Unser Usedom - Veronika Zühlke - E-Book

Unser Usedom E-Book

Veronika Zühlke

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Beschreibung

Unser Usedom Tierische Geschichten zum Schmunzeln Vom Strandkorb bis zum Mauerfall Usedom - eine Insel, wo das Rauschen der Wellen unvergessliche Erinnerungen weckt. Diese bewegende Aussage führt uns in einen Roman, der uns auf eine Reise in die Vergangenheit mitnimmt. Usedom erwacht aus einem Dornröschenschlaf und lässt zauberhafte Villen wie Phönix aus der Asche emporsteigen, die bis heute das Bild der Kaiserbäder bestimmen. Wir erleben das Leben des Protagonisten, der in der DDR-Zeit unweit von Usedom aufwächst und hautnah den Mauerfall und die Wendezeit miterlebt. Dabei wird er mit den Herausforderungen konfrontiert, die diese Veränderungen mit sich bringen. Doch nicht nur politische Konflikte prägen sein Leben, auch tierisch witzige Geschichten, die er auf der Insel erlebt, werden erzählt. Vom Fahnenappell bis zum Bau der Seebrücke - der Leser wird in eine Welt voller Erinnerungen, Abenteuer und Emotionen eintauchen. Dieser Roman berührt und begeistert, mit einer Ich-Erzählung, die den Leser tief in die Gedankenwelt des Protagonisten eintauchen lässt und gleichzeitig eine Hommage an die Insel Usedom ist. Die Beschreibungen der Landschaft und Natur sind so detailreich, dass man das Gefühl hat, selbst auf Usedom zu sein. Ein absolutes Lesevergnügen, das man nicht verpassen sollte.

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Die Autorin

Veronika Zühlke

– geboren 1961 in der Feldberger Seenlandschaft.

Eine Region geprägt von kristallklaren Seen, Kanälen und Wasserläufen, die auch heute noch zu meinen absoluten Favoriten gehört. Meine Kindheit und auch meine Jugendjahre habe ich in der DDR verbracht. Doch trotz der politischen Umstände und Einschränkungen, die das Leben in der DDR mit sich brachte, hatte ich eine glückliche Zeit.

Ich erinnere mich noch gut an unsere Sommerurlaube am Lichtenberger See und die vielen Ausflüge mit meinen Eltern. Nach dem Mauerfall begann für mich ein neues Kapitel im Leben auf der Insel Usedom. Hier konnte ich eine kleine Pension übernehmen und erlebte hautnah den Aufbau der Kaiserbäder.

Ich war fasziniert von der Geschichte und Architektur der alten Villen und Hotels, die nach dem Krieg verfallen waren. Es war ein langer Prozess, aber langsam wurden sie restauriert und wieder zum Leben erweckt.

Heute ist Usedom eine beliebte Urlaubsdestination mit kilometerlangen Sandstränden, malerischen Dörfern und historischen Sehenswürdigkeiten.

Doch trotz des Tourismus hat sich die Insel ihren Charme bewahrt. Für mich wird Usedom immer ein besonderer Ort bleiben - nicht nur wegen meiner persönlichen Erinnerungen, sondern auch wegen seiner Schönheit und Vielfalt.

Die Autorin begibt sich heute als begeisterte Freizeitfotografin auf die wunderschöne Insel Usedom. Mit Leidenschaft und Kreativität hält sie die atemberaubende Schönheit der Ostsee und ihrer Strände fest.

Jeden Tag und jeden Morgen könnt ihr auf der Facebook-Seite UNSER USEDOM ein neues Meisterwerk bewundern, einen atemberaubenden Sonnenaufgang am Ostseestrand. Lasst euch von dieser einzigartigen Naturschönheit verzaubern und erlebt die Magie von Usedom hautnah! Noch mehr Usedom findet ihr im Netz unter: unser-usedom-shop.myspreadshop.de

Prolog

Ein Buch zu schreiben ist wie eine Reise zu machen. Man weiß nie, was einen erwartet, wie lange es dauert oder wo man ankommt. Aber man kann sich immer auf eines verlassen: Es wird spannend, lehrreich und manchmal auch urkomisch. Denn ein Buch ist mehr als nur Worte auf Papier. Es ist ein Spiegel der Seele, ein Fenster zur Welt und ein Freund fürs Leben. Also pack deine Koffer, schnappe dir das Buch und lass dich überraschen, wohin diese Reise geht.

Als ich mit diesem Buch begann, waren bereits zwanzig Jahre nach der Wende vergangen. Zu dem Zeitpunkt ist mir aufgefallen, dass viele Geschichten aus DDR-Zeiten, sowie auch viele Begriffe, welche damals wie selbstverständlich zu unserem Leben gehörten, bereits in Vergessenheit geraten sind. Eine neue Generation war geboren und nahm all diese Geschichten bestenfalls wie wundersame Erzählungen wahr. Es war an der Zeit, Erinnerungen in einem Buch, einen kleinen Roman festzuhalten und für die nächsten Generationen aufzuschreiben. Da ich das Ganze als Hobby betrachtete, ahnte ich noch nicht, dass noch weitere zehn Jahre vergehen würden bis zur Veröffentlichung des Romans.

Viele der Geschichten sind authentisch, jedoch immer mit viel Fantasie verpackt. Die meisten Mitspieler hat es auch gegeben. Einige aber, so wie das Schatzilein, sind frei erfunden. Nachdem ich sie an Bord bekommen hatte, machte es auf einmal richtig Spaß, sie in die Geschichte einfließen zu lassen.

Jetzt ist endlich mein erster Roman fertig. Witzig, frech und gleichzeitig mit viel Spannung geschrieben.

Ich bin stolz darauf, dass ich es geschafft habe, meine Ideen und Gedanken auf Papier zu bringen. Es war eine Herausforderung für mich, aber auch ein unglaubliches Erlebnis. Ich hoffe sehr, dass mein Buch den Lesern genauso viel Freude bereiten wird wie mir beim Schreiben. Jetzt freue ich mich erst einmal darauf, meinen Roman der Welt zu präsentieren und gespannt auf das Feedback der Leserinnen und Leser zu warten.

