefallen mir nicht.«

Im Stillen stimmte ich ihr zu. Die Fenster bestanden aus mehreren Elementen milchigen Glases. Perfekt geeignet, um heimlich die Straße zu beobachten. Sollte Jacques Durand uns ein Empfangskomitee bereitet haben, waren seine Wesenshüter eindeutig im Vorteil. Ich atmete gegen die Nervosität an, die sich um meine Rippen schraubte, schnallte mich ab und zog eine Sporttasche unter meinem Sitz hervor. In eine Decke gewickelt befand sich darin mein Waffengurt, bestückt mit zwei Dolchen und drei Wurfmessern.

Ich krempelte den Pullover hoch und legte den Gürtel um meine Taille, so weit oben, dass die Wolle auch die Spitze des Langdolches verbarg, den William und Rebecca mir zu Weihnachten geschenkt hatten. Dann öffnete ich die Tür und spähte den Gehweg entlang. Zwei Pärchen schlenderten Händchen haltend auf uns zu. Von der gegenüberliegenden Seite näherte sich eine Familie mit Kinderwagen. Für einen Samstagnachmittag in der Nähe des Louvre völlig normal, dennoch ärgerte es mich: Mein Bogen musste wohl im Kofferraum bleiben.

Madeleine holte ihren Mantel von der Rückbank und griff prüfend in die Taschen. Vermutlich ertastete sie den Fotostapel, den sie nachts zusammengestellt hatte. Sie schenkte mir ein Lächeln, das erzwungen wirkte. »Bereit?«

Gerne hätte ich Madeleine entschlossen zugenickt, aber ich wusste nicht einmal, wofür ich bereit sein sollte. »Finden wir es heraus!«

Seite an Seite überquerten wir die Straße. Madeleine drückte die Klinke der dunkelbraunen Eingangstür, die allerdings verschlossen war. Zu unserem Glück verließ bereits nach wenigen Minuten ein Anwohner das Palais und wir schlüpften hinein. Im Flur empfing uns ein muffiger Geruch, der uns bis in den dritten Stock begleitete. An einer Tür fanden wir die goldenen Ziffern »317«. Daneben hing ein schwarzer Schlüsseltresor.

»Okay.« Madeleine schüttelte ihre Finger, als könnte sie so sämtliche Spannung fortwedeln.

Ich schob die Hände unter den Pullover, schloss die eine um den Knauf des Langdolches und die andere um eines meiner Wurfmesser. Die Lippen aufeinandergepresst lauschte ich, doch aus der Wohnung drangen keine Geräusche. Wenn sich jemand darin versteckte, verhielt sich die Person leiser als die Autos auf der Straße.

Madeleine öffnete den Safe und angelte zwei silberne Schlüssel hervor. Bereits der Erste passte ins Schloss. Fragend sah sie über ihre Schulter. Ich zückte den Dolch. Das genügte ihr als Antwort. Sie drehte den Schlüssel und stieß die Tür auf. Ich sprang über die Schwelle, die Klingen erhoben, um einen Angriff zu parieren. Stattdessen prallte ich gegen ein Gitter. Es schwang nach innen zu einer weiteren Tür, die einen Spalt offen stand. Ich kickte sie mit dem Fuß auf, die Klingen noch immer abwehrbereit vor mir. Unnötigerweise.

Zwei Türen zweigten von dem Zimmer ab, doch in ihm selbst befand sich keine Menschenseele. Der Raum roch abgestanden, als hätte seit Monaten niemand mehr gelüftet, geschweige denn gelebt, und ich bezweifelte, dass sich an letzterem bald etwas ändern würde, dafür glich das Appartement mit den vergitterten Fenstern viel zu sehr einem Gefängnis. Freiwillig zog hier garantiert niemand ein.

Ich schlich zu der Tür neben dem niedrigen Sofa, das an einem Esstisch gegenüber einer Kochzeile stand. Madeleine folgte mir. Diesmal öffnete sie für mich. Ein Badezimmer, gerade groß genug für eine Dusche, die Toilette und ein winziges Waschbecken. Auf dem Spiegel lag eine Staubschicht und die Ränder der Sanitäranlagen waren gelb verfärbt.

Das Schlafzimmer, das hinter der zweiten Tür lag, war ebenso verlassen wie der Rest des Appartements. Wenn mein Vater jemals hier gewesen war, war er seit Wochen fort. Meine Knie knickten ein. Ich taumelte zu der Matratze. Umsonst. Die Pläne, der weite Weg, die Stunden voller Hoffnung, alles umsonst.

