The Future - Naomi Alderman - E-Book
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The Future E-Book

Naomi Alderman

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Beschreibung

Amerika in der nahen Zukunft. Im Silicon Valley werden geheime Pläne geschmiedet: Martha Einkorn ist die Assistentin der Geschäftsleitung von Fantail, dem einflussreichsten Social-Media-Unternehmen der Welt. Sedlah ist unglücklich mit dem Besitzer des erfolgreichen Online-Händlers Anvil verheiratet. Albert gründete einst Medlar, die größte Tech-Firma der USA, bevor er ausgebootet wurde, und Badger ist das queere Kind von Medlars neuer Geschäftsführerin. Sie alle haben mit ihren CEOs noch eine Rechnung offen. Sie alle sehen, wie Städte überschwemmt werden, Waldbrände ganze Landstriche vernichten und Menschen verhungern, während ihre Chefs, Ehepartner und Eltern unbekümmert dem Luxus frönen. Martha, Sedlah, Albert und Badger sind sich einig: Die CEOs müssen weg! Doch dann lernt Martha die Journalistin Zhen kennen – und verliebt sich ...

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Seitenzahl: 641

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Das Buch

Als Martha Einkorn die Sekte ihres Vaters verließ, hätte sie sich nie träumen lassen, dass sie viele Jahre später für Fantail, den größten Social-Media-Konzern der Welt, arbeiten würde. Als Persönliche Assistentin des exzentrischen CEOs Lenk Sketlish ist Martha mitten drin in der Welt der Supermächtigen. Im Silicon Valley gilt nur »Höher, schneller, weiter«, die Klimakatastrophe und menschliches Elend kümmern hier kaum jemanden. Und so beschleicht Martha langsam das Gefühl, dass die irren Predigten ihres Vaters über das Ende der Welt realistischer sind, als sie dachte.

Zur gleichen Zeit gerät die Internetjournalistin und Survival-Expertin Lai Zhen in einer Shoppingmall in Singapur ins Visier einer Terroristin – als plötzlich eine unbekannte Software auf ihrem Handy auftaucht und ihr das Leben rettet. Aber wo kommt dieses Programm her? Wer hat es generiert? Und warum hat man es ausgerechnet auf ihrem Telefon installiert? Zhens Neugierde bringt sie erneut in tödliche Gefahr.

Als Martha und Zhen schließlich einander begegnen, wird eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die die Macht der Internetriesen zum Einsturz bringen und unsere Welt für immer verändern könnte.

»Naomi Aldermans THEFUTURE ist nicht nur ein mitreißender Pageturner über das Für und Wider der menschlichen Zivilisation, sondern auch eine berührende Liebesgeschichte!«

EMMADONOGHUE, Autorin von Raum

Die Autorin

NAOMIALDERMAN ist in London aufgewachsen und studierte in Oxford und an der University of East Anglia. Ihr Roman DIEGABE, der monatelang auf allen Bestsellerlisten stand, wurde mit dem renommierten Women’s Prize for Fiction ausgezeichnet von der New York Times, der Washington Post und der Los Angeles Times zum Roman des Jahres gekürt und von Amazon Prime spektakulär verfilmt. Naomi Alderman ist Mitglied der Royal Society of Literature, ihre Bücher wurden in über fünfunddreißig Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt in London.

NAOMI ALDERMAN

THEFUTURE

Roman

Aus dem Englischen übersetztvon Barbara Ostrop

Titel der Originalausgabe:

THEFUTURE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 11/2023

Redaktion: Charlotte Gerk

Copyright © 2023 by Naomi Alderman

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und derÜbersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat GbR, München,unter Verwendung einer Illustration von David Litman

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-30773-8V002

Für OAD, DLA

und SSA: die Zukunft

»Wenn die Gestaltung beginnt,

dann erst gibt es Namen.

Die Namen erreichen auch das Sein,

und man weiß auch noch, wo haltzumachen ist.

Weiß man, wo haltzumachen ist,

so kommt man nicht in Gefahr.«

LAOTSE, Tao te king

Erster Teil

das grundlegende problem

nord-kalifornien, november

Action-Now!-Umweltschutzkonferenz

lenk

An dem Tag, an dem die Welt unterging, saß Lenk Sketlish – CEO und Gründer des sozialen Netzwerks Fantail – an einem für seine Naturschönheit berühmten Ort unter Mammutbäumen und bemühte sich, durch den Bauchnabel einzuatmen.

Die Berggipfel in der Ferne waren schneebedeckt, und ihre geschwungenen Silhouetten, in denen sich Felsspalten abzeichneten, befeuerten die Vorstellungskraft. Die Farben der Bäume in der Nähe changierten zwischen einem rötlichen Braun und Hellbraun, zwischen Graugrün und Salbeigrün. Die säulenartigen Stämme der Mammutbäume wiesen schnurartige Muster wie ineinander verschlungene Ranken auf. Weiches Moos und Gras wuchsen auf ihrer Rinde, und darin schwirrten winzige Insekten herum. Der Himmel zeigte das bleiche, ausgewaschene Blau des Spätherbstes, und durch das Geäst waren Wolkentupfen zu sehen. Und dennoch.

Die Nase der Meditationslehrerin pfiff.

Jedes Mal, wenn sie einen »Atemzug tief in den Bauch« tat, durchbrach dieses Pfeifen das sanfte Flüstern der Mammutbäume wie das Kreischen einer Kettensäge. Sie musste es doch hören. Ja, sie hörte es mit Sicherheit. Sie schien es nicht zu hören. Die Mammutbäume erschauerten, in der Novemberkühle würden bald die Blätter von den Bäumen fallen, und alles war vergänglich, wie sie unaufhörlich betonte.

Doch das, was Lenk Sketlish am Herzen lag, würde nicht vergehen, solange er dabei ein Wörtchen mitzureden hatte.

