Unter der Haut - Naomi Alderman - E-Book

Unter der Haut E-Book

Naomi Alderman

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Beschreibung

15 der beeindruckendsten und talentiertesten Schriftsteller der Gegenwart erzählen in diesem Buch ihre ganz persönliche Geschichte über den Körper: Naomi Alderman etwa entschlüsselt die Antwort des Darms auf moderne Essgewohnheiten, A. L. Kennedy erforscht die erstaunliche Merkfähigkeit der Nase und Thomas Lynch feiert die Gebärmutter als Wunder der Natur, während Philip Kerr die bemerkenswerte Geschichte der Gehirnchirurgie ergründet. Wie verhält man sich bei Schilddrüsensturm, und welches Ohr brachte es in der Literatur zu besonderer Berühmtheit? »Unter der Haut« lädt ein zu einer literarischen Reise durch die geheimnisvolle Landschaft unseres Körpers: berührend, witzig, informativ und überraschend.

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Seitenzahl: 178

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Buch

15 der bemerkenswertesten SchriftstellerInnen der Gegenwart erzählen in diesem Buch ihre ganz persönliche Geschichte über den Körper: Naomi Alderman etwa entschlüsselt die Antwort des Darms auf moderne Essgewohnheiten, A. L. Kennedy erforscht die erstaunliche Merkfähigkeit der Nase, und Thomas Lynch feiert die Gebärmutter als Wunder der Natur, während Philip Kerr die bemerkenswerte Geschichte der Gehirnchirurgie ergründet. Wie verhält man sich bei Schilddrüsensturm, und welches Ohr brachte es in der Literatur zu besonderer Berühmtheit? »Unter der Haut« lädt ein zu einer literarischen Reise durch die geheimnisvolle Landschaft unseres Körpers. Ein Fest des Lebens: berührend, witzig, informativ und überraschend.

Informationen über die AutorInnen finden Sie am Ende des Buches.

UNTER DER HAUT

Eine literarische Reisedurch unseren Körper

Aus dem Englischen von Klaus Berr, Ingo Herzke und Nathalie Lemmens

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Beneath The Skin« bei Profile Books Ltd, London.Die Autoren und der Verlag weisen darauf hin, dass Eigennamen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte verändert wurden.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Originalverlag: Profile Books, London, in association with

Wellcome Collection, London

Das Copyright der einzelnen Beiträge liegt bei den Autoren

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Vizerskaya/getty images

Illustrationen im Innenteil: siehe Bildnachweis

Redaktion: Regina Carstensen

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24100-1V001

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Inhalt

Einleitung * Thomas Lynch

Verdauungstrakt * Naomi Alderman

Haut * Christina Patterson

Nase * A. L. Kennedy

Blinddarm * Ned Beauman

Auge * Abi Curtis

Blut * Kayo Chingonyi

Gallenblase * Mark Ravenhill

Darm * William Fiennes

Niere * Annie Freud

Gehirn * Philip Kerr

Lunge * Daljit Nagra

Ohr * Patrick McGuinness

Schilddrüse * Chibundu Onuzo

Leber * Imtiaz Dharker

Gebärmutter * Thomas Lynch

Zitat-Nachweis

Bildnachweis

Über die AutorInnen

Einleitung Thomas Lynch

»Einen Körper zu haben, heißt leiden lernen«, schrieb Michael Heffernan in seinem Gedicht »In Praise of It«. Das ist die erste Zeile des vorletzten Gedichts im ersten seiner inzwischen vielen Gedichtbände – ein Werk, das, wie viele schmale Lyrikbücher, auf fünf Kontinenten ignoriert wird, von einem Autor, der international unbekannt ist, der aber nichtsdestotrotz wie zufällig auf eine Wahrheit gestoßen ist, und zwar: Nur im Körper wohnen unsere Sehnsüchte, unsere Sorgen, unsere Freuden. Wenn das Herz gebrochen ist, versteckt es sich unter dem Brustbein, gut verpackt im Herzbeutel pocht es seine jambische Melodie. Vorwiegend in den Knochen lechzen wir nach der Umarmung durch einen unserer Art oder spüren die Überbleibsel uralter Wunden, früherer Schäden, längst gewonnener oder verlorener Kriege. Und nur durch die Körperteile schleicht sich die Sterblichkeit in unseren Niedergang – der Krebs oder der Herzstillstand, der Infarkt, das Aneurysma oder die Embolie. Wir sind eine fleischgewordene Art, Verkörperungen, ins Leben gebracht durch die Interaktion anderer Körper, ihrer Teile und Erscheinungen, Bindungen und Durchdringungen, dem Funktionieren ihrer geheimnisvollen Bestandteile und Vereinigungen.

