Unsichtbar im hellen Licht - Sally Gardner - E-Book

Unsichtbar im hellen Licht E-Book

Sally Gardner

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Beschreibung

Ein gesunkenes Schiff, ein Kristallleuchter, der in tausend Stücke zersplittert und ein Mädchen, das sich plötzlich in einem Kostümkorb in der Königlichen Oper wiederfindet. Von da an ist nichts mehr wie zuvor. Was hat es mit dem mysteriösen Mann mit dem smaragdgrünen Anzug auf sich, der dem Mädchen Celeste ein Spiel vorschlägt? Wird sie die retten können, die sie liebt? Ein gefährlicher Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Sally Gardner erzählt in ihrem neuen Jugendroman eine magische Geschichte, die tief hineinführt in die Welt des Theaters, von Liebe und Familienbande.

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Dieses Buch ist Freya und Lydia gewidmet, mit all meiner Liebe.

In unterschiedlicher Gestalt und Gewandung hat mich diese Geschichte lange Zeit begleitet. Es hat Jahre gedauert, bis ich herausgefunden habe, wie ein Theater, ein Geisterschiff und ein Kronleuchter aus Kristall zusammenpassen könnten. Wie so oft, wenn es um das Schreiben geht, fand ich die Antwort in Märchen.

Ich war ein Kind, als ich zum ersten Mal in den dunklen Wald der Brüder Grimm geriet. Ich habe mir mit ihren Geschichten von herzlosen Stiefmüttern, grausamen Schwestern, bösen Hexen und stummen Frauen selbst Angst eingejagt. Ich lungerte am Rand des Waldes herum, hungrig nach noch mehr Geschichten. Je älter ich wurde, desto mutiger wurde ich, und schließlich hatte mich die Magie der Märchen endgültig gepackt. Als ich dann mit dem Schreiben anfing, zog ich in die Hütte der Hexe ein, tief im uralten Wald der Zauberei. Dort lebe ich noch heute und hoffe, dass mich die Wölfe nicht erwischen.

Aber bevor ich wusste, dass dies der Ort war, an dem ich sein wollte, bevor ich wusste, dass ich schreiben kann, als ich gerade vierundzwanzig Jahre alt war und noch in meiner Legasthenie gefangen, habe ich die Kostüme für eine Aufführung des Mikado von Gilbert und Sullivan in der Königlichen Oper von Kopenhagen entworfen. Das war eines der magischsten Erlebnisse meines beruflichen Lebens. Was mich besonders faszinierte, war der Kronleuchter, der im Zuschauersaal hing und zwischen den Aufführungen nach oben in die Kuppel des Opernhauses gezogen wurde. Ich hatte noch nie ein Licht gesehen, das so hell strahlte. Die meisten dieser Kronleuchter werden trüb vom Staub.

An einem Wintertag stiegen der Konstrukteur und ich die hölzerne Treppe zum höchsten Punkt des Opernhauses empor und gelangten an eine unscheinbare Tür, wie zu einer Besenkammer. Doch dahinter befand sich die Kuppel des Dachs, ein kreisrunder Saal mit Fenstern ringsum, die auf die Kupferdächer von Kopenhagen hinausgingen. Und in der Mitte hing der Kronleuchter, der mit seiner unglaublichen, fast bedrohlichen Größe den Raum dominierte. Wir entdeckten eine alte Dame mit einer Nähmaschine und ihren Raulederlappen, die auf einer Leine zum Trocknen hingen wie Vögel auf einem Drahtseil. Sie erzählte uns, dass es ihre Aufgabe sei, den Leuchter glänzend zu polieren. Niemand wusste, dass sie da war. Ich hatte das Gefühl, mitten in ein Märchen geraten zu sein.

Die Zeit, die ich in Kopenhagen verbrachte, inspirierte mich zu dieser Geschichte: Unsichtbar im hellen Licht. Ich hoffe, sie webt ihre Magie auch in eure Herzen.

Hastings, Juli 2019

Sally Gardner

Willst du das Spiel zu Ende spielen?», erkundigt sich der Mann in dem smaragdgrünen Anzug.

«Was für ein Spiel?», fragt das Mädchen.

«Eins ist sicher», sagt er und beachtet ihre Frage gar nicht, «wenn du das Spiel beendet hast, wird sich alles verändert haben.»

Tief unter dem Meer, in der Höhle der Träumer, hängen die Schlafenden, festgezurrt an Bootshaken. Passagiere und Matrosen mit geschlossenen Augen, hoch erhobenen Köpfen, die Haut fischweiß. Einer neben dem anderen hängen sie da, in ordentlichen Reihen, bis irgendwann weiter hinten nur noch die leeren Kleider an den Haken baumeln. Fische schwimmen und Aale winden sich hindurch, sodass die Hosen und Unterröcke in Erinnerung an ihre geisterhaften Träger tanzen.

Am Eingang zur Höhle sitzt ein Mann in einem mit Muscheln überkrusteten Stuhl, vor sich einen Schreibtisch. Es ist der dreiteilige smaragdgrüne Anzug, der den Blick des Mädchens auf sich zieht, nicht sein Gesicht, wie man hätte vermuten können. Denn es ist ein seltsames Gesicht. Hinter ihm liegen fein säuberlich aufgeschichtet Hunderte glänzend weiße Kerzen.

«Du bist stärker, als ich dachte», sagt der Mann. «Ich habe nicht erwartet, einen weiteren Satz meiner Kerzen anzünden zu müssen. Meine Kerzen sind mir lieb und teuer, und ich hasse es, sie zu vergeuden. Bist du sicher, dass du weiterspielen willst?»

Celeste ist wie gebannt von dem Smaragdgrün des Stoffes.

Sie sieht darin ihre ganze Vergangenheit, die sich in einem einzigen Strudel zusammenzieht, bis daraus ein Gewebe aus Fäden und Stichen geworden ist.

«Bevor wir weitermachen, sag mir noch einmal, wie alt du bist», fordert der Mann.

Erst jetzt bemerkt Celeste sein Gesicht. Sie hat das Gefühl, er trage eine Maske, denn sie kann seine Augen nicht sehen. Vielleicht wurden sie ausgewaschen. Hin und wieder knabbern Fische an seinem glänzenden, kahlen Schädel.

Auf dem Schreibtisch liegt ein Kontobuch. Es sieht genauso aus wie das in dem Hutladen, in das der Verkäufer geschrieben hat, als sie und Anna dort ein Paket für Mutter abholten.

«Ich habe dich etwas gefragt», sagt er.

Celeste antwortet nicht. Sie betrachtet den Ring an seinem kleinen Finger. Der Stein ist ein funkelnder Smaragd in der gleichen Farbe wie sein Anzug. Der Mann taucht eine Schreibfeder in ein Tintenfass, und die Tintententakel ziehen davon.

