Unsere Liebe war unerhört - Eva Müller - E-Book

Unsere Liebe war unerhört E-Book

Eva Müller

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Beschreibung

Eine Liebe, die sich über Grenzen hinwegsetzt. Eine Vergangenheit, die nicht ruhen kann. Eine Familie, die über Generationen hinweg zusammenhält.

Sommer 1946: In einem bayerischen Dorf verliebt sich die junge Marga in den älteren Henryk. Sie stammt aus einer alteingesessenen katholischen Familie – er ist Jude und schlägt sich nach dem Krieg als Wanderkaufmann durch. Was er durchgemacht hat, erschließt sich ihr erst nach und nach, aber Marga kämpft für ihre gemeinsame Liebe. Henryk hat mit seinem Leben eigentlich abgeschlossen, als er Marga kennenlernt. Diese zweite Chance auf Glück, die sie ihm schenkt, grenzt für ihn an ein Wunder. Doch die Leute im Dorf finden Margas Interesse an Henryk unerhört. Solch eine Liebe dürfe doch nicht sein …

Gegenwart: Jonathan, der erwachsene Sohn von Marga und Henryk, fühlt sich in seiner Heimat tief verwurzelt. Doch auch nach so vielen Jahren bekommt er noch immer die Abneigung zu spüren, die bereits sein Vater ertragen musste. Jonathan trägt die Bürde seiner Familiengeschichte in die nächste Generation und sucht seinen eigenen Weg, um mit ihr umzugehen.

Eine zutiefst bewegende Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht: Durch den seit Generationen bestehenden engen Kontakt zur Familie, die hinter den Romanfiguren steckt, hat Eva Müller in detaillierter Recherche und mit viel Feingefühl einen vielschichtigen Roman geschaffen.

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Seitenzahl: 473

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Eva Müller ist der Mädchenname der Autorin mehrerer historischer sowie zeitgenössischer Romane. Sie wuchs in Passau auf und studierte in Regensburg. In ihren Romanen verarbeitet sie gern Stoffe mit historischem Hintergrund. Mit Unsere Liebe war unerhört widmet sich Eva Müller nun der wahren Geschichte einer Familie, die seit Generationen mit ihrer eigenen Familie verbunden ist.

www.penguin-verlag.de

Eva Müller

Unsere Liebe war unerhört

Historischer Roman

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Copyright © 2024 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Redaktion: Hanne Reinhardt

Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München

Umschlagabbildung: Blue Skirt and Dahlias, c.1950 (oil on canvas) /Bridgeman Images

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31032-5V001

www.penguin-verlag.de

Für A.

Da ist ein Land der Lebenden und da ist ein Land der Toten. Und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe, das einzig Bleibende, der einzige Sinn.

Thornton Niven Wilder

Prolog

Passau, 1990, Jonathan

Jonathan hatte eindeutig zu viel Kaffee getrunken. Das Paragrafenlernen für die anstehende Zivilrechtsprüfung war dadurch auch nicht leichter geworden, und nun läutete die Kirchturmuhr der Severinskirche, es war zwei Uhr nachts, und er schlief noch immer nicht. Durch das geöffnete Fenster drängte die Sommerhitze herein, die nicht einmal in den Nächten mehr abzukühlen schien. Jonathan lag im Bett seiner Studentenwohnung in Passaus Innstadt, Mansarde, ganz oben unter dem Dach, und starrte an die Decke.

Die alten Gassen dieses Viertels waren bei den Studierenden beliebt, hier reihte sich Kneipe an Café an Bar, und das alles in historischen Gebäuden, die schöner nicht sein könnten. Obwohl abends das Leben pulsierte, herrschte tagsüber eine entspannte Beschaulichkeit. Norddeutsche Studenten, die an der Uni geschniegelt BWL paukten, standen nachts leger im T-Shirt hinter den Tresen der angesagten Lokale und mixten Getränke.

Die Nachbarn kannten einander, man grüßte sich auf der Straße, wie sich das gehörte. Der einzigartige Mix aus zwei Jahrtausenden Stadtgeschichte und ländlicher Fürsorglichkeit machte Passaus Charme aus. Natürlich gab es Rotlichtviertel, Bezirke, in denen man sich besser nicht herumdrückte. Dennoch konnten sich in der Dreiflüssestadt junge Menschen nachts noch sicher durch die Gassen bewegen. Das schätzten viele, auch Jonathan. Deshalb war er nach dem Abitur nicht nach München, Hamburg oder Berlin gegangen, sondern in der Heimat geblieben. Aufgewachsen auf dem niederbayerischen Land, lediglich zwanzig Minuten von Passau entfernt, genoss er die Freiheit, die eine eigene Wohnung ihm schenkte, ebenso wie die Nähe zu seinem Elternhaus.

Bis vor ein paar Tagen hatte er sich hier wohlgefühlt, aber nun war alles anders. Der Grund für seine Schlaflosigkeit lag ganz sicher nicht allein beim Kaffee. Doch daran wollte Jonathan im Moment nicht denken, das würde bestimmt nicht dabei helfen, Ruhe zu finden, er musste morgen früh aufstehen und jetzt dringend schlafen.

Irgendwann musste er doch eingenickt sein, denn plötzlich schreckte ihn ein Lichtschein auf.

Durch den mattierten Glasausschnitt seiner Schlafzimmertür fiel Licht herein, das nur aus dem erleuchteten Hausflur kommen konnte. Mit Entsetzen realisierte Jonathan, dass folglich seine Wohnungstür offen stehen musste, und tatsächlich zeichnete sich der Umriss eines Mannes wie ein Scherenschnitt auf dem Holzboden ab. Hinter ihm tauchte auch gleich noch ein zweiter auf.

Jäh war jegliche Müdigkeit wie weggeblasen. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt, sein Kopf vollkommen klar. Er musste handeln, wenn er die beiden Eindringlinge in die Flucht schlagen wollte. Jetzt war keine Zeit für Angst oder Zauderei.

Er saß vollkommen still in seinem Bett und zwang sich, ruhig zu atmen, während die Gedanken rasten. Sie durften nicht bemerken, dass er sie bereits entdeckt hatte, er brauchte den Vorteil der Überraschung, um eine Chance zu haben.

Der Erste drückte lautlos die Klinke der Schlafzimmertür hinunter, schwang sie auf und trat halb hindurch. Da schoss Jonathan blitzschnell vor und warf sich gegen die Tür. Mit einem überraschten Schmerzenslaut ließ der Mann etwas fallen, das klirrend auf dem Boden landete. Jonathan stieß einen Schrei aus und versetzte dem Unbekannten einen Faustschlag, so fest er konnte. Der Zweite kam gar nicht erst herein, sondern trat sofort den Rückzug an. Sein Kumpan rappelte sich rasch auf und folgte ihm. In der hellen Etagenbeleuchtung sah Jonathan für einen Moment ihre Gesichter. Er kannte die beiden!

Er lief ihnen nicht nach, schließlich war er nicht lebensmüde. Stattdessen schloss er seine Tür, verriegelte sie und lehnte sich von innen dagegen. Nun ging Jonathans Atem schnell und stoßweise, und ihm wurde übel. Erst als er sich wieder ein wenig sicherer auf den Beinen fühlte, hob er auf, was der Mann hatte fallen lassen. Es war ein Messer mit einer langen, scharfen Klinge.

Waren die beiden allen Ernstes gekommen, um ihn umzubringen? Immerhin gab es nichts von Wert zu stehlen, worum sonst also sollte es ihnen gegangen sein? Er dachte an den anonymen Anruf vom Montag. War es einer von den beiden gewesen, der ihn am Telefon bedroht hatte? Waren sie hier gewesen, um ihre Drohung Wirklichkeit werden zu lassen? Jonathan kam sich vor wie in einem schlechten Film.

Woher konnte er wissen, dass sie es nicht noch mal versuchen würden, später, morgen, kommende Woche?

An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken.

Am nächsten Tag radelte er zehn Minuten stramm zur Polizeiinspektion in der Regensburger Straße. Dort musste er über eine Stunde warten, bis jemand sein Anliegen aufnahm, und der Schreck der Nacht wich mehr und mehr der Wut darüber, hier nicht ernst genommen zu werden.

Im Kopf ging er die Noten des Klavierstücks durch, das er gerade einübte, um sich etwas abzulenken.

»Herr Stattler? Kommen Sie mit.« Ein Beamter in Uniform bat ihn an den Schreibtisch, tippte dann erst einmal ausgiebig in die Tastatur seines imposant dimensionierten Computers, bevor er innehielt und Jonathan zum ersten Mal richtig ansah. Anstatt ihm eine ordentliche Frage zu stellen, hob er allerdings lediglich die Augenbrauen, in einer stummen, etwas arrogant wirkenden Aufforderung.

»Ich wurde in meiner Wohnung überfallen«, begann Jonathan knapp, was ihm das Interesse seines Gegenübers endlich sicherte.