»Lass deinen Bauch beim Einatmen ganz weich werden«, sagte die Lehrerin. Ihre Zunge verharrte auf dem letzten Konsonanten, als wäre sie Italienerin. Sie war keine Italienerin. Nach dem ersten Tag hatte Lenk seine Persönliche Assistentin Martha Einkorn gebeten, das zu überprüfen. Die Meditationslehrerin kam aus Wisconsin, dem Heimatstaat der Cheese Curds. Sie sagte ständig Bauch-e. Er solle das Licht in seinem Bauch-e halten, die Wärme in seinem Bauch-e fühlen, in seinen eigenen Bauch-e hineinkriechen und für immer in ihrem näselnden Quengelton und dem ins Endlose verlängerten ch verweilen. Was in Lenk Sketlishs Bauch heranwuchs, war ein beißender, brodelnder, siedender Zorn.

Die Mammutbäume. Zurück zu den Mammutbäumen. Die Majestät der Natur, einfache Schönheit. Der schmale Pfad den Berg hinauf, der herabstürzende Wildbach. Einatmen. Ausatmen. Die Welt, wie man sie von Moment zu Moment erlebt, und er selbst ein Teil davon. Nicht abgelenkt, nicht voller Wut, nicht in Gedanken bei den Fantail-Expansionsplänen in Uruguay und Myanmar, obwohl da jemand in seiner Abwesenheit mit Sicherheit etwas vermasseln würde.

In der Gegenwart bleiben. Im Hier und Jetzt. Den Atem im Bauchnabel spüren, im Zentrum des eigenen Körpers, wie die Bauchdecke sich hebt und senkt, und … die Nase pfiff plötzlich in einer anderen Tonlage. Geringfügig tiefer als zuvor. War das Bariton? Oder Alt? Hörte sie das denn nicht? Wieso putzte sie sich nicht die Nase, bevor sie in die Stunde kam? Hatten denn weder Martha noch eines der Vorstandsmitglieder noch ein einziger von Marthas Lakaien herausgefunden, dass bei dieser großartigen, erstklassigen Meditationslehrerin die Nase pfiff? Glaubten sie einfach alles, was ihnen aufgetischt wurde?

»Atme mit dem ganzen Körper« – ihre Stimme war leise und melodisch – »diesen Moment bestimmst ganz allein du.«

Das war ganz offensichtlich falsch, denn der Vorstand hatte ihm vor einiger Zeit mitgeteilt, wenn er seine Wutanfälle nicht unter Kontrolle bekäme, würde das ernstlich die Frage aufwerfen, ob es für ihn bei Fantail noch eine Zukunft gebe. Das war ebenso absurd wie diese Frau mit dem Blasorchester in der Nase, die sich als Quelle der Ruhe ausgab. Er hatte mitgespielt; er hatte sich darauf eingelassen. Wenn sie glaubten, sie könnten mit ihm dasselbe machen wie Ellen Bywater mit Albert Dabrowski von Medlar und ihn aus seiner eigenen Firma werfen, nun, dann würde er sie eines Besseren belehren. Aber genau das würden sie tun – sie würden ihm sagen, dass sein Führungsstil nicht funktionierte, dass er nicht bereit war, an sich zu arbeiten; sie würden ihn erst sachte beiseitedrängen und dann rasch ausmanövrieren. So etwas hatte er mit eigenen Augen gesehen. Albert Dabrowskis Schicksal hatte ihn Vorsicht gelehrt. Inzwischen wurde Medlar von Ellen Bywater geführt. Und wo zum Teufel war Albert Dabrowski? Nun, wen zum Teufel interessierte das schon?

»Sei ganz in diesem Moment«, säuselten die Schleimhauttrompeten. »Gestatte dir, diesem Moment mit Vertrauen zu begegnen.«

Er war hier, um seine Bereitwilligkeit zu demonstrieren. Er war kein unreifes Kleinkind; er führte Fantail seit zwanzig Jahren erfolgreich, nachdem er es auf nichts als einer Idee gegründet hatte, auf dem Gefühl für eine Welle, die sich weit draußen im Ozean aufbaute. Inzwischen ging man in einhundertsiebenundzwanzig Ländern der Welt auf FantailStream, wenn man ein Massenpublikum ansprechen wollte; wenn man etwas verkaufen wollte, eröffnete man einen FantailStore; und wenn man über Ländergrenzen hinweg Handel treiben wollte, benutzte man FantailSeamless, um mit FantailCoin zu bezahlen. Wenn eine Nation zur anderen sprach, dann via Fantail.

Und die nächste Herausforderung würde Lenk ebenfalls meistern, sich bei der Öffentlichkeit anbiedern und einen auf nett machen. Die Antitrust-Anhörungen und diese idiotische Action-Now!-Umweltkonferenz mit Anvil und Medlar. Er würde cool bleiben und keine teuren Keramikskulpturen durch teure, mit Gravuren verzierte Glastrennwände schleudern, und nie wieder würde jemand mit einem Glassplitter im Auge ins Krankenhaus müssen. Das war ein Fehler gewesen. Er bereute ihn. Meditation war schmalzig, aber sie funktionierte – einfach durch den Bauchnabel atmen. Auf das Ein konzentrieren. Dann auf das Aus. In seiner Zeit in Harvard hatte er das gern praktiziert. Einer seiner Mitbewohner hatte ihm eine Playlist gegeben. Die halbe Nacht programmieren, dann zehn Minuten lang meditieren, und man schaffte den Übergang von vollkommener Erschöpfung zu einem erholsamen tiefen Schlaf problemlos. Die Sache hatte etwas für sich. Zimri Nommik von Anvil verbrachte jedes Jahr zehn Tage in der Wüste, um zu schweigen, zu fasten und Wasser durch die Nase hochzuziehen. Oder durch den Arsch. Eines von beidem. Zimri Nommik, der Lagerhallen errichtete und Logistiknetzwerke aufbaute und alles verfrachtete, was nicht niet- und nagelfest war, der mit AnvilChat und AnvilParty bereits gut aufgestellt war, aber trotzdem versuchte, mit seinem gefräßigen Rachen alles zu verschlingen …

