Unter den Wolken - Klaus Maria Fischer - E-Book

Unter den Wolken E-Book

Klaus Maria Fischer

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Beschreibung

Der Wirtschaftsjournalist David Groman wird beauftragt, einen Bildband zum 50. Jubiläum der Ecoline zu erstellen, bei der er einst angestellt war. Doch es läuft nicht rund. Seiner Kontaktperson wird plötzlich gekündigt, der neue Vorstand droht mit Massenentlassungen, Streiks legen den Betrieb lahm und einige Manager kommen unter ungeklärten Umständen zu Tode. Dann stürzt auch noch ein Flieger bei München ab. Die Ecoline trudelt auf ein finanzielles Desaster zu und Groman gerät mitten hinein in diesen Strömungsabriss. Eine Geschichte nah am Möglichen, wie sie nur ein Airliner erzählen kann.

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Als sich der Knabe begann des verwegenen Fluges zu freuen,

und den Führer verließ, und, gereizt von Begierde des Himmels,

höhere Bahn sich erkor. Die Gewalt der näheren Sonne

weichte das duftende Wachs, das der Fittiche Spulen gefüget.

Ovid, Metamorphosen

Inhaltsverzeichnis

1. Prolog – Arizona 1986

Teil I: Cleared for Takeoff

2. David Groman

3. Maike van Laake

4. Alexander von Mahler

5. Monika Greiner und Dieter Petzold

6. Dieter Petzold

7. Dirk Wallmeroth

8. Rolf Weimar

9. Jonathan Anderson

10. David Groman

11. Jonathan Anderson

12. David Groman

13. Rolf Weimar

14. Eva Debus

15. Jonathan Anderson

Teil II: Climbpower set

16. Rolf Weimar

17. Maike van Laake

18. Jonathan Anderson

19. Kurt Eder

20. David Groman

21. Jonathan Anderson

22. Dirk Wallmeroth

23. Monika Greiner

24. Maike van Laake

25. Veronica Weimar

26. Rolf Weimar

27. David Groman

28. Monika Greiner

29. David Groman

30. Jonathan Anderson

31. David Groman

32. Rolf Weimar

Teil III: Stall

33. Jonathan Anderson

34. David Groman

35. Dirk Wallmeroth

36. Veronica Weimar

37. David Groman

38. Jonathan Anderson

39. Mayday – Mayday – Mayday

40. Rolf Weimar

41. Maike van Laake

42. Robert Hunt

Teil IV: Go Around

43. David Groman

44. Hakki Akdoğan

45. Monika Greiner

46. David Groman

47. Jonathan Anderson

48. Eva Debus

49. Rolf Weimar

50. Alexander von Mahler

51. Konrad Giebel

52. Rolf Weimar

53. Dr. Archibald von Redwitz

54. David Groman

55. Epilog

56. Anhang

1. Prolog – Arizona 1986

Die Sonne spielte ein hitziges Spiel von hinten über die Sitzbänke und Köpfe der Kinder hinweg, bis auf ihr rechtes Knie. Das helle Lichtdreieck ruhte auf ihrer abgewetzten Jeans, die in schmutzigen Cowboystiefeln steckten. Das Thermometer würde heute locker die hundert Grad Fahrenheit überspringen, zum ersten Mal in diesem Jahr. Das dünne Shirt klebte zwischen der Haut ihres Rückens und dem Kunstleder des Sitzes. Das Lenkrad rutschig in den Händen. Der nächste Wagen würde eine Klimaanlage haben. Das schwor sie sich. Und ein anständiges Radio. Nicht dieses Ding mit den zwei großen Knöpfen links und rechts, dazwischen vier Stationstasten, die allesamt klemmten. Pat drehte am rechten der beiden Knöpfe, hangelte sich von Rauschen zu Rauschen und blieb bei 98FM hängen, ein halbwegs störungsfreier Sender. California Dreaming, das immergleiche Gedudel. Von wegen, braune Blätter und grauer Himmel. Gestrüpp und Kakteen links und rechts des Highways, gelegentlich ein Felsen, alle paar Meilen ein Schild mit dem Hinweis auf die nächste Abzweigung oder Ansiedlung. Sonst nichts. Arizona. Der Grand Canyon State. Meilenlange Straßen, die die Landschaft akkurat in zwei gleiche Teile spalteten. Eine Spiegelung der Ödnis entlang einer gestrichelten Mittellinie.

Der alte Pick-up-Truck kannte die Strecke auswendig. Pat lenkte ihn zweimal im Monat hier lang, um ihrer Schwiegermutter in Lake Havasu City einen Besuch abzustatten, seit ihr Mann von einem Auslandseinsatz nicht zurückgekehrt war. Sie sah in den Rückspiegel. Betsy kämmte ihrer Puppe Beauty die Haare, Jonathan ließ ein Propellerflugzeug in Tarnfarbe auf der Kante der Rückbank starten und landen. Pat ging in Gedanken noch einmal durch, was sie heute alles zu erledigen hatte. Ein Kleidchen und eine Hose für die Kleinen, Schuhe für sich. Macy’s. Ein Scheuermittel für Mom. Der Laden um die Ecke. Ein kleiner Blumenstrauß, mal zwischendurch. Doch wo zum Teufel war in Lake Havasu ein Blumenladen? Sie sah, wie der Junge auf der Rückbank die Spitfire auf der kurzen Startbahn an Daumen und Zeigefinger beschleunigte. Der Jäger löste sich vom Boden und drehte der Sonne entgegen, auf einen Fleck am Horizont zu, der sich bewegte. Die Spitfire feuerte aus ihren Kanonen. »Dck dck dck dck dck«, machte der Kleine, als sie erneut in den Rückspiegel sah. Die feindliche Maschine schien näher zu kommen. Die Spitfire blieb abrupt in der Luft stehen. Ihr kleiner Pilot griff mit beiden Händen nach ihr und führte sie beschützend gegen seine Brust, die Augen auf jenen Punkt am Horizont geheftet, der größer wurde und nun ein Brummen von sich gab.

»Mom?«

Pat hielt das Brummen für ein Geräusch aus dem Radio und drehte an einem Regler.

»Mom!«

Pat sah erneut in den Rückspiegel. Betsy unterbrach das Kämmen und lauschte dem unbekannten Geräusch, das deutlich hörbar anschwoll. Etwas blinkte zwischen Straße und Himmel auf. Motoren dröhnten. Ein Flugzeug.

»Mommy, was macht das?« Jonathans Blick wanderte zwischen dem Objekt in der Heckscheibe und seiner Mutter hin und her, seltsam unbeteiligt, als handle es sich um eine Sendung in der Flimmerkiste.

Seiner Mommy drängten sich indessen ganz andere Flimmerbilder auf. Krieg. Ein zweimotoriges Flugzeug rast auf eine Frau mit ihren Kindern zu und nimmt sie ins Visier. Der Pilot legt am Steuerknüppel einen Schalter um und drückt auf den roten Knopf, der sich darunter verbirgt. Unter der Tragfläche klinkt eine Rakete aus und macht sich auf den Weg in ihr Ziel.

Betsy weinte. Pat griff nach hinten, nach dem Ärmchen der Kleinen, doch wie beruhigend kann jemand wirken in Erwartung einer Rakete und einer Salve aus zwei Bordkanonen?

Das Flugzeug nun direkt hinter ihnen, rot wie der Knopf, den der Pilot kurz zuvor gedrückt hatte. Zwei junge Männer saßen im Cockpit, mit grünen Ohren, oder war das schon eine Einbildung aus einer anderen Welt? Knallrot war das Letzte, was sie sah. Die Schreie ihrer Kinder das Letzte, was sie hörte.

Teil I:

Cleared for Takeoff

2. David Groman

Im Spätsommer 2016 verriet mir Rolf Weimar, was aus seiner Sicht dazu geführt hatte, dass Konrad Giebel plötzlich verschwunden war und die Ecoline sich nach einem neuen Vorstandsvorsitzenden umsehen musste. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Öffentlichkeit durch die offiziellen Pressemitteilungen und einige Kommentare von Airlineexperten oder solchen, die sich dazu berufen fühlten, nur eine bruchstückhafte Vorstellung von den jüngeren Vorgängen in diesem einstigen Vorzeigeunternehmen. Es war wie aus heiterem Himmel gestürzt – dieses Bild darf man im Zusammenhang mit dem Betreiben von Flugzeugen sicherlich benutzen – und binnen kurzer Zeit zu einem Pleitegeier mutiert: einem großen Vogel, zerzaust und zerfleddert, der sich nurmehr von dem ernährt, was andere übrig lassen.

Rolf und ich trafen uns in der Altstadt von Palma. Ich hatte recht spontan ein Ticket dorthin gebucht, um mir ein paar Tage Erholung zu gönnen, nachdem klar geworden war, dass es nicht zu dem Jubiläumsbildband kommen würde, den die Ecoline bei mir in Auftrag gegeben hatte. Ein Ticket bei der Konkurrenz, dem Platzhirsch in Frankfurt. Drei, vier Tage Palma, Schlendern durch die Altstadt, nachmittags ein Eis bei Giovanni L., abends ein Spaziergang am Hafen, dann Tapas und Rosé. Danach weiter in die Berge, mit der Ferrocarril nach Sóller. Ich kenne dort ein nettes, kleines Landhotel. Oder nach Valldemossa. Der Hauch des Künstlerischen, der dort durch die Straßen weht, hat mich seit jeher magisch angezogen.