Der Beamte zückte einen Kugelschreiber, nahm sich ein Blatt Papier und forderte ihn auf, den Sachverhalt zu schildern. »Aha«, sagte er, als Jonathan geendet hatte, und sah auf seine hingekritzelten Notizen. »Dann nehme ich das mal in den Computer auf.«

»Dabei werden Sie feststellen, dass ich vor ein paar Tagen schon mal hier war und den Diebstahl meines Wagens anzeigen wollte.«

»Wieso wollte? Haben Sie ihn nun angezeigt oder nicht?«

»Ihr Kollege hat zwar die Meldung aufgenommen, war aber der Ansicht, eine Anzeige wäre sinnlos. Sicher finden Sie etwas darüber in Ihren Unterlagen.«

Es fiel Jonathan schwer, höflich zu bleiben. Am vergangenen Montag hatte er einen anonymen Anruf erhalten: »Morgen stehlen wir dein Auto, übermorgen bist du tot«, hatte ihm eine Männerstimme knapp und völlig emotionslos mitgeteilt.

Und in der Tat war sein guter alter VW Golf tags drauf verschwunden, zusammen mit Jonathans Anwohnerausweis und den Klaviernoten, die auf dem Beifahrersitz gelegen hatten. Natürlich war er zur Polizei gegangen, denn selbstverständlich hatte er das zur Anzeige bringen wollen – samt der wenig subtilen Todesdrohung. Das war ja schließlich nichts Harmloses, Alltägliches, sondern etwas, das ihn völlig erschütterte. Doch was würde es bringen, seine Wut und seine Ohnmachtsgefühle dem Beamten gegenüber auszupacken?

Und selbstverständlich hatte er dem Beamten am Dienstag auch von den beiden jungen Männern erzählt, die an jenem Tag in der Vorlesung in seiner Nähe gesessen hatten und die er in der Nacht in seiner Wohnung wiedererkannt hatte. Jurastudenten wie er waren das keine, er kannte sämtliche Kommilitonen aus seinem Semester.

Jonathan hatte nicht auf den Vortrag des Professors geachtet, sondern sich mit Kerstin Bauer unterhalten, die neben ihm saß. Genau genommen hatte er ihr seine Familiengeschichte erzählt. Im Nachhinein ärgerte sich Jonathan, durch das Interesse der hübschen Kerstin geschmeichelt, abgelenkt gewesen zu sein. Sonst hätte er die zwei Burschen hinter sich viel früher bemerkt, die lange Ohren gemacht hatten.

Die Anwesenheit der Männer hatte ihn nervös gemacht, vollkommen unbegründeterweise, wofür er sich hinterher fast ein wenig geschämt hatte. Nach der Vorlesung hatten die beiden den Hörsaal sofort wieder verlassen, ohne sich in irgendeiner Form auffällig zu benehmen.

Aber es waren eindeutig die beiden gewesen, die nachts bewaffnet in seine Wohnung eingedrungen waren.

»Ich habe ihre Gesichter genau gesehen und die beiden wiedererkannt«, schloss Jonathan seine Schilderung. »Sie müssen es auch gewesen sein, die mich angerufen und mein Auto gestohlen haben. Ihr Kollege vorgestern hat den Sachverhalt zwar aufgenommen, aber er hat mir sehr deutlich gesagt, ich solle mir nicht einbilden, das Auto dadurch wiederzubekommen. Wenn keinerlei handfeste Beweise vorliegen, könne man eben nichts machen.«

»Haben Sie denn heute welche?«, fragte der Beamte mit skeptischem Blick, und da wusste Jonathan, es war auch diesmal zwecklos. Man würde ihm auch heute nicht weiterhelfen, sich darauf hinausreden, dass ja eigentlich gar nichts passiert sei, und so ganz ohne Namen oder weitere Informationen wäre eine Fahndung ohnehin vollkommen aussichtslos.

Der Polizeibeamte sagte sogar: »Also ehrlich, Herr Stattler, da müsste es zumindest Aufzeichnungen von einer Überwachungskamera geben, damit man dem überhaupt nachgehen könnte.«

»Eine Überwachungskamera? Ich wohne nicht im Fünf-Sterne-Hotel, sondern in einer Studentenbude!«

»Bitte mäßigen Sie Ihren Ton.«

Der Ordnung halber zeigte ihm Jonathan das Messer, allerdings wollte sein Gegenüber es nicht haben. Ein Beweis sei das noch lange nicht, behauptete der Beamte, so ein Küchenmesser gäbe es schließlich an jeder Ecke zu kaufen, das könnte Jonathan genauso gut einfach so mitgebracht haben.

»Überhaupt – was sollen wir da jetzt machen? Falls Ihre Geschichte stimmt, sind die Kerle doch längst über alle Berge. Ihnen ist nichts passiert, und gestohlen wurde auch nichts, dafür sollten Sie dankbar sein.«

1

Niederbayern, 1945, Marga

Sie hörten die Tiefflieger alle gleichzeitig. Marga, die mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit war, ebenso wie der Häftlingstrupp, der Spaten und Pickel schleppend aus dem Arbeitslager ausrückte.

Während die Männer in ihren zerlumpten Uniformen hinter einem ausladenden Holunderbusch am Wegrand Schutz suchten, sprang Marga kurzerhand vom Rad hinunter in den Straßengraben und schrammte sich ihre Knie auf.

Innerhalb von Sekunden waren sie da. Nach einem letzten tiefen Atemzug hielt Marga die Luft an, legte die Hände schützend über den Kopf und machte sich so klein wie irgend möglich. Manche Leute flüsterten in solchen Situationen Stoßgebete, ein Ave Maria oder ein schnelles Vaterunser. Aber Marga schloss nur die Augen und presste stumm die Lippen aufeinander. Ein Zweig, auf dem sie lag, drückte ihr in den Bauch. Die welken Blätter, die der Wind im Graben zusammengetrieben hatte, stammten noch aus dem Herbst, sie rochen vermodert. Das gab ihr das Gefühl, von der Erde umfangen zu werden. Sie dachte daran, dass es jeden Moment vorüber sein konnte, ihr Leben ausgelöscht in einem Wimpernschlag. Wer entschied darüber, ob es heute endete oder morgen oder ob sie weiterleben durfte? Gott? Der Zufall? Die US-Armee?

Es fielen keine Schüsse, erstaunlich. Synchron drehten die amerikanischen Jagdbomber ab. Marga hob den Kopf, um ihnen nachzuspähen. Erleichtert stieß sie die Luft aus. Nachdem das Dröhnen der Motoren verklungen war, kletterte sie zurück auf die Straße und zupfte Gras und Blätter von ihrem Rock. Ihre Knie bluteten. Plötzlich atmete sie schwer, als wäre sie eine weite Strecke gerannt. Die Häftlinge hatten sich bereits wieder in Reih und Glied aufgestellt und setzten ihren Weg fort, vorangetrieben von SS-Wachen, die ihnen keine Zeit gönnten, um sich von dem Schreck zu erholen.

Mit zitternden Händen stellte Marga das Fahrrad auf. Einen Moment lang verharrte sie reglos, die Finger fest um den Lenker geschlossen, und versuchte, sich zu beruhigen. Obwohl sie es schon oft miterlebt hatte, versetzten die Tiefflieger sie jedes Mal wieder in panische Angst. Wie aus dem Nichts tauchten sie am Himmel auf und brachten Tod und Chaos. Mit immer noch wild pochendem Herzen passierte Marga die Schranke zum Fliegerhorst unmittelbar neben dem Gefangenenlager und betrat das Büro der Kommandantur, wo sie als Sekretärin arbeitete. Von ihren Schreibtischen aus teilten Marga und ihre Kollegin Rosemarie den Piloten der Luftwaffe Wetterdaten und Ähnliches über Funk mit. Der Raum war mit einer modernen Funkvermittlungsstelle und einer dicken Außenstahltür ausgestattet, die im Bedarfsfall sicher verriegelt werden konnte. Heute stand sie eigenartigerweise weit offen, kalte Zugluft pfiff herein. Der Kommandant saß nicht wie sonst in seinem Zimmer, sämtliche Geräte schwiegen. Diese Stille beunruhigte Marga. Rosemarie kam mit einem Stapel Akten aus dem kleinen Schrankraum, in dem sie sämtliche Unterlagen ablegten. Ein Zipfel ihrer Bluse hing aus dem Bund ihres Rocks, sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, und auf ihren Wangen leuchteten rote Flecken, wie immer, wenn sie hektisch war.

»Schnell, schnell, hol die restlichen Papiere aus dem Panzerschrank. Wir sollen alles draußen im Hof verbrennen. Die Amis kommen!«

Der letzte Satz jagte Schauer über Margas Rücken. Gerade hatte sie sich nach den Tieffliegern wieder ein wenig beruhigt, da folgte schon die nächste Aufregung. Die Amis kommen! Wie sehr wünschte sie sich, es möge endlich wahr sein. Bereits vor vier Tagen und in der Woche davor hatte es geheißen, es wäre vorbei, aber die amerikanischen Truppen waren nicht einmarschiert, hatten stattdessen das Land weiter mit Bomben überzogen. Zwischenzeitlich zweifelte Marga daran, dass dieser Krieg überhaupt jemals zu Ende gehen würde. Sie war fünfzehn gewesen, als er begonnen hatte, und die letzten sechs Jahre kamen ihr endlos vor. Mit neunzehn hatte sie die Stelle im Fliegerhorst angetreten, als unbedarftes junges Mädchen, das schnell hatte erwachsen werden müssen. Inmitten von Funksprüchen, Flugzeugen, Piloten und Flugschülern sowie einer strengen Hierarchie ohne Raum für Fehler war ihr nichts anderes übrig geblieben. Wenigstens teilte sie ihre Aufgaben mit Rosemarie, sonst hätte Marga niemals so lange durchgehalten. Konnte es sein, dass es wirklich und wahrhaftig überstanden war?