»Solltest du feststellen, dass deine Gedanken abgeschweift sind« – die Lehrerin atmete mit einem akkordeonähnlichen Wimmern ein – »sei nicht überrascht. Kehre einfach sanft zu deinem Atem zurück. Dieser Moment ist alles, was du brauchst.« Aber das stimmte nicht, und das hatte nie gestimmt. Dieser Moment war vorbei, sobald man ihn bemerkte. Er bot keinen Lohn und keinen Besitz. Was Lenk brauchte, war das schwache Schimmern in der Ferne, das Winken der mächtigen Zeit, die Welle, die sich weit draußen im Ozean aufbaute.

»Atme tief in den Bauch ein. Vergiss nicht, unruhig macht uns nur das, was in der Zukunft geschehen könnte. Doch die Zukunft ist nicht hier. Die Zukunft ist Fantasie. All ihre Verheißungen und Ängste sind nur Fantasie. Wir dürfen in diesem Moment ruhen«, sagte sie. »Was geschieht, ist in Ordnung.«

Doch wie oft war das, was geschah, nicht in Ordnung? Es war eigentlich so gut wie nie in Ordnung. Ständig musste man antreiben und sich kümmern, reparieren und Druck machen. Ohne sein Eingreifen wäre der entscheidende Moment vertan, dann der nächste und wieder der nächste. Alle Wellen würden an ihm vorüberrollen, und er triebe weiter im kalten Meer, die Wärme wiche aus seinem Körper, und dann stiege der Tod auf und verschlänge ihn. Wenn man nicht auf das achtgab, was eventuell passieren könnte, konnte das ganze Leben dahinschwinden, und so erging es den meisten Menschen ja auch.

»Man kann unmöglich vorhersagen, was als Nächstes kommt«, sagte die Lehrerin.

Nun, dann war alles für den Arsch. Der nächste Moment konnte alles bringen. Es konnten sich neue Möglichkeiten auftun, jemand anderes konnte sich seine Ideen unter den Nagel reißen, ein Wettbewerber, der ihm sein Vermögen abjagen wollte. Ellen Bywater, die bereits eine Firma gestohlen hatte, konnte das allsehende Auge Medlars auf ihn richten. Die glänzende, elegante Hardware, die sie verkaufte, war die ehrgeizige Alternative zu Fantail, das auch für Hinz und Kunz erschwinglich war. Der MedlarTorque war ihr neuestes Ding: Alle Kommunikationsbedürfnisse, die man hatte, wurden von diesem schicken Gerät erfüllt. Derzeit schien sie Lenk immer einen Schritt voraus zu sein und lockte genau die Generation, die er brauchte, von ihm weg, stahl sie ihm, wie sie Medlar gestohlen hatte. Sie könnte neue Produkte auf den Markt werfen, aber es könnte natürlich auch ein Erdbeben geben, er selbst könnte einen Herzinfarkt erleiden, ein verrückter Diktator könnte aus der Ferne eine Rakete abschießen, oder es könnte eine neue Pandemie ausbrechen. Alles war möglich.

Lenk Sketlish war ein mächtiger Mann, der seine Karriere auf die Zukunft gegründet hatte, darauf, dass er sie erkannte, witterte und als gegenwärtiger wahrnahm als die Gegenwart. Die Zukunft war sein Zuhause und sein Trost; die Dringlichkeit des morgigen Tages, des nächsten Jahrzehnts und des nächsten Jahrhunderts trieb ihn an.

»Man kann unmöglich wissen, was auch nur in der nächsten Sekunde geschieht.«

Nein, dachte Lenk Sketlish, das bringt mir nichts.

Das Foliendisplay des Thinscreens an seinem Handgelenk gab einen leisen, aber eindringlichen Piepton von sich. Die Meditationslehrerin runzelte die Stirn, und ein befriedigender Gedanke schoss Lenk durch den Kopf: Na sieh mal einer an, man kann unmöglich wissen, was als Nächstes geschieht, nicht wahr? Er warf einen Blick auf den Thinscreen. Wahrscheinlich ein Notfall in Albanien oder Thailand, eine Entscheidung, die er treffen, ein Problem, das er lösen musste, und damit ein wunderbarer und aus finanziellen Gründen unbestreitbar gerechtfertigter Vorwand, die Stunde vorzeitig zu beenden. Doch so war es nicht. Seine Gesichtszüge spannten sich an; mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf die Nachricht. Es ging nicht um eine Lappalie. Sondern um den Weltuntergang.

zimri

Zimri Nommik, CEO des Logistik- und Handelsriesen Anvil, sah die Benachrichtigung mit vollen vier Stunden Verspätung, weil er – was für ihn ungewöhnlich war – seine Frau gevögelt hatte.

Auf der Action-Now!-Konferenz war Selah Nommik in einer eigenartig labilen Stimmung gewesen. Ja, sie liebte diese bescheuerten Umweltevents. Er hatte gesehen, wie sie wegen der Tiger und Delfine und einer ganz bestimmten Flechtenart, auf die sie abfuhr, echte Tränen vergossen hatte. Und ja, er hatte sie überrascht und die versprochene Summe für die FutureSafe-Zonen verdoppelt. Trotz allem genoss er es noch immer, wenn sie ihn so ansah, als erinnerte sie sich daran, warum sie ihn geheiratet hatte.