Sogar das Wort, behaupten wir im Glauben, kann Fleisch werden.

Und obwohl wir Männer und Frauen aus Teilen sind, so sind wir auch, in unserem eigenen Fleisch, einzigartige Unternehmungen, Unikate des Strebens. »Drei Kubikfuß Knochen und Blut und Fleisch«, wie Loudon Wainwright in seinem Song »One Man Guy« für seinen Sohn Rufus schrieb, der damit das neue Jahrhundert besang.

Diese Essaysammlung möchte also einiges zum Verständnis des Menschseins beitragen, indem sie seine körperlichen Einzelteile untersucht. Was an den Eingeweiden oder der Hirnschale macht uns zu dem, was wir sind?

War es die schlechte Herzklappe oder der Klumpfuß, die verkrebste Blase oder die hohen Wangenknochen, die den reichen inneren Verlauf unserer persönlichen Erzählung geformt haben? Wir können nur raten. Die Augen unserer Mutter. Der Haaransatz unseres Vaters. Die Sommersprossen, die Füße, das Herzversagen? Wer kann wissen, wie wir wurden, wer wir sind.

Wir haben ein kleines Verzeichnis der üblichen Verdächtigen angelegt, die gemeinsamen Systeme der größeren und einiger kleinerer Kreaturen: Gedärm und Lunge, Gallenblase und Haut, innere Organe und äußere Teile, in der Hoffnung, dass wir, indem wir die Teile kennenlernen, mehr über die Gesamtheit unseres Dilemmas und unseres Zustands erfahren.

Wie kann es sein, dass die Teile, die aktiv sind, wenn ein präsidialer Tweet losgeschickt wird, am nächsten Abend Rachmaninows zweites Klavierkonzert darbringen können? Und wenn das Herz eine wohlfeile Metapher für Liebe und Sehnsucht, für Leid und Trauer, für den Kern des Seins ist, was können wir dann für die Zeichenhaftigkeit der Hirnanhangdrüse ins Feld führen? Oder wenn – zumindest im Englischen – der Mut im Gedärm verortet wird und die Seele vielleicht im Kleinhirn, was repräsentiert dann, so könnten wir uns fragen, der erste Teil des Dünndarms, der Zwölffingerdarm, das Duodenum? Dient er vielleicht dazu, unser Interesse für Etymologie zu fördern? Das Mittellatein, aus dem der Name stammt – duodeni bedeutet »je zwölf« –, verweist auf die Tatsache, dass, soweit es den Dünndarm betrifft, die Größe wichtig ist: Die Breite von zwölf Fingern entspricht in etwa der Länge des Duodenums.

Wir sind Ganze und Teile, einer von einer Art, und einer von einer Art. Trotzdem ist der Körper die Entität, in der ein Teil etwas Wesentliches über das Ganze verrät, und das ist der Grund, warum Schriftsteller und Leser, ebenso wie Mediziner und Anatomen danach streben sollten, die Details unserer Verwirrung und unseres Seins zu verstehen.