»Was, wenn es wieder nur eine Falschmeldung ist?«

Rosemarie zuckte trotz ihrer schweren Last mit den Schultern. Sie war eine zierliche junge Frau mit hellbraunen Locken und dem sanften Gesicht einer Renaissancemadonna, das darüber hinwegtäuschte, wie hart im Nehmen sie war. Ein Charakterzug, der Marga oftmals Mut machte. Immer wenn die Alliierten so nah waren, dass die Flak unablässig Feuer in den Himmel spuckte, um den Fliegerhorst vor Bomben zu schützen, fand Rosemarie aufmunternde Worte. Ihr fiel stets ein Grund ein, weshalb sie auch diesen Angriff überstehen würden. Bisher hatte sie recht behalten. Der Lärm, das Dröhnen und der Gestank nach Treibstoff und Metall gehörten ebenso zum Alltag der jungen Sekretärinnen wie Angst und Gefahr. Es kam selten vor, dass Rosemarie die Beherrschung verlor. Dass sie heute in einem derangierten Zustand hin und her lief wie ein aufgescheuchtes Huhn, beunruhigte Marga sehr.

»Dieses Mal nicht«, stieß Rosemarie hervor. »Dieses Mal ist es anders. Sie haben uns noch nie was verbrennen lassen. Das ganze wichtige Zeug, die Einsatzpläne und was weiß ich. Das würden die Herren Offiziere niemals vernichten, falls sie auch nur die Chance eines Auswegs sehen würden. Du weißt doch, wie die sind. Predigen immer noch den Endkampf, obwohl es nichts Absurderes gibt.«

»Dann könnte es wirklich bald vorbei sein?«

Einen Moment lang blickten die beiden einander stumm an. In ihren Gesichtern lag Hoffnung, aber keine traute sich, es auszusprechen.

»Also gut. Machen wir weiter.« Marga schlüpfte aus der Strickjacke und warf sie über den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch. Dann krempelte auch sie die Ärmel ihrer Bluse hoch und holte so viele Akten auf einmal aus dem Schrank, wie sie tragen konnte.

Draußen vor dem Hangar brannte eine alte Öltonne, in die sie die Unterlagen warfen. Die Tore der leeren Halle standen offen.

»Wo sind die Flugzeuge?« Marga blickte über die Schulter zurück. »Und die Männer? Es ist wie ausgestorben.«

Normalerweise herrschte Hochbetrieb auf dem Fliegerhorst. Vor sechs Jahren, direkt nach dem Einmarsch in Österreich und der Tschechoslowakei, war der im Grenzgebiet gelegene ehemalige Ersatzflughafen Seeberg zu einem funktionierenden Einsatzflughafen aufgerüstet worden. Es gab einen Bahngleisanschluss für Güternachschub, acht Hangars, eine Werft und mehrere Hundert Baracken für das fliegende Personal und die Schüler der Luftflottennachrichtendienstschule, die sich ebenfalls auf dem Gelände befand. Für gewöhnlich lag der Lärm unzähliger Maschinen in der Luft, junge Männer erhielten ihre Bordfunkerausbildung oder Flugstunden, und es roch nach Treibstoff. In den letzten Jahren war Einsatz um Einsatz geflogen worden. So leer wie an diesem Tag hatte Marga den Fliegerhorst noch nie erlebt.

»Sie verstecken die Flugzeuge in den Wäldern.«

»Wer? Auch der Chef?« Marga dachte an die Stukas und Jagdflieger, die Messerschmitts und Junkers, die ordentlich aufgereiht Platz in den Hangars fanden. Wie sollten diese riesigen Dinger vor den Augen der Alliierten verborgen werden?

»Jeder, der mitanpacken kann. Sobald sie damit fertig sind, kommen sie zurück und montieren hier alles ab, was sich bewegen lässt. Sogar die Flak. Momentan geht es drunter und drüber. Wir beide haben ausdrückliche Anweisung, sämtliche Unterlagen restlos zu verbrennen. Ohne Einschränkung. Der Kommandant wird das nachher kontrollieren.«

Marga seufzte. »Kurz war ich versucht, dir vorzuschlagen, dass wir einfach abhauen. Aber wenn sie wiederkommen …«

»Den Gedanken hatte ich auch schon. Dann müssten die Herren selber vernichten, was keinem in die Hände fallen soll. Bisher haben sie immer so großen Wert auf Geheimhaltung gelegt, wir durften dies nicht sehen und das nicht wissen. Plötzlich ist alles egal.«

Sie hielten inne und sahen einander ernst an.

»Aber sie kommen eben leider wieder«, flüsterte Rosemarie, und Marga hörte die Furcht in ihrer Stimme.

»Machen wir weiter«, sagte sie leise. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Während die jungen Frauen zwischen Funkkommandostelle und brennender Tonne hin- und herrannten und eilig alles hineinwarfen, was sie an Papieren fanden, versuchte sich Marga vorzustellen, was danach kommen würde. Sie war bald einundzwanzig, ihre Kollegin ein Jahr älter. Außer dem Dorf, in dem sie aufgewachsen waren, dem BDM, der ihre Jugend bestimmt hatte, und dem Krieg kannten sie nichts. Ob Marga und Rosemarie überhaupt hier auf dem gefährlichen Einsatzflughafen arbeiten wollten, hatte keiner gefragt. Beide stammten aus einfachen Familien, in denen alle ihren Teil dazu beitragen mussten, dass man über die Runden kam. Ein fester Arbeitsplatz mit einem monatlichen Einkommen war da ein Glücksfall, gerade in Zeiten wie diesen. Den täglichen Arbeitsweg legte Marga auf einem klapprigen Fahrrad zurück, sommers wie winters, bei jedem Wetter. Daheim durfte sie mit niemandem darüber sprechen, was bei der Arbeit geschah, alles streng geheim. In den vergangenen Jahren waren stetig neue Rekruten im Fliegerhorst eingetroffen, Piloten, die dort stationiert wurden, und Schüler der Luftflottennachrichtendienstschule.

Einmal hatte einer davon bei der Ankunft laut zu seinem Kollegen gesagt: »Toni, jetzt sind wir wirklich am Arsch der Welt.« Marga hatte die Bemerkung gehört, von den Befehlshabern allerdings glücklicherweise keiner. Natürlich musste es sich so anfühlen: gestrandet im Nirgendwo der niederbayerischen Einöde, in dem es außer kargem, bäuerlichem Leben nichts gab. Aus sämtlichen Teilen des Reichs kamen sie, aus großen Städten, Industriezonen oder von der Nordsee. Und landeten hier, im tristen Flachland, das lediglich bisweilen von eiszeitlichen Gletschermoränen unterbrochen wurde. Weit und breit nichts als Auwälder, Flüsse und dahingetupfte kleine Orte. Die richtigen Berge, die Alpen, sah man nur manchmal, bei Föhn, lockend am Horizont. Auch Passau, in dreißig Kilometern Entfernung, war unerreichbar für diejenigen, die auf dem Fliegerhorst stationiert waren. Ihnen blieben nur Seeberg und Mairing, die beiden nächstgelegenen Dörfer, das eine etwas westlich, das andere etwas nördlich, dazwischen nichts außer Feldern, Wiesen und Kiesgruben. Die Gegend bot den jungen Soldaten wenig Vergnügungsmöglichkeiten. Sie taten Marga leid. Nicht, weil sie kaum ausgehen konnten, sondern weil sie als schnell verfügbarer Nachschub für diejenigen herhalten mussten, die der Krieg bereits gefressen hatte.

Zu Margas stummem Entsetzen standen seit Anfang März direkt neben dem Gelände des Fliegerhorsts fünf eiligst errichtete, stacheldrahtumzäunte Baracken eines Arbeitslagers, offiziell einer Außenstelle des KZ Flossenbürg.

Was dort mit den Häftlingen geschah, war grauenvoll. Um das Unrecht zu erkennen, genügte Marga ein kurzer Blick, wenn sie mit dem Fahrrad vorbeifuhr. Abgemagerte, kranke Menschen mussten sinnlose Schwerstarbeit verrichten. Getrieben von SS-Männern, die sie Tag und Nacht überwachten. Sie sollten eine neue Start- und Landebahn bauen. Wozu, bitte schön? Wirklich jedem war klar, dass von dort niemals auch nur ein einziges Flugzeug abheben würde. Der Krieg war verloren, die Luftwaffe am Ende, ebenso wie das gesamte Reich. Keiner brauchte noch eine weitere Startbahn. Falls die Gefangenen nicht gerade Erdreich aushoben oder Kiessäcke schleppten, mussten sie sich im Außenbereich des Lagers aufhalten, einem stacheldrahtumzäunten Gebiet, schlammig wie eine Schweineweide durch das nasskalte Wetter. Auf ihrem Arbeitsweg, wenn sie am Stacheldraht vorbeifuhr, sah Marga die Häftlinge frierend im Dreck sitzen. Der Frühling war außergewöhnlich kalt in diesem Jahr, in der Nacht hatte es sogar wieder geschneit. Meistens verschwand der Bodenfrost erst in den Mittagsstunden. Männer in Holzpantinen und dünnen Lumpen, abgemagert und krank, holten sich den Tod auf dem eisigen Freigelände – falls sie nicht während der Arbeit umfielen oder von der SS so lange misshandelt wurden, bis sie nicht mehr konnten. Weshalb tat man ihnen das an? Warum tolerierte Gott dieses sündhafte Verhalten und half nicht?