Vielleicht werde ich ja noch weitere Geschichten aus meiner Feder veröffentlichen – wer weiß?

Inhalt

Prolog

Kapitel 01 Es war Sommer auf Usedom

Kapitel 02 Der 09. November 1989

Kapitel 03 Das Telefon

Kapitel 04 Früher, ja früher war alles besser

Kapitel 05 Das Jahr Fünf nach dem Mauerfall.

Kapitel 06 Der Chef in unserem Haus

Kapitel 07 Der Westbesuch

Kapitel 08 Montag früh, 12. September 1977

Kapitel 09 Montag früh, 12. September 1994

Kapitel 10 Vorwärts immer, rückwärts nimmer

Kapitel 11 Abendbrot

Kapitel 12 Das Abenteuer Wende beginnt

Kapitel 13 An der Abend Bar

Kapitel 14 Anfang mit Hindernissen

Kapitel 15 Der ganz normale Wahnsinn

Kapitel 16 Schatzilein

Kapitel 17 Eine Ratte kommt selten allein

Kapitel 18 Das Festzelt

Kapitel 19 Tag eins meiner Rache

Kapitel 20 03.Oktober 1990 am Vormittag

Kapitel 21 03. Oktober 1990 am späten Nachmittag

Kapitel 22 Tag fünf meiner Rache

Kapitel 23 Tag sieben meiner Rache

Kapitel 24 Die Party steigt

Kapitel 25 Herberts Rache

Kapitel 26 Liebe kennt keine Grenzen

Epilog

Danksagung

Buchempfehlung

Sei du selbst, denn alle anderen sind schon vergeben.

01

Es war Sommer auf Usedom

Anfangs war es nur ein Schrei aus weiter Ferne, völlig unerwartet, er klang schrill und auch sehr laut.

Mit einem Riesenschreck erwachte ich und sprang aus meinem Bett. Meine Augen waren weit aufgerissen, das Herz schien bis in den Hals zu klopfen. Ehe ich begriffen hatte, was geschah, ertönte ein weiterer fürchterlicher Schrei, welcher grell durch die Lüfte eilte. Hatte ich nur geträumt? Nein. Ich konnte den Schrei zuordnen. Den Schrei, den ich kannte, oft schon hörte, den Schrei einer Möwe. Wahrscheinlich der einer Super Möwe, die dafür verantwortlich war, so schrill und laut wie möglich, so grell und durchdringend, wie es nur geht, den Möwen Himmel in Alarmbereitschaft zu versetzen. Noch im selben Moment setzte, wie zur Antwort, ein ganzer Chor dieser schreienden Strandhühner ein. Was für ein Alarm am frühen Morgen. Das konnten nur unsere Möwen sein. Eigentlich sollte ich vor Erleichterung froh sein, dass nur meine Fantasie mit mir durchdrehte, doch das ging gar nicht. Nein, das ging in jenen Sommer überhaupt nicht. Seit einigen Tagen nun mussten wir diese schrille und schroffe morgendliche Begrüßung über uns ergehen lassen. Hatten diese Biester doch tatsächlich auf dem Nachbarhaus ein Nest gebaut und ein Junges ausgebrütet. Die gesamte Sippschaft schien es zu bewachen.

Es schienen große Schwärme unterwegs zu sein, die mit viel Alarm und Gekreische versuchten, alle Gefahren für das Jungtier zu verbannen. Oder nur um auf sich aufmerksam zu machen? Keine Ahnung. Es war einfach fürchterlich. Sie machten einen Alarm, als würde dort jeden Moment ein Fuchs mit seinem Gefolge auf das Dach springen. Und das liebe Leser, natürlich immer in den frühen Morgenstunden, sofern die Morgensonne über den Horizont der Ostsee blickte und den ersten Sonnenstrahl des Tages hinüber an den noch menschenleeren Strand schickte, setzte ein Schwadron von Möwen ein, als ginge es um Leben und Tod. Für alle, die hier nicht im Urlaub waren, sondern arbeiten mussten und sich damit um das Wohl unserer Gäste kümmerten, wurde es zu einer ganz besonderen Zumutung, denn irgendwann müssen auch wir schlafen. So ein Sommer fordert von uns immer vollen Einsatz. Unsere Gäste hatten immer noch die Möglichkeit, am Tag den Schlaf nachzuholen. Wir hatten das nicht. Denn wenn der Tag erwacht, graute meistens nicht nur der Morgen, sondern eine Vielzahl von Aufgaben. Langsam entfernte ich mich vom Fenster, zog die Gardinen wieder zurecht und setzte mich dann doch etwas erleichtert auf den Rand meines Bettes. Mein Herzschlag schien sich zu beruhigen, als plötzlich das schrille Läuten des Weckers einsetzte. Das war jetzt zu viel. Mehr als ich ertragen konnte am frühen Morgen. Wütend und echt mies drauf hätte ich jetzt am liebsten diesen blöden Wecker, den schreienden Möwen hinterhergeschmissen. Doch das hätte nicht genutzt, dachte ich so bei mir und stellte das laute Ungetüm auf seinen Platz zurück!