Michel de Montaigne, der Vater des modernen Essays, empfahl in seinem Bemühen, seinesgleichen zu verstehen, die Methode des Prüfens und Messens, wie er in seinem meisterhaften Essay Von der Reue schrieb: »Jeder Mensch trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich.« Hoch oben in der Bibliothek seines Solitariums studierte er seinen Körper, seine Sinne und Geräusche, Gase und Gelüste, Sehnsüchte, Wünsche. In diesem Geiste sind hier also einige Kleinigkeiten, geringe Gewichte, ein Versuch, die Menschheit zu verstehen, indem man sich das menschliche Wesen anschaut, dieses weise Wesen, das sich Mensch nennt, durch die Betrachtung seiner Teile zu begreifen.

Verdauungstrakt Naomi Alderman

In der räumlichen Nähe von Anus und Genitalien liegt Freud zufolge der Ursprung vieler, wenn nicht gar aller menschlichen Neurosen. Heutzutage ist es modern, sich von Freud zu distanzieren. »So weit würde ich nicht gehen«, heißt es dann und »Natürlich war Freud von Sex besessen«. Aber ich würde so weit gehen, und die meisten Menschen sind von Sex besessen.

Ehrlich gesagt, der Verdauungstrakt ist ein Problem. Was dort geschieht, ist nicht nur rätselhaft und verwirrend – wie größtenteils alles, was unsere inneren Organe tun –, sondern für uns auch schwer zu ertragen. Und wenn wir erst einmal anfangen, uns mit der Symbolik des Darms zu beschäftigen, könnten wir eine Ahnung davon bekommen, was Freud gemeint hat.

Am oberen Ende des Verdauungstrakts befindet sich der Mund – ein herrlicher Ort vielfältiger Freuden. Und am unteren der Anus. Hier werden Fürze produziert, die den Gestank von Verwesung, Fäulnis und Gift verbreiten. Genauso eklig riecht der Kot, den er absondert, ein klebriger, stinkender brauner Schadstoff voller Krankheitserreger. Der aus uns herauskommt! Und zwar nicht irgendwo aus unserem Körper, sondern aus einer Öffnung unmittelbar neben jenen Körperteilen, die uns so großes Vergnügen bereiten, deren Entwicklung Erwachsensein bedeutet, die fähig sind, neues Leben zu erschaffen. Es erscheint wie ein grausamer Witz der menschlichen Biologie, uns von den Höhen in die Tiefen hinabzustürzen und uns in Erinnerung zu rufen, dass wir, ganz gleich, welche Ekstase wir auch erleben mögen, im Wesentlichen und zu jeder Zeit voller Scheiße sind. Deswegen ist Kot auch so lustig. Deswegen müssen wir darüber lachen. Wenn wir nicht lachten, würden wir weinen.

Für Ernest Becker, Autor des mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Werks Dynamik des Todes, sind der Anus und der Kot, den er hervorbringt, mehr als nur ein Witz – sie sind Auslöser von Furcht und Schrecken. Ein Sinnbild für die Zersetzung des Fleisches, jenes Schicksal, das uns allen bevorsteht. »Was bin ich?«, könnte ein Kind sich fragen. »Ich bin etwas, was schöne, glänzende, gesunde, köstliche, farbenfrohe, herrliche Lebensmittel zu sich nimmt. Und was passiert dann? Ich verwandle sie in Scheiße.« Das ist die Unausweichlichkeit des Zerfalls im Kleinen, Alltäglichen. Es ist die Unausweichlichkeit des Todes. »Der Anus und sein unbegreifliches, ekelhaftes Produkt illustrieren nicht nur den physischen Determinismus und das Gefesseltsein, sondern das Schicksal alles Leiblichen: Es muss verfallen und sterben.«

Die dreijährige Tochter einer Freundin fragte einmal ihre Mutter, was mit der Nahrung geschehe, die sie zu sich nimmt. »Dein Körper gewinnt daraus Energie, und dann verwandelst du sie in Kacka«, antwortete ihre Mutter. Die Tochter brach in Tränen aus und ließ sich nicht mehr beruhigen. »Nein, Mami, nein, nein«, wiederholte sie unentwegt. »Nein, nein, nein.« Derselbe Aufschrei wie in Julian Barnes’ Nichts, was man fürchten müsste, wo der Autor seine Thanatophobie – seine Angst vor dem Tod – schildert, als er nachts aufwacht, »allein, mutterseelenallein, drosch ich mit der Faust auf das Kissen ein und schrie ein endlos jammerndes ›O nein o nein O NEIN‹«. Scheiße ist Tod. Der Tod ist eine ernsthafte Sache. Wir müssen über Scheiße lachen. Wir dürfen sie nicht ernst nehmen, weil sie so ungeheuer ernst ist.