Fragen, die Marga schon lange keine Ruhe mehr ließen, die sie sich aber nur selbst stellen durfte und niemandem sonst. Antworten darauf fand sie nicht.

Stärker noch als für sich selbst sehnte sie für die armen Gestalten hinter dem Stacheldraht den Tag der Kapitulation herbei. So er denn bald kommen würde, könnten vielleicht einige von ihnen noch gerettet werden.

Tatsächlich geschah einen Tag später das Unglaubliche. Die schwarzen Panther kamen aus Nordwesten. Es war Mittwoch, und beim Blick aus ihrem Schlafzimmerfenster sah Marga am Morgen einen eisgrauen Himmel, aus dem dicke Flocken fielen.

»Ich fahre heute nicht hinunter zum Fliegerhorst«, sagte sie zu ihrer Mutter.

»Nein, Marga, da musst du überhaupt nicht mehr hin. Besser sogar, du hältst dich ab sofort recht weit fern davon.«

In eine warme Strickjacke gehüllt, harrte sie zusammen mit ihrer Mutter am offenen Fenster der Wohnstube aus und lauschte. Ein gleichmäßiges, dumpfes Brummen kündigte die amerikanischen tanks an, lange bevor sie zu sehen waren. Im Näherkommen begannen die Scheiben zu klirren, bis schließlich alles vibrierte, sogar der Boden und die Wände. Margas Herz schlug bis zum Hals. Als eine der letzten Städte in Bayern befreite das 761. Panzerbataillon der dritten US-Armee Passau, bei Schneegestöber und kaltem Wind, dann zogen sie weiter nach Südosten, bis Seeberg. Die Einheit bestand ausschließlich aus Afroamerikanern, die Anfang Mai 1945 den Zaun um das Gefangenenlager niederrissen und ihre Ärzte mitbrachten, um sich der Kranken anzunehmen. Danach kamen sie auch in den kleinen Ort auf dem Hügel, in dem Marga wohnte.

»Alle schwarz. Aber wenigstens sind es nicht die Russen«, hörte sie jemanden unten auf der Straße sagen. Ein paar Leute hatten sich tatsächlich aus ihren Häusern gewagt und standen bereit wie ein Empfangskomitee. Marga hatte noch nie Männer mit dunkler Hautfarbe gesehen, da ging es ihr wie den meisten Dorfbewohnern.

Vor dem Einmarsch hatten amerikanische Jagdflieger die in den Wäldern und Auen versteckten deutschen Flugzeuge bombardiert. Was übrig blieb, hatten die Besatzungen des Fliegerhorsts vor ihrer Flucht hinüber nach Österreich dann selber noch gesprengt. Im Morgengrauen hatte Marga die Detonationen gehört und dutzendfache Feuersäulen in der Ferne hochsteigen sehen. Die Flammen hatten nicht nur die Maschinen aufgezehrt, sondern auch Bäume und Dickicht verschlungen. Wildtiere waren über die Felder geflohen, verfolgt von beißendem Rauch, der in allen Richtungen aus den Wäldern drang. Die Tiere taten Marga leid, sie meinte, ihre Panik zu spüren. Hatte sie sich doch ähnlich gefühlt, als der Kommandant im Fliegerhorst am Vortag die alte Öltonne mit der glühenden Asche umgestoßen und gerufen hatte:

»Ab jetzt ist jeder auf sich selbst gestellt! Heil Hitler!« Dann hatte er seine Uniformjacke weggeworfen und war verschwunden.

In die Erleichterung über das Ende des Krieges mischte sich die Angst vor dem Unbekannten. Marga wusste nicht, ob die Amerikaner ihnen freundlich begegnen würden. Ebenso wie die Rehe wollte auch sie wegrennen, so weit ihre Füße sie trugen, aber das war leider unmöglich.

Im Auftrag des Grafen Seeberg öffnete ihr Vater den US-Soldaten das Schlosstor.

Marga bewunderte ihn dafür, wie er, ohne ein einziges Wort Englisch zu sprechen, den GIs einen herzlichen Empfang bereitete. Er schien vollkommen furchtlos zu sein.

»Da geht’s lang«, rief er in seinem tiefen, bayerischen Bass und winkte die Armeejeeps einmal ordentlich rund um den Schlosshof bis an die Freitreppe.

Marga wusste, ihr Vater sah die Amerikaner eindeutig als Befreier von den Nationalsozialisten, und wenn sie sich hier im Schloss einquartierten, würden er und ihre Mutter sich gut um sie kümmern.

Konrad Heinrich hatte im Ersten Weltkrieg in Verdun gekämpft und die schreckliche Sinnlosigkeit des Krieges am eigenen Leib erfahren. An der Hand verwundet, hatte er als Kriegsversehrter nach Bayern zurückkehren dürfen, war seitdem unpolitisch und pazifistisch. Eine nicht gerade populäre Einstellung, die ihm in den vergangenen zwölf Jahren das Leben nicht immer leichtgemacht hatte. Doch er und seine Frau waren klug genug gewesen, ihre Einstellung nicht an die große Glocke zu hängen, und waren im Ort gut integriert. Das Ende des Naziregimes jedoch hatten beide lange herbeigesehnt, und so begrüßten sie die Amerikaner sprichwörtlich mit offenen Armen.

Marga hoffte, dass sie mit ihrer Einschätzung der Befreier richtiglagen.

2

Passau, 1990, Jonathan

Für Jonathan kam es nicht infrage, die Sache mit dem Einbruch auf sich beruhen zu lassen. Jemand hatte ihn töten wollen! Was, wenn sie wiederkamen? Keine ruhige Minute würde er mehr haben, solange er diese Kerle in seiner Nähe wusste.

Doch an wen sollte er sich wenden? Bei der Polizei biss er auf Granit, und als Durchschnittsbürger verfügte er nicht über eine direkte Durchwahl zu Detektiven oder Personenschützern, wie man es aus Krimis kannte. Er fühlte sich vollkommen hilflos, eine absolut unerträgliche Situation war das.

Das Einzige, was ihm in seiner Verzweiflung einfiel, war eine Telefonnummer, die sein Vater ihm kurz vor seinem Tod mit den Worten überreicht hatte: »Pass jetzt gut auf, mein Junge – falls du jemals in richtigen Schwierigkeiten steckst, ruf diese Nummer an. Ich habe sie von Simon, und du kannst dich darauf verlassen, dass man dir helfen wird, egal, worum es geht.«

Simon war ein alter Freund seines Vaters, der in München ein Import-Export-Unternehmen betrieb. Jonathan mochte ihn sehr. Und so eigenartig es ihm damals vorkam, eine private Notfallnummer ausgehändigt zu bekommen, so freute er sich doch über die Fürsorge seines Vaters. Obwohl er sich beim besten Willen keine entsprechende Situation in seinem Leben hatte ausmalen können. In diesem Moment absoluter Ratlosigkeit jedoch war er mehr als dankbar, sich an den Zettel zu erinnern. Er suchte ihn hervor und wählte die Nummer.

Das Gespräch war kurz. Nachdem er seinen Namen und den seines Vaters genannt hatte und anhob zu erzählen, dass er in Schwierigkeiten stecke, gab eine freundliche Stimme ihm Zeit und Ort für ein Treffen und versicherte, man werde ihm helfen. Tatsächlich? Einfach so?

Pünktlich und extrem nervös saß Jonathan einige Stunden später im vereinbarten Café in der Passauer Altstadt und wartete. Sein Fuß wippte unablässig auf und ab, das konnte er beim besten Willen nicht abstellen. Nach etwa zehn Minuten trat ein Mann auf ihn zu. »Jonathan Stattler?«

Er schluckte, nickte und wartete vergebens darauf, dass der Mann sich vorstellte. Dann eben nicht.

»Kommen Sie bitte mit.«

Wie gut, dass so viel los war und der Kellner noch nicht zum Bestellen gekommen war, so konnte Jonathan der Aufforderung problemlos nachkommen. Verstohlen musterte er den Fremden. Unauffällig sah er aus, mittelgroß, mittelalt, völlig normal.

Sie marschierten schweigend über das Kopfsteinpflaster der verwinkelten Gassen zu einer breiteren Straße, die in Richtung Donau führte. Auf Jonathans Lippen brannten Fragen, die er nicht zu stellen wagte. Schließlich erreichten sie einen geparkten Wagen in der Nähe der Donaulände. Sein Begleiter hielt Jonathan die Tür auf und bedeutete ihm wortlos, hinten einzusteigen, ehe er selbst sich ans Steuer setzte. Als er die Zündung bereits gestartet hatte, schlüpfte im letzten Moment ein zweiter Mann neben ihn auf die Rückbank, den Jonathan bisher nicht bemerkt hatte. Alle seine Alarmglocken schrillten, aber weil der Jüngere der beiden, der Mann am Steuer, gerade zügig beschleunigte, gab es sowieso nichts, was er jetzt noch hätte tun können. Er musste auf seinen Vater und auf Simon vertrauen. Die beiden Unbekannten hier würden ihm helfen, ganz bestimmt. Der ältere Mann neben ihm, ein zierlicher Herr mit grauen Schläfen und feingliedrigen Händen, lächelte ihn an wie ein netter Onkel. Er hatte etwas Vertraueneinflößendes an sich, und Jonathan entspannte sich ein wenig.