Ich wollte den weiteren Reiseverlauf vor Ort planen, saß also am dritten Tag bei einem Cappuccino im gleichnamigen Café unter den Säulen und Palmen des Innenhofs und studierte, über das Tischchen gebeugt, eine Landkarte der Insel. Den Mann, der zwei Tische weiter Platz nahm, braungegerbt, mit Einkaufstüten, die auf eine weibliche Begleitung schließen ließen, eine abwesende gleichwohl, nahm ich zunächst nicht wahr. Erst als die Bedienung durch eine mir bekannte Stimme herbeigerufen wurde, tauchte ich aus meinen Erkundungen auf, sah zu ihm hinüber und hob die Hand zum Gruß.

So kam es, dass wir uns, zufällig, überraschend und weit weg von jedem Büro und Flugzeug, erneut gegenübersaßen. Weit weg auch von den zurückliegenden Ereignissen, die so manchen an den Rand ungekannter Abgründe führten und unser beider Leben immerhin in neue Richtungen lenkten. Bei Rolf durch seinen ungeplanten Rücktritt von Amt und Beruf. Bei mir zunächst nur als leise Vorahnung und noch ohne Wissen, dass für mich an diesem kleinen Tischchen in der Altstadt von Palma eine Weiche gestellt werden würde.

»Streng genommen keine große Überraschung, dass man sich hier über den Weg läuft«, sagte Rolf. »Wenn man bedenkt, wie viele Kollegen hier jährlich immer wieder Urlaub machen oder auch nur für ein Wochenende kommen. Wie geht es dir?«

Ich spürte darin ein echtes Interesse. Es beruhte auf Gegenseitigkeit. Eine wechselseitige Anteilnahme, die sich nicht im Rahmen eines zweiten Cappuccinos abhandeln ließ, zumal wenig später die Herrin der Einkaufstüten dazukam, eine aparte Mittvierzigerin. Wir erhoben uns. »Veronica, das ist David Groman, ein ehemaliger Kollege. Er war mit der Erstellung eines Bildbandes zum Firmenjubiläum beauftragt. Wusstest du davon?«

»Ein Bildband? Nein. Davon wusste ich nichts«, sagte Frau Weimar und wandte sich mir interessiert zu. Sie kniff dabei leicht die Augen zusammen, als würde sie nachdenken; als wäre diese Information ein Stückchen, das eine Geschichte vollständiger macht. »Dann haben wir uns gewiss viel zu erzählen, Herr Groman. Kommen Sie uns doch morgen zum Abendessen besuchen. Oder haben Sie bereits andere Pläne?« Sie musterte mich mit einer Festigkeit, der ich mich nicht entziehen konnte; gleichzeitig ging von ihren Augen etwas Lebendiges, ein inneres Strahlen aus, das unwillkürlich meine Stimmung aufhellte.

»Nein. Das passt. Ich reise erst übermorgen weiter.«

»Schön. Dann um sieben?«

Ich willigte ein und stornierte in Gedanken bereits meine Tischreservierung in der Tapasbar, in die es mich seit einigen Jahren immer wieder zog, wenn ich auf der Insel war. Vermutlich konnte niemand dieser Frau etwas abschlagen.

Am darauffolgenden Tag, meinem letzten in der Stadt, verzichtete ich also auf den Spaziergang am Hafen, bestieg ein Taxi und ließ mich in die Hügel von Santa Ponça fahren. Ein herrlicher Frühsommerabend, nicht zu heiß, mit einer Chance auf Abkühlung nach Eintritt der Dunkelheit. Ich trug einen Pullover bei mir und stand mit diesem und einer Flasche Ànima Negra in der Hand am Ende einer Seitenstraße der Villengegend vor der Anlage eines geschmiedeten Eisentors von beeindruckender Größe. Dahinter lag in einiger Entfernung ein veritables Gebäude im sogenannten mallorquinischen Stil. Sogenannt, weil es sich eben nicht um ein gedrungenes Bauernhaus mit dicken Wänden aus Feldsteinen, kleinen Fenstern und flach geneigten Dächern handelte, sondern um etwas Modernes. Etwas, das Ergebnis einer jahrhundertelangen Zuwanderung und Vermischung war und im ganzen Mittelmeerraum zu Erweiterungen, Aufstockungen, vorgelagerten Freiflächen und großen Fenstern geführt hatte, ganz dem Komfortbedürfnis der Gegenwart entsprechend. Etwas jedenfalls, das über den üblichen Geldbeutel weit hinausreichte, selbst den eines Flugkapitäns.

Ich suchte nach der Möglichkeit zum Einlass, als sich die Flügel des Zugangs zu dem in Kies angelegten Fahrweg wie von Zauberhand öffneten. Ein schmuckes Cabriolet rollte von hinten an mir vorbei; Veronica Weimar, mit Kopftuch und Sonnenbrille, winkte mir daraus zu. Ein Winken wie aus einer anderen Zeit, als die Damen noch glamourös und die Fotos schwarz-weiß gewesen waren. Ich trat zügig hinter ihr auf die Einfahrt und näherte mich zu Fuß dem Gebäude, das entgegen meiner Erwartung angenehm unaufdringlich wirkte, weil es sich dem Besucher nicht frontal mit einer überdimensionierten Säulenreihe aufdrängte, sondern sich seitlich mit einem unauffälligen Eingangsbereich an den Hang schmiegte. Wie überhaupt dessen Besitzerin einen unaufdringlichen Eindruck machte, sich als Hausfrau gab, sogleich auf dem Weg zur Küche mit ihren Einkäufen, wobei ich ihr zur Hand ging. Da waren wir bereits beim Vornamen.

Als wir die Terrasse betraten, werkelte Rolf im sommerlichen Poloshirt und kurzer Hose an einer beschädigten Düse der Beregnungsanlage im Garten. Das knallige Rosa seines Shirts brachte seine Bräunung zur vollen Geltung. Eine, wie sie von einem üblichen Zwei-Wochen-Touristen nicht erreicht werden kann. Vor mir lag ein großer Pool, auf dem ein Einhorn schwamm. Auch das rosafarben. Dahinter breitete sich das üppige Grün eines weitläufig ansteigenden Geländes aus.

»Grüß dich, David. Schön, dass du gekommen bist«, sagte Rolf, der mir nun mit einer Werkzeugkiste entgegentrat.

Ich muss die Anlage wohl bestaunt haben, denn er fuhr fort, als wäre ihm der Luxus peinlich.

»Ja, unser Jardin Exceptional, das Hobby meines Schwiegervaters. Mehr Last als Freude, der ganze Aufwand.«

Da begriff ich, dass ich im Haus des Aufsichtsratsvorsitzenden Alexander von Mahler zu Gast war.

»Ich habe etwas mitgebracht«, sagte ich und hielt ihm mein Gastgeschenk entgegen.

Rolf nahm die Flasche aus der Tüte und nickte wissend. »Ein vorzüglicher Klassiker aus dem Südosten der Insel. Der passt ganz ausgezeichnet zum kleinen Weinkeller des Hauses.«

Wir nahmen an einem schweren Holztisch unter der überdachten Veranda Platz. Veronica befüllte großvolumige Kelche mit einem lokalen Rosé und dann war es an mir, zunächst meine Geschichte zu erzählen. Dass es sich überhaupt um eine solche handelt, wurde mir an diesem Abend, an dem nicht nur der Garten exceptional war, bewusst: Ein Journalist, beauftragt mit der Erstellung eines Jubiläumsbildbandes für die Airline, die er einst als die seinige bezeichnet hatte. Er dringt noch einmal in die Tiefen und Untiefen des Unternehmens vor, in dem er jahrzehntelang tätig war, betrachtet es in dieser Schärfe erstmals als Außenstehender und gewinnt dadurch ein ganz neues Bild. Eines, das in der beauftragten Arbeit keinen Platz findet. Eines, für das die letzten Seiten des Bandes gleich einer Leerstelle freizuhalten wären, für einen Textblock, der noch nicht geschrieben ist. Ein Text, in dem die Menschen in dieser Firma zu Wort kämen; einer, der hauptsächlich von ihnen erzählte, den Airlinern, von ihrem Leben, ihrem Arbeiten, ihrer Begeisterung, auch von ihrem Leiden. Das alles im Gegensatz zum restlichen Werk, in dem die großen Ereignisse, die Errungenschaften, das Aeronautische, das bei allem mitschwingt, den Vorrang haben mussten. Im Grunde kein separates Kapitel, sondern ein Text, der ganz für sich steht.

Und noch während ich von meinen Erlebnissen und Hürden bei der Fertigstellung berichtete, wollte mir scheinen, als geriete ich in diese Geschichte selbst hinein, als würde ich Teil von ihr, mit meiner kleinen Sorge um Projekterfolg und der nicht ganz so kleinen um finanzielle Sicherheit im Alter. »Aber dazu wird es ja nun nicht mehr kommen«, fasste ich, auf den Bildband bezogen, zusammen.