Doch eines war mir klar geworden: Ich war jetzt vollends wach. Noch mal zurück ins Bettchen schien für mich unmöglich. Die Geräusche unserer fliegenden Freunde hatten sich etwas verzogen und waren nur noch aus der Ferne zu hören. Jetzt nerven sie unsere Nachbarn. Sollen sie doch, dachte ich so bei mir. So sind wir dann wenigstens alle wach. Der gesamte Ort, mit all seinen Bewohnern, Einheimischen und vielen Gästen. Das war zwar ein schwacher Trost, aber immerhin ein Trost. Obwohl es noch sehr früh war, dachte ich darüber nach, heute an den Strand zu gehen. Schon jetzt prahlte die Sonne mit ihrer Kraft. Der Schweiß, den ich mir von der Stirn wischte, hatte nichts mehr mit den Möwen zu tun. Es war Sommer auf Usedom und jeder, der hier wohnte, hier seinen Urlaub verbrachte oder nur zum Baden oder einem Spaziergang am Meer hierherkam, jeder, der hier kellnerte, als Koch in der Küche bei Sauna ähnlichen Temperaturen sein Bestes gab, jeder, der hier Strandkörbe oder Gästezimmer vermietete, als Taxifahrer im Stau steht, als Kassierer stundenlang an der Kasse sitzt oder Ferienwohnungen ohne Ende putzt, bekam es mit ganzer Kraft zu spüren. Wir hatten einen Jahrhundertsommer. Es war schon der dritte in Folge. In diesem Jahr schien es der Echte zu sein und übertrumpfte schon jetzt alles Dagewesene der Vorjahre. Mein Gefühl sagte mir, die Kontinente haben sich verschoben und uns die Hitze von Afrika geschickt. Jeder spürte diese Affenhitze. Die Butter schmolz im Kühlschrank und die Getränkeindustrie rieb sich die Hände. Sämtliche Kühlgeräte, Lüfter und Ventilatoren liefen auf Hochtouren und kurbelten die Stromrechnung gewaltig an. Da blieb eigentlich nur noch der Strand, sollte man meinen. Doch wenn ich daran dachte, wie überlaufen es da unten war, dann sollte ich vielleicht doch die Dusche zu Hause nutzen. Nein, der Strand machte zurzeit keinen erfrischenden Eindruck, denn er war wie unsere Straßen völlig überfüllt. Eine ruhige Ecke finden, das war so gut wie unmöglich - eine Abkühlung im Wasser der Ostsee, schon lange nicht mehr denkbar. Denn auch hier hat die Sonne ganze Arbeit geleistet und aus der Ostsee eine riesige Badewanne gemacht. Dabei waren wir erst gestern zum Strand hinunter und haben eine Stippvisite vorgenommen. Geplant war das allerdings nicht, denn ein Strandbesuch im Sommer ist schon eher ein glücklicher Zufall als Alltagsgeschehen. Doch gestern Nachmittag waren alle Anreisen schon sehr zeitig angekommen. Unser Kofferservice hatte die Gepäckstücke unserer geschätzten Gäste bereits zur Verfügung gestellt - eine erfreuliche Seltenheit während der belebten Hauptsaison. Zudem war der Einkauf für den nächsten Tag bereits sorgfältig in der Speisekammer und im Kühlschrank verstaut. Es war einer von ganz seltenen Tagen. Das grenzte schon an ein kleines Wunder. Ein freier Nachmittag mitten in der Hochsaison. Heinrich stand in seiner kleinen Werkstatt und hoffte dort wohl auf eine kleine Abkühlung, vielleicht auch auf ein Nickerchen in seiner privaten Abgeschiedenheit. Doch der Gast von Zimmer 11 hatte ihn noch erwischt und befragte ihn bereits seit einer dreiviertel Stunde nach den Gewohnheiten in der damaligen DDR. Von Weitem konnte ich schon erahnen, wie Heinrich seine Augen verdrehte und höchstwahrscheinlich mit seinen Paraden Antworten das Gespräch führte. Jetzt konnte ich erkennen, wie der Gast ein Foto aus seiner Jackentasche zauberte und Heinrich präsentierte. Das auch noch, dachte ich so bei mir. Es war Zeit zum Handeln, um dem Ganzen ein Ende zu setzen. Denn es war Alarmstufe Rot angesagt, und ich wusste, wie Heinrich es nervte, wenn jemand einfach nicht aufhören wollte zu erzählen. Ich rief laut nach Heinrich. Dabei tat ich dann so, als wenn jeden Moment die Küche brennt oder die Fritteuse explodieren würde. Der Hilferuf war nicht zu überhören. Sogar unser Gast aus Zimmer elf, der bereits seine gesamten Familienfotos auf Heinrichs Werkbank ausgebreitet hatte, wurde aufmerksam. Heinrich wusste meinen Hilferuf sofort zu deuten und stürzte wie von der Tarantel gestochen aus seiner Werkstatt. Dabei kam er mit Riesenschritten, quer über den Hof, auf mich zu gerannt, wobei ich schon ein leichtes Grinsen auf seinem Gesicht ausmachen konnte. Schnell öffnete ich die Haustür, um sie im selben Moment, als Heinrich diese durchschritt, wieder fest zu verschließen. Das hatten wir nicht das erste Mal geübt, freuten uns jedoch immer wieder wie kleine Kinder. Verschanzt im Schutz der Veranda, konnten wir erkennen, wie unser Gast seine Fotos wieder von der Werkbank nahm und, wenn auch zögernd, das Grundstück verließ. Grinsend schauten wir uns an und beschlossen dann, über den Hintereingang zur Küchentür, an den Strand zu flüchten. Dabei waren wir zwar gezwungen, einige kleine Umwege zu gehen, damit wir keinen weiteren Gast treffen würden, der uns mit Fragen löchern würde. Wir wollten jetzt einfach unsere Ruhe. Die steile Treppe am Kulm zum Strand war stets eine Herausforderung, denn die riesigen Stufen waren nicht sehr besucherfreundlich angebracht. Man benötigt immer einen halben Schritt mehr als gewohnt, um die nächste Stufe zu erklimmen oder hinabzusteigen. Doch heute nahmen wir die Stufen mit großen Schritten und hüpften dabei mit übermütigen Sprüngen die Treppe hinab, welche direkt an der Promenade endete. Eine Art Wettrennen war entstanden und es ließ uns glauben, noch wie die Teenager albern zu können. Angesichts der fragwürdigen Treppenkonstruktion dauerte es auch nicht lange, bis eine Baumwurzel unser kurzes Intermezzo beendete. Auf der letzten Treppenstufe kam Heinrich ins Stolpern, konnte sich nicht mehr halten, verlor das Gleichgewicht und segelte dabei, wie konnte es anders sein, in einen Brennesselstrauch. Da hatten wir den Salat. Grinsend lief ich auf Heinrich zu, doch er war bereits dabei, seine Sachen, die mehr für die Werkstatt als für den Strand bestimmt waren, von Steinen, Brennnesseln und kleinen Disteln zu befreien. Außer einigen kleinen Schürfwunden und einem entsetzlichen Jucken an seinen Händen war nichts weiter passiert und wir konnten jetzt, mit größerer Vorsicht, unseren kleinen Ausflug fortsetzen.