»Keine Angst, Jonathan. Wir sind die Guten.«

Dieser Satz trug nicht dazu bei, dass Jonathan sich wohler fühlte.

»Als ich die Nachricht vom Tod deines Vaters erhalten habe, war ich sehr traurig. Ein bemerkenswerter Mann. Du siehst ihm ähnlich, die gleichen dunklen Augen, dieselben Gesichtszüge.«

Noch immer traf ihn die Trauer wie ein Schlag, jedes Mal, wenn er an seinen Papa dachte. Obwohl sein Vater krank gewesen und sein Tod nicht überraschend gekommen war, fühlte es sich an, als hätte man ihm einen Teil seiner selbst entrissen. Rasch kämpfte er die aufsteigenden Tränen zurück und nickte.

»Was können wir für dich tun?«, wollte der Fremde wissen, legte die Fingerspitzen aneinander und den Kopf schief. Ich bin ganz Ohr, sollte das wohl signalisieren.

Jonathan atmete durch. So bizarr die Situation war, in der er sich befand: Er mochte den Mann, und sein Vater hätte ihn niemals in eine Falle laufen lassen, und so erzählte er dem Fremden von den Ereignissen der letzten Tage und seinem erfolglosen Vorsprechen bei der Polizei. Auch das Aussehen der beiden Männer, die ihn überfallen hatten, beschrieb er, so gut er konnte. Der Unbekannte hörte sich alles schweigend an, während sein Kollege sie scheinbar ziellos durch Passau chauffierte. Gerade überquerten sie die Donaubrücke in Richtung Ilzstadt.

»Was ist mit dieser Kerstin Bauer?«, fragte sein Gegenüber schließlich. »Wie gut kennst du sie? Aus welcher Familie stammt sie? Könnte sie mit den zwei Typen in Verbindung stehen?«

Was sollten Kerstin oder gar ihre Familie mit der ganzen Sache zu tun haben?

»Kerstin? Auf keinen Fall, sie hat die beiden nicht mal wahrgenommen. Äh, also, ein Paar sind wir nicht, wenn Sie das meinen. Studienfreunde eben, vielleicht ein wenig mehr, aber nichts Ernstes. Sie kommt aus Ingolstadt. Ihr Vater ist dort Rechtsanwalt. Und sie ist Einzelkind, wie ich. Zusammen mit einer anderen Kommilitonin aus unserem Semester wohnt sie in einer WG in der Nähe der Uni. Wir lernen manchmal gemeinsam.«

»Mit wem bist du sonst noch bekannt? Wen triffst du regelmäßig und wo?«

Diese Fragen verwirrten Jonathan. Sicherlich waren die Schuldigen für den Überfall nicht in seinem Freundeskreis zu suchen.

Es dauerte eine Weile, bis Jonathan aufgezählt hatte, mit wem er Umgang pflegte, denn sein Gegenüber verlangte so viele Details wie möglich.

Dann diskutierten die beiden Herren ein paar Minuten ungeniert vor Jonathan.

»Meinst du, wir sollten einschreiten?«, fragte der Jüngere.

Woraufhin der Ältere antwortete: »Ich habe dir erzählt, was sein Vater durchgemacht hat. Daher finde ich schon, dass der Junge es wert ist, dass wir ihm helfen.«

Jonathan konnte seine Nervosität kaum noch beherrschen, das merkte ihm der Mann neben ihm wohl an.

»Du brauchst keine Angst zu haben, wir werden die Sache so regeln, dass du nicht in Gefahr gerätst.«

»Ich kenne Sie doch überhaupt nicht.« Jonathan blieb skeptisch.

»Na, du lernst uns doch gerade kennen«, kam die Stimme von vorne.

Unauffällig bemühte sich Jonathan durchzuatmen. Simon und sein Vater hatten einander seit ihrer Kindheit gekannt und bedingungslos vertraut. Darauf musste sich nun auch Jonathan verlassen. Diese beiden Männer waren seine beste, seine einzige Chance auf Hilfe.

»Du musst vorsichtig sein«, sagte der Mann neben ihm schließlich, nachdem Jonathan ihm das Messer ausgehändigt hatte. »Diese Leute wollten dich töten, das steht außer Frage, sie haben ja vorher sogar eine klare Ansage gemacht. Damit ist nicht zu spaßen. Also pass auf. Wir machen es so: Du stellst deinen Tagesablauf um. Ab jetzt fährst du für deine täglichen Routinen verschiedene Strecken. Und verlasse das Haus nicht immer zur selben Uhrzeit, lieber mal früher, mal später. Sieh dich genau um, ob du verfolgt wirst, nimm dir Zeit dafür. Halte die Augen offen. Niemand ist leichter auszuspähen als der Gewohnheitsmensch – und das sind wir alle, wenn wir nicht achtsam bleiben. Wir können dir beibringen, worauf du achten musst.«

Jonathan kam sich immer noch vor, als müsse er jeden Augenblick aus einem Traum erwachen. Aber der Mann machte nicht den Anschein, als wäre er zu Scherzen aufgelegt. Mit unbewegtem Gesicht wartete er.

»In Ordnung«, sagte er. »Dann mache ich das. Kriege ich sicher auch ohne Hilfe hin.«

Er schluckte, der Ton der Männer machte Jonathan den Ernst seiner Lage vollends klar. Sinnlos, sich etwas vorzumachen. Die Männer schienen davon auszugehen, dass er ein massives Problem hatte, und um zu dessen Lösung beizutragen, würde er ihre Anweisungen befolgen – Wort für Wort.

»Gut. Wir melden uns wieder, sobald wir etwas Konkretes herausgefunden haben. Das wird nicht lange dauern. Hier, auf diesem Zettel steht ein Code, den nennst du, wenn wir dich anrufen. Lern ihn auswendig und vernichte den Zettel.« Es wurde immer irrer!

Von der Ilzstadt aus ging es zurück über die drei Flüsse Passaus, Ilz, Donau und Inn. Ein paar Straßen von seiner Wohnung entfernt ließen sie Jonathan aussteigen. Als der Wagen weiterfuhr und im Stadtverkehr verschwand, schüttelte er fassungslos den Kopf. So was gab es nicht im wirklichen Leben. Diese ganze Sache – der verschwundene Golf, die telefonische Morddrohung, der Einbruch, das Messer, Papas Notfall-Telefonnummer und schließlich diese beiden Männer, vermutlich Geheimagenten oder so was. Das war absolut nicht das, was Jonathan unter einem normalen Studentenleben verstand.

Herrgott, er war Anfang zwanzig und wollte einfach nur unbeschwert sein. Andererseits – wenn man ehrlich war, war er das sowieso noch nie gewesen.

Nur wenige Tage später führte Jonathan unabhängig voneinander zwei äußerst eigenartige Gespräche.

Das erste davon fand in einem Nachtclub der eher zwielichtigen Sorte statt. Während seine beiden neuen Freunde, »die Guten«, wie er sie insgeheim leicht ironisch nannte, ihn über den Stand ihrer Ermittlungen informierten, zog sich eine gelenkige junge Frau äußerst professionell auf der Bühne aus. Zu den Klängen von Alannah Myles’ Black Velvet turnte sie dabei an einer Stange auf und ab, und wiederum kam Jonathan die Situation derart skurril vor, als könne jederzeit jemand Kamera! Und Action! rufen.

»Wir haben die beiden Personen dank deiner genauen Beschreibung identifiziert«, teilte ihm der mit den grauen Schläfen mit und steckte sich eine Zigarette an. »Ihr konkreter Hintergrund ist für dich aktuell erst mal nicht relevant. Aber wir können dir zumindest schon mal so viel sagen, dass es keine Amateure waren, sondern gewissermaßen antisemitische Profis, die vor nichts zurückschrecken.«

»O Gott!« Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in Jonathans Brust aus. Wieso konnten es nicht ordinäre Einbrecher sein, warum musste die Sache einen politischen Hintergrund haben? Antisemitische Profis – das klang ebenso bedrohlich wie vage, und Jonathan fragte sich, warum sie ihm nicht konkret sagten, um wen es sich handelte. Auf Anhieb fielen ihm nämlich gleich mehrere Gruppierungen ein, auf die eine solche Bezeichnung zutraf, und alle ließen ihn schaudern.

»Du musst dir keine Sorgen machen, mein Junge, wir haben das Problem erledigt. Die beiden Typen wirst du nie wieder sehen.« Der ältere Mann tätschelte beruhigend Jonathans Knie, der jüngere nickte kurz, schaute dann wieder nach vorne zur Bühne und nickte im Takt der Musik.

Zu gerne hätte Jonathan nachgefragt, was genau mit das Problem erledigt gemeint war. Er zweifelte nicht am Wahrheitsgehalt dieser Worte, in denen eine dunkle Endgültigkeit mitschwang. Langsam mischte sich Erleichterung in die Beklemmung. So einfach ging das also? Man rief eine Nummer an, zwei freundliche Helfer tauchten auf und bibbidy-bobbidy-boo, wie Cinderellas gute Fee aus dem Märchen, lösten sie jedes Problem?