Er hatte beobachtet, wie Selah über die Bühne ging – ihr cremeweißer Rock endete kurz über dem Knie, ihre Waden waren straff und glänzend, und sie sah aus wie Serena Williams zu ihrer besten Zeit. Er hatte gedacht: Scheiß drauf, das Ganze landet sowieso bei den Anwälten, und hatte eine Summe genannt, die doppelt so hoch war wie die, auf die sie sich geeinigt hatten. Selah packte seine Hand, verschränkte ihre Finger mit seinen und hob sie hoch, als hätten sie gerade eine Meisterschaft gewonnen. Während die Kameras klickten, das Publikum tobte und die riesige Zahl hinter ihnen auf dem Bildschirm erschien, flüsterte Selah ihm ins Ohr: »Ich möchte, dass du mich fickst. Jetzt.« Er würde also auf seine Kosten kommen. Dafür waren nur 5,7 Milliarden Dollar zusätzlich nötig gewesen.

Sie fickten so, wie er es mochte, aber mit einer Intensität, die sie seit Jahren nicht mehr empfunden hatten. Gegen die Wand der Suite gelehnt, und er riss ihr den Rock herunter. Auf dem Boden, und sie drängte ihn in sich hinein. Auf der Couch, sie unter ihm. Schließlich im Bett, sie rittlings auf ihm, die schweren Brüste nackt, die großen, dunklen Nippel so hart und ihr Rhythmus so drängend, dass sie alle Erinnerungen und jeden Gedanken an den Rest der Welt in ihm auslöschte und ihn auf einen einzigen Punkt greller Lust und vollkommener Hingabe reduzierte.

»Verdammt«, sagte sie und sank auf die zerwühlten Bettlaken.

Dann, sich erinnernd, wandte sie sich zu ihm um und fragte mit unerwarteter Zärtlichkeit: »Alles in Ordnung?« Es war, als hätten sie sich gerade kennengelernt und sie hätte zum ersten Mal von dem asthmatischen kleinen Nerd gehört, der er als Schüler gewesen war, das Kind jüdischer Immigranten aus Estland. Man hatte ihn ins kalte Wasser einer Highschool in Minnesota geworfen, wo er wegen seines eigenartigen Aussehens, seines merkwürdigen Akzents und seiner verdrehten Syntax – sowie seiner nervigen Überzeugung, allen anderen überlegen zu sein – so lange gnadenlos gemobbt worden war, bis ihn die Jungs vom Football-Team schließlich aus einem fahrenden Auto geworfen hatten. Am Ende hatte sie in ein zweites Date eingewilligt.

Inzwischen ernährte sich Zimri Nommik Paleo, hatte einen Personal Trainer, einen Waschbrettbauch und mehr Geld als jeder andere Mensch auf der Welt. Er sah immer noch so aus, als wäre er aus nicht zueinanderpassenden Teilen zusammengesetzt – seine breiten, behaarten Schultern, die langen Arme und die großen Hände schienen nicht zu demselben Mann zu gehören wie sein untersetzter Körper und sein spitzes Gesicht. Doch das spielte keine Rolle mehr. Sein Timing war unfehlbar. Seinem Verständnis für den Markt und seiner gnadenlos erfolgreichen Art, ein Unternehmen zu führen, kam niemand gleich. Im Geschäftsleben wusste er so genau, was er zu tun hatte, dass er geradezu wie ein Prophet wirkte. Dennoch konnte er den jämmerlichen kleinen Jungen niemals ganz abschütteln. Er erinnerte sich daran, wie er in der Schule neben den vor Kraft strotzenden, hellhäutigen, blonden, breit lächelnden, muskulösen, athletischen Jungs gestanden hatte. Er würde niemals genug Sex oder Erfolg haben können, um diese Erinnerung für länger als einen Moment zu vergessen.

Konnte Selah wissen, dass er bereits mit den Anwälten gesprochen hatte? War der Sex deswegen so gut gewesen? Er hatte die Termine so gelegt, dass sie stattfanden, während sie ihre Familie in London besuchte. Wissen konnte sie es also nicht, aber vielleicht ahnte sie, dass sie in wenigen Wochen Post erhalten würde, die das Versprechen außerordentlichen Reichtums, eine Vertraulichkeitsvereinbarung und die Scheidungspapiere enthielt.

»Fuck«, sagte Selah. »Mist, ich muss los. Ich muss zu dieser Veranstaltung in Sonoma – du weißt schon, dieses Frauen-Dings.«

Er beobachtete, wie sie ihr Höschen anzog und den cremefarbenen Rock über ihren prachtvollen Arsch streifte. Wie sie den weißen Spitzen-BH schloss. An der Vergangenheit festhalten zu wollen, ist Schwäche. Genieße das Hier und Jetzt.

Die Jungs, die ihn aus dem fahrenden Auto geworfen hatten, hatten ihn im Krankenhaus besucht. Da war sein Kiefer bereits mit Draht in der Position fixiert, die er von nun an immer haben würde – leicht vorgereckt, was ihm im Profil das Aussehen eines eifrigen jungen Kommunisten verlieh, der unablässig dem Sieg des Proletariats entgegenstrebte. Zwar erinnerte er sich noch, dass sie zu fünft gewesen waren, aber alle Eigenheiten, die sie voneinander unterschieden, waren ihm entfallen. Die wenigen Tatsachen, die er über sie wusste – einer hatte ein Lachen gehabt, das wie ein Niesen klang, ein anderer hatte sich unerwarteterweise als brillanter Physikschüler erwiesen, das aber für sich behalten – schienen untereinander austauschbar, sodass er eine spezielle Eigenschaft jedes Mal einem anderen Gesicht zuschrieb. Manchmal wünschte er, er hätte das alles schriftlich festgehalten, und manchmal war er froh, dass er es nicht getan hatte. Als sie ihn im Krankenhaus besuchten, benahmen sie sich, als hätten sie sich alle zusammen einen wunderbaren Jux erlaubt – als wäre sein Gesicht bei einem Husarenstück zerschmettert worden, bei dem er kein unfreiwilliger Teilnehmer, sondern ein Abenteurer gewesen war. Weißt du noch, fragte einer von ihnen lachend, weißt du noch, wie du dich am Sicherheitsgurt festgeklammert hast, als du rausgefallen bist?