Zum Strand war es nun nicht mehr weit und schon sehr bald standen wir barfuß im heißen Sand am Ostseestrand. Der Sand war in diesem Sommer außerordentlich heiß geworden. Deshalb liefen wir schnell ins Wasser, wo wir uns sofort der Länge nach und in voller Montur fielen ließen und die kleine Abkühlung genossen. Mit kräftigen Schwimmbewegungen ging es auf die Ostsee hinaus. Bald standen wir auf einer Sandbank und genossen diesen wunderschönen Moment, weit weg vom ganzen Trubel. Ich schmiegte mich an Heinrich und wünschte, dass dieser Moment lange anhalten würde.

Weiter draußen schien die Ostsee glatt wie ein Spiegel. Wir sahen kleine Segelboote, getrieben von ihren weißen Segeln. Das Meer schimmerte dabei wunderschön im Tageslicht. Dabei war sein Spiegelbild bis an den Strand zu sehen. Einfach zauberhaft. Die Sonne stand hoch am Himmel und ihre Strahlen wärmten mein Gesicht angenehm auf. Ich schloss für einen Moment die Augen und lauschte dem sanften Rauschen der Wellen an Land. Plötzlich sah ich etwas Dunkles im Wasser schwimmen. War es etwa eine Robbe? Neugierig beobachtete ich das Tier, während es langsam näherkam. Als es schließlich direkt vor uns auftauchte, erkannte ich erleichtert: Es war nur ein großer Fisch! Aber was für einer! Seine silbrigen Schuppen glänzten im Sonnenlicht wie Diamanten. Wir verfolgten ihn mit unseren Blicken, bis er wieder in den Tiefen der Ostsee verschwand - aber dieser Anblick würde uns noch lange in Erinnerung bleiben. Auf dem Rücken liegend, ließen wir uns langsam treiben und beobachteten dabei eine klitzekleine Wolke am Himmel, die irgendwo den Eindruck machte, als wenn sie immer genau über uns stand. Vielleicht war es ja auch so, wer weiß das schon? Für uns war es gefühlt „unsere“ Wolke. Eine kurze Auszeit, mehr war es leider nicht, denn das Abendgeschäft stand vor der Tür und musste noch vorbereitet werden. Nur zögernd traten wir den Rückweg an, wobei wir den Rest des Weges mehr krabbelnd als schwimmend fortsetzen, bis wir das Ufer erreichten, genau an der Stelle, wo wir vor Kurzem noch unsere Schuhe achtlos in den feinen Sand am Strand geschmissen hatten.

Halb sitzend im Wasser, halb liegend, beobachteten wir nun das Geschehen am Ostseestrand. Ein buntes Durcheinander von Strandkörben zierte den Strand. Ein bestimmtes System war hier nicht auszumachen. Rote, gelb gestreifte, grün karierte oder auch in der Farbe Blau oder einfach nur in Weiß, standen sie wie in einem Dschungel, in einem kreuz und quer, einem Zick und Zack über den gesamten Strandbereich verteilt. Jeden Tag aufs Neue verteilen unsere Gäste die am Vorabend ausgerichteten Strandkörbe über den gesamten Strandbereich. Es war nicht immer nachzuvollziehen, wozu das gut sein sollte. Einige standen dicht an der Wasserkante und die nächsten waren schon fast im Dünenbereich zu finden. Einige ganz Eifrige hatten sich ihre Strandkörbe ganz dicht zusammengestellt, um gemeinsam den Tag zu verbringen oder mit der Nachbarin zu flirten. Andere Ostseeurlauber suchten einfach das Weite mit ihrem Strandkorb. Na, ja, des Menschen Wille können wir ohnehin nicht ändern, genauso wenig wie die Tatsache, dass sich dieses Schauspiel von Jahr zu Jahr immer wiederholt. Sinn und Zweck der Angelegenheit waren sicherlich, an einem sonnigen Urlaubstag ein lauschiges und windgeschütztes Plätzchen zu finden. Doch die Sommersonne knallte in diesem Jahr so heiß auf uns herab, dass es eigentlich nur noch lauschige Plätze gab. Unsere Strandkörbe waren zu reinsten Schwitz- und Schweißstuben mutiert und machten jeder Sauna Konkurrenz. Ein längerer Aufenthalt dort drinnen könnte in dieser heißen Sommerzeit zu gefährlichen Hitzeschäden führen. So zog man es vor, diesen als Ablage für alle möglichen unentbehrlichen Strandutensilien, wie Handtücher, Sonnencreme, Schwimmringe, Trecker Reifen, Schlauchboote, kleine Jachten und Surfbretter oder auch Kurschatten zu nutzen. Klugerweise haben die meisten Gäste ihre Strandkörbe einfach in den Schatten gedreht. Hier streckte man sich aus, hier wurde ein Nickerchen gemacht, in einem Buch geschmökert, aufs Meer geschaut oder auch der hoffnungslose Versuch gestartet, die Sandkörner in der Hand zu zählen. Ein fröhliches Kinderlachen hallte durch die Luft und mischte sich mit dem leisen Plätschern der Wellen. Einige der Kinder hatten sich dort zu einer Wasserschlacht getroffen. Es schien ihnen sehr viel Spaß zu machen, immer wieder tauchen sie auf und wieder unter, um sich an ihre Mitspieler heranzupirschen. Eine Luftmatratze, ein kleines Schlauchboot, einige Schwimmringe im Quitescheentenlook dienten zur Verteidigung. Rasch gingen die Kinder damit um, tauchten gekonnt auf und spritzten mit allen Kräften wieder auf die anderen ein. Das löste ein allgemeines Gelächter auch bei den umstehenden Eltern aus. Doch die konnten oder wollten sich nicht dazu durchringen, sich von ihren Strandkörben zu erheben.