Mund, Anus und dazwischen die Gedärme, die Schönheit in Fäulnis und Genuss in Abscheu verwandeln. Hier kommt es hart auf hart in unserer Beziehung zu unserem Körper – hier werden wir jeden Tag aufs Neue mit jenem Zerfall, jener Verwesung konfrontiert, die unsere letzte Bestimmung sind. Körper sind geheimnisvoll, wir sind uns selbst ein Rätsel. Aber hier im Darm tritt das augenfällige Mysterium am offensichtlichsten zutage. Wenn ich fähig bin, Lebensmitteln so etwas anzutun, was um Himmels willen bin ich dann?

Als ich Anfang zwanzig war, wurde meine Mutter, damals Mitte fünfzig, mit einer Darmruptur ins Krankenhaus gebracht. Der Grund für den Riss in ihrer Darmwand konnte nie ganz geklärt werden. Vielleicht lag es an einer infizierten Darmfissur. Vielleicht an einer Schwachstelle, hervorgerufen durch den Kaiserschnitt, mit dem ich Jahre zuvor auf die Welt geholt worden war. Vielleicht aber auch an etwas ganz anderem. Achtzehn Monate lang musste sie einen Kolostomiebeutel tragen, während ihr Darm heilte. Eine solche Erfahrung führt einer Familie die Funktionsweise des Darms unmittelbar vor Augen. Die Mutter meiner Mutter erlitt ebenfalls mit Mitte fünfzig eine Form von Darmruptur. Und so blicke ich auf meinen Bauch und frage mich, was er wohl für mich bereithält.

Aber damit nicht genug. Hätte ein Romancier die Geschichte meiner Familie geschrieben, könnte man bemängeln, dass die Symbolik rund um Magen, Darm und den Verdauungsprozess ein klein wenig übertrieben, eine Spur zu plump geraten wäre. Ein naher Verwandter von mir wurde mit einer Pylorusstenose geboren – einer der Schließmuskel seines Magens öffnete sich nicht –, und seine ersten Lebenstage waren eine endlose Abfolge langer, dramatischer schwallartiger Brechanfälle, während seine Mutter den Arzt davon zu überzeugen versuchte, dass mit ihm wirklich etwas nicht in Ordnung war. Er musste operiert werden, als er kaum ein paar Tage alt war, ein winziges Baby mit einer langen, breiten Narbe quer über dem Unterleib.

Und dieser widerspenstige Magen ist nur die eine Seite der Medaille. Es gibt auch die anderen Mägen, die nur allzu aufnahmefreudigen, allzu effizienten, die bereitwillig jedes Nahrungsmittel willkommen heißen. Ich bin dick. Mein Vater ist dick. Meine Großmutter war dick. Meine Tante war dick, bevor sie ein Weight-Watchers-Coach wurde. Die Erzählungen unserer Familie kreisen alle in einem dichten Geflecht um Essen und Nicht-Essen, um Verdauen und Nicht-Verdauen, um die Frage, wie Nahrungsmittel dazu gebracht werden können, den Körper zu passieren oder darin zu verbleiben.