Erst in diesem Moment begriff Zimri: Wie eisern er auch bei seiner Geschichte bleiben würde, diese Jungs würden sich daran nie als etwas anderes als an einen Scherz erinnern. Er hatte gelernt, dass bei anderen keine Gewissheit zu finden war. Die einzige Sicherheit bestand darin, so unabhängig zu sein, dass man allein überleben konnte. Jedes Freundschaftsangebot konnte sich als Trick erweisen, bei dem er von einer Gruppe austauschbarer junger Männer unauffällig über einen Autorücksitz bugsiert wurde, wo man ihn schubste und bedrängte, bis er schließlich mit einem letzten verspielten Hüftschlenker aus dem Wagen gestoßen wurde.

Selah knöpfte ihre Bluse zu. Ade, schöne Brüste, schöne Nippel und schöne Schenkel. Es musste nun mal sein. Herrgott, er lebte in San Francisco; es würde immer eine andere geben. Selah küsste ihn mit einer wilden Zärtlichkeit, sah ihm in die Augen, und er fragte sich erneut: Weiß sie Bescheid? Aber sie konnte es nicht wissen. Sie spürte einfach nur etwas. Er begleitete sie nicht zur Tür.

Es war schon spät. Lenk Sketlish hatte ihn zur Morgenmeditation eingeladen. Das kam nicht infrage. Nicht nur, weil er Lenk absolut nicht ausstehen konnte, sondern auch, weil er einen so guten Orgasmus nicht verschwenden durfte. Zimri stellte sein AnvilSleepSystem auf Wecken um 6:00 Uhr ein. Seiner Erfahrung nach sorgte ein außerordentlicher, das Selbst auslöschender Orgasmus, gefolgt von tiefem Schlaf, einem eiskalten Bad und einer langen Joggingrunde, für Ideen im Wert von zehn bis zwanzig Milliarden Dollar, auf zehn Jahre gerechnet. Er wies sein AnvilFocus an, alle Störungen abzuweisen – wirklich alle, egal aus welchem Grund –, bis er seine Joggingrunde beendet hatte. Keine Störungen bis Mittag.

Am nächsten Morgen lag der See kalt und klar vor ihm. Novembernebel zog darüber hinweg, sammelte sich in lockeren Wolken und trieb wie etwas Lebendiges dahin. Fünf Wasservögel tauchten nach Nahrung und schnatterten miteinander. Die Mammutbäume in der Ferne standen dunkel vor dem Himmel wie eine Tuschezeichnung. Zimri Nommik setzte sich heftig atmend ans Ufer, zog sein digitales Notizbuch aus der hinteren Hosentasche und hielt mehrere Ideen über Synergien zwischen der Produktion und den Logistikrouten in Südostasien fest. Er geriet ins Träumen, beobachtete die geschmeidigen Bewegungen der vom Wind getriebenen Wellen und Gegenwellen und sah dabei nicht die reale Welt, sondern die der Metaphern und Symbole, in der Lieferketten und Fabriken, Industrien und Länder bunte Perlen waren, die er hin und her schob, bis alles so ineinandergriff, wie es ihm gefiel.

Er befand sich immer noch in dieser produktiven Trance, als sich AnvilFocus genau um zwölf Uhr Mittag abschaltete. Der Clip an seinem Hemdkragen summte los. Er wischte über das Display seines Notizbuchs. Und da stand es. Er starrte kurz auf die Benachrichtigung, dann wieder auf den See. Er kratzte sich am Ohr. Je nachdem, mit welcher Scheiße genau sie es zu tun hatten, konnte es das Ende dieses bestimmten Sees, der Wasservögel, von Seen im Allgemeinen oder von allen dreien zusammen bedeuten. Da konnte er den Anblick genauso gut genießen, solange es ihn noch gab.

Auf dem Rückweg zur Hütte rief Selah ihn an.

»Fuck«, sagte sie. »Zimri, ehrlich, ich versuche schon den ganzen Vormittag, dich zu erreichen. Ist es wahr?«

Er überlegte, was jetzt passieren würde. Keine Zeit, eine Neue zu finden. Selah würde mit ihm in den Bunker kommen. Er könnte sagen: »Nein, es ist nur ein Probealarm, bleib zu Hause.« Der Wind fuhr durch die Bäume, und Blätter trudelten auf die spiegelnde Oberfläche des Sees.

»Es ist wahr«, sagte er. »Ein Flugzeug holt dich ab. Steig ein.«

»Was, wir fliegen nicht zusammen?«

»Das Protokoll sieht vor, dass wir alles unterlassen, was Aufmerksamkeit auf unseren Aufbruch lenken könnte. Die üblichen Transportmittel. Das weißt du. Ich werde wohl …« Er lachte. »Fuck, Selah, ich werde wohl mit Lenk und Ellen im selben Flugzeug sitzen.«

»Jesus«, sagte sie. »Besser du als ich.«

»Wir können jetzt nicht reden«, sagte er. »Erst wenn jeder im Flugzeug ist und wir unser eigenes WLAN haben, okay?«

»Ja«, antwortete sie. Und dann: »Ich habe Angst.«

»Wir sehen uns im Bunker«, erwiderte er. »Nicht Haida Gwaii – da hat es ein Problem gegeben. Im schottischen. Alles wird gut.«

Es konnte gut werden, dachte er. Tatsächlich sogar besser, als es gewesen war. Was auch immer mit der Welt passierte, er selbst würde heil und unversehrt bleiben. Und wenn es mit Selah nicht klappte, würde es immer noch möglich sein, eine Neue zu finden.

ellen

Im holzgetäfelten Penthouse ihrer Villa mit Seeblick versuchte Ellen Bywater, CEO von Medlar Technologies, dem weltweit erfolgreichsten Hard- und Softwareentwickler für den Consumer Market, ihre Sachen zu packen. Ihre Hände zitterten.