Sie blieben einfach so liegen, so wie sie das seit Stunden machten. Eine Art Sommerstarre schien sie befallen zu haben. Für die Kinder war das eine ausgezeichnete Gelegenheit, ihren Eltern einen Streich zu spielen. Sie schlichen sich im großen Bogen an ihre Lieben heran. Dabei schien Ihnen die Hitze an den Füßen nichts auszumachen. Es herrschte eine große Spannung. In Ihren Händen hielten die meisten Kinder allesamt irgendwelche Buddeleimer und anderes Spielzeug für den Strand. Alle gut gefüllt mit dem Wasser der Ostsee.

Bis ein Schrei die Ruhe durchdrang und aufgescheuchte Eltern und auch unbescholtene Strandgäste damit so richtig erschreckt wurden. Fluchtartig, lachend und kreischend verlassen die Kinder den Ort des Geschehens und eilten wieder in Richtung Ostsee. Dabei zerstörten sie zwei frisch gebaute große Sandburgen, stolperten über eine Strandmuschel. Eine Möwe flog lauthals und kreischend in die Luft. Von da an war es erst einmal vorbei mit der Ruhe am Strand. Ein kleiner Junge, mit einem T-Shirt, auf dem groß und breit PAUL steht, war quiekend den anderen hinterhergelaufen. Doch Paul war noch zu klein, um mit den großen Jungen und Mädchen Schritt zu halten. Ein bärtiger Mann, wahrscheinlich der Papa, hatte ihn bereits am Wickel und schimpfte drauf los. Kaum hatte er sich umgedreht, lief Paul wie ein Blitz zu den anderen, die sich schon wieder mit Sand und Wasser bespritzten. Ich stand mit Heinrich im seichten Wasser und beobachtete das Treiben am Strand. Dabei spielten kleine Wellen um unsere Fußgelenke und ließen uns kaum spüren, wie unsere Füße doch Stück für Stück und Welle für Welle immer ein kleines bisschen tiefer einsinken.

Bei dem Versuch, mich wieder gerade aufzurichten, stütze ich mich auf Heinrich, der noch dabei war, seine Latschen im seichten Wasser zu spülen.„Achtung, Achtung“ dröhnt es plötzlich über den Strand, „hier eine Durchsage der Wasserwacht.” Das Baden in der Nähe der Buhnen ist verboten. Es besteht Verletzungsgefahr. Das Baden in der Nähe der Buhnen ist verboten. Es besteht Verletzungsgefahr. „Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag!“

Ein kleines Mädchen, das mit seinen Großeltern in einem Strandkorb saß, schaute ihren Opa an und fragte: „Opa, warum dürfen wir nicht an die Bojen?“ Der Opa schaut zum Kind und sagt: „Die meinen die Dünen dort hinten und zeigt in Richtung Landseite.“ Ich hörte das und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Heinrich schmunzelte ebenfalls und sagte dann: „Na toll, die Durchsage ist wohl bestens angekommen.“ Schon wollten wir los, als wir einige ganz aufgeregte Stimmen und Musik aus der Ferne vernahmen. Wir blickten auf und sahen schon von Weitem, dass eine ganze Mannschaft von Urlaubern und Einheimischen in ihren Badesachen auf das Volleyballfeld stürmte.

Ich werde das nie verstehen, wie man bei den Temperaturen auch noch Volleyball spielen kann. Doch unsere Gäste machten das. Einige von ihnen hatten den ganzen Tag darauf gewartet, um die Mannschaft voll zu bekommen. Jetzt war es endlich so weit, dass mit dem ersten Aufschlag begonnen werden konnte. Bei dem Spiel war immer voller Körpereinsatz gefragt und das war auch zu beobachten. Ich glaube, das macht das Spiel auch für alle Zuschauer, die sich als Zaungäste in großer Zahl einfanden, immer so interessant. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welchen eigenwilligen, meist recht blitz haften Attacken versucht wird, den Ball auf das gegnerische Feld schlagen zu lassen. Zwanzig Minuten später erfolgt ein Seitenwechsel. Alle Mitspieler waren bereits total verschwitzt und von oben bis unten mit Ostseesand beklebt. Auch in den Gesichtern und an den Haaren klebt zumeist der Ostseesand und lässt unsere Mitspieler recht komisch wirken. Nur die weißen Zähne blitzen hin und wieder hervor. Die Sonne knallte dabei erbarmungslos auf die bereits braun gebrannten Körper der nimmermüden Sonnenanbeter. Nach einer Weile bemerkten wir, dass die Hobby-Sportler nicht mehr so flott unterwegs waren und die Gegner immer öfter punkten. Es wurde höchste Zeit, das Spiel zu beenden und uns aus der Gluthitze zu quälen. Nach weiteren zehn quälend langen Minuten war das Spiel endlich vorbei. Oft kam es vor, dass man bei der Hitze das Zählen der Punkte durcheinandergebracht hatte und keiner wusste mehr, wer denn nun gewonnen hatte. Aber hey, das war auch total egal, Hauptsache alle hatten ihren Spaß gehabt. Noch während der letzte seinen Wurf machte, stürmten die meisten, wie die Geier gleich, wieder in die Fluten, schwammen schnell weit hinaus zu den Stellen, wo das Wasser der Ostsee doch noch etwas angenehmer war. Tauchten und verschwanden dann für kurze Zeit im kühlen Nass der Ostsee. Glücklich und zufrieden sahen wir die Volleyball-Akrobaten, die nach einem erfrischenden Bade aus dem Wasser stiegen. Das Wasser perlte von ihren größtenteils sportlichen Körpern ab. Mit schnellen Schritten kamen sie an den Strand zurück. Es ist immer ein Anblick für die Götter und einfach schön zu sehen. Das Wasser, das sich um ihren Körper schmiegt, die Sonne, die auf ihrer Haut glitzert und ihr Lachen, das durch die Luft schallt, erzeugen eine Atmosphäre, die uns unwillkürlich lächeln lässt.