»Wer weiß«, sagte Veronica aufmunternd. »Eine Geschichte ist eine Geschichte. Mit allen Höhen und Tiefen. Unabhängig davon, ob sich ein CEO an einer beliebigen Stelle aus dem Staub macht. Vielleicht sollten Sie … solltest du gerade das schreiben.«

Die scheinbar belanglose Äußerung in Verbindung mit einer abwinkenden Geste ließ mich aufhorchen. Redeten wir von unterschiedlichen Dingen – ich von der Auftragsarbeit, sie von einer Erzählung – oder begann ich, mir Letzteres bereits auszumalen? Wollte Veronica mir nur Mut zusprechen, weil ich mich vielleicht etwas niedergedrückt angehört hatte, oder hatte sie mit Gespür für etwas, das in mir schlummerte, eine ernst gemeinte Anregung gemacht? Immerhin äußerte sich da die Tochter des Aufsichtsratsvorsitzenden über den ehemaligen Chef der Ecoline. Wie am Vortag hatte ich das Gefühl, ihr das nicht ausschlagen zu können.

Ich saß am Tisch ihres Vaters, Alexander von Mahlers, vielleicht sogar auf dessen Stuhl. Der Hausherr am Kopfende, mit Blick über den Pool und seinen Garten. Links und rechts aufgereiht seine Lieben. Gattin, Tochter, Schwiegersohn und Enkel. Das Miteinander entspannt, vielleicht sogar liebevoll, so stellt man sich das vor. So will man sich das vorstellen, entgegen einer Wirklichkeit, die sich üblicherweise weit weniger harmonisch gestaltet. Erst vorige Woche hätten sie hier gemeinsam Zeit mit Veronicas Eltern verbracht, erfuhr ich beiläufig. Es gelinge prima. Das Haus groß genug. Die zwei Männer bereits am frühen Morgen gemeinsam beim Golfen. Das habe es früher so nicht gegeben. Vieles sei leichter geworden, seit Rolf aus der Gewerkschaft ausgeschieden sei. Und damit war das Rumoren im Hause Weimar/ von Mahler angedeutet, wo jahrelang Unausgesprochenes vor sich hin gegärt hatte, wenn sie gemeinsam zu Abend aßen: Die Arbeit und das Kapital, am selben Tisch.

»Wer hätte gedacht, dass es überhaupt so weit kommen würde?«, sagte Rolf. Ich sah ihn fragend an. »Ich meine mit der Firma. Der Scherbenhaufen, der bleibt. Das wirft uns, sie, um Jahre zurück. Wenn sie sich überhaupt davon erholt. Falls sie nicht ganz untergeht oder übernommen wird. Konrad hätte nie den Vorsitz bekommen dürfen.«

»Rolf. Bitte. Das hatten wir doch schon«, unterbrach ihn seine Frau.

»Ich werfe das nicht deinem Vater vor, Veronica. Das weißt du. Eigentlich bin ich derjenige, der die Sache verbockt hat.«

An dieser Stelle wollte ich nachhaken, aber Rolf winkte ab und überging das Thema.

»Viele hatten ihren Anteil daran, dass es am Ende zu Konrads Ablösung kam. Nicht nur der junge Mann, der den Mut aufgebracht hatte, sich durch eine Klage dem Trauma seiner frühesten Kindheit entgegenzustemmen. Ohne die Einfädelung durch die Vorstandssekretärin und den Chauffeur wäre es jedenfalls nicht so weit gekommen.«

»Meinst du etwa Monika Greiner?«, fragte ich.

Rolf nickte. Die Sache wurde für mich immer verworrener. Veronica atmete schwer durch und schenkte uns allen nach.

Rolf fuhr fort, jetzt wieder eher an seine Frau als an mich gerichtet: »Auch ohne Dirk und Kurt Eder nicht, die mich ja geradezu genötigt haben, etwas zu unternehmen.« Dann wandte er sich mit dem vollen Glas wieder mir zu. »Ich denke, auch die Finanzchefin hat früh versucht, Schaden von uns abzuwenden. Mit ihren Methoden, innerhalb des Managements, vorsichtig, kooperativ, um nicht sich selbst unmöglich zu machen.«

»Weiß man denn heute, was genau passiert ist in den Tagen, als alles eskalierte?«, fragte ich.

Zu meiner Überraschung antwortete Veronica. »Mein Vater erzählte, dass er vom neuen Justiziar … wie hieß er noch gleich …, dass jedenfalls dieser ihn kontaktiert und um Unterstützung gebeten habe. Der Mann sei völlig überfordert gewesen und habe in ihm als Aufsichtsratsvorsitzenden seine Rettung gesucht.« Sie verdrehte ein wenig die Augen, was ich aber erst viel später deuten konnte.

Das Unerklärliche, auf das man stößt, wenn man versucht, die Zusammenhänge einer größeren Geschichte zu erfassen, liegt darin, dass das Ganze für einen Einzelnen zu groß ist. Das Gesamte zeigt sich nicht auf der Ebene des Individuums. Es wird nicht sichtbar in den Konflikten, die zwei Menschen miteinander ausfechten. Eine Airline ist wie ein Dorf. Jeder kennt jeden und alle hängen irgendwie zusammen. Ein Netz aus Fäden, die sich an manchen Kreuzungspunkten verknoten, an anderen aber nur lose aneinander vorbeilaufen. An den Knotenpunkten entsteht Halt, Stabilität, während sich die losen Überlappungen unter Belastung und Druck zu Lücken ausweiten. Löcher. Manche sagen, eine solche Firma unterscheide sich dadurch von einem Dorf, dass sie einem wirtschaftlichen Zweck folge, ein Ziel habe, dem sich alle anschließen. Doch das ist eine Illusion. Wenn ich auf mein Arbeitsleben zurückblicke, kann ich mit Sicherheit sagen, dass bei der Ecoline zu keiner Zeit alle das gleiche Ziel verfolgt haben. Oder überhaupt eines. Stattdessen bildeten sich immer wieder diese Löcher im Netz. Wenn diese aber zu groß oder zu zahlreich werden, entsteht ein einziges großes Loch. Ein Abgrund, der alles um sich herum mitreißt.

Letztlich war das der Grund, warum ich in diesem Jahr überstürzt nach Mallorca gereist war. Um Abstand zu gewinnen. Abstand zu dem, was mich mit sich mitreißen könnte. Und die entsetzliche Ahnung, dass die Handlungen weniger ausgereicht hatten, die Jahrzehnte währende Erfolgsstory unserer wunderbaren Airline innerhalb nur weniger Monate krachend zu beenden. An diesem Abend auf der Terrasse der Weimars, oder, präziser gesagt, der Familie Weimar/von Mahler, wurde mir bewusst, wie sich vieles zu einem sinnigen Ganzen verknüpfte.

Zum Schluss kam Rolf doch noch einmal auf seinen Ausgangspunkt zurück, indem er sich wiederholte: »Als Konrad Giebel Vorstandsvorsitzender wurde, das war das Ende.«

Für mich war es der Anfang der ganzen Geschichte.

3. Maike van Laake

»Und wenn Sie das nicht begreifen wollen, regelt die Demografie das Problem für uns!«, sagte der neue Vorstandsvorsitzende vor einer größeren Gruppe Führungskräfte mit einer Stimme, als würde er freundlich beim Bäcker Brötchen bestellen.

Ein einziger Satz und Maike wusste, dass sie in höchster Gefahr schwebte. Sie, und vielleicht die ganze Ecoline. Jedenfalls die Ecoline, die sie seit bald zwanzig Jahren kannte. Dass sie alle schlicht zu teuer seien, was sich das Unternehmen zukünftig nicht mehr leisten könne und werde, das war der unmissverständliche Teil der Aussage. Eine nicht unübliche Formulierung, um Personal unter Druck zu setzen, nicht aber das Management. Und was sollte die Bemerkung über die Demografie? Was hatte der allgemeine Kostendruck mit der Bevölkerungsstruktur oder deren Mortalität zu tun?

Keine Zeit, jetzt näher darüber nachzudenken. Eine Drohung jedenfalls. Zweifellos. Unverhohlen und in direktem Zusammenhang mit der Aufforderung, sich maximal flexibel und leistungsbereit zu zeigen. Jeder Einzelne. Im Arbeitsalltag, gegenüber dem Personal, hinsichtlich der vorgegebenen strategischen Ausrichtung, bis an die eigenen Grenzen und darüber hinaus, ja, bis zur Selbstaufgabe. Harte Worte wie diese waren die Ecoliner nicht gewohnt. In diesem Unternehmen ging man achtsam miteinander um. So überaus achtsam, dass ein mancher darüber spottete, sie würden sich selbst in der heftigsten Auseinandersetzung mit Wattebäuschen bewerfen. Das galt zumindest vordergründig. Die Härte des Business bekam man nur hinter verschlossenen Türen zu spüren. So war es bislang Gepflogenheit gewesen. Das wusste auch der, der rechts neben ihr stand, Konrad Giebel, und sich soeben vor den Leuten, die er brauchen würde, um seine Ziele zu erreichen, als derjenige vorgestellt hatte, der zukünftig die Geschicke des Unternehmens an der Spitze leiten würde, als Chief Executive Officer, CEO, wie diese Position seit einigen Jahren auch in Deutschland genannt wurde. Aber vielleicht ging es dem Neuen, der streng genommen gar nicht neu war, sondern das Unternehmen seit vielen Jahren bis in den letzten Winkel hinein kannte, genau darum: Die Führungsmannschaft aufzuwecken, wachzurütteln, eine Provokation, ganz gezielt, wie ein Mensch, der in einen Ameisenhaufen spuckt. Sinn macht das keinen, es sei denn, man will Ameisen nervös umherrennen sehen.