Will, ihr verstorbener Ehemann, saß in dem auf den See ausgerichteten Schaukelstuhl und beobachtete sie. Eine schwere Entscheidung?, fragte er.

»Für dich ist das kein Problem«, antwortete sie. »Du bist tot. Du gehst dahin, wo ich hingehe.«

Selbst wenn ich noch lebte, würde ich dahin gehen, wo du hingehst, gab er zurück. Auch bis ans Ende der Welt.

Sie lächelte dem leeren Schaukelstuhl zu. Natürlich wusste sie, dass Will tot war. Sie war schließlich nicht verrückt. Es fiel ihr nur schwer, von dieser Gewohnheit zu lassen.

Das Action-Now!-Event war Ellens Idee gewesen. Na gut, nicht ganz ihre Idee. Albert Dabrowski, der aus dem Vorstand verdrängte Gründer der Firma, hatte für Action Now! eine ziemlich große Summe gespendet, und so musste sie, um ihr Gesicht zu wahren, eine noch größere Spende lockermachen und selbst an dem Event teilnehmen.

Will hätte ihr den Arm um die Schultern gelegt, sie auf den Kopf geküsst und gesagt: »Beruhigungstropfen für dein Gewissen?« Sie hätte mit den Schultern gezuckt, und er hätte weitergemacht: »Mir ist dein Gewissen lieber, wenn es tropft.«

Wie immer, wenn sie mit ihm redete, schaffte sie es, sich seinen Anteil am Gespräch beinahe wortgetreu vorzustellen. Manchmal sah sie ihn in ihrem Haus am Fuß der Treppe stehen, sein langer Körper mit den knochigen Beinen, die wie eine zusammengeklappte Staffelei aussahen, verschwand dann im Esszimmer, sobald sie die Stufen hinunterging. Er war stolz auf seine Beine gewesen – mit vierundsechzig hatten ihm seine Knie beim Wandern nie Probleme bereitet. Am Tag seines Todes war mit seinen Knien alles in bester Ordnung gewesen.

»Meine Gedanken laufen Amok«, sagte sie. »Ich habe Angst.«

Will verstand das. Natürlich hatte sie Angst. Keiner wünschte sich den Weltuntergang.

In der Benachrichtigung standen Informationen über das Protokoll. Sie selbst hatte es vor einer Weile geschrieben. Für den Fall, dass die Katastrophe eintrat.

»Ellen«, ermahnte sie das Protokoll auf ihrem SmartPin, »pack nicht all deine Sachen ein. Nimm nur kleine Erinnerungsstücke mit. Für deine Bedürfnisse ist gesorgt.«

Und was ist mit mir, fragte Will, bin ich ein kleines Erinnerungsstück?

Ellen sagte ihm, er solle sich verpissen.

»Sind die Protokolle der Kinder aktiviert worden?«, fragte Ellen.

Das SmartPin antwortete: »Die Kinder wurden informiert. Sie sind auf dem Weg zum Transportmittel.«

»Auch Badger?«, fragte Ellen.

Will warf Ellen einen scharfen Blick zu. Badger war ihr jüngstes, ihr non-binäres Kind mit einer radikalen politischen Haltung. Badger hatte mehrmals verlauten lassen, sier sei mit diesem ganzen System von Alarmen, Privatjets und geheimen Sicherheitsbunkern in Neuseeland nicht einverstanden.

Das Protokoll sah vor, Telefongespräche zu unterlassen. Es brachte nichts, einen sicheren und bequemen Ort zu haben, an dem man eine globale Katastrophe aussitzen konnte, wenn jeder wusste, dass man sich aus dem Staub machte, und einem folgen konnte. Die Türen versiegeln, bevor irgendjemand auch nur ahnte, dass man verschwunden war – das war der Plan. Dennoch.

»Ruf Badger an«, sagte Ellen.

Eine quälend lange Pause, in der ihr Herz hämmerte, dann nahm Badger endlich ab. Sier Gesicht, das an die Wand des Zimmers geworfen wurde, war ganz dicht vor sierem Display – sier wollte nie, dass siere Mutter sah, wo sier war. Schärfer nagt’s als Schlangenzahn, ein undankbares Kind zu haben.

Allerdings sah Badger verängstigt aus. Das verschaffte Ellen eine düstere Genugtuung. Siehst du? Deine Mutter weiß manchmal doch etwas, das zu wissen sich lohnt.

»Hast du die Warnung erhalten?«, fragte Ellen. »Kommst du?«

Badgers Stirnfalte wurde tiefer. Oh, diese kleine Falte, die sier schon als Neugeborenes gehabt hatte, das schmatzend an der Brustwarze saugte. Diese Stirnfalte hundertprozentigen Engagements.

»Mom? Draußen steht ein Auto. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Ach, wie sehr Ellen das gefehlt hatte. Badger eine Mutter zu sein, war immer ein Tanz auf dem Vulkan gewesen. Aber ihr Baby brauchte sie.

»Steig ein, okay?«

»Okay.«

Eine Pause. Dann, endlich, die tiefste Einkerbung der Stirnfalte.

»Kann ich …«

»Du kannst zwei Leute mitnehmen. Sag ihnen, sie sollen ihre Handys zurücklassen, okay? Alle AnvilClips, alle Torques, was auch immer. Sag ihnen, es ist eine Urlaubsreise. Sag ihnen, dass ich dich dazu zwinge und du mich dafür hasst. Okay?«

Badger stieß einen langen Seufzer aus. Siere süßen Sommersprossen waren unter sieren Augen verstreut wie Sterne.