»Vielen Dank. Ich bin unglaublich froh, das zu hören. Wenn es irgendetwas gibt, um mich erkenntlich zu zeigen …«

Nun sahen ihn beide Männer ganz direkt an. Auch der jüngere, der bisher noch nichts gesagt hatte. Und ein Lächeln breitete sich auf ihren Gesichtern aus.

Ort und Charakter des zweiten Treffens hätten gegensätzlicher nicht sein können. Eine seiner Professorinnen hatte Jonathan überraschend zu einem Gespräch in ihr Büro gebeten.

»Herr Stattler, ich beobachte Sie nun schon einige Semester lang, und Sie sind mir aufgefallen als intelligenter und gewissenhafter Student«, sagte sie direkt und ohne Einleitung.

Jonathan konnte sich nicht vorstellen, worauf sie hinauswollte, deshalb wartete er stumm ab. Frau Professor Greiner galt als harte Nuss. Sie ließ sich nicht vom Halbwissen ihrer Studenten blenden, sondern verlangte vollen Einsatz, wenn jemand gute Noten haben wollte. Nun saß sie hinter ihrem Schreibtisch in einem nüchternen Büro, dessen einziges dekoratives Zugeständnis ein Ficus Benjamina war, der schlaff beblättert in einem Blumentopf in der Ecke darbte. Die Schulterpolster eines schnörkellosen Nadelstreifenkostüms verliehen der Professorin eine unnatürliche Breite. Mit ihrem fast männlich anmutenden Kurzhaarschnitt strahlte sie jene No-Bullshit-Attitüde aus, die sie wohl karrieretechnisch dorthin gebracht hatte, wo sie war.

»Ein Kollege, der für eine bundesdeutsche Sicherheitsbehörde arbeitet, sucht junge Mitglieder für ein neu zu bildendes Team. Da sind Sie mir eingefallen.« Professor Greiner redete nicht lange um den heißen Brei herum. »Ich halte Sie für äußerst geeignet, auch wenn Sie noch nicht mal halb durch Ihr Studium sind.«

Erstaunt hob Jonathan die Augenbrauen. Bisher war ihm nicht aufgefallen, dass die Professorin ihn für besondere Leistungen gelobt hätte. Außerhalb des Hörsaals hatten sie sich bisher nie unterhalten, und er war eigentlich der Meinung, dass sie über ihn genauso wenig wusste wie er über sie. Und so konnte er ihre Empfehlung nicht wirklich ernst nehmen. Er blieb freundlich, aber neutral.

»Eine deutsche Sicherheitsbehörde? Das klingt recht vage.«

»Sie werden verstehen, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht ins Detail gehen kann.«

Verstand er das? Eigentlich nicht. Denn genau genommen bedeutete es, dass es sich entweder um etwas Geheimes, etwas Illegales oder etwas noch nicht Spruchreifes handelte. Sicher nicht um das Karrieresprungbrett, von dem jeder Jurastudent träumte. Oder eben gerade doch? Jonathan riss sich zusammen und versuchte, das Gedankenkarussell in seinem Kopf anzuhalten.

»Es ist freundlich, dass Sie bei der Vergabe von Stellen an mich denken, Frau Professor. Was dürfen Sie mir denn erzählen?«

»Sie würden parallel zu Ihrem Studium eine Ausbildung durch ebenjene Behörde erhalten. In verschiedenen Bereichen. Grob gesagt geht es dabei um verdeckte Operationen. Gesucht werden Leute mit einer raschen Auffassungsgabe, die ihre Emotionen auch unter Stress kontrollieren können. Das Ganze wird natürlich ausgezeichnet vergütet.«

»Wenn Sie mich für geeignet halten, werde ich es mir gerne überlegen.« Nur mühsam konnte sich Jonathan ein Stirnrunzeln verkneifen. Hatte seine Professorin ihn gerade als gefühlskalt bezeichnet? Auf der anderen Seite war es schmeichelhaft, eine schnelle Auffassungsgabe attestiert zu bekommen. Professor Greiner gab ihm Bedenkzeit, erwartete aber in der kommenden Woche eine Rückmeldung.

In dieser Nacht fand Jonathan schon wieder nicht in den Schlaf, und auch dieses Mal lag es nicht nur an der Sommerhitze oder zu viel Kaffee. Er lag wach und grübelte über seine Zukunft. Und damit zwangsweise auch über seine Vergangenheit. Er dachte an seine Mutter, daheim in ihrem Haus in der Kleinstadt, ganz alleine seit Vaters Tod. Sie wollte ihm alles ermöglichen, eine Karriere, die Jonathan ein sicheres, unabhängiges Leben schenkte. Dafür nahm sie ihre eigenen Ansprüche zurück und lebte bescheiden. Das Studium in Passau war teuer. Ein gut bezahlter Nebenjob käme ihm daher mehr als gelegen.

Aber wie es klang, offerierte man ihm nicht gerade eine Schreibtischtätigkeit, sondern etwas, das mit Risiken behaftet war, über die er vorab nicht mal ehrlich informiert wurde.

War Jonathan bereit, diese völlig unbekannten Risiken einzugehen? War er überhaupt bereit, persönliche Risiken für einen unpersönlichen Staat einzugehen? Für eine deutsche Sicherheitsbehörde? Für Deutschland? Für genau das Deutschland, dessen Polizei kaum Dienst nach Vorschrift machte, um ihm zu helfen?

Und obendrauf gab es ja auch noch den Vorschlag, den ihm seine geheimnisvollen Retter am Abend zuvor gemacht hatten.

Was hätte sein Vater ihm geraten?

3

Niederbayern, 1946, Marga

War es möglich, dass zwei Worte genügten, um sich in eine Stimme zu verlieben? Ein einfaches »Guten Tag« versetzte Margas Herz an diesem heißen Sommertag in Aufruhr. Wie sehr, das war ihr in diesem Augenblick freilich nicht bewusst, aber die Besonderheit jener schicksalhaften Begegnung spürte sie sofort.

Der Kirchplatz von Mairing lag menschenleer in der Mittagshitze. Im Biergarten des Kirchenwirts saßen bei den Temperaturen kaum Gäste, die umliegenden Geschäfte, eine Bäckerei und eine Glaserei, waren geschlossen. Weil die Sonne senkrecht am Himmel stand, warf nicht einmal der dicke Zwiebelturm von Sankt Urban einen nennenswerten Schatten, aber das machte Marga nichts aus. Sie liebte die Wärme. Gut gelaunt schritt sie über den gekiesten Platz in Richtung Waldstraße. Dort hatte eine Bekannte ihrer Eltern ein kleines landwirtschaftliches Anwesen mit Kühen im Stall, was in diesen Zeiten, in denen alles knapp, rationiert und von den Amerikanern bestimmt war, schon beinahe eine Seltenheit darstellte. Die freundliche Bäuerin hatte Margas Familie diese Woche zwei Liter Milch versprochen, zum Tausch brachte Marga einen Fasan, den ihr Vater im Wald geschossen hatte. Der lag gut getarnt mit einem Geschirrtuch zugedeckt und zahlreichen Wollknäueln darauf in einem Korb. Auf dem Heimweg würde sie sich sputen müssen, nicht dass die Milch in der Hitze sauer wurde. Für den Fasan bestand keine Eile, der musste ohnehin vor seiner Zubereitung noch abhängen. Schwarzhandel war das genau genommen eh nicht, sagte sich Marga, lediglich ein Tauschgeschäft unter Freunden.

In Gedanken versunken bemerkte sie den Mann, der ihr entgegenkam, erst spät. Er trug einen eleganten Anzug aus dunklem Tuch, was an diesem warmen Tag sicher ein zweifelhaftes Vergnügen war. Dazu einen breitkrempigen Fedora und polierte Schuhe. Als er seinen Hut zum Gruß lüpfte, erkannte sie ihn sofort. Die ungewöhnlich perfekt runde Form seines Kopfes war ihr in Erinnerung geblieben. Die meisten Köpfe waren irgendwie unregelmäßig, asymmetrisch oder hinten abgeflacht. Seltsam, was man sich merkt, sinnierte Marga. Der Mann war einer der Gefangenen aus dem Arbeitslager. Jeden Tag, wenn sie am Zaun vorbeigefahren war, hatte sie ihn an derselben Stelle sitzen sehen. Neben einem der Pfosten, um den herum noch etwas Gras wuchs, während der restliche Außenbereich von zu vielen Füßen zertreten und schlammig gewesen war. Wegen seines geschorenen Haares war Marga seine harmonisch runde Schädelform gleich ins Auge gesprungen. Nun war sein Haar nachgewachsen, dicht und schwarz. Zwar sehr schlank, war er wenigstens nicht mehr abgemagert und wirkte, womöglich durch den modischen Schnitt des Anzugs, sogar breitschultrig, zudem war er gebräunt wie ein Herr von Welt. Doch Marga war sich absolut sicher, dass es sich um ein und denselben handelte.