«Mit anderen Worten: Wie alt bist du?»

«Sie stellen Ihre Fragen in der falschen Reihenfolge», erklärt Celeste. «Die erste Frage sollte lauten: ‹Wie heißt du?›»

Der Mann mustert sie verblüfft.

«Ich stelle hier die Fragen, nicht du.»

Dieses Mädchen bringt ihn aus der Fassung. Nur selten begegnet ihm ein Kind, das stark genug ist, um bis zur letzten Phase des Spiels durchzuhalten. Vielleicht wird es endlich einmal bis zum bitteren Ende ausgespielt. Der Gedanke verzückt ihn, obwohl er keine Zweifel daran hat, wer als Sieger daraus hervorgehen wird. Er beharrt auf seiner Frage.

«Sag mir, wie alt du bist.»

Wieder antwortet das Mädchen so energisch, wie er es nicht für möglich gehalten hätte. An diesem Punkt des Spiels angelangt, sollte der Spieler nicht viel mehr als ein Schatten sein.

«Wie alt ich bin?», fragt Celeste zurück. «Ich bin elf.»

«Ich kann eine Lüge im Wasser riechen», sagt der Mann. «Ich spiele mit dir, Mädchen, nicht umgekehrt.»

Die Wahrheit ist, dass Celeste sich nicht mehr erinnern kann, ob sie demnächst elf wird oder gerade elf geworden oder vielleicht sogar schon zwölf ist. Sie denkt noch darüber nach, als der Mann in dem smaragdgrünen Anzug die Seite im Kontobuch umblättert. Mit der Spitze der Schreibfeder deutet er nach oben. Mit den Augen folgt Celeste seiner Geste. Über den Köpfen der Schlafenden hängt ein gläserner Kronleuchter in Form einer Galeere.

«Siebenhundertfünfzig Kerzen», sagt der Mann, «und nicht eine davon muss sich dem Wasser ergeben.»

Zum ersten Mal kann Celeste klar sehen. Die Lichtstrahlen erleuchten die Gesichter der Schlafenden, deren Namen ihr auf der Zunge liegen.

«Schau mich an», verlangt der Mann. «Schau mich an.»

In dem Moment, in dem sie seinem Befehl gehorcht, sind die Namen verschwunden, und irgendwo in der Höhle läutet klagend eine Schiffsglocke. Vielleicht ist das eine Warnung, denkt sie. Er lacht, und sein Gelächter bringt die Schlafenden zum Schaukeln, wie eine Welle.

«Was, wenn ich Ihr Spiel nicht spielen will?», fragt sie.

«Eine mutige Frage, wenn ich das sagen darf. Es wäre eine Schande, wo du doch schon so weit gekommen bist. Trotzdem würde ich es verstehen, denn von jetzt an wird das Spiel schwieriger.» Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. «Willst du wissen, was passiert, wenn du das Spiel abbrichst?»

«Ja», sagt Celeste.

«Das ist ganz einfach. Du kommst in die erste Reihe der Schlafenden. Es ist deine Entscheidung. Dieser Teil des Spiels heißt ‹die Abrechnung› und nur ich kenne die Regeln.»

«Das ist nicht fair.»

«Das habe ich auch nie behauptet. Ich gewinne immer. Das verrate ich dir, weil ich einfach zu gutmütig bin. Ich war bereits großzügig, weil ich dir eine der Schlafenden gegeben habe. Nicht, dass sie dir irgendetwas nützt, das habe ich dir gleich gesagt, am Anfang, noch bevor ich den ersten Satz Kerzen angezündet habe. Aber das nur nebenbei. Wo war ich? Ach ja. Der Spieler, das bist du, Maria, wurde als Baby auf der Treppe des großen Opernhauses in K. abgelegt. Dort wurdest du von der Frau aufgezogen, deren Aufgabe es ist, den Kronleuchter aus Kristall zu polieren. Als du acht Jahre alt warst, hast du herausgefunden, dass du Talent für das Tanzen besitzt, und man meldete dich in der Ballettschule an. Um deinen Unterricht zu bezahlen, arbeitest du – sofern du nicht proben musst – für die berühmte Sängerin Madame Sabina Petrova.»

Maria? Sie will schon widersprechen – «Ich heiße Celeste» – als sie eine innere Stimme mehr spürt als hört, die ihr zuflüstert: Nein, verrate ihm nicht deinen Namen.

Sie betrachtet erneut die Schlafenden, und mit Grauen wird ihr klar, dass sie ihre Namen kennt, jeden einzelnen. Sie dürften gar nicht hier sein.

«Wenn du das Spiel gewinnst», sagt er, «können sie heimgehen. Wenn du verlierst, verlieren sie. Für immer.»

Der Mann in dem smaragdgrünen Anzug kommt mit unnatürlicher Schnelligkeit auf sie zugeschossen. Er legt seine Hand auf ihr Gesicht und schließt ihre Augen.

«Nur um sicherzugehen, doppelt sicher», hält er fest. «Lass mich tun, was ich schon einmal getan habe.»

Und noch ehe sie ein weiteres Wort sagen kann, hat sie alles vergessen.

«Gut», sagt der Mann, bevor er die Kerzen ausbläst. «Sehr gut. Lasst ‹die Abrechnung› beginnen.»

Sie fällt und fällt, tiefer und tiefer, bis hinunter auf den Grund des Meeres, hinein in eine tintige Schwärze. Die Dunkelheit wird zu einer Linie zwischen den Worten und dem Papier, wo die See auf den Himmel trifft, und immer noch fällt sie, bis plötzlich die Stadt mit ihren Kuppeldächern – ihre Stadt – unter ihr liegt. Sie sieht die von Pferden gezogenen Straßenbahnen, die Kutschen, den Park und den Hafen mit den Großseglern. Immer weiter fällt sie, durch die Kuppel des Opernhauses hindurch, vorbei an der kristallenen Galeere, und als sie vorbeifällt, hört sie das Geräusch von etwas, das sich löst. Und sie fällt und fällt, tiefer und tiefer …

Wach auf.» Celeste fühlte ein Schnipsen auf ihrer Wange. «Ich habe dich überall gesucht, du faules, nutzloses Ding.»

Sie wischte sich den Traum aus den Augen und kletterte schläfrig aus dem Kostümkorb, in dem es so tröstlich nach altem Flitter und Theaterschminke roch. Vor ihr stand eine grimmig dreinblickende Frau, die offenbar eine Gewandmeisterin war, denn sie trug einen grauen Staubkittel über ihrer Kleidung, hatte ein Maßband um den Hals hängen und Stecknadeln am Revers. Aber das erklärte nicht, warum sie sich bemüßigt fühlte, Celeste mit einem Handschuh zu attackieren.