Ich gab mir einen Ruck und stupse Heinrich vorsichtig an. Doch der schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Sein Blick galt nicht dem Meer oder dem Horizont, oder gar den flotten Sportlerinnen. Sein Blick galt die ganze Zeit der Riesenbaustelle, nur wenige Meter von uns entfernt. Ein Meisterwerk war dort zu bestaunen. Die Seebrücke Heringsdorf war fast fertiggestellt. Doch noch immer waren große Teilabschnitte vom Strand für unsere Gäste gesperrt, damit die mächtigen Schwimmkräne, die Pontons und andere Schwimmplattformen genügend Platz zum Wenden und Manövrieren für diverse Bauarbeiten hatten. Der Steg, der mit seinen 509 Metern ins Meer ragt, war gigantisch anzusehen. Hier waren noch einige kleine Restarbeiten zu erledigen. Auch die Plattform für das neue Restaurant, ganz am Ende, sozusagen am See Brückenkopf nahm schon Form an und ließ auf eine gar einzigartige Form der Erlebnisgastronomie mitten in der Ostsee schließen. Obwohl es in der Nähe nicht möglich war, am Strand auch nur ein Auge zu schließen, da die Bauarbeiten reichlich Lärm verursachten, war es höchst interessant, dieses kolossale Riesenbauwerk zu beobachten. Auf der Riesenbaustelle der Seebrücke Heringsdorf wimmelte es nur so von Bauarbeitern. Von Weitem betrachtet hat es mich immer an ein Ameisenvolk erinnert, das emsig jeden Tag kleine und große Wunder vollbrachte. Und wir fanden es toll, was da alles so vor unserer Haustür passierte. Immerhin noch drei Wochen und dann sollte Pfingsten 1995 die Seebrücke Heringsdorf feierlich mit Pauken und Trompeten, mit Konfetti und Freibier und selbstverständlich einem Riesenfeuerwerk und Bumsfallera eingeweiht werden. Na klar, wurde es wie immer knapp. Wie auf jeder Baustelle. Doch der Erfolg konnte sich sehen lassen und wir konnten gemeinsam mit unseren Gästen auf Usedom ein gigantisches und historisches Seebrückenfest erleben. Und weil das alles so toll war, feiern wir dieses Fest jedes Jahr aufs Neue. Die längste interkontinentale Seebrücke Europas haben wir jetzt vor unserer Tür. Und wer das nicht glaubt, der soll selber kommen und nachmessen. Die Kaiserbäder glichen in den ersten Jahren nach der Wende schon einer großen Baustelle. Die Baukräne waren nicht zu übersehen und so manch ein Gast hatte statt eines Meerblicks einen Baukran Blick. Doch Stück für Stück konnten wir die Seebäder gestalten, und wir konnten alle sehen, wie die Orte wuchsen und schön wurden. Ein Haus putzte sich nach dem anderen heraus. Mitunter erschien zum Erstaunen der verdutzten Bewohner eine Villa nach der anderen in strahlendem Glanz und neuem Farbanstrich.

Und wie immer, fragte man sich: „Stand die Villa schon vorher da?“ Klar, da stand sie bereits seit über 100 Jahren. Vor über 100 Jahren hatte sie wahrscheinlich auch Ihren letzten Farbanstrich erhalten. Zu DDR-Zeiten hat sich keiner mehr die Mühe gemacht, diese prachtvolle Villa zu sanieren, geschweige denn, ihr einen neuen Außenputz zu verpassen. Bäume und anderes Gebüsch haben dann auch noch dafür gesorgt, dass sie nahezu unsichtbar wurden und aus dem Blickfeld verschwanden. Doch jetzt erhoben sie sich alle wie Phönix aus der Asche und gleich einem kleinen Wunder entstanden zauberhafte, malerische Häuser und Villen, als wären sie aus einem 100-jährigen Schlaf erwacht. Völlig in Gedanken versunken, war es jetzt Heinrich, der mir einen Schubs gab, damit ich aus meinen Tagträumen erwachte. Oh je, dachte ich nach einem Blick auf meine Uhr. „War es wirklich schon so spät.“ Überrascht richtete ich mich auf und zog meine Sachen, die nun vollständig am Körper getrocknet waren, etwas glatt, um dann auf den schnellstmöglichen Weg heimzukommen. Zu Hause angekommen, erblickte ich die kleine weiße Wolke, die immer noch im Zenit am Himmel zu sehen war. Ich schenkte ihr ein Lächeln und begann mit den Vorbereitungen für das Abendgeschäft.

Das war er, der Sommer 95, als die Möwen lauter schrien, die Sonne höher stand und unsere Herzen schneller schlugen.

Lust auf mehr? Dann lesen sie weiter.

02

Der 09. November 1989

Das neue RFT-Radio mit Stereo-Effekt, unser ganzer Stolz seit einigen Wochen, dudelte den ganzen Tag in der Küche so vor sich hin.