Sein sonores »Guten Tag« ließ sie innehalten. Es waren keine bloßen Worte, vielmehr kamen sie einer sanften Berührung gleich. Etwas Ähnliches hatte sie noch nie erlebt. War es Schicksal, dass sie einander hier begegneten? Hatte er sie damals ebenfalls wahrgenommen? Mit rot verfrorener Nase und selbst gestrickten Strümpfen war sie tagtäglich auf ihrem alten Fahrrad an ihm vorbeigefahren, sie frei und er eingesperrt. Es schien ihr, als wäre es eine Ewigkeit her.

»Grüß Gott.«

»Extrem stickig heute, nicht wahr?« Er sprach nicht wie die Leute von hier, sondern mit einem schwach wahrnehmbaren Akzent, der ihn vom reduzierten bayerischen Alltagsdialekt unterschied. Das fiel ihr sofort auf. Margas Sinne waren hochempfindsam. Ihr behagten die leisen Töne, die harmonisch ineinanderflossen. Ebenso wie diese warme, tiefe Stimme, der sie stundenlang hätte zuhören können.

Beinahe entschuldigend blinzelte er hoch in die Sommersonne, als wäre er für ihre Intensität verantwortlich. Dabei fächelte er sich mit seinem Hut Luft zu, und in seinen braunen Augen blitzten goldene Sprenkel auf.

»Nachher soll es ein Gewitter geben«, antwortete sie. »Mir macht die Hitze allerdings nichts aus, ich mag sie gerne.«

»Ich auch. Für mich gibt es nichts Schlimmeres als Kälte. Davon habe ich in meinem Leben schon genug abbekommen. Für mich könnte der Sommer ewig dauern.«

»Das wäre schön.«

Für ein paar Minuten hielten sie einen Plausch auf dem menschenleeren Kirchplatz von Mairing. Sie hätte sich eigentlich sputen sollen, die Milch holen und dann nach Hause ins zwei Kilometer entfernte Seeberg laufen. Das Fahrrad brauchte ihr Vater heute, deswegen war Marga zu Fuß unterwegs. Stattdessen lächelte sie einen Fremden an und genoss die Unterhaltung mit ihm. Die beiden taxierten einander unverhohlen. Marga fand, wenn er sein Interesse an ihr nicht kaschierte, musste auch sie nicht gleichgültig tun.

»Ich bin auf dem Weg zu einer Hochzeit«, bemerkte er schließlich mit einem entschuldigenden Blick auf die Uhr. »Freunde von mir heiraten gleich.«

Verwundert sah Marga über die Schulter zurück zum verschlossenen Portal von Sankt Urban.

»Nicht hier. Drüben, im Israelitischen Gemeindehaus. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich begleiten. Als mein Gast. Ich darf nämlich jemanden mitbringen«, setzte er rasch hinzu.

»Sie laden mich zu einer Hochzeit ein? Obwohl wir uns nicht mal kennen? Einfach so und jetzt sofort?« Das brachte sie ein wenig aus dem Konzept. Schickte sich das? Eine junge Frau im Vorbeigehen auf der Straße anzusprechen und gleich zu einer doch reichlich privaten Veranstaltung mitzunehmen? Wenigstens erklärte sein Vorhaben, warum er an einem derart heißen Tag einen eleganten Anzug trug. Und irgendwie war es aufregend.

»Ach du liebe Güte«, entfuhr es ihm, wohl weil sie nicht antwortete. »Ich habe mich noch nicht mal vorgestellt, entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Henryk Stattler.«

»Margarethe Heinrich. Marga, eigentlich.« Sie schüttelten Hände. Trotz der Schwüle war seine Haut trocken und angenehm.

Stirnrunzelnd blickte sie an sich hinunter auf ihre Füße, die in abgetragenen Sandalen steckten und auf denen der Staub eines langen Fußmarsches lag. Das gelbe Sommerkleid war ebenfalls nicht mehr neu. Und dass Marga ihre Frisur im Augenblick nicht beurteilen konnte, war vielleicht sogar gut. Sie wollte nur die Milch holen, daheim erwartete sie ihre Mutter zur Hausarbeit.

Selbstverständlich hätte sie ihn liebend gern begleitet! Ein jüdisches Hochzeitsfest war sicher eine interessante Feier. Im Gegensatz zu den langweiligen Bauernhochzeiten, mit Blasmusik und dem ewig gleichen Brautstehlen, das sich zumeist über Stunden hinzog. Bestimmt wurde zu flotter Musik getanzt. Als Herr Stattler vorhin auf sie zugekommen war, hatte sie bemerkt, dass er sehr langsam ging. Es war kein Hinken, eher ein kleines Zögern, wenn er ein Bein vor das andere setzte, als würde es ihm Mühe bereiten zu laufen. Dennoch sagten ihr seine Haltung und sein Auftreten, dass er ein guter Tänzer war. Eine Annahme, der sie nur zu gern nachgespürt hätte.

Bedauernd seufzte Marga und schob ihr Haar mit einer Hand hinters Ohr. »Tut mir leid, aber für eine festliche Veranstaltung bin ich wirklich nicht schick genug angezogen. So«, sie deutete auf sich, »kann ich auf keinen Fall mitgehen, das wäre dem feierlichen Anlass nicht angemessen. Trotzdem danke für die Einladung, eine sehr nette Idee.«

Er öffnete den Mund, um zu protestieren, daher sprach sie schnell weiter. »Ich wünsche Ihnen ein schönes Fest und sende dem Brautpaar die allerbesten Glückwünsche.«

»Schade. Vielleicht ein andermal.« Charmant lächelnd zog er zum Abschied den Hut. Dass er ihre Entscheidung ohne Widerworte respektierte, machte ihn noch bemerkenswerter.

»Fräulein Heinrich!«, rief er ihr hinterher, nachdem sie sich bereits ein paar Meter voneinander entfernt hatten. Mit klopfendem Herzen drehte sie sich noch mal um.

»Darf ich fragen, wo Sie wohnen? Hier in Mairing?«

Marga schüttelte den Kopf. »Im Nachbarort, in Seeberg, auf dem Hügel. Mein Vater ist der Wildhüter des Grafen.«

»Dann leben Sie im Schloss?«

»Im Torhaus.«

Wiederum lächelte er, deutete eine Art altmodischer Verbeugung an und schlenderte im Sonnenschein an der Kirche vorbei.

Den gesamten Heimweg über dachte Marga an Henryk Stattler. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie sprach mit niemandem darüber, sondern behielt die Begegnung als kleinen Schatz ganz für sich alleine. Sie war etwas Besonderes in dieser Zeit der Unsicherheit, in der es von allem wenig gab und Marga sich nicht vorstellen konnte, wie ihr Leben weitergehen sollte. Sie träumte von Normalität, wer tat das nicht nach dem Krieg, doch die ließ sich bitten. Sie kam nicht einfach wieder zurück, als wäre nichts geschehen.

Der Bahnhof war nach der Bombardierung durch die Amerikaner nur notdürftig instand gesetzt, damit die Züge fahren konnten. Hierher, in dieses verschlafene Nest, reisten allerdings sowieso nicht viele.

In der Ebene zwischen Mairing und Seeberg war das schreckliche Arbeitslager abgebrochen worden, ein Displaced Persons Camp war in den Gebäuden des ehemaligen Fliegerhorsts und darum herum entstanden. Mit Tausenden Bewohnern, die zu keinem der beiden Dörfer gehörten und auch sonst nirgendwohin. Täglich kamen dort weitere Flüchtlinge an, Vertriebene aus den Ostgebieten, Heimatlose, Überlebende der Konzentrationslager. Menschen, die alles verloren hatten und sich einen neuen Platz in der Welt suchen mussten. Manchmal fragte sich Marga, wohin sie selbst gehen würde, wenn sie allein wäre und vor dem Nichts stünde. Meist verdrängte sie diesen Gedanken schnell wieder. Sie war hier geboren. Ebenso wie ihre Schwester Erika, die Eltern und davor die Großeltern. Für sie hatte es immer nur das dörfliche Leben gegeben, mit denselben Personen, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Manche davon waren nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Einer von Margas Schulfreunden war in Stalingrad gefallen, ein anderer in Italien. Väter von Freundinnen waren entweder tot oder in Gefangenschaft. Beinahe jede Familie in der Gegend beklagte Verluste, zumindest schien es Marga so. Dazu kam die Knappheit. Nicht nur, was Lebensmittel betraf. Es fehlte an allem. Kleidung, Baustoffe, Fahrzeuge, … Wie könnte sie sich in einer derartigen Lage unzufrieden zeigen, was ihre eigene, ganz persönliche Zukunft anging?

Sämtliche Gebäude um den Kirchplatz und weiter aus dem Mairinger Ortskern hinaus standen unversehrt, als wäre nichts geschehen. Das Bäckerhaus, der Metzger, kleine landwirtschaftliche Anwesen mit Obst- und Gemüsegärten drumherum, ordentlich durch Lattenzäune voneinander abgegrenzt. Nur auf den Bahnhof war kurz vor Kriegsende eine Fliegerbombe gefallen und hatte allen mit einer feurigen Explosion vor Augen geführt, dass das große Sterben noch nicht vorbei war. Marga erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Nie zuvor hatte sie solche Panik verspürt wie in dem Augenblick, da die Bombe unvermittelt in ihren Alltag krachte. Plötzlich wurde der Krieg aus dem Radio real. Keine Maschinengewehrsalven aus Jagdflugzeugen, die nach ein paar Minuten wieder verstummten, sondern eine gewaltige Detonation, die den Boden erschütterte, Trommelfelle zum Bersten brachte und alles um sich herum vernichtete.