«Warum haben Sie das gemacht?», fragte Celeste. «Dazu hatten Sie kein Recht.»

«Kein Recht?», wiederholte die Gewandmeisterin. Sie war außer sich vor Wut und so sauer wie eine Zitrone, die nie auch nur einen Sonnenstrahl gesehen hatte. «Und wer glaubst du, dass du bist, du kleine Ratte, dass du so mit mir reden kannst? Fang bloß nicht an, dir irgendwelche Frechheiten herauszunehmen.»

«Das tue ich nicht», sagte Celeste. «Mutter wird fuchsteufelswild sein, wenn sie erfährt, dass Sie mich mit einem Handschuh geschlagen und so grob behandelt haben.»

«Mutter? Mutter … oh mein Gott, was hast du jetzt schon wieder geträumt? Du bist eine Waise, das solltest du wissen. Deine Mutter – wer immer sie war – hat dich in einen Korb gelegt und dann nie mehr auch nur einen Gedanken an dich verschwendet.»

«Fräulein Olsen», rief ein Bühnenarbeiter. «Madame Sabina fragt nach Ihnen.»

Celeste wollte Fräulein Olsen gerade sagen, dass sie sich irrte, und zwar in allem, als sie an sich herabsah und bemerkte, dass das Kleid, das sie trug, ein dünnes, verschlissenes Fähnchen war.

«Das hatte ich vorhin noch nicht an», stellte sie fest. «So was habe ich heute Morgen bestimmt nicht angezogen. Nein, diese Sachen sind ja ganz altmodisch. Ich hatte ein brandneues Matrosenkleid an und habe ein Stück in meinem Spielzeugtheater aufgeführt.»

«Wenn du damit fertig bist, dir irgendwelche Märchen auszudenken», sagte Fräulein Olsen, «dann geh zu Madame Sabina und bring ihr diesen Handschuh. Und zwar ein bisschen plötzlich. Sie ist in ihrer Garderobe.»

«Madame Sabina», wiederholte Celeste. Der Mann in dem smaragdgrünen Anzug in ihrem Traum hatte eine Madame Sabina erwähnt. Aber das war ein Traum gewesen, nicht die Wirklichkeit. Es konnte nicht die Wirklichkeit sein. «Warum muss ich ihr den Handschuh bringen? Madame Sabina ist Mutters Zweitbesetzung.»

Noch während sie das aussprach, merkte sie, wie ihre Erinnerungen zerfielen, bis nichts weiter übrig blieb als dieses seltsame, zusammenhanglose Jetzt. Je mehr sie über die Vergangenheit nachdachte, desto mehr verschwand diese. Sie fiel und fiel, tiefer und tiefer …

«Hast du gehört?», ermahnte Fräulein Olsen. «Wie kannst du es wagen, so über die große Madame Sabina Petrova zu sprechen?»

Celeste schloss die Augen, in der Hoffnung, dass sie aufwachen und alles wieder so sein würde, wie es sein sollte. Als sie die Augen wieder aufschlug, wusste sie, dass etwas sehr Seltsames geschehen war und immer noch geschah. Die Worte des Mannes in dem smaragdgrünen Anzug hallten in ihrem Kopf wider: Um deinen Unterricht zu bezahlen, arbeitest du – sofern du nicht proben musst – für die berühmte Sängerin Madame Sabina Petrova.

Das Einzige, woran sich Celeste in aller Deutlichkeit erinnerte, war ihr Spielzeugtheater.

«In welcher Stadt bin ich?», fragte sie.

«In K., wie du sehr wohl weißt.»

«Eine Stadt namens K. gibt es nicht», bemerkte Celeste. «Wo ist Anna?»

«Du törichtes Mädchen, ich kenne dein Spiel», sagte die Gewandmeisterin.

«Wirklich?», fragte Celeste.

«Natürlich – glaubst du, ich wüsste nicht, dass ihr beide da oben wohnt, in der Kuppel?»

«Tun wir das?», überlegte Celeste.

«Ich weiß alles», sagte Fräulein Olsen und ignorierte die Frage. «Ich weiß, was hinter den Kulissen vor sich geht, und sich dumm zu stellen, funktioniert bei mir nicht. Du bist nichts weiter als eine kleine Ratte.»

Celeste wollte nur noch weg von hier. Sie musste nachdenken. Es war einfacher, den Auftrag auszuführen, anstatt mit Fräulein Olsen zu diskutieren. Sie nahm den Handschuh und wandte sich zum Gehen, aber offensichtlich in die falsche Richtung wie ihr die Gewandmeisterin dadurch klarmachte, dass sie mit dem Fuß aufstampfte.

«Wo willst du denn hin? Diese Tür darfst du nicht öffnen. Wenn ich jemals herausfinde, dass du sie doch geöffnet hast, werde ich Madame davon erzählen, verlass dich darauf, und du …» Ihre weiteren Worte verloren sich in der lauten Geschäftigkeit des Theaters.

Celeste kannte dieses Theater. Oder vielleicht kannte sie ein ähnliches, denn es kam ihr vertraut vor, obwohl es das nicht war. Etwas war anders, vielleicht hatte es mit dem Licht zu tun; es strahlte zu hell, beleuchtete ihre wachsende Panik. Wo war sie? Eine Sache entsprach der Wahrheit, so viel wusste sie: Sie hatte die meiste Zeit ihres Lebens hinter der Bühne zugebracht, sie war aufgewachsen in dem Kaninchenbau aus zugigen Gängen mit unzähligen Türen, die in Werkstätten führten, in den Kostümfundus, in die Requisitenkammer und in den Aufenthaltsraum. Hölzerne Treppen wendelten sich hinauf in die Kuppel und zur Oberbühne. Sie fand sich hinter und vor dem Vorhang besser zurecht als in ihrer eigenen Rocktasche. Das Theater war ihr Zuhause. Und wie um sich selbst zu beweisen, dass sie recht hatte, vertraute sie ihrem Instinkt und nahm die ihrer Meinung nach schnellste Route, auch wenn sie streng verboten war. Der andere Weg war viel länger. Er führte durch ein Labyrinth aus schmalen Gängen, die das Gebäude wie Adern durchzogen und in denen stets ein großes Gedränge herrschte. In der Nähe der Perückenstube blieb sie vor einer schmalen Tür stehen, die man kaum bemerkte, außer man wusste, dass sie da war. Nur die Regisseure und die wichtigen Personen benutzten diese Tür, die den hinteren Bereich des Theaters vom vorderen abtrennte. Diese beiden Bereiche waren wie zwei verschiedene Welten, fand Celeste. Sie schaute sich um, ob jemand sie beobachtete. Ein blinder Mann kam auf sie zu, wobei er mit seinem Stock vor dem Körper nach rechts und links gegen die Wände des Gangs schlug.