Ein leises Wimmern entglitt mir. Im selben Moment fuhr ein scharfer Stich in meine Brust. Mein Puls beschleunigte, bis er so schnell raste, dass er mir in den Ohren brauste. Der Langdolch fiel zu Boden. Gleichzeitig verengte sich mein Sichtfeld. Erst nahm ich nur noch die Klinge neben meinen Füßen wahr, dann eine einzelne Rille im Knauf, einen schwarzen Fleck.

»Ève?« Die Stimme streifte mein Bewusstsein. »Évelyne?«

Ich blinzelte. Das Tosen ebbte zu einem Flüstern ab und mit jedem ruhigeren Herzschlag weitete sich mein Sichtfeld wieder.

Madeleine beugte sich zu mir herab. »Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Nein. T-tut mir leid.«

»Schon gut. Ich sehe mich hier einmal um. Im Erdgeschoss des Nachbarhauses gibt es einen Handyladen. Magst du dem Verkäufer einmal die Fotos von Nicolas zeigen?«

Ich nickte, noch immer leicht benommen.

Madeleine holte die Bilder aus ihrer Jackentasche, zögerte jedoch. »K-kannst du fragen, ob ... also, ... o-ob ... ob es im Haus einen Todesfall gab?«

Mein Magen zog sich zusammen.Ich wollte diese Frage nicht stellen, aber nur ihre Antwort würde uns Gewissheit verschaffen. »Ich versuch’s«, versprach ich und stemmte mich von der Matratze hoch. Obwohl ich mich langsam bewegte, kippten die Dielen für einen Wimpernschlag in meine Richtung. Ich schauderte. Fror. Und meine Haut kribbelte, als hätte jemand einen Eimer Ameisen über mir ausgegossen.

»Soll ich doch mitkommen?«, fragte Madeleine besorgt.

»Nein, es geht.« Ich bückte mich nach dem Langdolch, versteckte ihn unter dem Pullover und nahm Madeleine die Bilder ab. Ein feines Rauschen in den Ohren begleitete meinen Weg hinab in das Geschäft und dämpfte den Straßenlärm ebenso wie das Glöckchen, das meinen Eintritt ankündigte.

Hinter einer Vitrine mit Smartphones und Hüllen in allen möglichen Farben und Formen stand ein Mann, der mich über randlose Brillengläser hinweg musterte. »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«

»Arbeiten Sie schon länger hier?«

Der Mann nickte.

Ich bemühte mich um ein freundliches Lächeln, doch der misstrauischen Miene des Verkäufers nach zu urteilen misslang es mir. »Wir mieten gerade die Ferienwohnung im dritten Stock. Ist dort vor kurzem jemand gestorben?«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Es riecht etwas seltsam.«

»Letztes Jahr ist eine ältere Dame verstorben, aber die wohnte im ersten Stock.«

»Seitdem niemand mehr? Sind Sie sicher?«

»Wenn Sie mit der Wohnung unzufrieden sind, klären Sie das mit dem Besitzer. Oder rufen Sie die Polizei.« Er wollte sich abwenden.

»Eine letzte Frage. Kennen Sie diesen Mann?« Ich reichte ihm das oberste Bild vom Stapel.

Es zeigte meinen Vater neben einer Statue in einem Vergnügungspark. Wie die Statue verschränkte er die Arme vor der weißen Windjacke. Das Gewicht auf das vordere Bein verlagert funkelte er frech in die Kamera und zog dabei die Nase so hoch, dass sie als breiter Knubbel in seinem Gesicht saß. Es war ein Spaßbild, das neueste Foto, das wir von ihm hatten.

»Nie gesehen.« Unter dem Brummen des Mannes ballte sich ein Kloß in meiner Kehle zusammen.

»Trotzdem danke«, presste ich hervor und verließ das Geschäft.

Auf der Straße prallte ich mit einer jungen Frau zusammen. Sie schimpfte, doch ihre Worte drangen nicht zu mir durch. Das Rauschen in meinen Ohren schwoll wieder an. Ich taumelte in den Hausflur, lehnte mich an die Wand und schloss die Augen. Hinter meinen Lidern tanzten bunte Flecken. Tränen, die feststeckten, weil ein anderes Gefühl mächtiger in mir wütete als die Trauer. Rasender Puls. Verengte Lungen. Kaum Luft. Panik.

Wasser. Hinsetzen. Durchatmen.

Ich hangelte mich zur Treppe. Die Finger um das Geländer gekrampft zog ich mich die Stufen hoch. In der Mitte zum zweiten Stock hallten Schritte über mir. Madeleine schwankte auf mich zu. Nein, nicht sie schwankte, sondern ich. Sie erwiderte meinen Blick und sämtliche Farbe wich ihr aus dem Gesicht.

»Mon dieu, ist er tot?«

»Er war nie hier.« Meine Stimme klang rau.