Darauf würde sie nicht hereinfallen. Maike hatte sich vorgenommen, während der Veranstaltung keinerlei Gefühlsregung zu zeigen. Jedes Stirnrunzeln, jeder verzogene Mundwinkel, jede hochgezogene Augenbraue oder auch nur ein Augenaufschlag zur falschen Zeit war fehl am Platz. Sie hatte gelernt, sich die eigene Position oder gar Meinung vollständig zu verbieten, denn das konnte jederzeit gegen einen ausgelegt werden. Das war ihre erste Lektion gewesen, damals als aufstrebende Abteilungsleiterin im Finanzressort, eingeladen, dem Vorstand die Quartalszahlen zu präsentieren. Eine Art höhere Weihe. Die Teilnehmer der Sitzung, alle Vorstände, dazu der Chefstratege und der Pressechef, der als Protokollant fungierte, hatten in Form eines U um sie herum gesessen und das Vorgetragene kommentar- und völlig regungslos entgegengenommen. Sie hatte damals geglaubt, etwas falsch gemacht zu haben. Allein ihr Vorgesetzter und Förderer, der Finanzchef F., zu dem ihr Blick irritiert gewandert war, hatte sie durch ein winziges Nicken ermutigen können, Ruhe zu bewahren. Nicht etwa durch eine provokante Frage in die Runde, wie es ihrem Naturell eher entsprochen hätte, die Herren aus der Reserve und damit sich selbst in eine Falle zu locken, was leicht das Ende ihrer noch jungen Karriere hätte bedeuten können. Erst nachdem der Vorstandsvorsitzende seine Position kundgetan hatte, war Leben in die starren Gesichter zurückgekehrt. Der eine oder andere Kommentar fiel, ein Scherz über die Frische ihres ansonsten trockenen Themas, an der Grenze zur Anzüglichkeit, auch daran würde sie sich gewöhnen müssen.

Maike hatte schon einige Leute wegen kleinster Kleinigkeiten auf dem Weg nach oben straucheln sehen. Ihr würde das nicht passieren. Doch noch bevor dieser Gedanke ausgedacht war, bevor die über Jahre antrainierten Mechanismen der Selbstbeherrschung greifen konnten, ertappte sie sich dabei, wie die Ungeheuerlichkeit der ersten Botschaft von Konrad Giebel ihren Körper zu einer Reaktion drängte. Sie erlag der Versuchung, den Kopf nach rechts wandern zu lassen und diesen hageren Mann mit dem schütteren blonden Haar zu betrachten, den sie auch ohne Absätze um ein paar Zentimeter überragte. Sie rang um größtmögliche Kontrolle über sich selbst, und während sie sich über ihre kleine Unbeherrschtheit ärgerte, führte sie ihren Kopf bedacht langsam in die gerade Position zurück, das ausdruckslose Gesicht vergleichbar dem des völlig in sich ruhenden Yogi, unter dessen Anleitung sie diese Technik im Verlauf eines zweijährigen Abendkurses erlernt hatte. Es war im Wesentlichen eine Frage des rechten Atmens, tief in den Bauchraum hinein. Und das tat sie jetzt. Einatmen – ausatmen.

Mit etwas Glück war Maike die Bewegung gelungen, in dem Sinn, dass sie reine Bedeutungslosigkeit ausstrahlte, weder Zustimmung noch Ablehnung signalisierte, ihr also nicht als eine Positionierung ausgelegt werden würde, was für die nächsten hundert Tage unerlässlich wäre. Sich loyal geben, ohne zugleich die eigene Position preiszugeben. Hundert Tage, die Frist, die allen Neuen zustand, durfte auch Giebel beanspruchen, um erste Erfolge vorzuweisen. Das war in der Politik so, das war bei der Ecoline nichts anders. Hundert Tage konnten sich verdammt lange hinziehen. Sie ließ mit unverändert gerader Kopfhaltung den Blick durch die Runde schweifen. Sechzig, siebzig Kollegen mochten es sein. Sie saßen unbewegt in ihren grauen Anzügen, und die Handvoll Frauen darunter war kaum von den Männern zu unterscheiden. Dunkelgraue Anzüge, Kurzhaarschnitte. Warum machte ihr eigener Stil – modisch-weibliche Röcke, Kleider, Blusen, Stiefel – den anderen Frauen im Management nicht mehr Mut? Aus keinem der Gesichter konnte sie eine Regung ablesen: Zustimmung, Freude, Skepsis, Entsetzen. Nichts. Die Leute, auch die jungen, schienen diese Lektion bereits gelernt zu haben.

Giebel beendete das Briefing ohne jegliche, geschweige denn wohlwollende Abschlussformel und verließ mit schnellen, fast hastigen Schritten den Raum. Sie und Meiser, der Personalchef, der die ganze Zeit über rechts von Giebel gestanden hatte, konnten kaum mit ihm mithalten. Vor dem Saal blieb Giebel stehen, nickte seinen beiden Vorstandskollegen kurz zu und ging dann seines Weges. Maike und Meiser nickten sich ebenfalls zu. Sich jetzt bloß nicht der Gefahr aussetzen, über Giebels Auftritt etwas sagen zu müssen. Sie verließen das Gebäude in unterschiedliche Richtungen, obwohl Meisers Büro in der gleichen lag wie das ihre.

Sie griff nach dem Smartphone in der Seitentasche ihres Blazers. Eingeübter Reflex nach jedem Termin. Vier Nachrichten, achtundzwanzig Mails, drei Anrufe. Einer aus dem Sekretariat. Einer von Eva. War sie schon zurück von ihrer Viertagestour? Maike hatte sie erst am späten Nachmittag erwartet. Vermutlich eine Einsatzänderung. Der nächste Termin in zwanzig Minuten mit dem Management des Flughafens. Sie würde sich beeilen müssen, um pünktlich zu sein. Giebels Satz drängte zurück in ihr Bewusstsein. Die Demografie regelt das Problem für uns. Dass er sein Gegenüber mitunter provozierte, war eigentlich nichts Neues. Giebel galt allgemein als harter Hund; sie kannte einen Kollegen, die ihr einmal im Vertrauen gestanden hatte, dass Giebel zu Beginn ihrer Zusammenarbeit versucht hatte, ihn mit sinnlos scharfen Sätzen einzuschüchtern. Genau diesen Begriff hatte er damals benutzt: sinnlos scharfe Sätze. Inhaltlich sinnfrei war ja auch der Satz heute mit der Demografie gewesen. Personalreduktion durch Aussterben? So ein Schwachsinn. Das war eine Masche von ihm, sich die Leute, die ihm zuarbeiteten, gefügig zu machen, würde aber nie und nimmer bei einer ganzen Managementgruppe funktionieren.

Das Telefon klingelte. Sie nahm das Gespräch an. »Ja?« – »Ich komme.«

Maike beherrschte die Fähigkeit, abzuschalten. Wenn sie abends das Büro verließ, war das, als würde sie einen Lichtschalter mit einem leisen klack umlegen. Sinkende Yields, klack, die überkritischen Fragen bei einer Pressekonferenz, klack, die verhaltene Unterstützung des Aufsichtsratsvorsitzenden – vermutlich nicht inhaltlich begründet, sondern ihrem Geschlecht geschuldet –, klack. Doch an diesem Abend misslang, was sie bewusst durch den Knopf an ihrer Schreibtischlampe herbeiführen wollte. Klack – Giebels Provokation vom Vormittag ließ sich nicht so einfach ausschalten.

Sie öffnete die Tür zu ihrer Wohnung. Der Flur war hell erleuchtet. Grischun, der dreifarbige Kater, schnurrte mit aufgestelltem Schwanz um ihre Beine. An der Garderobe stand ein Rillenkoffer aus Alu, das sichere Zeichen, dass Eva zurück war.

Maike rief »Hallo«, legte Blazer und Aktentasche an der Garderobe ab und ging in Richtung Küche, von wo aus ihr Eva in weißer Bluse mit Schulterklappen und dunkler Bundfaltenhose mit offenen Armen entgegentrat. »Mein Streifenhörnchen.« Sie umarmte die Frau in Kapitänsuniform mit einem Lächeln. Der vertraute Geruch abgestandener Flugzeugluft stieg ihr in die Nase. Danach goss sie sich ein Glas Wasser aus einer auf der Anrichte bereitstehenden Karaffe ein.