«Aus dem Weg!», schrie er. «Aus dem Weg!»

Flink huschte sie durch die Tür in eine Welt aus dicken, roten Teppichen und Wänden mit Fresken von märchenhaften Szenen. Das war der Teil des Theaters, der dem Publikum gehörte. Zu Celestes Erleichterung kam er ihr vertraut vor. Es war ganz offensichtlich ein Ort, den sie kannte: das Reich herausgeputzter Frauen in herrlichen Kleidern mit Turnüren und Schleppen, die beim Gehen hin und her zischten, mit eleganten Schuhen, wie eine Prinzessin sie tragen würde, und kunstvollen Frisuren, in denen Juwelen funkelten. Begleitet wurden sie von würdevollen Herren in Abendanzügen mit gestärkten weißen Westen und Klappzylindern. In den Pausen flanierten sie in diesem Gang, in der Hoffnung, einen Blick auf den König zu erhaschen.

Celeste musste lediglich das Vorzimmer hinter der Königsloge durchqueren und die Wendeltreppe hinunterlaufen, die zu der Seitenbühne führt, wo der Souffleur sitzt. Von da aus war es nur noch eine Kurve und eine Biegung, und sie würde lange vor Fräulein Olsen ankommen, die sich vermutlich keuchend zwei Stockwerke zur Bühnenebene gekämpft hatte, vorbei an der Kleiderkammer, wo sie gewiss nicht hatte widerstehen können, einen Blick hineinzuwerfen und nachzusehen, ob ihre Näherinnen auch fleißig waren.

Zu wissen, wo sie sich befand, wirkte beruhigend auf Celestes aufgewühlten Geist. Und – noch wichtiger – alles war so, wie es sein sollte. Vielleicht lag es in Wahrheit an Fräulein Olsen, vielleicht ließ ihr Gedächtnis sie im Stich. Sie hatte schon gehört, dass Erwachsenen so etwas passierte – so ähnlich, wie man seine Handschuhe verlegt, vermutete Celeste, oder einen Hut. Man verlor immer mehr Teile seines Lebens, bis man vergessen hatte, wer man war. Celeste schwor sich, dass ihr das nie passieren würde. Sie erinnerte sich, oh ja, sie erinnerte sich. Es war bloß dieser Traum, der sie durcheinandergebracht hatte. Sie stand vor der prächtigen, mit goldenen Ornamenten verzierten Tür, die zur Königsloge führte. Leise betrat sie das Vorzimmer und beglückwünschte sich. Sie kannte dieses Theater. Sie hatte einen freien Blick in die Königsloge und in den Zuschauersaal dahinter, mit den weißgoldenen Wänden und den roten Plüschsitzen. Hoch oben an der reich geschmückten Decke, umringt von gemalten Feen, klaffte ein großes, rundes Loch, durch das jedes Mal zwanzig Minuten vor dem Einlass des Publikums der Kronleuchter aus Kristall heruntergelassen wurde.

Sie blieb kurz stehen und nahm die Magie des Zuschauersaals in sich auf. Es war dumm gewesen, sich von einem Traum aus der Fassung bringen zu lassen.

Celeste hatte schon die Hand auf dem Geländer der Wendeltreppe, als sie merkte, dass jemand sie beobachtete. Sie drehte sich um. Im Schatten sah sie nur ein Paar mit Knöpfen besetzte Stiefel und zwei elegante Hände, die auf dem goldenen Knauf eines Spazierstocks ruhten.

«Kommst du oft hier entlang?», fragte eine sanfte Stimme.

«Es tut mir leid», sagte Celeste, «aber das ist der schnellste Weg zu Madame Sabinas Garderobe.»

Der Besitzer der Stiefel und des goldgekrönten Spazierstocks lachte.

«Sie dürften auch nicht hier sein.»

Der Herr stand auf und trat ins Licht.

«Ich werde nichts verraten, wenn du es auch nicht tust.»

Er sah dem Kopf auf den Münzen gar nicht ähnlich, dachte sie, und auch nicht der Marmorbüste oben auf dem Treppenabsatz im Zuschauersaal. Die Dringlichkeit ihres Auftrags war vergessen, und an ihre Stelle trat Neugier.

«Warum sind Sie ganz allein hier?», fragte Celeste. «Wo sind denn die Soldaten, die Sie beschützen?»

«Vor was denn beschützen? Vor einer Diva in Gestalt eines Drachen? Ich bin hier, um mir die Probe anzusehen. Man sagte mir, dass Madames Stimme sich verändert habe, aber ich kann keinen Unterschied hören.»

Mit großen Augen betrachtete sie den Mann, der vor ihr stand. Sie hielt sich ganz aufrecht, die Hände hinter dem Rücken.

«Du warst die kleine Tänzerin im ersten Akt. Von der ganzen Kostümprobe hat mir deine Vorstellung am besten gefallen.»

«Nein, mein Herr», sagte sie. «Ich kann nicht tanzen.»

Wieder lachte er. «Du bist viel zu bescheiden. Waren das echte Flügel auf deinem Rücken?»

«Ich kann wirklich nicht tanzen, mein Herr», beharrte Celeste. «Vielleicht haben Sie mich mit jemand anderem verwechselt.»

«Eine Verwechslung ist nicht möglich. Du warst es – und du bist geflogen. Es war wie im Märchen. Und jetzt trägst du das Kostüm eines Straßenmädchens.»

Sie wurde scheu.

«Nein, mein Herr. Darf ich jetzt gehen, mein Herr?»

«Ja», sagte er. Dann legte er einen langen Finger an seine Lippen. «Kein Wort.»

«Kein Wort», versprach Celeste. «Außerdem würde mir sowieso niemand glauben, wenn ich behauptete, ich wäre dem König begegnet.»

Herr Gautier war ein kleiner Mann, dessen Stellung als Regisseur der Königlichen Oper ihn jedoch in der Regel größer erscheinen ließ. Aber als er heute zum Mittagessen Platz nahm, fühlte er jeden einzelnen Zentimeter, den er zu kurz geraten war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste es sich eingestehen: Die heutige Kostümprobe ließ kaum noch einen Zweifel daran, dass die Aufführung von Frederick Massinis neuer Oper Der Heiland ein Fiasko werden würde.