»Also gab es keinen Todesfall?« Madeleine atmete erleichtert auf. »Ich glaube, er ... Was ist mit dir?«

Ich schüttelte den Kopf, unfähig ihr die Frage zu beantworten. Madeleine schlang einen Arm um meine Taille. Auf sie gestützt schleppte ich mich zum Auto und sank auf die Rückbank. Ich streckte mich nach der Flasche im Fußraum, doch sie schien davonzutanzen. Madeleine hob sie auf und schraubte den Deckel ab. Dass sie mir beim Anschnallen half und sich hinters Steuer setzte, bekam ich nur am Rande mit. Atmen. Trinken.

Ein. Aus.

Ein. Aus.

Schluck.

Ein. Aus.

Ein. Aus.

Schluck.

Die Palais zogen vorbei, wichen Einkaufszentren, Häusern mit Gärten, einer breiten Straße. Je weiter wir fuhren, desto ruhiger wurde ich. Auf der Autobahn richtete ich mich auf.

»Geht es wieder?« Madeleine betrachtete mich durch den Rückspiegel.

Ich nickte, obwohl mir kalter Schweiß auf der Haut juckte.

»Was war denn los?«

»Ich hatte eine Panikattacke.«

»Das habe ich gesehen, aber warum?«

»Vielleicht war es zu viel für mich. Ich gerate in letzter Zeit ständig in Sackgassen.«

»Das war keine Sackgasse.«

»Du hast etwas gefunden?«

»Ja. Ich fahre gleich ab und zeige es dir.«

Die Nervosität trieb Hitze durch meine Glieder, doch diesmal wusste ich wenigstens, woher sie kam. An der nächsten Ausfahrt setzte Madeleine den Blinker und fuhr auf einen Parkplatz südlich von Paris. Sie brauchte einige tiefe Atemzüge, ehe es ihr gelang, die Hände vom Lenkrad zu lösen, dann holte sie ein zerknittertes Foto aus ihrer Hosentasche.

Ich keuchte überrascht. Die rechte Seite des Bildes zeigte eindeutig meinen Vater: volles mittelblondes Haar und Lachgrübchen um die Mundwinkel. Sein Arm ruhte auf den Schultern einer fremden Frau. Sie schmiegte sich an ihn, sah dabei jedoch zu einem Kind, das auf ihrem Schoß hockte und fröhlich in die Kamera winkte. Es hatte eine viel zu große Nase. Ein Erbe meines Vaters.

»Das Foto spricht für deine Theorie. Nicolas baute sich ein neues Leben auf und ...« Madeleine zögerte.

»... und gründete eine neue Familie«, beendete ich den Satz für sie. Mit dem Zeigefinger zeichnete ich das Kind nach. Wie alt mochte es sein? Eins? Mittlerweile zwei? Oder sogar älter? Er hatte keine Zeit vergeudet. Aber was hatte ich erwartet? Dass mein Vater ununterbrochen nach Erinnerungen gefahndet hatte, von deren Verlust er nichts geahnt hatte? Absurd. Ich gab Madeleine das Bild zurück. »Das beweist höchstens, dass Papa in der Wohnung war. Es verrät uns nicht, wo er jetzt ist.«

»Es könnte helfen, diese Frau zu finden.«

»Du meinst, er erinnert sich an uns, bleibt aber lieber bei ihr?«

»Oder vor einem Jahr sind doch nur Fourniers Erinnerungen zurückgekehrt. Ich würde die Spur weiterverfolgen. Was soll schon passieren?«

Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange. Im schlimmsten Fall würde ich meinen Vater finden und er mich fortscheuchen. Mein Blick wanderte zu der Frau. Ihr blondes Haar war zu einem Bob geschnitten. Strähnen streiften ihr Kinn und die Lider waren halb gesenkt. Eine miserable Pose, um das Foto für eine Suche zu nutzen, dennoch zückte ich mein Smartphone – und zuckte zusammen. Acht verpasste Anrufe, sechzehn neue Nachrichten. Rebecca hatte sieben Mal angerufen, Tereza ein Mal. Neue Nachrichten fanden sich in den Chats von Rebecca, Tereza und zu meiner Überraschung auch von Aidens Vater William.

Ich öffnete zuerst Terezas’ Chat. ›Rebecca versucht, dich zu erreichen. Ich habe ihr gesagt, dass du in einer Bibliothek in Montpellier lernst, ich aber nicht weiß, in welcher. Melde dich besser bei ihr, ich glaube, es geht um diesen Brief.‹

Unter der Nachricht befanden sich zwei Fotos eines ungeöffneten blauen Umschlags. Auf der Vorderseite prangte unsere Adresse, auf der Rückseite der Absender: ›Fam. Durand, im Namen der WeVdW‹ – Westeuropäischen Vereinigung der Wesenshüter, löste ich die Abkürzung auf.