Aber das, scheint mir, ist nicht allein auf meine Familie beschränkt. Unsere Kultur ist besessen von Ernährung und Diäten. Wir erschaffen immer üppigere Machwerke aus Fett und Zucker – hat vielleicht jemand Appetit auf einen Cronut, ein Gebilde aus buttrigem Croissantteig, der ausgebacken wird wie ein Donut? Und gleichzeitig ersinnen wir immer strengere Ernährungsvorschriften, von zwei Fastentagen pro Woche bis hin zum Aufschneiden gesunder Bäuche, weil Fettleibigkeit heutzutage als vollkommen inakzeptabel gilt. Wir sehen Promiköchen dabei zu, wie sie im Fernsehen Schokoladensoße, Honig oder Butter auf ihre Speisen träufeln, und dank Jamie Olivers keckem Naked Chef, Nigella Lawsons verführerischem Auftreten oder Gordon Ramsay, der sich im Intro seiner Show The F Word die Kleider vom Leib reißt, assoziieren wir Nahrung mit Sex. Zugleich verzeichnen wir immer mehr Essstörungen, und das gesellschaftliche Schönheitsideal wird dünner und dünner, befeuert durch Photoshop, das einspringt, wenn echte Körper nicht mehr dünn genug aussehen. Allein im vergangenen Jahr ist die Zahl junger Menschen, die in Großbritannien mit Essstörungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden, um acht Prozent gestiegen.

Unablässig sorgen wir uns um Essen, Verdauung und unsere Mägen. Der Darm steht im Zentrum unserer Ängste; und diese Ängste verraten so einiges über uns. Sich wegen einer Sache zu ängstigen, heißt, von ihr besessen zu sein. Wenn Ihre Gedanken ständig um ein bestimmtes Thema kreisen, bedeutet das, auf einer gewissen Ebene genießen Sie es, daran zu denken. Aber was haben Lebensmittel und Nahrungsaufnahme an sich, dass uns der Gedanke daran so sehr befriedigt?

Ich vermute, es hat etwas mit Thanatos zu tun. Schon früher wurde darauf hingewiesen, dass die Menschen des Viktorianischen Zeitalters vom Tod besessen waren, es jedoch nicht ertrugen, über Sex zu reden, und bei uns ist es genau umgekehrt. Zufluss, Abfluss. Wir reden über Essen, Jugend und Sex. Den Beginn der Dinge. Wir leben in diesen Anfängen, als könnte der erste Frühlingstag ewig dauern. Wenn wir uns nur auf die Nahrungsaufnahme konzentrieren – Esse ich genug oder zu viel, und sind es auch die richtigen Lebensmittel? –, können wir unsere Exkremente einfach mit einem sauberen Wasserschwall wegspülen, ohne jemals wieder daran zu denken – oder an das, was sie verkörpern. Wenn wir unser Augenmerk ausschließlich auf die Jugend richten, können wir unsere Alten in Heime stecken und brauchen sie nicht mehr zu sehen oder uns Gedanken über sie zu machen. Wenn wir ständig über Sex reden, den Anfang allen Seins, bleibt kein Raum mehr für den Tod: das Ende von allem.

Ist es also möglich, in Exkrementen etwas Wunderbares zu sehen? Und würde es uns als Gesellschaft und als Individuen besser gehen, wenn wir herausfänden, wie das zu bewerkstelligen wäre? Ich glaube schon, und ich vermute, eine umfassende Würdigung der Funktionsweise unserer furchteinflößenden körpereigenen Kotmaschine, des Darms, wäre in dieser Hinsicht ein Schritt in die richtige Richtung.

Natürlich kann Kot etwas Wunderbares sein, wie jeder bestätigen wird, der schon einmal an Verstopfung gelitten hat. Mein Bruder und seine Frau haben kürzlich eine Tochter bekommen und mich dadurch zum ersten Mal zur Tante gemacht. Nicht nur sie, wir alle waren begeistert, als die Kleine zum ersten Mal ausgiebig gesunden Kot ausgeschieden hat. Kot produzieren, bedeutet, dass alles richtig funktioniert. Rein, raus. Kot produzieren bedeutet: Genau so soll es ablaufen. Und natürlich gilt das Gleiche auch für den Tod, zumindest wenn er am Ende eines langen, sinnvollen Lebens erfolgt. Es könnte sein, dass die Natur weiß, was sie tut, es könnte sein, dass jener Prozess des Verfalls, der unserem Einwirken völlig entzogen ist, eine gewisse Schönheit in sich birgt.