Vor beinahe genau zwei Jahren hatte ihn bei der Aussicht, diese Oper produzieren zu dürfen, freudige Erwartung erfüllt. Doch der heutige Tag kam einer Katastrophe gleich, denn Ellen Winther, eine der großartigsten Opernsängerinnen, die die Stadt je gesehen hatte, war tragischerweise mit ihrem Mann und ihren Kindern auf See verschollen. Nicht zum ersten Mal kam Herr Gautier der Verdacht, dass seinem Schicksal ein abrupter Gezeitenwechsel drohte. Die heutige Premiere hätte die Herbstsaison des Opernhauses krönen sollen, doch stattdessen machte Madame Sabina Petrova aller Welt das Leben schwer. Vorhin, zusammen mit Massini im leeren Zuschauersaal, hatte Herr Gautier zum ersten Mal gespürt, dass er alt geworden war.

Die Kostümprobe hatte um zehn Uhr begonnen. Bereits nach wenigen Minuten war der Schleierstoff, der vor der Szene hing, durch einen Balken, an dem eine der Kulissen befestigt war, fast völlig zerrissen worden. Herr Gautier hatte das als eine Nebensächlichkeit abgetan und gebeten, man möge mit der Kostümprobe fortfahren. Aber Madame Sabina erklärte, sie werde die Bühne erst dann wieder betreten, wenn der Schleier an seinem Platz hing.

Er hatte den Fehler begangen, ihr zu versichern, dass man auf den Schleier verzichten könne, der ja doch nur von den großartigen Kulissen ablenke. Madame hatte entgegnet, dass er sehr wohl nötig sei, zumindest für sie, und dass niemand wegen der Kulissen ins Theater kam.

«Sie kommen wegen mir», hatte sie gesagt. «Die Kulissen singen nicht. Ich singe.»

Madame Sabina war in ihre Garderobe abgerauscht und weigerte sich herauszukommen, bis Herr Gautier sich bei ihr entschuldigte und ihr versicherte, dass der Schleier am Abend, wenn der Vorhang sich hob, wieder an Ort und Stelle sein würde.

«Aber bitte», hatte er gefleht, «wir müssen jetzt die Kostümprobe zu Ende bringen. Stellen Sie sich vor, was aus der heutigen Premiere wird, wenn wir das nicht tun.»

Zu seiner maßlosen Überraschung hatte sie geantwortet: «Das ist mir egal. Alles, was ich tun muss, ist singen.»

Als sie wieder auf die Bühne kam, ging sie einfach nur durch ihre Rolle. Und dann hatte sie zur Verblüffung des Orchesters samt Dirigenten angefangen, eine Arie aus einer ganz anderen Oper zu singen.

«Halt, halt!», rief Herr Gautier. «Madame, was tun Sie da?»

«Ich singe eine Arie, für die ich berühmt bin. Diese Oper von Massini hat keine Melodie zu bieten, die im Gedächtnis bleiben würde.»

Woraufhin Frederick Massini aus dem Theater gestürmt war.

Herr Gautier wusste, dass Massinis Oper ein Desaster werden würde, falls Sabina Petrova darauf bestand, diese Arie zu singen. Es war ein Stück, das das Publikum mit der Sangeskunst von Ellen Winther verband. Und es war zufällig auch das Stück, mit dem sie zuletzt hier im Opernhaus aufgetreten war.

Er hatte Madame Sabina zu sich gebeten. In seinem Büro auf und ab marschierend, hatte er auf sie gewartet und sich gefragt, wer aus dieser Frau eine unerträgliche Harpyie gemacht hatte.

«Es wäre ganz und gar nicht angemessen …», hatte er gesagt, als sie schließlich auftauchte, aber Madame Sabina hörte gar nicht zu.

Sie verlangte nach Kaffee und «ein paar von diesen kleinen Törtchen.» Herr Gautier, dem die Zeit unter den Nägeln brannte, war sich jeder einzelnen Sekunde bewusst, die zerrann, während sie sich mit Gabel, Löffel und Serviette an dem zierlichen Porzellangeschirr samt Gebäckstücken zu schaffen machte.

«Möchten Sie auch ein Törtchen?», fragte sie mit Unschuldsmiene.

«Nein.» Er holte tief Luft. «Die Arie, die Sie gesungen haben …»

«Wunderschön, nicht wahr?»

«Diese Arie würde Seine Majestät an den Verlust seines Sohnes erinnern. Es war eine Tragödie, bei der – wie Sie sich erinnern – auch Ellen Winther, eine der beliebtesten Opernsängerinnen unserer Zeit, ihr Leben verlor. Diese Arie war das letzte Lied, das sie auf dieser Bühne gesungen hat.»

«Eine der beliebtesten Opernsängerinnen?», wiederholte Madame Sabina. «Das glaube ich kaum. Ich bin viel beliebter, als Ellen Winther es jemals war. Ihre Stimme war ziemlich dünn, soweit ich mich erinnere.»

«Madame, ich bin sicher, dass Sie den König beeindrucken wollen, wie wir alle», fuhr Herr Gautier langsam und geduldig fort, als ob er mit einem Kleinkind spräche, das jeden Augenblick einen Wutanfall bekommen könnte.

«Natürlich.»

Herr Gautier schluckte, ehe er weitersprach. «Dann schlage ich vor, Sie singen die Rolle, die Massini für Sie geschrieben hat. Die Oper kann ein Erfolg werden, aber nicht, wenn Sie sich weigern, das richtige Stück zu singen oder Ihre Rolle zu spielen.»

Madame Sabina war aufgesprungen und hatte dabei die restlichen Törtchen zu Boden geworfen. Dann rauschte sie aus Herrn Gautiers Büro.

Doch entgegen seiner Erwartung hatten seine Worte Wirkung gezeigt, denn sie kehrte auf die Bühne zurück und beendete den ersten Akt, wobei sie die richtigen Worte zu den richtigen Melodien sang. Doch diesmal trug sie statt des Kostüms für ihre Rolle ein Kleid, das über und über mit Diamanten besetzt war.

«Nein, nein, nein!», hatte Herr Gautier geschrien. «In dieser Szene sind Sie doch eine arme, heimatlose Frau.»

Madame Sabina erwiderte, sie würde tragen, was ihr gefiel; dieses widerliche, schäbige Kostüm sei ihr so furchtbar unangenehm.

Herr Gautier hatte die Arme zu dem Kuppeldach des Opernhauses erhoben und nachgegeben. Und so fuhr man mit der Kostümprobe fort, bis es zu einer neuerlichen Unterbrechung kam: Einer der Bühnenscheinwerfer fing an zu spucken und setzte einen Teil des gemalten Bühnenbilds in Brand. Die Flammen konnten schnell gelöscht werden, aber der Schaden war so groß, dass die Kulissenmaler bis zum Vorstellungsbeginn heute Abend alle Hände voll zu tun haben würden. Der Beleuchter war auf die Bühne gestiefelt und hatte erklärt, das ganze Theater sei eine einzige Zunderbüchse und er würde nicht die Verantwortung dafür übernehmen, falls ein Feuer ausbrach.