»Was ist?« Madeleine beugte sich über die Mittelkonsole zu mir.

»Die Vereinigung hat mir einen Brief geschickt«, erklärte ich und öffnete zeitgleich Williams Chat.

›Bonjour, Évelyne! Bei uns kam heute die Einladung zur Vollversammlung an. Das ist ein großes Spektakel, das nur alle fünf Jahre stattfindet. Normalerweise im Juli, aber im Dezember haben sie bereits angekündigt, die Versammlung auf die gemeinsame Winterferienzeit Ende Februar vorzuverlegen. Falls Rebecca dir kryptische Nachrichten schickt, weißt du jetzt Bescheid: Es ist wahrscheinlich nicht ganz so dramatisch.‹Am Ende der Nachricht zwinkerte ein Smiley und entlockte mir ein Schmunzeln.

Zuletzt wagte ich mich an Rebeccas Nachrichten. Die ersten klangen tatsächlich panisch. Zwischendurch waren ein paar Nachrichten gelöscht. Zum Ende hin schlug sie versöhnlichere Töne an: ›Ich habe gerade Tereza erreicht. Wenn du das hier liest, melde dich bitte. Tereza sagt, du hast einen Brief von Jacques Durand erhalten, vermutlich die Einladung zur Vollversammlung. Zur Sicherheit möchte ich ihn zusammen mit dir öffnen. Gib mir Bescheid, wann du heute Zeit hast.‹

Heute. Natürlich. Ein Brief der Familie Durand duldete keinerlei Aufschub. Zumindest nicht für Rebecca.

Ich berührte das Mikrofonsymbol. »Hallo Rebecca, ehrlich gesagt ist es heute total unpassend. Ich bin nachher noch mit Toine verabredet. Geht es morgen? Sonst hol den Brief gerne ab und öffne ihn ohne mich. Okay?« Ich sandte die Nachricht ab. Hoffentlich schluckte sie das. Welche Maßnahmen sie ergreifen würde, wenn sie von meinem Ausflug nach Paris erfuhr, malte ich mir lieber nicht aus.

»Was ist das für ein Brief?«, fragte Madeleine.

»Nur die Einladung zur Vollversammlung. Hilfst du mir eben mit dem Foto?«

Madeleine nickte, packte zwei Ecken zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt das Bild so hoch, dass ich das Gesicht der Frau abfotografieren konnte. Ich jagte es durch die Suchmaschine. Von beiden Seiten lehnten Madeleine und ich uns an den Fahrersitz und betrachteten die Ergebnisse, die die Suche ausspuckte.

»Das könnte sie sein.« Madeleine tippte auf mein Display und lud eine größere Version des Bildes.

Ich verglich die Frauen. Die Gesichtszüge sahen ähnlich aus, allerdings hatte die Frau im Internet eine blonde Dauerwelle. Der Link des Bildes führte zu einem Bericht über einen Tischtennisverein in Clermont-Ferrand, den die Frau, R. Nivet, ehrenamtlich leitete.

Madeleine gab den Ort in ihre Navigationsapp ein und schnaufte missmutig. »Da kommen wir erst nach zehn an. Sollen wir trotzdem hinfahren und morgen nach ihr suchen?«

»Du hast schon den ganzen Weg nach Paris hinter dir. Lass uns lieber hier in der Nähe übernachten und morgen früh nach Clermont-Ferrand fahren.«

»Mmh. Wenn wir uns eine Unterkunft weiter im Süden suchen, sind wir morgen schneller da. Komm, ein Stündchen Fahrt überlebe ich noch.« Madeleine klopfte auf den Beifahrersitz.

Mir fehlte die Kraft, ihr zu widersprechen, also setzte ich mich nach vorne und suchte nach Zimmern zwischen Paris und Clermont-Ferrand. Nebenher textete ich mit Rebecca. Nachdem ich sie überzeugt hatte, dass wir den Brief morgen Abend gemeinsam öffneten, buchte ich eine Unterkunft in Orléans. Jegliche Gedanken an R. Nivet verbot ich mir, dennoch breitete sich in meinen Lungen ein Brennen aus. Beim Abendessen bekam ich nur wenige Bissen des Flammkuchens herunter. Ich schob es auf die Aufregung und legte mich früh schlafen, wälzte mich jedoch nur stundenlang unruhig und schwitzend im Bett umher.

Irgendwann zerrte die Müdigkeit mich in einen wirren Traum.

 

Blätter raschelten im Wind. Äste rieben aneinander. Tiere streiften durchs Unterholz. Ein Käuzchen rief, gefolgt von den Lauten eines Uhus. In die nächtliche Waldmusik fuhr ein Wiehern. Ihm donnerte ein Brüllen entgegen, gefolgt von einem schrillen Schrei.