»Okay. Wir sehen uns, ja?«

»In weniger als einem Tag, Liebling. Versprochen.«

Ellen Bywater hatte ihre Fassung zurückgewonnen. Bevor der Wagen eintraf, setzte sie sich vor den Spiegel, trug Lippenstift auf und tupfte ihn ab. Sie hielt es für wichtig, solche Dinge selbst zu tun.

Will sagte: Bei unserer Hochzeit hast du dein Make-up auch selbst aufgelegt. Neunzehnhundertneunundachtzig, und du hast goldene, rote und gelbe Wirbel um deine jungen Augen gemalt. Ich habe dich dabei beobachtet. Wie eine Künstlerin mit diesen feinen Kamelhaarpinseln und den kleinen goldenen Töpfchen. Wie eine Priesterin.

»Ich habe ausgesehen, als hätte mir jemand kräftig auf die Nase geboxt«, antwortete sie. Aber letztlich war es das Leben, das einen boxte und schlug, bis man das eigene Gesicht nicht mehr wiedererkannte.

»Jetzt bekommst du gar nicht mit, wie ich faltig werde«, sagte sie zu Will.

Will entgegnete: Du hattest schon Falten, als ich noch am Leben war, schon vergessen? Ich habe deine Falten geküsst.

»Manchmal hast du dich über sie lustig gemacht.«

Manchmal haben wir uns übereinander lustig gemacht. So waren wir eben. Ich habe immer an dich geglaubt.

Ellen sah Will an, der nicht da war. Was war es eigentlich, woran sie geglaubt hatten?

Manchmal wusste sie, was er gesagt hätte, als wäre er noch wirklich und wahrhaftig da. Und manchmal musste sie es sich zurechtlegen – sie hasste diese Momente, in denen ihr klar wurde, dass er tatsächlich weg war.

Schließlich sagte Will: Du hast immer das Beste für deine Aktionäre und deine Angestellten getan.

Viel zu packen gab es nicht. Sie nahm ihre Uhr mit. Sie nahm ihren topasfarbenen Pulli mit und die goldene Halskette, die so gut dazu passte. Sie nahm ihren Laptop mit, ihr Handy und ihren MedlarTorque. Die reine Vorstellung, Dinge einzupacken, war an sich schon ein kleines Erinnerungsstück.

Obwohl es strikt gegen das Protokoll verstieß, ging Ellen auf die große Prepper-und-Survival-Plattform Name the Day. Wenn irgendjemand wusste, dass der Tag X gekommen war, würde es auf dieser Seite stehen. Doch sie entdeckte nichts Außergewöhnliches. Truppen im Südchinesischen Meer. Die Explosion einer Pipeline in Osteuropa. Dieselben alten Prepper-Schimpftiraden. Diese Leute hatten keine Ahnung, dass die Kacke am Dampfen war. Trotzdem, irgendetwas ging da draußen vor sich. Der Alarm wurde nicht grundlos ausgelöst. Irgendwo auf der Welt verwandelte sich eine Lage, die bisher gerade noch beherrschbar gewesen war, in einen Zustand, der unkontrollierbar war. Eine Kettenreaktion. Irgendwo im Dschungel streifte ein Tiger umher.

lenk

Auf dem Rollfeld war es bereits dunkel. Lenk Sketlishs Knochenschall-Minipods spielten »Gimme Shelter« von den Rolling Stones. In seinem Schädel hatten die Beatles sich gerade getrennt, die Sechziger waren vorbei, eine Revolution lag in der Luft, und alles war möglich. Er fühlte sich lebendig, zum ersten Mal in seinem Leben wirklich lebendig. Die nächtliche Fahrt hierher, die in seinem Kopf hämmernde Musik, die Zukunft nur Augenblicke entfernt. Darauf hatte er sich vorbereitet. Dies war der Neubeginn um Mitternacht. Dies war das lautlose Vergehen der alten Welt und die Geburt einer neuen.

Nur dass Zimri Nommik mit seinem nervigen Lächeln schon da war, als Lenk am Hangar eintraf, und dass Ellen Bywater immer wieder mit dem Finger auf das Display ihres Handys tippte und sagte: »Ich habe keinen Empfang. Seit wir die Konferenz verlassen haben, habe ich keinen Empfang mehr.«

Sie geriet jetzt schon in Panik. Er hatte es gewusst. Sie hatte nie geglaubt, dass das hier wirklich geschehen würde. Nach dem Ende der Zivilisation würde sie keinen Monat durchhalten.

Das Flugzeug, das von der Action-Now!-Konferenz aus am schnellsten erreichbar gewesen war, war einer von Zimris Privatjets. Der Pilot kannte nur dieselbe Story wie das Bodenteam, die Story, die später auch an die Presse gegeben werden würde: Die CEOs der drei Tech-Giganten hatten sich zu Verhandlungen zurückgezogen. »Eine Suche auf höchster Ebene nach Synergien zwischen technologischen Infrastrukturen, die zu CO2-einsparenden Maßnahmen führen.« Dieses Flugzeug würde sie nicht direkt zu ihrem Ziel bringen, sondern zu einem nahe gelegenen Zwischenstopp, wo Lenk und Ellen in ihre eigenen Jets umsteigen würden. So schnell wie möglich weg, dann hatte man Zeit genug, dafür zu sorgen, dass keiner einem folgte. Sobald sie den Bereich der Radarkontrolle verlassen hätten, würde Zimris Pilot der Flugsicherung falsche Koordinaten durchgeben. Sie mussten verhindern, dass jemand ihnen zum tatsächlich genutzten Bunker folgte. Einer von Zimris Sicherheitsbunkern war kürzlich von so einer verdammten Internet-Journalistin von Name the Day in die Luft gejagt worden. Dieses Risiko bestand immer.