Herr Gautier hatte ihm für seine Vorsicht gedankt und angeregt, die Kostümprobe wieder aufzunehmen, da ihnen allmählich die Zeit davonlief.

Am Ende des ersten Akts, als er gerade zu hoffen begann, dass noch alles gut werden würde, knickte Camille, die zweitbeste Nachwuchsballerina der Tanzschule, bei ihrem Auftritt um und verstauchte sich den Knöchel. Es gab eine Unterbrechung, während man die beste Tänzerin aus dem Corps de Ballet ausfindig machte. In der Zwischenzeit hatte man die Bühne umgebaut, und inmitten einer Waldszene trat ein Mädchen in den Kegel des Scheinwerfers, kaum älter als zwölf Jahre. Stille senkte sich über den Zuschauerraum, dann brauste das Orchester auf, und ein paar Minuten lang nahm die geschickte kleine Tänzerin Herrn Gautier mit auf ihre Reise. Er hätte ihr den ganzen Tag lang zuschauen mögen. Wie viel besser war doch die Arbeit mit Kindern, statt mit monströsen Erwachsenen.

«Wenn sie singen kann», sagte eine Stimme aus der Reihe hinter ihm, «dann sollten Sie ihr die Rolle der Columbine im Weihnachtsspiel geben.»

Herr Gautier hatte sich umgedreht und sich gefreut, seinen alten Freund Quigley, den Clown, zu sehen. Er war wie immer in sein kariertes Harlekinkostüm gekleidet.

Der Regisseur des Opernhauses nahm sich vor, mehr über die kleine Tänzerin herauszufinden.

Am Ende der Kostümprobe lobte er die Leistungen der Truppe, obwohl sich niemand glücklich darüber zeigte, wie alles gelaufen war und sich alle bitter über Madame Sabina beklagten. Die Diva hatte Fräulein Olsen zu Herrn Gautier geschickt, um ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie ihn erst wieder zu sehen wünsche, wenn sie sich ausgeruht habe.

Er ließ sich das Mittagessen in sein Büro bringen. Er aß langsam, denn es war besser, mit einem vollen Bauch in die Schlacht zu ziehen, als mit einem leeren. Aber er hatte keinen Hunger, sondern stand von seinem Schreibtisch auf, der mit Papieren und Manuskripten überladen war, und ging zum Fenster. Als sein Blick über die Kupferdächer der Stadt glitt, wusste er, dass ihm nur noch vier Stunden blieben, bis die Theaterkritiker kamen, der Vorhang sich hob und seine Inszenierung unter dem eifrigen Kratzen ihrer Bleistifte vernichtet wurde. Vier Stunden. Er fühlte sich wie ein Verurteilter, der auf seine Hinrichtung wartet. Nicht einmal das bezaubernde kleine Tanzmädchen am Ende des ersten Akts würde den Heiland retten können.

Celeste stand in einer Ecke von Madame Sabinas Garderobe. Sie war einmal mehr starr vor Staunen über die Merkwürdigkeit ihrer Umgebung. Was sie sah, war fast richtig, und gleichzeitig doch vollkommen falsch. Ihre Zuversicht schwand dahin. Vielleicht konnten auch Kinder, genauso wie Erwachsene, ihre Erinnerungen verlieren. Sie jedenfalls schien ihre verloren zu haben. Bevor sie schlafen gegangen und dann in dem Kostümkorb aufgewacht war, waren sie alle noch in ihrem Kopf gewesen. Das wusste sie ganz genau. Aber wo waren sie hin? Denn wenn sie weiter zurückging als bis zu dem Moment des Aufwachens, dann war dort einfach nichts. Nur ein langer Korridor aus einem Nichts, mit einem vagen Gefühl für all diejenigen, die sie liebte. Wie sie aussahen, wusste sie nicht. Allein schon der Gedanke an sie ließ sie zu Geistern werden. Was Celeste dagegen nicht verlor, war ein Gefühl der Leere, als ob ein Teil von ihr fehlte. Es half nichts, sich einzureden, dass alles nur ein Traum war. Träume waren nicht so substanziell, es gab darin keine Möbel zum Anfassen, keine Gewandmeisterin und auch keinen Handschuh. Alle Träume, an die sie sich erinnern konnte, waren irgendwie schwammig gewesen und letztlich unverständlich geblieben.

Das Einzige, was ihr Halt gab, war das Theater. Sie erinnerte sich an alle Gänge und Treppen und wusste genau, wohin sie führten. Da blitzte etwas auf, ein silbriger Fisch von etwas, irgendjemand, halb erinnert und schon wieder vergessen. Sie schloss die Augen und hoffte, diesen Moment einfangen zu können. Vergeblich, er verschwand. Ein wichtiges Stück Information entglitt ihr und trieb davon. Wenn sie es nur angeln und einholen könnte, hier hinein in diese Garderobe, dann würden die Diva und alles andere vielleicht irgendeinen Sinn ergeben.

Diese Garderobe war die größte und prächtigste im ganzen Haus. Sie war reich ausgestattet, mit einem Klavier, einer Chaiselongue und einem riesigen Schminktisch mit Tiegeln, Bürsten und Fläschchen mit erlesenem Parfüm. Ein kostbar vergoldeter Spiegel ließ den Raum doppelt so groß wirken, wie er wirklich war. Einer der Polstersessel wurde von einem übergewichtigen Mädchen mit mausbraunem Haar in Beschlag genommen. Augenscheinlich zu wenig geliebt, machte das Mädchen wie es so dasaß, einen tollpatschigen und ungelenken Eindruck. Das war Hildegard, die Tochter von Madame Sabina. Celeste konnte sich nicht daran erinnern, dass die Zweitbesetzung ihrer Mutter jemals eine Tochter erwähnt hatte. Aber andererseits konnte sie sich an kaum etwas von vor ihrem Traum erinnern.

Die Sängerin, die in einen prächtigen Kimono gewandet war, nahm keine Notiz von ihrer Tochter. Sie war viel mehr daran interessiert, von wem sie Blumen bekommen und wer ihr Geschenke geschickt hatte. Eines war eine Pralinenschachtel mit einer übertrieben großen Schleife. Ihre Tochter fragte, ob sie die Pralinen haben könne, und die Mutter wedelte zerstreut mit der Hand.

Hildegard holte sich die Schachtel und kehrte zu ihrem Sessel zurück. Sie nahm den Deckel ab und stieß einen entzückten Seufzer aus – es gab so viele Pralinen, zwischen denen sie wählen konnte. Sie fing an, sie zu essen, eine nach der anderen. Die Einwickelpapiere warf sie auf den Fußboden. Von der Tür ertönte ein schüchternes Klopfen, und die Gewandmeisterin schob sich ins Zimmer.