Die Amerikaner hatten einen vermeintlichen Munitionstransport der Wehrmacht zerstören wollen, der im kleinen Landbahnhof stand. Mitten am Tag. Nur hatten sich in den Waggons halb verhungerte Häftlinge aus Buchenwald befunden, die in ein anderes Konzentrationslager hätten befördert werden sollen. Zusammengepfercht wie Vieh, ohne Nahrung oder Wasser. Ihre zerfetzten Körperteile lagen nach der Bombardierung überall auf den Gleisen verstreut. Die Überlebenden hatte die SS erschossen. Marga war mit ihrem Vater auf einem Pferdegespann unterwegs gewesen, als es geschehen war. Obwohl Konrad Heinrich sofort gewendet hatte, um sie schnellstmöglich weg vom Ort dieser Katastrophe zu bringen, hatte Marga Szenen gesehen, die sie niemals vergessen würde. In den unpassendsten Momenten drängten sich ihr diese Bilder auf, sie wurde sie nicht mehr los. Auch jetzt, während sie den Hügel hinaufschritt, auf dem Schloss Seeberg samt seiner kleinen Ansiedlung stand, verscheuchte die Erinnerung die wohligen Eindrücke von Henryk Stattler. Obwohl Marga so gern an ihnen festgehalten hätte. Aber es war eben nichts wieder normal. Alles litt unter den dunklen Schatten des Krieges.

Am späten Nachmittag setzte ein Wärmegewitter ein, der Regen hielt bis zum darauffolgenden Morgen an. Das ersparte Marga das von ihrer Mutter geplante Fensterputzen im Schloss. Eine Endlosaufgabe, bei den unzähligen Scheiben, langweilig zudem. Weil sie nicht mehr als Sekretärin arbeitete, musste Marga zumindest vorübergehend den Eltern bei ihren Aufgaben auf Schloss Seeberg zur Hand zu gehen, sei es draußen in den Wäldern oder drinnen bei der Hausarbeit. Zwar vermisste sie die Stelle im Fliegerhorst nicht. Im Gegenteil, sie war erleichtert, diese Zeit überstanden zu haben. Doch sie wünschte sich eine selbst gewählte Beschäftigung, einen Beruf. Sie wollte etwas anderes machen als die Eltern. Konrad und Helene Heinrich waren die guten Geister des Grafen. Ihre Tochter konnte sich keinen öderen Lebensinhalt vorstellen. Sie musste sich bald ein neues Betätigungsfeld suchen, sonst würde sie dem Stumpfsinn verfallen. Irgendetwas, das sie rausbrachte aus Seeberg, und wenn es nur bis hinüber nach Mairing war. Eigentlich träumte sie von einer Tätigkeit in Passau. Die Kreisstadt versprach wesentlich mehr Möglichkeiten als die Dörfer. Allein, vergütete Arbeitsstellen waren im chaotischen Nachkriegsdeutschland überall Mangelware. Das war auch Marga bewusst. Auf dem Schwarzmarkt ließ sich Geld verdienen, doch der barg andere Risiken und war nichts für eine junge Sekretärin.

Momentan gab es also keine Alternativen, Marga musste sich als Zimmermädchen betätigen. Mit zweiundzwanzig untätig herumzusitzen, das konnte sich vielleicht manch feines Fräulein erlauben, nicht aber die Tochter eines gräflichen Wildhüters. Falls sie langfristig den Dienstbotenarbeiten entkommen wollte, jedoch keine bessere Erwerbstätigkeit fand, bestand ihr einziger Ausweg in einer Ehe, wie sie ihre ältere Schwester Erika eingegangen war. Unabhängig davon, dass Erikas Mann im Krieg geblieben war, fand Marga selbst das wenig verlockend, und es schwebte wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf. Sie sehnte sich nach Freiheit. Die jedoch hatte das gesamte deutsche Volk durch seinen schrecklichen Krieg verspielt, da durfte sie als Einzelperson keine Ansprüche erheben.

Leider trocknete die Sommersonne das Land nach dem Regenguss rasch, und nun gab es keinen Aufschub mehr für die Arbeit.

»Der Lukas hat vorhin am Torhaus geschellt, weil er dich sprechen wollte, aber du warst nicht auffindbar«, informierte die Mutter Marga, während sie mit einer alten Zeitung und Essigwasser im Ostflügel die Fenster polierten. »Deswegen ist er wieder gegangen. Hat einen betrübten Eindruck gemacht, fand ich. Vermutlich wollte er dich zu einem Spaziergang einladen.«

Marga verdrehte die Augen.

»Du brauchst dich nicht so zu zieren«, grollte Helene Heinrich. »Wie lang bemüht er sich nun schon um dich? Eine bessere Partie wirst du hier kaum finden, Kind.«

Natürlich hatte Marga ihn läuten hören, doch sie hatte sich taub gestellt, weil sie kein Interesse an Lukas hatte. Offensichtlich lag ihrer Mutter daran, sie zügig unter die Haube zu bringen.

»Ach übrigens«, fuhr sie nun fort. »Hast du es schon gehört? Die Rosemarie hat ein Kind bekommen, ein Mädchen. Ihre Mutter hat das gestern beim Frauenbundtreffen in großer Runde erzählt. Alle haben sich sehr gefreut. Ach, es ist immer was Wunderbares, wenn das Leben weitergeht und eine neue Generation heranwächst.« Fehlte nur, dass sie hinzufügte: Und bei dir wäre das auch an der Zeit.

Margas Kollegin aus dem Fliegerhorst hatte bereits während des Krieges einen jungen Stukapiloten geheiratet, der glücklicherweise unversehrt zu ihr zurückgekehrt war. Marga erinnerte sich an Rosemaries große Sorge, als er über feindlichem Gebiet abgeschossen worden war. Es hatte an ein Wunder gegrenzt, dass er überlebt hatte. Und dann, kurz vor Kriegsende, war er in amerikanische Gefangenschaft geraten. Nach seiner Freilassung war Rosemarie mit ihrem Mann in seine Heimatstadt gezogen, weg aus Niederbayern. Darum beneidete Marga sie sehr.

»Lukas hat mir übrigens erzählt, dass er bald das Geschäft von seinen Eltern übernimmt. Der Junior will anscheinend modernisieren, heißt es. Will auf Konfektionsmode umstellen, nicht nur Kurzwaren und Stoffe«, kam Helene Heinrich wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Das Kaufhaus Krantz, das Lukas’ Familie gehörte, war eine Institution in Mairing.

»Hast du Papa geheiratet, weil er eine gute Partie war?«

Mit einem kurzen Auflachen hielt die Mutter inne und stemmte die Hände in die Hüften. »Weiß Gott nicht.«

»Na siehst du.«

Damit war die Diskussion über den patenten Lukas Krantz und potentiellen Nachwuchs beendet.

Lukas war drei Jahre älter als Marga, und die beiden kannten einander von klein auf.

Hier auf dem Dorf kannte sowieso jeder jeden. Helene Heinrich war eine gute Kundin des Kaufhauses und Lukas’ Mutter zudem ebenfalls im Frauenbund. Weil seine beiden älteren Brüder im Krieg gefallen waren, hatte Lukas nicht einrücken müssen. Seit seiner Jugend war er in der Feuerwehr aktiv, er spielte Fußball und ging gern ins Wirtshaus. In der Hitlerjugend hatte er damals beachtliche sportliche Erfolge erzielt, mit denen Frau Krantz gern geprahlt hatte. Ein angesehener Bursche, das wollte Marga nicht abstreiten. Aber eben niemand, der nach nur einer einzigen Begegnung pausenlos durch ihre Gedanken spukte. Wie Henryk Stattler. Wie alt mochte er sein? Sicher ein ganzes Stück älter als sie, über dreißig bestimmt. Kein Junge eben, sondern ein Mann.

Das Wetter frischte endlich ein wenig auf, was sich nach der Hitzewelle äußerst willkommen anfühlte. Irgendwann war die Mutter zufrieden, und Marga konnte einen Waldspaziergang machen, alleine, so war es ihr am liebsten.

Das Revier ihres Vaters begann im Schlosswald direkt hinter der Anlage. An einem steilen Hang erstreckte sich ein alter Mischwald auf dem einzigen Hügel in der ansonsten flachen Landschaft. Marga war gern draußen in der Natur. Dort konnte sie ungestört ihren Gedanken nachhängen und sich ausmalen, was ihr das Leben vielleicht einmal schenken würde. Unmittelbar nach der Kapitulation hatte sie nicht mal Träume gehabt, geschweige denn eine Vorstellung davon, wie die Welt für sie aussehen könnte. Jetzt änderte sich das langsam. Es gab wieder Kinovorstellungen mit einer Wochenschau, die über mehr berichtete als Siege und Verluste. Bilder aus fremden Ländern gelangten auf diese Weise bis nach Mairing und Seeberg. Zeitungen erschienen regelmäßig, und der Rundfunk sendete ein frisches Programm. Zwar unter der Zensur der Amerikaner, dennoch vielfältiger als Marga es kannte. Mit diesen Eindrücken war es wieder möglich, zu träumen. Wovon genau allerdings, da war sie sich noch nicht sicher.