»Du hattest mich heute Nachmittag angerufen?«

»Eine spontane Eingebung«, antwortete Eva, »nachdem der Einsatz uns die letzten zwei Strecken nach Rom gestrichen hatte. Ich hätte was Nettes einkaufen und für uns kochen können.«

»Schöne Idee. Was gibt’s denn?«

»Leider bleibt die Küche kalt. Ich habe noch einen Anruf bekommen. Barcelona hin und zurück. Ich bin nur kurz vor dir zur Tür herein.« Eva stand vor der offenen Kühlschranktür und kramte in dessen Gemüsefach. »Ich könnte uns einen Salat mit Avocado und Hüttenkäse machen.«

»Fein. Haben wir auch noch Kürbiskerne?«

»Klar. Haben wir. Und bei dir? Wie war dein Tag?«

»Nichts Besonderes. Konrad Giebel hat sich den Führungskräften als neuer CEO vorgestellt.«

»Und, wie ist dein Eindruck?«

»Ich glaube, er hat sich einiges vorgenommen.« Maike stellte ihr leeres Glas ab. »Man wird sehen.«

4. Alexander von Mahler

Er war gerade im Begriff, sich nach einem kurzen Mittagsschlaf in seinem Arbeitszimmer einzurichten, als sein Mobiltelefon in der Hosentasche vibrierte und kurz darauf auch klingelte wie ein altmodisches Wählscheibentelefon. Dieser Klingelton war ihm immer noch am liebsten, auch wenn er ihn manchmal nicht von dem seines Tischapparates unterscheiden konnte. Frau Greiner aus Giebels Büro hatte ihn freundlicherweise eingerichtet und die Nummer auf dem Display verriet, dass der Anruf von dort kam. Gut gelaunt nahm er ihn entgegen. »Frau Greiner. Wie geht es Ihnen?«

»Guten Tag, Herr von Mahler. Danke der Nachfrage. Alles bestens hier in Frankfurt. Und bei Ihnen in Berlin?«

Er ließ sich in den Ledersessel an seinem Schreibtisch gleiten und betrachtete das Familienfoto, das auf dem Tisch stand. Neben einem Flugzeug aus Lego, das ihm seine Enkelin vor Jahren gebaut hatte. Das Bild, ein Geschenk seiner Tochter Veronica, zeigte die Familie im Garten ihres Ferienhauses, im Hintergrund der Pool. Er und seine Frau Eleonore mittig auf dem Sofa sitzend, die beiden Enkelinnen Antonia und Karla bei ihren Eltern Veronica und Rolf stehend. Sonnenuntergangsstimmung, die Porträtierten zurechtgemacht für den Abend. Sein Geburtstag. Veronica hatte dafür eigens einen Fotografen einbestellt. Seine Tochter wie immer mit Familiensinn, bis in die Details eines Erinnerungsfotos hinein, scheinbar mühelos. Für ihn bildete sie das Zentrum des Bildes. Ihr Strahlen lag im goldenen Schnitt der Aufnahme. Das Licht fiel weich von oben links auf die Gruppe und betonte die Gesichter. Veronicas leuchtete heller als alle anderen. So kam es ihm zumindest vor. Aus der frechen Göre von einst war eine richtige Dame geworden. Sie führte eine glückliche Ehe. Das sah man ihr, der Mutter, und auch ihren strahlenden Mädchen an. Rolf war ein guter Ehemann und Vater. Alles bestens in Berlin.

»Ich freue mich immer, Ihre Stimme zu hören. Und weiß schon, wenn das Telefon mit dem von Ihnen eingestellten Ton klingelt, dass Sie es sind.«

Frau Greiner lachte. »Ich hoffe, wir sehen Sie bald wieder in Frankfurt?«

»Womöglich schon in der kommenden Woche.«

»Das ist schön. Dr. Giebel würde Sie gern sprechen. Darf ich Sie durchstellen?« –

Er bejahte und sah aus dem Fenster. Hinter den Bäumen im Garten glänzte der See in der kräftigen Mittagssonne. Vielleicht würde er später noch eine Runde schwimmen gehen.

»Der Betrieb läuft«, sagte Giebel nach einer Floskel zum Wetter, das Airlinemanager gern in Bezug zum Funktionieren ihres Flugbetriebs setzen, dessen Abläufe auch im einundzwanzigsten Jahrhundert noch vom Wohlwollen der Witterung abhängen.

»Was aber viel wichtiger ist: Wir haben jetzt die finanzielle Basis, um die notwendige Restrukturierung voranzutreiben.«

»Hmm«, brummte Alexander nachdenklich in das Mikrofon seines Mobiltelefons.

»Hunt ist der ideale Partner für uns«, sagte Giebel. Er war voll des Lobes für den Investor, von dem Alexander noch nie etwas gehört hatte. Binnen weniger Minuten benutzte der CEO das Wort Renditesteigerung mehrfach. Kunde oder Mitarbeiter fiel kein einziges Mal.

»Zwei Milliarden sind für Hunt keine große Sache.«

»Sagen Sie, Giebel, wie steht Frau van Laake zu der, wie Sie sagen, ›nicht großen Sache‹?« Mehr Kritik wäre im Moment nicht angebracht. Giebel würde schon die vorsichtige Frage nach der Position der Finanzchefin als Affront wahrnehmen. Die oberste Managementriege, das wusste er selbst nur zu gut, hatte ganz feine Sensoren für Kritik und deren leiseste Anflüge. Allerdings in der Regel nicht, um sie konstruktiv anzunehmen, sondern um sie frühzeitig im Keim zu ersticken. Womöglich würde er durch seine Frage Frau van Laake in eine Position hineinmanövrieren, an der ihr nicht gelegen war. Andererseits schätzte er sie fachlich und menschlich als stark genug ein, um ein Gegengewicht zum CEO zu bilden. Schließlich hatte sie selbst Ambitionen auf den Posten.

»Herr von Mahler, was denken Sie! Wir arbeiten in dieser wichtigen Angelegenheit natürlich Hand in Hand.«

Alexander brummte erneut, diesmal deutlich vernehmbar. Man sollte am anderen Ende der Leitung hören, dass er noch nicht davon überzeugt war, was man ihm auftischte. Er und Konrad Giebel kannten sich seit bald zwanzig Jahren und er hatte dessen Bilderbuchkarriere genaustens verfolgt. Er wusste um Giebels Stärken genauso wie um seine Schwächen, und er hatte aufgrund der zweiteren ein ungutes Gefühl gehabt, als der Aufsichtsrat dem dynamisch aufstrebenden Essener den Vorsitz des Vorstandes übertragen hatte. Als exzellenter Kenner des eigenen Hauses und fähiger Airlinemanager, einer der fähigsten weltweit, war Giebel zwar grundsätzlich der richtige Mann für die Spitze. Doch neuerdings geschahen Dinge, die diese Welt binnen kürzester Zeit auf den Kopf stellten. Eine gute Steuerung des Netzes zusammen mit einem aktiven Preismanagement schien nicht mehr auszureichen, um erfolgreich zu sein. Geschweige denn eine allgemeine Qualitätssteigerung oder eine Produktverbesserung. Die Konkurrenz arbeitete mittels zwielichtiger Firmenkonstruktionen und Beschäftigungsverhältnisse immer mehr am Rande der Legalität, während die Ecoline einerseits zum Wachsen verdammt war, andererseits im Korsett strenger staatlicher Lärm- und Klimaregulierungen kaum noch zu wachsen vermochte. Als wären diese Herausforderungen nicht schon groß genug, hatte sich inzwischen auch in Europa das angelsächsische Finanzsystem etabliert. Vorbei die gute alte Zeit der Deutschland AG, in der man unter sich war, in der die Geschicke des Landes in den Händen weniger Befähigter lag, vom Geiste her allesamt Unternehmer und Führer, durchdrungen vom Gefühl der Verantwortung für das, was sie taten, und wenn es hart auf hart kam, bereit, das eigene Wohl und das der Firma dem Gemeinwohl unterzuordnen.

Inzwischen gaben zunehmend Kerle wie dieser Hunt den Ton an, die über unendliche Mittel zu verfügen schienen. Man kannte diese Leute kaum. Sie schickten junge, gebügelte Typen, die selbst große Konzerne wie die Ecoline als kleine Bausteine in einem Spielkasten betrachteten. Ein Spielkasten namens globale Welt. Jungs, die sich einen Dreck um Produkte, Kunden und Menschen scherten. Jungs, die mit Lego spielten wie einst Karla, mit Milliarden von Lego, mit Billionen von Lego. Sie bauten damit einen Turm bis zum Mond und darüber hinaus. 384.400 km. Das war ja gar nicht so weit. In etwa achtunddreißig Milliarden Legosteine. Achtunddreißig Milliarden, eine große Zahl, aber so groß nun auch wieder nicht. So dachten diese Jungs – und fingen einfach an zu bauen. Stein auf Stein. Und sie kannten nur einen einzigen Maßstab, eine einzige Kenngröße: Renditemaximierung.