Diese Betrachtungen über die wunderbaren Dinge, die die »Natur« weiß und von denen wir selbst nicht die geringste Ahnung haben, sind vielleicht der passende Moment, um auf die Neuronen in Ihrem Bauch und die zahllosen Bakterien zu sprechen zu kommen, die jetzt in diesem Augenblick Ihren Darm bevölkern. Wussten Sie, dass Sie Hirnzellen in Ihrem Bauch haben? Sie kleiden Ihre Darmwand aus. In Ihrem Verdauungstrakt gibt es genauso viele Neuronen wie im Kopf einer Katze. Und jetzt stellen Sie sich nur einmal vor, was eine Katze so alles weiß: Was gut und was schlecht für sie ist, wem sie vertrauen kann und wem sie besser aus dem Weg geht, wo leckeres Futter herkommt und wie sie es jagt. Solche Dinge könnte auch Ihr Bauch wissen. Kein Wunder also, dass wir beim Instinkt von »Bauchgefühl« sprechen.

Die Nervenzellen im Darm sind über den Nervus vagus direkt mit dem Gehirn verbunden, in das dieser unmittelbar neben jenen Arealen eintritt, die für die Emotionen zuständig sind. Und so scheint unser Bauch Dinge zu wissen, die uns selbst verborgen bleiben. Man hat Experimente durchgeführt bei Menschen, die über eine Sonde ernährt wurden – sie konnten ihr Essen weder schmecken noch riechen oder kauen, aber sobald ihre Lieblingsspeisen ihren Magen erreichten, fühlten sie sich voraussehbar glücklicher, als es bei einem gleichermaßen nahrhaften flüssigen Brei der Fall war. Ihr Bauch weiß so einiges. Sie haben Schmetterlinge im Bauch, weil die Neuronen da unten eine recht gute Vorstellung davon haben, was mit uns los ist.

Es gibt Bereiche von »uns« – vielleicht sogar den allergrößten Teil von »uns« –, zu denen wir keinen Zugang haben. In ihren Erinnerungen Die zitternde Frau schreibt Siri Hustvedt über eine befremdliche Dualität, die sie während eines Zitteranfalls erlebte. Sie verspürte »ein starkes Gefühl von einem ›Ich‹ und einem unkontrollierbaren Anderen«. Unser intelligenzbegabter Körper, unser mit Neuronen bestückter Bauch sind in gewisser Weise eigenständige »Ichs« in unserem Inneren, sie kommunizieren mit dem Gehirn, ohne vollständig Teil davon zu sein.

Aber es gibt ein noch realeres »unkontrollierbares Anderes« in unserem Darm. Wir halten uns für ein einziges, einheitliches Ganzes im Inneren dieser fleischlichen Hülle, alles innerhalb der Konturen unserer Haut ist »wir«. Doch weit gefehlt. Ihr Darm enthält ein Mikrobiom – ein Ökosystem aus Mikroorganismen. Das sind die in der Werbung für probiotischen Joghurt so beliebten »guten Bakterien«. Die Zellen unserer Darmflora sind viel kleiner als unsere eigenen Gewebezellen – und zwar so viel kleiner, dass »wir« tatsächlich mehr Darmflora-Zellen enthalten als menschliche Körperzellen. Sollte ich innerhalb meiner Haut ein Referendum abhalten, bei dem jede Zelle eine Stimme erhält, hätte ich nicht die geringste Chance, jemals ein Amt anzutreten.