 

Ich fuhr hoch, tastete um mich, fand kratzige Laken, ein Kissen, das aus dem Bett fiel.

»Évelyne?« Die Nachttischlampe flammte auf und enthüllte Madeleines verschlafenes Gesicht. »Was ist? Warum schreist du?«

Ich stockte. Verwirrt fasste ich mir an die Stirn und versuchte, mich an meinen Traum zu erinnern. Wald. Ein Wiehern. Jolie!

Ich strampelte die Decke fort und sprang zu meiner Jeans, die über einem Stuhl hing. Mein Handy vibrierte im selben Moment, da ich es aus der Tasche zog. »Rebecca?«, nahm ich den Anruf entgegen.

»Wo zum Teufel steckst du?« Ihre Stimme überschlug sich in derselben Angst, die mir die Brust zusammenzog.

»Was ist mit Jolie? Wo ist sie?«

»Ich vermute, auf dem Weg zu dir.«

Merde. Ich hatte die Anzeichen komplett falsch gedeutet. Nicht meine Nervosität war in Panik umgeschlagen, sondern Jolies. »Sieht Enya sie noch?«

»Hätte sie mich dann geweckt? Sie weiß nicht einmal, in welche Richtung Jolie verschwunden ist. Wo soll sie nach ihr suchen? Westen, Osten, ...?«

»Orléans. Ich bin in Orléans.«

 

3 Spuren der Vergangenheit

 

Évelyne

 

Auf mein Geständnis folgte fassungsloses Schweigen.

Wahrscheinlich sank Rebecca gerade auf ihre Couch und vergrub das Gesicht in den Händen. Genau deswegen hatte sie mir verboten, ihren Bezirk zu verlassen. Die A89 und die A43 im Nordosten, die spanische Europastraße 804 entlang und darüber hinaus bis nach Tarragona im Südwesten, das Mittelmeer im Südosten und der Atlantik im Nordwesten, das waren in den letzten Monaten meine Grenzen gewesen. Weil ein Einhorn seiner Bändigerin überallhin folgte. Offensichtlich bereits nach einer Nacht.

»Ich versuche, sie über die Verbindung zu beruhigen.«

»Hoffen wir, dass sie noch südlich der Grenze ist. Melde dich, sobald du mehr weißt.« Rebecca legte auf und die Stille schleuderte mir ihre Enttäuschung heftiger entgegen als ihre Worte.

»Ich packe unsere Sachen.« Madeleine drückte meinen Unterarm und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das ihren rostbraunen Augen fernblieb.

Während sie im Badezimmer verschwand, konzentrierte ich mich auf den Zwieblick, der mich die Umgebung des Einhorns wahrnehmen ließ. Die Verbindung flackerte und brach mehrmals ab.

»He, alles gut. Beruhige dich.« Wieder und wieder signalisierte ich Jolie, dass sie sich nicht um mich sorgen musste und ich bald zurück sein würde. »Es ist alles gut. Bleib stehen. Bleib einfach stehen.«

Endlich wurde sie langsamer und die Verbindung stabilisierte sich. Baumkronen wogten in einer schwachen Brise. Unter Jolies Hufen zerbarsten Äste, die Tiere aus dem Unterholz lockten. Ein Eichhörnchen, ein Dachs, ein Fuchs. Alle betrachteten das Einhorn, das verloren auf der Stelle tänzelte.

»Wo bist du?«

Jolie vermittelte mir ihre Antwort in Form von Gefühlen, die die Töne eines Cellos heraufbeschworen, doch die Verbindung half mir, sie zu übersetzen. Sie war verletzt, weil ich gegangen war, ohne mich von ihr zu verabschieden. Trotzig, weil sie nach mir sehen wollte. Und verängstigt, weil sie keinen blassen Schimmer hatte, wo genau sie sich befand. Sie war nach Norden galoppiert. Wie lange und wie weit? Das konnten weder sie noch ich sagen.

»Galoppier einfach zurück nach Süden.«

Ich prallte mit dem Vorschlag gegen eine Welle der Empörung.

»Dann bleib wenigstens, wo du bist.«

Jolie stampfte mit einem Vorderhuf auf.

»Wir kommen dir entgegen. In ein paar Stunden sind wir bei dir.«

Ihre Muskeln spannten sich an, bereit, mit einem Satz aus dem Stand in den Galopp überzugehen.

»Jolie!«

Mein entrüsteter Ruf bremste sie aus.