«Wo waren Sie denn, Olsen?», fuhr Madame Sabina sie an. «Mein Korsett muss gelockert werden.» Und dann, zu Celeste gewandt: «Du da, heb die Papierchen auf.»

Fräulein Olsen versetzte Celeste einen Schubs, und sie tat, wie geheißen. In diesem Augenblick kam der Regisseur des Opernhauses herein. Er hatte während des Mittagessens beschlossen, der Diva reinen Wein einzuschenken. Bislang war es niemandem gelungen, ihren Panzer zu durchdringen.

«Ich hoffe, Madame», sagte er, wobei er seinen Zorn kaum unterdrücken konnte, «dass Sie uns heute Abend mit Ihrer Stimme erfreuen werden. Die Kostümprobe war eine Farce, Sie haben sich nicht einmal Mühe gegeben. Woher soll der Dirigent wissen, wann er das Orchester zum Spielen auffordern soll, wenn Sie nicht singen?»

«Seien Sie doch nicht so kleingeistig, so engstirnig», entgegnete Madame Sabina. «Niemand interessiert sich für Ihre Anweisungen. Es gab keinen Anlass, mich damit zu ermüden. Ich weiß, wie meine Stimme klingt, aber Ihre Inszenierung …» Sie zuckte mit den Achseln. «Die Zuschauer haben viel Geld bezahlt, um mich singen zu hören. Und nein, Gautier, ich werde mich keinen Schritt auf der Bühne bewegen. Ich bin die große Sabina Petrova. Ich stehe. Ich singe. Ich sehe großartig aus. Ende der Diskussion.»

Herr Gautier bebte vor Rage.

«Wenn Sie nur tun würden, worum ich Sie bitte, dann würden wir eine Oper von außerordentlicher Originalität auf die Bühne bringen.»

«Unsinn. Vollkommener Unsinn. Sind Sie nicht auch dieser Meinung, Olsen?»

Fräulein Olsen sagte nichts.

«Zumindest», sagte Herr Gautier, «werden Sie die Kostüme tragen, die für Ihre Rolle entworfen wurden.»

«Nein», widersprach Madame Sabina. «Nein, nein und nochmals nein. Meine Kostüme wurden für mich in Paris entworfen, und sie sind mit Diamanten besetzt – mit echten Diamanten.»

Celeste hob die Schokoladenpapierchen auf, die Hildegard eines nach dem anderen zu Boden warf. Sie schaute auf und sah, dass das andere Mädchen sie anstarrte.

«Wie alt bist du?», fragte Hildegard leise, damit die beiden streitenden Erwachsenen nicht auf sie aufmerksam wurden.

Wieder schob sich der Traum in Celestes Bewusstsein. War das nicht die gleiche Frage, die der Mann in dem smaragdgrünen Anzug ihr gestellt hatte? Diesmal zögerte sie nicht.

«Zwölf», sagte sie.

«Ich bin dreizehn», sagte das Mädchen. «Bäh!» Sie ließ eine halb aufgegessene Praline auf den Boden fallen. «Ich mag keine Orangencreme.»

Einen Augenblick lang empfand Celeste das unbändige Verlangen, die verschmähte Praline in ihren Mund zu stecken. Sie hatte solchen Hunger. Ein Blick von Fräulein Olsen sorgte dafür, dass sie es sich anders überlegte und die Praline zusammen mit den Papierchen in den Mülleimer warf. Vielleicht, dachte sie, war dieses leere Gefühl in ihr tatsächlich nichts weiter als Hunger. Aber in ihrem Herzen wusste sie, dass das nicht stimmte.

Der Streit hatte nun jede Höflichkeit verloren. Herr Gautiers Geduld war überstrapaziert, und seine Stimme wurde immer lauter und wütender.

Celeste sah, wie Hildegard die Zunge herausstreckte, eine weitere Praline darauf legte, ihren Mund zumachte und sich die Lippen leckte. Was würde Celeste nicht alles für eine dieser Pralinen geben!

Plötzlich erstarrte das Mädchen, ihre Hände fuhren zu ihrer Kehle und ihr Gesicht wurde krebsrot.

«Sie erstickt!», schrie Celeste, damit die Erwachsenen sie hörten.

«Ruhe!», erboste sich Madame Sabina und blickte Celeste an. «Ruhe. Es steht dir nicht zu, etwas zu sagen.»

Sie wollte sich wieder Herrn Gautier zuwenden, als dieser rief: «Mein Gott – Hildegard!»

Mit einem Satz packte er sie an den Fußknöcheln – wobei er eine Vase mit roten Rosen umwarf – und hob sie hoch, sodass man ihre Unterröcke und Pumphosen sehen konnte, wie eine weiße Rose, dachte Celeste. Fräulein Olsen schlug ihr kräftig auf den Rücken. Hildegards Arme fuhren vor ihr bläulich verfärbtes Gesicht, und jetzt war es ihre Mutter, die schrie: «Holt Hilfe!»

Fräulein Olsen versetzte Hildegard einen weiteren Schlag auf den Rücken, woraufhin etwas aus ihrem Mund flog. Sie sog gierig Luft ein, und Herr Gautier legte sie vorsichtig auf die Chaiselongue. Das arme Mädchen kam aus dem Husten und Würgen gar nicht mehr heraus. Fräulein Olsen schenkte ihr ein Glas Wasser ein.

«Oh Hildegard, mein Liebling», sagte Madame Sabina und schob ihrer Tochter die Haare aus dem Gesicht. «Meine kleine Maus, das ist ja entsetzlich. Was hast du gegessen? War es eine Nuss, mein Liebes?»

«Nein, Mama», sagte Hildegard zwischen zwei Hustenanfällen und mindestens drei Schluck Wasser. «Es war etwas sehr, sehr Hartes.» Celeste hob den Übeltäter auf: In einem Klumpen aus Schokoladenmatsch lag ein Ring auf ihrer Handfläche. Ein Smaragdring. Ganz genau wie in ihrem Traum.

«Bring ihn mir», befahl Madame Sabina, die sich wieder gefasst hatte. «Nein, du dummes Mädchen, das ist ja ekelhaft. Wasch ihn erst ab.»

Celeste spülte ihn mit Wasser sauber, wobei sie hoffte, dass er in Wahrheit doch nur eine Nuss war, dass sie nur in ihrer Einbildung etwas anderes daraus gemacht hatte. Aber es war tatsächlich ein goldener Ring mit einem Smaragd in der Mitte. Sie brachte ihn zu Madame Sabina.