Ganz neu gab es einen automatischen Suchlauf. Was für eine Faszination der Technik und so ließen wir das gute Stück, solange automatisch suchen bis er sich beim SFB, beim RIAS oder gar beim Radio Luxemburg eingepegelt hatte, was meistens auch gelang. Der Empfang war nicht immer der beste und die kleine Antenne am Stern Radio musste immer wieder neu ausgerichtet werden, als wir plötzlich eine kurze, aber unglaubliche Nachricht vernahmen, welche immer wieder durch ein Rauschen unterbrochen wurde. Obwohl wir den Satz nicht zu Ende hören konnten, glaubten wir etwas von einem Aufstand am Brandenburger Tor in Berlin vernommen zu haben. Plötzlich herrschte eine unerwartete Stille im Raum. Selbst Oskar, der zuvor noch mit seinem Spielzeug-Panzer wild durch das Wohnzimmer tobte und dabei lautstark prustete, verstummte für einen Augenblick. Es schien, als ob jeder in diesem Moment erfasste, dass hier etwas Besonderes vor sich ging. Es war, als ob die Zeit für einen Moment stillstand und jeder einzelne Augenblick in seiner Bedeutung aufgeladen war. Auch Oskar, der sonst so ungestüm und laut war, schien zu ahnen, dass hier etwas Außergewöhnliches passierte. Neugierig geworden, versuchten wir mit allen möglichen Tricks den Dudelkasten zum Laufen zu bringen. Egal, was wir taten, das Radio verweigerte weitere Nachrichten und zog es vor, zu streiken. Da blieb uns doch die gute alte Flimmerkiste. Im Laufschritt pirschten wir an den Fernseher heran, wobei wir uns fast umgerannt hätten, bei so viel Schwung. Dieser funktionierte nur mit einem Schlag auf die linke Seite. Dann lieferte er aber das Fernsehprogramm. Heinrich hieb mit einem gut gezielten und oft geübten Fausthieb auf den Fernseher ein, welcher dann nach einem kurzen Flimmern und Knacken auch sein Programm startete. Was wir dann sahen, verschlug uns die Sprache. Mit staunenden Augen klebten wir am Fernsehbild und konnten das Gesehene nicht wirklich einordnen. Tausende Menschen feierten bereits am Brandenburger Tor. Ein Freudenfest der Menschen. Trabis in allen Farben schlängelten sich entlang, wo einst die Mauer stand. Die Menschen lachten, weinten, umarmten sich und mein Heinrich und mir fehlten die Worte. Die Menschen lagen sich glücklich und jubelnd in den Armen. Die Menschenmenge, die sich vor dem Brandenburger Tor versammelt hatte, war in ekstatischer Freude vereint. Sie lagen sich in den Armen, tanzten und jubelten. Die Mauer, die einst die Stadt und ihre Bewohner teilte, war nun Geschichte. Und doch waren sie hier, auf der Mauer, die einst so unüberwindbar schien. Einige hielten Mauerstücke in den Händen, als ob sie ein Stück der Vergangenheit in ihren Händen hielten und konnten es kaum fassen. Das war der blanke Wahnsinn, aber auch ein Moment der Freude und des Triumphs. Die Stadt war wieder vereint und die Menschen feierten dieses historische Ereignis. Es war ein Augenblick, den niemand jemals vergessen würde. Ost-Berlin feierte gemeinsam mit West-Berlin den Fall der Mauer. Das hatte die Welt noch nicht gesehen.

Fassungslos starrten wir nun schon seit einer ganzen Weile auf unseren „Raduga“, der uns vor Kurzem noch ein Vermögen gekostet hat und jetzt diese fantastischen Bilder lieferte. Oskar, mit seinen zwei Jahren staunte nicht schlecht über das Geschehen und vor allen Dingen über unsere verwunderten Ausrufe. So stand das Kind ebenfalls mit offenem Mund vor dem Fernseher und hoffte ganz stark, dass seine Eltern bald wieder normale Reaktionen aufweisen würden. Das taten sie aber nicht, im Gegenteil, jetzt hopsten sie schon im Wohnzimmer auf und ab, machten merkwürdige Geräusche und umarmten sich immer wieder. Sicherheitshalber klopften wir nochmals auf die linke Seite des Fernsehers und wechselten die Sender. Doch es blieb dabei, alle Sender berichteten das Gleiche. Es war wirklich wahr: Die Mauer war gefallen! Immer noch staunend starrten wir auf den Fernseher. Immer wieder verkündet Herr Schabowski die Reisefreiheit. Irgendwie konnte auch er den Satz nicht wirklich zu Ende sprechen, da seine Worte im allgemeinen Jubel der Menschen untergingen. Etwas abgehackt waren da noch die Worte: Es tritt nach meiner Erkenntnis ...ist sofort unverzüglich ….zu hören. Danach folgte ein großer Freudenschrei der Massen. Ein Aufschrei der Massen, der sich sofort auf uns übertrug und sich unverzüglich als Gänsehaut auf meinen Armen breit machte. Zitat: "Wann?" SCHABOWSKI: „Nach meiner Kenntnis, sofort, unverzüglich. „Frage: „Sie haben auch BRD gesagt. “SCHABOWSKI nach flüchtigem Überfliegen seines Zettels: „...hat der Ministerrat beschlossen, dass bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer diese Übergangsregelung in Kraft gesetzt ..." Frage: „Gilt das auch für Berlin-West?“ SCHABOWSKI: „Ja, alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD und zu Berlin West...“

Die Freude und die Euphorie der Menschen, hatte auch uns erreicht und ließ uns um den Tisch tanzen. Plötzlich sah uns Oskar komisch an. Auch ihm schien die Freude angesteckt zu haben, so dass er uns seine kleinen Händchen reichte, um dann noch schneller durch die kleine Wohnung hüpfen zu können. Dabei strahlte nicht nur sein Gesicht, sondern das aller Menschen im ganzen Land. Was folgte, war eine unglaubliche Nacht. Die Menschen trafen sich auf den Straßen, von Fenster zu Fenster wurden die Ereignisse besprochen, mit den Fahrrädern zu Freunden und mit dem Trabi nach Berlin. Aus allen Ecken und Enden, aus jedem Haus, jeder Gartenanlage, jeder kleinen Datsche, von jedem Balkon und jeder Gartenbank, egal ob vor dem Konsum oder aus den Wirtshäusern, überall ertönten Hurrarufe und Freudengesänge. Die Party fand nicht nur in Berlin statt. Ein ganzes Land feierte seine Wiedervereinigung.

An jenem Abend bekam ich Angst meine Augen zu schließen und glaubte schon, ich könnte das Ganze nur geträumt haben. Es hätte sein können, dass der Fernseher nur kaputt war und uns schon morgen Karl Eduard und die “aktuelle Kamera" wieder begrüßen würde. Das taten sie aber nicht. Nein, nie wieder!!! Am nächsten Morgen, noch bevor uns der Wecker aus dem Schlaf klingeln konnte, saßen wir wach und putzmunter und völlig aufgeregt bei einer Tasse Kaffee am Frühstückstisch, wobei wir mit unseren Ohren den Stimmen im Radio Beifall spendeten. Noch in derselben Nacht eilten tausende von Menschen nach Berlin, um in den Westteil der Stadt zu gelangen. Eine endlose Schlange von Trabis in allen möglichen Farben, bunt geschmückt, zierten die Zufahrt und den Vorplatz am Brandenburger Tor. Der Radiosprecher vom SFB überschlug sich fast, als er gestern noch spät am Abend verkünden konnte, dass die Grenzen offen sind. Diese Nachricht habe ich heute immer wieder gehört, doch jedes Mal schlug mein Herz bis zum Hals vor lauter Freude. Dabei bekam ich einen Heißhunger auf Bananen, sodass mir schwor, so schnell wie möglich ein Bananenlager zu verschaffen. Gleich neben dem Nutella-Lager.