»Es dämmert und ich bin mitten in einer Großstadt, da sieht dich jeder.Bitte bleib, wo du bist.«

Das überzeugte Jolie. Sie sandte mir einen sanften Stups mit der Schnauze. In echt hätte mich eine solche Berührung in Panik versetzt, doch über den Zwieblick beherrschte ich die Angst vor Jolie mittlerweile dank der Therapeutin, die ich seit einigen Wochen aufsuchte.

»Schon in Ordnung. Mir tut es leid. Ich hätte dir Bescheid geben sollen. Wir haben einen Hinweis gefunden, der vielleicht zu meinem Vater führt. Eine R. Nivet könnte ihn kennen.«

Mit den Worten offenbarte ich Jolie meine widersprüchlichen Gefühle: Die Befürchtung, er könnte tot sein oder mich ignorieren. Und die Hoffnung, ihn wiederzufinden.

»Warum befragt ihr die Frau nicht?«

»Weil wir jetzt erstmal zu dir müssen.«

Sie drehte die Ohren zur Seite. Eine niedergeschlagene Entschuldigung, aber sie wollte auch, dass ich so schnell wie möglich zu ihr kam.

»Wäre es denn so schlimm, wenn du warten musst? Clermont-Ferrand liegt quasi auf dem Weg.«

»Das vermutest du nur.«

»Es liegt zumindest im Süden, sogar an der Grenze zu Rebeccas Bezirk. Zwei Stunden. Danach fahren wir sofort weiter. Versprochen.«

Jolie zögerte, doch schließlich besiegte meine Hoffnung ihre Sehnsucht. Widerwillig stimmte sie zu herauszufinden, welche Ortschaft an das Wäldchen grenzte, und anschließend auf mich zu warten. Mit zusätzlichen zwei Stunden in Clermont-Ferrand. Ich textete Rebecca, dass wir uns auf den Weg machten, ich Jolie aber nicht genau lokalisieren konnte. Nach einer schnellen Dusche fand ich ihre Antwort auf meinem Smartphone: ›Beeil dich!‹

Drei Stunden später begrüßte Clermont-Ferrand uns mit einem verregneten Wintertag. Eine tiefgraue Wolkendecke streichelte den Puy de Dôme, den verloschenen Vulkan, an dessen Fuße die Hauptstadt des Departements hockte. Feine Tropfen rieselten in Bindfäden auf die Windschutzscheibe, die die Scheibenwischer sofort beiseite fegten. Madeleine steuerte auf die Kathedrale zu, in deren Nähe der Tischtennisclub ein Vereinsheim betrieb. Dort würden wir unsere Suche starten.

Sie parkte den Wagen am Straßenrand. Die Arme über den Kopf gehalten, um uns vor dem Regen zu schützen, huschten wir in den Eingangsbereich des mehrstöckigen Palais. Auf der untersten Klingel stand tatsächlich ›Tischtennisverein‹. Ich drückte die Klingel, doch auch nach dem dritten Versuch rührte sich nichts.

»Schau mal.« Madeleine deutete in die Mitte der vielen Namen.

›Nivet‹, verriet ein Schild. Mein Puls beschleunigte. Ehe ich reagieren konnte, drückte Madeleine den Knopf. Ich hielt den Atem an. Quälend lang lauschte ich dem Regen, der auf den Asphalt prasselte, dann knackte es in der Lautsprecheranlage.

»Ja?«

Madeleine wechselte einen Blick mit mir. Ich öffnete den Mund, bekam jedoch keinen Ton hervor. Salut. Évelyne Rocard. Ich suche meinen Vater. Ihren Mann. Vielleicht. Die Satzfetzen gingen auf dem Weg von meinem Kopf zu meinem Mund verloren.

»Hallo? Ist da jemand?«

Madeleine straffte die Schultern. »Madame Nivet? Sind Sie die Leiterin des Tischtennisclubs?«

»Ja ...?«

»W-wir, also, wir kennen eventuell denselben Mann. Ähm, also ...«

»Wir haben ein Foto gefunden«, mischte ich mich ein. »Es zeigt eine junge Familie: Eine blonde Frau mit einem Jungen auf dem Schoß und einen Mann, der seinen Arm um sie legt. Auffällig große Nase und tannengrüne Augen. Sagt Ihnen das was?«

In der Leitung rauschte es. Die Sekunden zogen sich. Madame Nivet schwieg. Verwirrt, weil sie keine Ahnung hatte, wovon wir sprachen? Fassungslos, weil jemand sie nach ihrem Mann fragte? Oder entsetzt, weil sie nun meinen Vater vor uns verstecken musste?

»Wo ha-haben Sie ... das Bild gefunden?«

»In einem Appartement in Paris.«

»Sie kennen den Mann, oder? Wissen Sie ...« Sie wimmerte. »Wissen Sie, wo er ist?«

Die Frage traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Sackgasse, hämmerte eine schadenfrohe Meute hinter meiner Stirn. Sackgasse.