Und diese Analogie ist gar nicht so lächerlich, wie sie klingt: Die Darmflora kann Stimmung und Gesundheit beeinflussen. Von Depressionen bis hin zu rheumatoider Arthritis können sämtliche Erkrankungen positiv beeinflusst werden, indem man die Artenvielfalt der Darmflora steigert (unser Darm ist offenbar Verfechter einer Regierungsbildung per Verhältniswahlrecht; je vielfältiger, desto besser). Unsere Darmflora ist in der Lage, Hormone auszuschütten, die uns dazu bringen, mehr von den Nahrungsmitteln zu uns zu nehmen, die sie mag. Außerdem ist es uns bisher bei lediglich fünf Prozent unserer Darmflora gelungen, sie im Labor zu kultivieren. Worum es sich bei den restlichen fünfundneunzig Prozent handelt, entzieht sich völlig unserer Kenntnis. In Ihren probiotischen Getränken stecken also nicht mehr als diese kümmerlichen fünf Prozent – auf den Rest müssen Sie warten, bis die Entschlüsselung des Erbguts der fehlenden Darmflora abgeschlossen ist. Im Notfall könnten Sie natürlich auch über eine Stuhltransplantation nachdenken, und ja, das ist genau das, was Sie sich gerade darunter vorstellen. Es kam zu regelrechten Wunderheilungen, nachdem der Kot eines Menschen mit »goldenem Stuhl« mithilfe einer Sonde oder eines Einlaufs in den Darm einer anderen Person übertragen wurde. Die neuen Bakterienkolonien gediehen, und die Empfänger der Transplantation fühlten sich allmählich besser – funktioniert hat das bei einer Vielzahl von Beschwerden, unter anderem bei rheumatoider Arthritis und dem Killerbakterium Clostridium difficile. Aber bitte, probieren Sie das nicht zu Hause aus.

Worauf ich hinauswill, ist, dass das, was in unserem Darm vor sich geht, rätselhaft, verblüffend und sehr viel komplexer und intelligenter ist, als wir ahnen, wenn wir unseren stinkenden Kot betrachten und uns fragen: »Wie konnte das bloß aus mir herauskommen?« Das wunderschöne verschlungene Darmlabyrinth im Zentrum unseres Körpers verfügt über ein Gehirn, unsere inneren Nachbarn haben eigene Wünsche.

Und das ist auch im Hinblick auf unser wichtigstes Thema, Thanatos, beruhigend. Ich weiß nicht, wie man Nahrung verdaut, aber mein Darm übernimmt das für mich – genau wie ein paar Überlegungen dazu, wie ängstlich gewisse Situationen und Menschen ihn machen. Ich weiß vielleicht nicht, wie man stirbt, aber mein Körper übernimmt das für mich.

Der französische Denker Montaigne, der Erfinder ebendieser Essayform, stürzte eines Tages vom Pferd und wäre an den Folgen seiner schweren Verletzungen beinahe gestorben. Während seine Freunde entsetzt zusahen, wie er die Finger in seine Kleidung krallte und offenbar im Sterben lag, erlebte er selbst ein seliges Gefühl der Leichtigkeit. Nach seiner Genesung schrieb er über seine Begegnung mit dem Tod: »Falls ihr nicht zu sterben versteht – keine Angst! Die Natur wird euch, wenn es so weit ist, schon genau sagen, was ihr zu tun habt, und die Führung der Sache voll und ganz für euch übernehmen; grübelt also nicht darüber nach.«

Aus unseren kulturellen Ernährungsneurosen können wir lernen, dass wir von Anfängen besessen sind, nicht von Enden. Dass uns die scheinbare Grenzenlosigkeit unserer durch den Konsumkapitalismus befeuerten Wünsche verstört. Und dass wir, obwohl wir wissen, dass wir letztlich alles in Kot verwandeln, nicht darüber nachdenken wollen. Vielleicht aber brauchen wir gerade das, worüber in den modernen westlichen Gesellschaften so wenig gesprochen wird – ein wenig Vertrauen. Wir mögen nicht wissen, wie wir unseren Kot produzieren, aber unser Bauch weiß es. Wir mögen nicht viel vom Sterben verstehen, aber unser Körper wird das für uns übernehmen. Wir wissen mehr, als wir glauben. Und »wir« müssen es gar nicht wissen, um es zu wissen.

Haut Christina Patterson