Früher hätte er solche Gedanken für Hirngespinste gehalten, Verschwörungspropaganda, in die Welt gesetzt von Leuten, die von ihr und dem, was sie zusammenhielt, im Grunde keine Ahnung haben. Aber mittlerweile wurde Alexander mulmig, wenn er an diese Welt dachte, in der seine Enkelinnen aufwachsen würden. Denn diese Entwicklung hatte sich verselbstständigt, gewann zunehmend an Macht über die gesamte Wirtschaft. Macht bis in die Vorstandsetagen von Konzernen und Aufsichtsräten hinein. Er selbst hatte es zu spüren bekommen und wäre drei Tage vor Antritt seines Mandates von solchen Jungbullen fast verhindert worden. Sie hatten ihm übel mitgespielt, hatten in den Medien geschickt Verleumdungen platziert, in denen sie eine angebliche Krankheit zum Anlass nahmen, seine Befähigung für den Vorsitz anzuzweifeln. Er hatte damals Ruhe bewahrt und, nachdem er sich der unerschütterlichen Unterstützung seiner Befürworter versichert hatte, die Herausforderung angenommen. Ruhe bewahren, das war eine Eigenschaft, die heutzutage in hohen Führungspositionen gefragter war denn je. Konrad Giebel schien sie zu haben, auf den ersten Blick. Die Ecoline war immer stolz darauf gewesen, ihre Führungskräfte aus den eigenen Reihen aufbauen zu können. Das war bei Alexanders Vorgänger so gewesen, das war bei ihm selbst so und nun auch bei Konrad Giebel. Vielleicht wäre die Zeit reif für einen CEO von außen. Einen, der nicht mit allen und jedem im eigenen Laden verbandelt war, einen, der sich den Dingen vorbehaltloser hätte nähern können, einen, der frische Ideen mitbrachte. Vielleicht sogar eine Frau. Aber noch war die Zeit für eine Maike van Laake nicht reif.

»Herr von Mahler? Sind Sie noch da?«

»Ja. Sicher. Ich denke nach.«

»Wir müssen die Ecoline im globalen Markt neu ausrichten und dabei dem Protektionismus am persischen Golf Einhalt gebieten.«

»Daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern.«

»Das gelingt aber nur, wenn wir für Investoren Anreize setzen.«

Auch das war Alexander nicht neu.

»Kann ich auf Ihre Unterstützung zählen, Herr von Mahler?«

Der Aufsichtsratsvorsitzende zögerte kurz. »Gut, dann machen Sie das, wenn Sie es für das Richtige halten«, hörte er sich antworten, obwohl es ihm an Überzeugung mangelte. »Und setzen Sie den Aufsichtsrat regelmäßig in Kenntnis über das, was Sie vorhaben.«

»Selbstverständlich, Herr von Mahler.«

»Diesen Hunt möchte ich beizeiten kennenlernen. Laden Sie ihn zur nächsten Sitzung des Aufsichtsrats ein. «

»Gerne, Herr von Mahler.«

»Guten Tag, Herr Giebel.«

Zu dem bei der Ecoline bis in die Vorstandsetage hinein üblichen Du hatte er sich bei Konrad Giebel nie durchringen können. Und aus irgendeinem Grund hatte er die Vermutung, dass er diesen Hunt niemals zu Gesicht bekommen würde.

Draußen glitt ein Ruderer elegant zwischen den Bäumen übers Wasser. Er könnte später auch rudern gehen, statt zu schwimmen.

Konrad Giebel lag freundliche Zurückhaltung nicht. Der CEO hatte am Telefon beherrscht gewirkt. So als müsse er sich zurückhalten. Als wolle er sich nicht aus der Deckung wagen, weil er es sich mit ihm, dem Aufsichtsratsvorsitzenden, nicht verscherzen durfte. Weil er ihn vielleicht noch einmal brauchen würde, etwa wenn es um die große Politik in Berlin ging. Vermutlich hielt Giebel ihn sogar für einen Schwächling, legte ihm seine Kompromissfähigkeit als Nachgiebigkeit aus. Das durfte man nicht persönlich nehmen. Alexander kannte diese Haltung, der eine gewisse Selbstüberschätzung zugrunde lag, von sich selbst. Von früher. Wenn man es einmal geschafft hat, hält man sich für den Größten. Und alle anderen um sich herum für Versager. Gleichwohl, die Zeiten hatten sich geändert, waren rauer geworden und verlangten nach jemand, der fest zupackte. Giebel packte fest zu. Er hatte eine Chance verdient. Seine Lektion in Demut würde er schon noch lernen, da war sich Alexander sicher. Spätestens bei dem, wovor sich jeder CEO einer Airline fürchtete: einem Flugzeugabsturz im eigenen Unternehmen.

Beschämt ertappte er sich bei diesem schrecklichen Gedanken. Das wünschte man keinem. Auch nicht seinem ärgsten Feind.

5. Monika Greiner und Dieter Petzold

Albatrosse. An diese Vögel erinnerten die vollbepackten Langstreckenmaschinen Monika. Mit ihren hängenden Tragflächen, die sich schwertaten, dem sicheren Boden zu entkommen und ihn gegen das Abenteuer zwischen Himmel und Erde einzutauschen. Ein Abenteuer, das sie durch eine lange Nacht über der sibirischen Tundra oder Nordgrönland führen würde, bevor sie an einem fernen Ort zielsicher und elegant einschwebten. Die Routen der Riesenvögel aus aller Welt umspannten den Erdball wie ein dichtes Netz und machten ihn für die Menschen kleiner. Die Plätze, an denen sie sich versammelten, glichen einem menschlichen Herzen; ein pumpender Muskel, der einen ganzen Organismus am Leben erhält.

Auf dieses Herz hatte Monika Greiner täglich Innenansicht. Sie beobachtete, wann es schneller schlug, etwa Montagmorgen und Freitagabend; sie spürte, wenn es zu Ferienbeginn ins Stocken geriet, und sie konnte ihm zu jedem Jahresende ansehen, wie es sich von den vorangegangenen Strapazen erholte. Der fünfte Stock des Bürogebäudes im Süden des Frankfurter Flughafens bot wie kein anderer Ort eine unverstellte Aussicht über die kilometerlangen Betonpisten, auf denen die Maschinen minütlich einschwebten oder davonflogen. Monika Greiner genoss diesen Ausblick, den sie den meisten Mitarbeitern und Kollegen bei der Ecoline voraushatte. Sie liebte die Luftfahrt. Es gab keinen schöneren Job für eine Sekretärin als den in einer Airline, und es gab keinen besseren Job bei dieser Airline als ihren. Vorstandsbüro. Ein klein wenig Stolz erfüllte sie, wenn sie an ihren Weg zurückdachte, der sie bis hierher gebracht hatte, an der Seite ihres langjährigen Chefs, dessen Briefpost nun vorsortiert in der Mappe bereitlag. Dr. Giebel hatte ihr keine Beachtung geschenkt, als er vor wenigen Minuten ins Büro gekommen und wortlos in seinem Zimmer verschwunden war. Manchmal war es nicht einfach, mit seiner ruppigen Art umzugehen. Sie war die Einzige, der das auf Dauer halbwegs gelang. Sie hatte sich angewöhnt, es einfach als festen Bestandteil ihrer Arbeit zu betrachten: korrekter Umgang mit Dr. Giebel. Das funktionierte.

Hinter der geschlossenen Tür, die von Monika Greiners Reich seitlich abging, saß Dr. Konrad Giebel vermutlich am Schreibtisch und ließ seinen Blick genauso wie sie selbst über das Vorfeld schweifen, als ein A380 der Konkurrenz zur Landung ansetzte und in wenigen Fuß Höhe über dem Asphalt schwebte. Der Koloss rollte von der Landebahn.

Das Telefon klingelte. »Frau Greiner, verbinden Sie mich mit von Mahler. Bitte.« Das »Bitte« eine nachgeschobene Floskel. Es wäre zu viel gewesen zu behaupten, dass Freundlichkeit zu den Stärken ihres Chefs zählte.

»Sofort, Herr Dr. Giebel.«

Monika Greiner trug es ihm nicht nach. Im Gegenteil, wenn andere sie darauf ansprachen, nahm sie ihn immer in Schutz, forderte Verständnis ein für den Mann, der so vieles, so Wichtiges zu tun hatte, der funktionieren musste wie eine Maschine. Und sie, Monika Greiner, war die Maschinistin, diejenige, die dieses Funktionieren organisierte, bis hin zu den Geburtstagsfeiern seiner beiden Kinder. Giebel hatte es stets abgelehnt, zusätzlich einen Assistenten zu beschäftigen. Anfangs hatte sie dahinter einen Sparwahn vermutet, doch mit der Zeit war ihr klar geworden, dass ihr Chef sich schwertat, jemandem zu vertrauen. Er wollte möglichst wenig Leute um sich haben, die ihm persönlich nahekommen konnten. Manchmal verfluchte sie ihn dafür, wenn er alles auf ihr ablud, statt sich eines größeren Stabes zu bedienen, aber andererseits war sie dadurch für ihn unersetzlich. Nur durch die Besonderheit dieser Rolle war es schließlich zu erklären, dass ihr Gehalt, das Dr. Giebel zu einem beträchtlichen Teil aus einer persönlichen Kostenstelle bezahlte, über die er dem Controlling keine Rechenschaft schuldete, dasjenige anderer Chefsekretärinnen bei Weitem übertraf. Monika hatte nicht den geringsten Zweifel, dass der Erfolg der Ecoline zu einem guten Teil auf dem Wissen, Können und der unerschütterlichen Haltung ihres Chefs beruhte. So war letztlich ihr eigenes Wohlergehen gesichert, und so sollte das noch einige Jahre bleiben.