»Können wir das in Ihrer Wohnung besprechen?« Madeleines Stimme drang aus weiter Ferne durch den Chor.

»Natürlich. Fünfter Stock. Der Aufzug ist rechts neben der Treppe.«

Die Tür surrte.

»Kommst du?«

»Es war umsonst«, wisperte ich tonlos.

Madeleine seufzte. »Ich hatte mir auch ein anderes Ergebnis erhofft. Aber ich möchte hören, was sie über Nicolas weiß. Wenn du lieber im Auto warten willst ...«

Ich schüttelte den Kopf. Die Hände um den Saum des langen Pullovers gekrallt folgte ich Madeleine zum Aufzug, der zu modern für das alte Palais wirkte. Er brachte uns in den fünften Stock. Als die Türen auseinanderstoben, kostete es mich viel Kraft, die Füße zu heben. Jeder Schritt fühlte sich an, als ob ich gegen Leim kämpfte, der meine Sohlen an den Boden klebte. Niemand wartete auf uns, doch aus einer halb geöffneten Tür drang Licht. Im Flur dahinter lag eine Spur aus Kinderspielzeug: Holzbauklötze, ein bunter Bagger, eine Puppe.

»Entschuldigen Sie die Unordnung.«

Eine Frau trat in den Flur, eine ältere Ausgabe der jungen Mutter auf dem Foto. Dunkle Ringe gruben sich unter ihre Augen. Sie umschlang einige Kuscheltiere, darunter – ich fröstelte – ein Einhorn. Mit dem Kinn deutete sie in das Zimmer, aus dem sie gekommen war.

»Setzen Sie sich. Ich bin sofort bei Ihnen.« Sie verschwand in einem angrenzenden Raum, aus dem eine leise Kinderstimme drang.

Madeleine verschränkte ihre Finger mit meinen und drückte sie, ehe sie mich mit sich zog. Das Zimmer, in das Madame Nivet uns geschickt hatte, wurde von einer Couch und einem Glastisch dominiert. Neben einer Fensterfront war ein Schreibtisch in die Ecke gequetscht. Darauf standen ein breiter Bildschirm und ein Duftspender, der eine Brise Magnolienduft versprühte. Madeleine bugsierte mich zur Couch. Sie schlug die Beine übereinander, sichtlich bemüht, es sich bequem zu machen. Ich hingegen blieb am Rand des Sofas sitzen, um jeden Moment aufspringen zu können.

Madame Nivet kehrte mit drei ineinander gestapelten Gläsern und einer Flasche Wasser zurück. »Entschuldigen Sie. Seitdem ich alleinerziehend bin, komme ich mit dem Aufräumen nicht hinterher.« Sie stellte die Gläser vor uns ab, holte ein Babyphone aus der Hosentasche und zog sich zuletzt den Schreibtischstuhl heran. »D-dürfte ich ... das Foto, das Sie gefunden haben, dürfte ich es sehen?«

Madeleine holte das zerknitterte Bild zusammen mit ihrem Fotostapel aus der Manteltasche, gab Madame Nivet jedoch nur unseren Fund.

»Das ist Noahs erster Geburtstag. Es war kurz bevor ...« Die Frau schluchzte auf. »Sie haben k-keine Ahnung, wo er ist?«

»Leider nein.« Im Stillen bewunderte ich Madeleine dafür, wie ruhig sie sprach. Als würde die aufgelöste Madame Nivet sie herausfordern, stark zu bleiben. Und diese Herausforderung nahm meine Maman an. Im Gegensatz zu mir.

»Woher kennen Sie ihn?« Madame Nivet schielte zu dem Stapel in Madeleines Schoß.

»Er ist ein alter Freund.« Sie zog das Gummi ab und reichte der jungen Mutter die Bilder.

»Wir suchen ihn seit über vier Jahren«, ergänzte ich.

Madame Nivet sah von den Fotos auf. Die Brauen zusammengezogen betrachtete sie mich, dann entgleisten ihre Gesichtszüge. »Bist du ...« Sie gestikulierte unbeholfen von mir zu den Fotos und dem Babyphone, ehe sie sich an Madeleine wandte. »Und sind Sie ...«

»Évelyne ist Nicolas’ Tochter, ja. Ich habe sie großgezogen, aber ich bin nicht ihre leibliche Mutter. Nicolas war ein sehr guter Freund von mir.«

»Nicolas.« Der Name perlte schwerfällig von ihrer Zunge. »Er hat sich mir als Gustave Leroy vorgestellt.«

Ich fuhr zusammen. »Leroy?« Ausgerechnet.

»Was stört dich an dem Namen?«, fragte Madame Nivet.