«Zeig mal, Mama», sagte Hildegard schwach.

Madame Sabina hielt den Ring ins Licht.

«Es ist ein in Gold gefasster Smaragd, Liebling», erklärte sie. Ein Lächeln überzog ihre dünnen Lippen. «Ich würde sagen, er ist ziemlich wertvoll.» Dass ihre Tochter beinahe daran erstickt wäre, war anscheinend nebensächlich geworden. «Du», sagte sie zu Celeste, «du … wie auch immer du heißen magst: Zerdrücke alle Pralinen und schau nach, ob da noch mehr Juwelen drin sind.»

Fräulein Olsen überwachte den Vorgang, und nachdem Celeste jede Praline in der Schachtel aufgebrochen und zur Seite gelegt hatte, sagte sie: «Nein, Madame, das ist bloß Schokolade.»

«Bring mir mal die Schachtel», sagte Madame Sabina. «War keine Karte dabei? Irgendein Absender?»

Hildegard deutete auf die Innenseite des Deckels, wo mit einem kleinen Band ein Umschlag befestigt war. Ohne Umschweife riss Madame Sabina ihn auf und zog die Karte heraus. Einen Moment lang herrschte absolute Stille, während sich die Miene der Sängerin vor Zorn verzog. Die Schachtel fiel zu Boden. Ein letztes Mal blickte Madame Sabina auf die Karte, dann riss sie das Papier in vier Teile und ließ sie auf die Schachtel fallen.

«Raus!», schrie sie. «Raus, allesamt! Ich will keinen von euch sehen!»

«Aber Mama, damit meinst du doch wohl nicht mich», sagte Hildegard, doch Madame packte ihre Tochter an der Hand und warf sie zusammen mit allen anderen aus ihrer Garderobe. Von draußen hörten sie, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.

Hildegard fing an zu weinen und Fräulein Olsen ging mit ihr in eine Nachbargarderobe.

Celeste hatte die leere Schachtel und die Papierschnipsel aufgehoben, bevor sie den Raum verlassen hatte. Jetzt stand sie da und wartete auf weitere Anweisungen.

«Gib mal her», sagte Herr Gautier. Er nahm die vier Fetzen und setzte die Karte wieder zusammen. «Für Hildegard von Papa», las er laut vor. «Ich dachte immer, der Vater sei tot.» Dann erst schien er Celeste zu bemerken und wandte sich an sie: «Du hast heute Morgen wunderschön getanzt. Aber jetzt muss ich mich irgendwie wieder in die Höhle des Löwen einschleusen und das Untier besänftigen.» Er lächelte Celeste an.

Fräulein Olsen kehrte zurück und zog Celeste am Arm beiseite. «Der Ballettmeister will dich im Probenraum sehen.»

«Warum?», fragte Celeste.

«Stell dich doch nicht dümmer, als du bist. Du weißt genau, warum.»

«Nein, wirklich nicht.»

«Glaub bloß nicht, dass du irgendwelche Vergünstigungen zu erwarten hast, nur weil du heute Abend in der Vorstellung tanzen darfst», sagte Fräulein Olsen. «Du arbeitest immer noch für mich und Madame.»

Celeste fühlte Panik in sich aufsteigen. Es war eine Sache, von einem König fälschlicherweise für eine Tänzerin gehalten zu werden, aber eine ganz andere, wenn Fräulein Olsen der gleichen Meinung war.

«Ich kann nicht tanzen.»

«Da stimme ich dir zu», fuhr diese fort. «Herr Gautier aber nicht. Also geh. Und komm nicht zu spät zur Anprobe. Dein Kostüm muss für heute Abend perfekt sein.»

Celeste kam gerade von der Anprobe. Fräulein Olsen hatte behauptet, sie hätte erst heute Morgen ihre Maße genommen, aber das Trikot, dass die Näherin angefertigt hatte, war zu weit.

«Du kannst doch nicht so schnell an Gewicht verloren haben», sagte Fräulein Olsen.

Celeste wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Aber sie wusste genau, dass Fräulein Olsen bei ihr noch nie Maß genommen hatte.

«Und du bist auch ein Stück kleiner. Sag bloß, du bist zwischen dem Frühstück und dem Nachmittagskaffee geschrumpft!»

Das Kostüm wurde weggebracht.

Wohin bin ich geschrumpft?, fragte sich Celeste. Und warum glaubt hier jeder, dass ich tanzen kann. Sie zählte ihre Finger und überprüfte ihre Glieder, um sicherzugehen, dass noch alles an seinem Platz war. Sie hatte Fräulein Olsen gefragt, wo Anna sei, und die Gewandmeisterin hatte mit einem bösen Blick auf eine Holztreppe gedeutet.

Celeste blieb vor einer unscheinbaren Tür stehen, die zu einer Besenkammer führen mochte. Doch dann schenkte ihr ein kurzer Geistesblitz, so flüchtig wie ein über die Wellen hüpfender Stein, eine hart erkämpfte Erinnerung. Sie wusste, dass sie schon einmal in der Kuppel gewesen war, aber sie konnte nicht sagen, wann. Dort hatte sie eine alte Frau mit einer Nähmaschine gesehen, und die Rauledertücher, mit denen sie den Kronleuchter polierte, hatten auf einer Leine gehangen. In der Kuppel lebten Vögel – Möwen, Tölpel, Tauben, jede Menge. Jemand hatte behauptet, dort sogar einmal einen Albatros gesehen zu haben. Das war der Grund gewesen, warum sie überhaupt nach oben gegangen waren. Aber wer waren ‹sie›? Wer war damals bei ihr gewesen? Ein Bild trieb vom Rand ihrer Erinnerung weg, und als Celeste müde am oberen Treppenabsatz ankam, wusste sie wieder überhaupt nichts mehr.

Am Nachmittag war sie wie befohlen im Probenraum erschienen. Der Ballettmeister hatte mit dem Blick zu einem langen Spiegel dagesessen, dem sich der Boden zuneigte, genau wie die Bühne dem Zuschauersaal. Er hatte im Takt des Klaviers mit den Händen geklatscht, während sie nur reglos dastand und ihn verblüfft anstarrte.

«Was ist los mit dir?» Er musterte sie von oben bis unten. «Hast du abgenommen? Du kommst mir kleiner vor. Bist du krank?» Und als er ihre Verwirrung bemerkte fügte er hinzu: «Machen wir eine Pause.»

Celeste klammerte sich an die Ballettstange, als hinge ihr Leben davon ab, bis Herr Gautier schließlich kam.

«Ich wollte dir nur sagen, dass du das Beste an der ganzen Kostümprobe warst», sagte er. «In Wahrheit warst du der einzige Lichtblick.»