Zumindest so lange, bis sie und ihr Mann Dieter sich ein Häuschen im Süden kaufen konnten. Eine kleine Finca auf der Flip-Flop-Insel, so nannte sie das liebste Eiland der Deutschen, weil sie dort ausschließlich auf dünner Sohle mit Zehenriemchen unterwegs sein würde. Für diesen Traum lebte sie. Und durch ihre Arbeit für Giebel würde er schon bald wahr werden.

Allerdings hatte sie den Eindruck, dass ihren Wohltäter neuerdings etwas belastete. Sein Gang war einen Tick schneller als gewöhnlich, und er beugte dabei den Oberkörper nach vorne. So als müsse er gegen den Wind anrennen. Auf diese angestrengte Art war er heute in sein Büro an ihr vorbeigeeilt. Seit Tagen blickte er zudem finster drein. Sein sorgsam zur Seite gekämmtes Haar wirkte matt und schütter, die Haut glänzte blass und dünn. Zu dem, was sie als Gereiztheit bezeichnen würde, schlich sich Monika Greiner ein Wort in den Sinn, das sie sich kaum traute auszusprechen: Unsicherheit. Ihr Chef wirkte unsicher und sie konnte sich das nicht im Geringsten erklären. Privat war alles in Ordnung, soweit sie das beurteilen konnte. Auch in der Firma schien alles im Lot. Das Unternehmen erwirtschaftete respektable Gewinne. Ob es auffällig war, so oft mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden zu telefonieren, konnte sie noch nicht einschätzen. Auffällig war hingegen eindeutig, dass Dr. Giebel den Kontakt zu einem gewissen Robert Hunt pflegte. Dieser Mann tauchte in keiner Datenbank der Ecoline auf, agierte unter eigenem Namen ohne jeglichen Hinweis auf ein Unternehmen im Hintergrund und schien ausschließlich über das Mobiltelefon zu kommunizieren. Und Dr. Giebel nahm Termine außer Haus wahr, von denen sie nichts wusste. Nicht, wie lange sie dauerten, nicht, mit wem er sich traf, nicht, wer dazu eingeladen werden musste oder nachträglich in den Vorgang eingebunden.

»Sagt dir der Name Robert Hunt etwas?«, fragte sie am Abend ihren Mann, während sie Zwiebeln in der Pfanne anbriet.

Dieter lehnte mit einem Bier in der Hand an der Küchentür und schüttelte den Kopf.

»Ein Investor oder etwas in der Art«, fuhr sie fort. »Er scheint relativ häufig direkten Kontakt zum Chef zu haben. Niemand im Büro kennt ihn.«

»Nie von ihm gehört«, sagte Dieter, zuckte mit den Schultern und sog sichtlich genüsslich den Duft ein, der sich in der Küche verbreitete. »Was gibt’s denn heute?«

»Ich mache uns ein Zwiebelschnitzel. Reicht dir Brot dazu? Ich habe frisches vom Bäcker. «

Dieter nickte erfreut und fächerte sich den Duft aus der Pfanne mit der Hand zu. »Da fällt mir ein, ich habe den Chef heute ins Ostend gefahren und eine halbe Stunde später dort wieder abgeholt. Er ist in seinem maßgeschneiderten Anzug in einem tristen Sechzigerjahrebau verschwunden, ohne Aktentasche, ohne Papiere. Als er wieder herauskam, hat er mich muffig angeschwiegen, bis ich ihn im Büro abgesetzt hatte.«

Eine halbe Stunde. Die meisten Gespräche von Dr. Giebel dauern nur halb so lang. Wie konnte ihr diese Abwesenheit entgangen sein?

»Wann war das?«, fragte Monika.

»Gegen drei.«

»Da hatte er keinen Termin im Kalender. Mir hat er nur gesagt, er wäre gleich wieder da. Ich nahm an, er wäre im Haus unterwegs.«

»Meinst du, er hat eine Geliebte?«, fragte Dieter amüsiert.

»Im Ostend? Und lässt sich von dir zu ihr fahren? Für eine halbe Stunde, nach der er schlecht gelaunt zurückkommt? Wohl kaum. Ich würde zu gern wissen, was da los ist.«

»Mürrisch ist er doch öfter«, sagte Dieter Petzold. »Aber schon komisch. Sonst sucht er doch immer den großen Auftritt, will chauffiert und hofiert werden, braucht Säulenhallen, rote Teppiche und Empfangskomitees. Der prahlt ja noch vor mir im Wagen mit den großen Zahlen, mit denen er hantiert. Siebenhundert Millionen Gewinn, zwanzig Milliarden Umsatz, siebzigtausend Mitarbeiter.«

Monika Greiner nahm die Zwiebeln aus der Pfanne und legte unter heftigem Zischen zwei Schnitzel aus dem Kühlschrank in das Bratenfett. »Du magst ihn nicht, ich weiß. Aber wir verdanken ihm viel.«

6. Dieter Petzold

Dieter ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Er war nun seit drei Jahren Cheffahrer und hatte schon einiges erlebt mit den Herren. Hatte deren Kinder gefahren, hatte die Eheleute bis nach Südfrankreich chauffiert, hatte Fahrten mit gut aussehenden jungen Frauen gehabt, die keinesfalls die Gattinnen der Vorstände gewesen sein konnten. Was die sich alles herausnahmen! Seine Frau hatte recht. Es konnte, ja, es musste ihm egal sein, ganz gleich, was er persönlich von den Herren hielt. Er wurde fürs Fahren bezahlt und dafür, dass er für sich behielt, was er sah und hörte. Da war sein Job dem seiner Frau nicht unähnlich. Ihr hatte er viel zu verdanken, nicht Giebel. Sie war es gewesen, die ihm nach seiner Arbeitslosigkeit vor elf Jahren einen Job bei der Fahrbereitschaft der Ecoline besorgt hatte. Den neuen CEO hatte er quasi vom Vorgänger geerbt. Reiner Zufall, dass es sich dabei um Monikas Chef handelte.

Wer hätte jemals gedacht, wohin sich das entwickeln würde, als sie sich vor vierzehn Jahren in der Altstadt von Palma über den Weg gelaufen waren. In der Warteschlange einer Eisdiele, zwei deutsche Touristen mit dem gleichen Dialekt. Auf den ersten Blick schien es unvorstellbar, dass sie zueinander passen könnten. Ein Hüne mit Händen wie Pranken und die zierliche junge Frau. Ob es damals Zufall gewesen war, der sie am darauffolgenden Tag zur selben Zeit an denselben Ort geführt hatte, oder die Hoffnung, sich wiederzusehen, wusste er nicht mehr mit Sicherheit zu sagen. Die Zeit schreibt die Geschichten neu. Aber er erinnerte sich noch genau daran, wie er sie mit Leichtigkeit in die Luft gehoben und sie wie ein Karussell herumgewirbelt hatte, wenn sie sich gemeinsam über etwas freuten. Sie mochte das. Und wurde schließlich zu seiner Flip-Flop-Monika. Auf der Insel nur in Schlappen. Ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo sie überwiegend auf hohem Fuß unterwegs war. Die Flip-Flop-Monika war sie heute noch für ihn. Wenn sie keine hohen Schuhe trug, wirkte sie geradezu zerbrechlich, als müsse sie beschützt werden. Seit damals waren sie fast jedes Jahr an den Ort ihres Kennenlernens zurückgekehrt. Und nie hatten sie die Eisdiele ohne Schlange davor erlebt. Sie bestellte eine Waffel mit einer Kugel Pistazie. Er wählte einen Becher mit Malaga, Amarena und Stracciatella. Damit gingen sie hinüber zum Rathaus und setzten sich auf das Mäuerchen bei der alten Olive, wohl die älteste auf Mallorca. Eine Abweichung von diesem Ritual war inzwischen kaum denkbar. Noch ein paar Jahre, dann würden sie sich auf der Insel niederlassen, würden zu Señora Monica y Señor Dieter werden. Bei ihrer Hochzeit vor sechs Jahren hatte Monika darauf bestanden, ihren Mädchennamen zu behalten. In Spanien war das üblich. und wenn er an ihre Stellung in der Firma dachte, war das womöglich gut so.

Ein Foto von Flugzeugleitwerken der Ecoline erschien auf dem Fernsehbildschirm. Die Nachrichtensprecherin berichtete von der Ankündigung einer großen Umstrukturierung im Unternehmen. Notwendig, um es zukunftsfähig zu machen. Details seien bislang nicht genannt worden.

»Monika, hörst du das?« Er rief in Richtung Küche, als sie bereits das Wohnzimmer betrat, barfuß, mit einer Schüssel in der einen und einem Handtuch in der anderen Hand. »Weißt du etwas darüber?«

Monikas Mundwinkel wanderten nach unten. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

Nachrichten über die Firma, die landesweit über den Bildschirm liefen, ohne dass davon intern längst gesprochen wurde, zumindest gerüchtehalber, das war äußerst ungewöhnlich. Und tagesschaureife Neuigkeiten, von denen selbst sie nicht die leiseste Ahnung hatten, das hatte es noch nicht gegeben.