Heinrich hatte immer noch etwas vom Rasierschaum im Gesicht, strahlte dabei aber über das ganze Gesicht, griff zum Kaffeetasse, wobei er seinen Kaffeekonsum schon bei Weitem überschritten hatte. Doch das war heute unwichtig. So wie Heinrich strahlte, träumte er sicher schon von einem neuen Trecker, doch im Moment waren wir beide noch sehr pessimistisch. Auch vierzehn Tage später noch, als die Euphorie sich etwas gelegt hatte, glaubten wir immer noch, dass die Panzer in Leipzig, Berlin und anderen Bezirksstädten doch noch schießen könnten und dann Gorbatschow oder Kohl ganz schnell die Mauer in eine noch größere Festung verwandeln könnte. Alles war möglich. Doch nichts dergleichen passierte. Die Mauer fiel und fiel und fiel und wurde nicht wieder hoch sicherheitsmäßig aufgebaut oder von Eliteeinheiten bewacht. Nein! Es wurden auch keine Sondereinheiten stationiert. Es wurde wirklich wahr, so wahr, dass auch wir daran glauben konnten, dass diese Mauer, die für unseren Jahrgang einfach zur Welt gehörte, nicht mehr existierte. Nur allein die Möglichkeit zu haben, in den Westen fahren zu können, in diese bunte Welt zu tauchen, war für uns grenzenlos und irgendwie immer noch nicht wirklich begreiflich. Ab sofort liefen Geschichten in unserem Lande ab, die so schnelllebig, so ereignisreich, erlebnisreich und abenteuerlich waren, dass der normale Alltag nicht mehr ausreichte, um alles fassen zu können.

Genau von da an hat uns der Kapitalismus einige Stunden vom Tag gestohlen. Seitdem rennt uns jeden Tag die Zeit weg. Zu Ostzeiten war ein Jahr noch ein Jahr. Wenn wir sagten, wir sehen uns in einem Jahr, dann war das noch eine Ewigkeit. Es kam uns noch unendlich lang vor und so war es dann auch. Heute erscheint uns ein Jahr wie ein Katzensprung. Ehe man sich versieht, ist das Jahr schon wieder vorbei. Es entsteht der Eindruck, als würde das Ereignis vor einem Jahr gerade erst geschehen sein. Also gerade erst neulich. Somit bekam der Begriff „Neulich” eine völlig neue Bedeutung. Dieses Rätsel beschäftigt mich heute noch. Wie haben die das nur gemacht? Unter den Verursachern zählten bestimmt auch die zahlreichen Presseartikel. Der Spiegel, die Super-Illu, die Bild-Zeitung und viele andere bunte Zeitungen des westlichen Auslandes mit ihren Berichten, Kommentaren und Enthüllungen. Sie haben uns alle noch verrückter gemacht. Na, heute sehe ich das nicht mehr ganz so wild, aber damals empfand ich das alles richtig heftig. Haben wir doch damals noch alles geglaubt, was in den Zeitungen stand, kaum vorzustellen, aber so war es halt. So waren wir DDR-Bürger und das ganz einfach, weil wir nicht anders sein konnten. Weil wir so waren, wie wir waren. Vieles änderte sich. Die Schulsamstage wurden abgeschafft. Halb Ostdeutschland fuhr in den Westen, holte sich seine hundert D-Mark Begrüßungsgeld und schwebte dabei vor lauter Begeisterung in Euphorie.

Könnt ihr euch noch erinnern? Wisst Ihr noch, wie die Großeltern oder entfernte Verwandte und Bekannte hinaus gezottelt worden sind, obwohl sie in ihrem Leben das Dorf noch nie verlassen hatten? Jetzt standen sie plötzlich am Funkturm und mussten sich Reklame von Beate Uhse ansehen, anstatt vor dem Dorfkonsum die neuesten Rezepte und Strickmuster auszutauschen. Statt die Laken zu stärken oder den Sonntagskuchen zu backen, haben sie in rasender Geschwindigkeit mit dem hellblauen Trabant den Kudamm in Berlin erstürmt. Und das alles wegen der Mäuschen! Wegen der Begrüßung Mäuschen!

Alle wollten sie haben, auch unser Genosse, der Erich. Doch wie sollte er unerkannt nach West-Berlin kommen? Ein Problem, das ihn nicht schlafen ließ. Doch Erich war ein Ossi und kannte die Kunst des Improvisierens. Mit einem Blick in den Kleiderschrank hatte er schnell eine Lösung gefunden: Er verkleidete sich kurzerhand als Oma. Zitternd und mit flauem Gefühl im Bauch fuhr er mit der S-Bahn nach West-Berlin. Doch es war leichter als gedacht und Erich erhielt sein Begrüßungsgeld. Zwar bereitete ihm das Kopftuch reichlich Probleme, aber er blieb unerkannt. Stolz steckte er die hundert Westmark ein und fuhr mit der nächsten S-Bahn auf dem schnellsten Weg nach Hause. Doch in der S-Bahn wartete bereits eine weitere Oma auf ihn. Sie kam direkt auf ihn zu, setzte sich dann ganz dicht zu unserem Erich und fragte flüsternd: „Na, Oma Honecker hat alles geklappt?“ Erschrocken schaute er auf, kontrollierte mit beiden Händen den Sitz seines Kopftuchs und fragte dann zögernd: "Wie konnten Sie mich erkennen?" Grinsend schaute ihn die andere Oma an und sagte dann: „Na, kieck doch mal jenauer hin, ich bin doch die Mielke Oma!“.

Trotz allem fanden wir einige Dinge recht eigenartig. War es zu verstehen oder war es einfach nur peinlich, dass die Leute reihenweise in Ohnmacht gefallen sind, weil sie 100