»So hieß Évelynes leibliche Mutter. Nicolas’ Nachname lautete Bouillot.«

»Sie hieß Leroy? Hat sie einen anderen Namen angenommen? Oder bedeutet das, ich meine, also, i-ist sie ... t-t-tot?«

Ich nickte. Tränen zwickten hinter meinen Lidern. Ich rang sie mühsam nieder, während Madeleine stockend zu erzählen begann. Die neue Frau meines Vaters stellte sich als Romy vor. Sie berichtete uns von ihren dreieinhalb Jahren mit dem Mann, den sie als Gustave Leroy kannte und der häufig über Gedächtnislücken geklagt hatte. Madeleine führte die Lücken auf den Unfall zurück, bei dem meine Mutter angeblich gestorben war. Eine plausible Alternative zur Wahrheit, durch die Madeleine Romy ihren Part der Geschichte entlockte.

Zwischendurch begann Noah zu plärren. Romy holte ihn zu sich auf den Schoß. Er nuckelte an seinem Daumen und kuschelte sich an seine Mutter. Schließlich schlief er ein, doch Romy behielt ihn bei sich. Die zwei Stunden verstrichen viel zu schnell. Als die entfernte Kirchturmuhr zwölf schlug, flatterte Jolies Unruhe auf.

»Ihr seid schon eine halbe Stunde länger geblieben als verabredet. Wann brecht ihr endlich auf? Ich bin in der Nähe von Allanche.« Sie sandte mir ein Bild des Straßenschilds, das sie bei einer vorsichtigen Erkundung der Umgebung gefunden hatte.

»Bald«, versprach ich ihr, ehe ich mich aus der Verbindung zurückzog.

»... nicht viel da, aber Nudeln mit Soße ließe sich auftreiben.« Romy bemühte sich um ein Lächeln.

»Ich fürchte, dafür fehlt uns die Zeit.« Madeleine betrachtete mich fragend.

Ich ignorierte ihren Blick und Jolies Ungeduld, die mir im Nacken prickelte. Es gab einen Teil der Geschichte, den ich unbedingt noch erfahren musste. »Erinnern Sie sich an den Tag, an dem mein Vater verschwand?«

»Sicher. Es war Anfang Januar. Gustave kam total verstört von der Arbeit nach Hause. Er stürmte in unser Schlafzimmer, packte und meinte, er müsste für ein paar Tage verreisen. Er sagte ...« Ihre Stimme brach. Sie räusperte sich und fuhr fort: »Er sagte, jemand, der ihm sehr wichtig sei, sei in Gefahr. Er hat seine Tasche geschnappt u-und ... mich zum Abschied geküsst und ...« Sie presste eine Hand auf den Mund, offensichtlich unfähig, den Satz zu beenden.

Ich ballte die Fäuste. Wahrscheinlich wähnte er mich in Gefahr. Mein Vater hätte vor über einem Jahr wieder bei uns sein können, doch irgendjemand hatte ihn aufgehalten. »Wissen Sie noch das genaue Datum?«

»Ja. Der achte Januar.«

Aidens siebzehnter Geburtstag. Sein Drache schien punktgenau geschlüpft zu sein. Dadurch war sämtliche Magie aus der Eierschale gewichen und die Wirkung des Vergessenspulvers verflogen. Während der arme Cian in den Gängen unter Saint-Martin-des-Londres umhergeirrt war, hatten Fournier und mein Vater zeitgleich ihre Erinnerungen zurückgewonnen.

»Ist an diesem Tag etwas passiert?«

Ich hasste es, Romys Hoffnung zu zerschlagen, dennoch schüttelte ich den Kopf.

»Oh.« Sie vergrub die Nase in den Haaren ihres schlafenden Sohnes und seufzte schwer. »Wollt ihr wirklich nicht zum Essen bleiben?«

»Leider nein.« Madeleine erhob sich. Als die junge Mutter Anstalten machte, ebenfalls aufzustehen, hielt Madeleine sie zurück. »Bleiben Sie sitzen. Wir finden allein nach draußen.«

Romy sank gegen die Rückenlehne und klammerte sich an ihrem Sohn fest. Der Anblick versetzte mir einen Stich zwischen die Rippen. Auf der Schwelle winkte ich ihr zum Abschied zu, doch sie schien mich gar nicht mehr wahrzunehmen.

»Ich finde ihn«, flüsterte ich so leise, dass Romy es unmöglich hören konnte. »Ich finde ihn und bringe ihn zurück. Versprochen.« Ich hatte keine Ahnung, wie ich dieses Versprechen halten sollte. Aber hier ging es nicht mehr nur um Léon und mich. Es ging auch um ein kleines Kind, meinen Halbbruder, der seinen Vater brauchte.