Die beiden starrten weiter auf den Bildschirm, als die Nachrichtensprecherin das Thema wechselte.

»Das ist kein gutes Zeichen«, sagte Monika.

»Kein gutes Zeichen – für wen?«

»Das wird sich zeigen.«

7. Dirk Wallmeroth

»Was haben wir heute?« Dirk warf einen Blick auf den Zettel vor sich, dann einen in die Runde. Er zählte fünf Menschen. Einschließlich seiner Person. »Peter hat noch Urlaub, soweit ich weiß, und Andrea kurzfristig einen Einsatz, richtig?«

»Ja«, sagte eine Stimme. »Personalknappheit auf der A320-Flotte. Und Tobias hat sich heute Morgen krank gemeldet.«

Dirk nickte und las. »Beendigung von Stationierungen in Stuttgart, personelle Integration der fünf Regionalflugzeuge von Fürth Air, Sondierung unserer Position zu den anstehenden Vergütungstarifverhandlungen.« Er schob das Papier von sich und atmete hörbar schwer aus.

Die Tarifkommission der Ecoline tagte turnusmäßig jeden letzten Donnerstag eines Monats in den Geschäftsräumen der Vereinigung deutscher Piloten, kurz VDP. Dirk, ihr derzeitiger Vorsitzender, hatte wie alle seine anwesenden Kollegen einen Doppeljob. Zum einen flog er im Liniendienst der Airline, zum anderen war er für seine Tätigkeit bei der Gewerkschaft vom Flugdienst freigestellt. Mehr als ein Nebenjob, wenn man der Geschäftsleitung auf Augenhöhe begegnen wollte. Zumal wenn man wie heute personell unterbesetzt war. Sich einer grundsätzlichen Haltung zu einem Thema anzunähern ohne Tobias, ihren promovierten Betriebswirt, und ohne Andrea, seines Wissens die einzige Copilotin in der Firma mit juristischem Examen, das machte keinen Sinn.

Dirk war ein Mann wie ein Klitschko. Groß, sehr groß, raumfüllend. Alles an ihm, dem ehemaligen Handballer, dem Kreisläufer der Regionalliga, zielgerichtet, massig, wurfstark, mit Durchsetzungsvermögen, siegorientiert. Dirk war auch im richtigen Leben auf Angriff, vorzugsweise mit dem Rücken zum Tor und innerhalb der gegnerischen Abwehr. Wenn er sich plötzlich drehte, fand sein Wurf oft das Ziel. Es war immer sein Traum gewesen, Pilot zu werden. Dafür hatte er alles getan. Wochenlange Vorbereitung, Mathe, Physik, Englisch, Übungen beim Segelfliegen, Halbkreise mit konstantem Sinkflug um eintausendfünfhundert Fuß, das macht eine Sinkrate von tausend pro Minute bei einem Turn von zwei Grad pro Sekunde. Gleichzeitig eine Reihe von Rechenaufgaben 29 mal 7, 16 im Quadrat, 276 geteilt durch 3, minus 23 mal minus 3.

Seine Körpergröße von eins fünfundneunzig war bei der Einstellung ein Problem gewesen, zwei Zentimeter zu groß, also hatte er zwei Wochen vor dem Test täglich Kopfstand gemacht, mit Gewichten an den Füßen. In Kombination mit einer leicht eingesunkenen Körperhaltung sollte das Vorhaben gelingen. Früher hatte die Ecoline die Ausbildung der Piloten nahezu vollständig finanziert, doch als er in die Eliteschule eintrat, hatte er bereits einen Großteil der Kosten selbst tragen müssen. Ein Kredit, der ihm auch heute noch, nach zehn Jahren, einen beträchtlichen Teil seines Monatseinkommens abverlangte. Das lag auch daran, dass er nach der Ausbildung nicht, wie versprochen, direkt einen Arbeitsplatz bekommen hatte, sondern sich zunächst zwei Jahre als Flugbegleiter hatte verdingen müssen. Als es dann schließlich so weit gewesen war, den ersehnten Platz im Cockpit einzunehmen, hatten sie ihm einen deutlich schlechteren Vertrag angeboten als ursprünglich vereinbart. Spätestens von diesem Zeitpunkt an war ihm klar gewesen, dass die Ecoline kein anständiges Unternehmen war. Doch ein Dirk Wallmeroth lässt sich nicht ausbeuten. Ein Dirk Wallmeroth kämpft, rackert sich ab, setzt sich durch und wartet auf seine Chance. Er geht in den Kreis, er tritt der Gewerkschaft bei, wird aktiv und lässt sich in die Tarifkommission wählen, jenes Gremium, das mit dem Arbeitgeber die Vertragsbedingungen aushandelt. Der Sportler Wallmeroth macht seine Sache gut und überzeugend. Schon bald sitzt er mit dem Management der Ecoline am Tisch und verhandelt: Gehälter, Arbeitsbedingungen, Altersvorsorge. Anfangs glaubt er irrtümlich, es gehe um die Menschen, um ihn selbst. Doch er lernt schnell. Für die Firma geht es um Geld, um viel Geld, nur um Geld. Den Menschen ist hierbei kein Wert zugedacht. Also übersetzt er den Wert des Menschen in einen zu zahlenden Preis. Und dafür kämpft er seither, bis der Ball bei ihm landet. Dann wird er mit einer überraschenden Wendung ausholen, das Leder mit voller Wucht in die freie Ecke des Tors schleudern und den Keeper alt aussehen lassen. So stellt er sich das vor. Hart, aber fair.

Allerdings spielte die Gegenseite von Anfang an nicht nach seinen Regeln, denn es ging um unvorstellbar viel Geld. Milliarden. Er wurde gefoult, ein ums andere Mal. Zusagen wurden gemacht, an die sich im Nachhinein keiner mehr erinnern konnte oder wollte, der Presse wurden falsche Sachverhalte zugespielt. Ja, sie schreckten auch nicht davor zurück, den Leiter der Tarifkommission zu denunzieren und in der ganzen Firma Stimmung gegen ihn und seine Berufsgruppe zu machen. Foul um Foul. Früher hätte er sich fragend nach dem Schiri umgesehen. Doch im echten Leben gab es keinen Schiri. Das echte Leben musste man selbst in die Hand nehmen. Also nahm er es in die Hand und foulte zurück. Dieses Spielfeld war kein Ort für moralische Fragen, es glich eher einem Schlachtfeld und es zählte nur eins: der Sieg. Ohne Schiri wurde es hart. Sollte es doch hart werden. Er, Dirk Wallmeroth, war bereit. Er wusste, was sein früherer Trainer dazu sagen würde: Bei wiederholten gegenseitigen Fouls ist der Schaden auf beiden Seiten größer als der Nutzen. Man muss an das nächste Spiel denken. Es gibt immer ein nächstes Spiel. Aber was für ein Scheißspiel war das, ohne Schiri, ohne Trainer und offenbar auch ohne Regeln?

Es kam neuerdings auffallend häufig vor, dass Kollegen kurzfristig zum Fliegen eingeteilt wurden, wenn Sitzungen anstanden, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn die Ecoline ihre Personalknappheit vorschob, um besonders Gewerkschafter zu nötigen, wie jetzt Andrea. Denn das war die Abmachung: Fliegen geht in der Not vor.

Die Tür ging auf, und die Pressesprecherin platzte in das Meeting. »Seht mal, was gerade hereinkommt. Eine Pressemitteilung: Ecoline richtet sich neu aus, Ecoline muss sparen, Die Zukunft steht auf dem Spiel. Dazu ein Interna, die Ankündigung einer großen Personalversammlung in der Wartungshalle. Unterzeichnet von allen Vorständen.« Ihre Stimme überschlug sich, als sie Zukunft sagte, sodass sie das Wort wiederholte. Ihr ganzer Körper war in Bewegung. Dirk hatte den Eindruck, dass sie sogar zitterte.

»Zu welchem Thema?«, erkundigte er sich.

»Schwer zu sagen. ›Die Zukunft stellt uns vor große Herausforderungen. Wir werden uns ihnen stellen‹, schreibt Giebel. Das ist alles. Man munkelt, dass er das ganze Unternehmen umstrukturieren will.«

»Und Rolf weiß davon nichts?«

»Der ist noch im Urlaub«, erwiderte die Pressesprecherin.

»Er hätte bestimmt angerufen, wenn er etwas wüsste«, meldete sich eine Stimme aus der Runde zu Wort, die Dirk keiner Person zuordnen konnte. Zu sehr war er bereits in Gedanken versunken, was es bedeutete, wenn der Vorstand eine überraschende Personalversammlung ankündigte, ohne dass Rolf Weimar darüber Bescheid wusste.

»In der Wartungshalle? Bist du sicher?«, hakte er nach.

Die Pressesprecherin sah auf den Zettel, den sie in der Hand hielt. »So ist es.«

Die riesige Halle, in der an den Flugzeugen geschraubt wurde. Platz für Tausende. Ein ungewöhnlicher Ort für eine Versammlung.

»Wisst ihr was? Wir kommen heute nicht weit ohne Andrea und Tobias. Lasst uns das vertagen und ich versuche, Rolf im Urlaub zu erreichen.«

8. Rolf Weimar