Die Flugzeugtür ging mit einem beruhigenden Zischen auf, und die Treppe senkte sich herab. Den Piloten würden sie gar nicht zu Gesicht bekommen.

»Im Flugzeug gibt es WLAN«, sagte Zimri, als sie die Stufen hinaufstiegen. Lenk sah, dass Zimri bereits alle Möglichkeiten durchging und immer wieder neu berechnete. Verschaffte es ihm einen Vorteil, dass es sein Flugzeug war? Oder war es eher von Nachteil? Das würde es in der neuen Welt nicht mehr geben, diese aus dem Überfluss geborenen Neurosen. Es würde ein einfacheres, ein reineres Leben sein.

Lenks Knochenschallkopfhörer wechselten zu Goats Head Soup, und die Gitarre rockte ihn in die Zukunft. Die würde bald anbrechen, und obwohl ihm klar war, dass dies, im Großen und Ganzen gesehen, eine kleinere Apokalypse sein könnte, zumindest für sie drei – ein Jahr oder vielleicht auch fünf voller Unbequemlichkeiten und sich neu eröffnender Geschäftsmöglichkeiten –, befand er sich im Einklang mit sich selbst. Das Flugzeug hob so geschmeidig ab, wie ein großer Schluck kühles Wasser durch die Kehle rann. In gewisser Weise flogen gar nicht sie weg. Sondern die Erde wich unter dem Flugzeug zurück, und das Leben, das sie gekannt hatten, rollte sich zusammen und räumte sich weg. Sie verließen nicht die Welt, die Welt verließ sie.

Zweiter Teil

das, was uns erwartet

Auszug aus dem Name-The-Day-Prepper-und-Survival-Forum

Unterforum: ntd/strategien

>> OneCorn, Status: Perfekt vorbereitetOneCorn hat 4.744 Posts erstellt und 14.829 Likes erhalten.

Okay, wer hat Lust auf ein bisschen BIBELSTUDIUM?

Ich bin bei meinen interessanten historischen Lektionen, danke.

Wer den Leuten Sachen erzählt, die das Zuhören wert sind, wird nun mal unvermeidlich verbrannt. Das ist unser Schicksal. Glaub mir. Die heutige Lektion widmet sich dem Thema: Wann ist es Zeit zu gehen?

Es geht nicht um Milliardäre, die riesige Survival-Bunker besitzen.

Keiner hat dich je daran hindern können, über Lenk Sketlish herzuziehen, AM. Aber ja. Das hier ist relevant. Es geht um sehr mächtige Menschen, und es geht um gesellschaftliche Verantwortung, okay?

Also gut.

Genesis, Kapitel 18, frei übersetzt.

Triggerwarnung: Sexuelle Übergriffe, Mord, Sachbeschädigung, Explosionen, Terror, Inzest, Feuerregen, Salzsäulen, gewaltsamer Tod, Gotteslästerung, Gott

Und der Herr sah auf Sodom, und es war kein toller Ort zum Leben, Arbeiten oder um Kinder großzuziehen. Die Bewohner von Sodom waren grausam, sie nahmen sich, was sie wollten, sie hatten alle Fürsorge für Fremde oder die Armen eingestellt. Sie waren abscheulich.

Sodom war ein Ort, der alles verkörperte, was mit dieser »Zivilisation« und dem »Fortschritt«, dem die Menschen nachjagten, falsch war. Der Herr schaute genau hin und sah all das mit ausgesprochen negativen Gefühlen.

Doch der Herr hatte in letzter Zeit mehrere ernsthafte und nützliche Gespräche mit einem gewissen Abraham geführt. Mehr als jeder andere Mensch überraschte Abraham den Herrn immer wieder mit der Tiefe seines ethischen Denkens. Man sollte meinen, Gott interessiere sich nicht für Kommentare zu seiner Arbeit, doch tatsächlich holt er sogar schon in der Genesis andere Meinungen ein und lässt zu, dass sein Handeln von ihnen beeinflusst wird.

Das passiert auch in den Erörterungsbüchern des Talmud. Sie stellen im Wesentlichen Schichten von Kommentaren dar, mittels derer Gelehrte untereinander über die Jahrhunderte hinweg diskutieren. Andere Meinungen einzuholen und das eigene Handeln vor diesem Hintergrund zu hinterfragen, lässt auf einen fortschrittlichen Geist schließen. Gott dient uns hier wohl durch sein Schöpfungswerk als Vorbild.

Also: Ganz vertieft in diesen Prozess und an Feedback interessiert, weihte der Herr Abraham in seine Pläne ein.

Er sagte: »Sodom und Gomorrha. Es ist unglaublich, welche Entsetzensschreie von diesen Orten an meine Ohren dringen. Sie behandeln einander nicht mit Güte, nicht einmal mit Achtung oder grundlegendem Respekt für die Würde des Menschen. Und so denke ich: Vernichte sie! Zerschmettere sie! Lösche sie aus! Feuer und Schwefel. Mein Zorn, mein Freund, ist erwacht.«

Der Herr wartete auf Abrahams Antwort. Er war nervös.

Nun erschien es Abraham offensichtlich, dass der Herr sich gerade mehr oder weniger selbst widersprochen hatte. Denn wenn man möchte, dass Menschen die Würde der anderen respektieren, sollte man dann nicht damit anfangen, dass man … selbst ihre Menschenwürde achtet? Aber es ist ja schon schwer, auch nur seinen Chef auf so etwas hinzuweisen. Geschweige denn den Herrn aller Dinge, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Schließlich sagte Abraham:

»Du hast vor, die ganze Stadt auszulöschen? Die guten Menschen zusammen mit den schlechten?«

Darauf der Herr so ungefähr: »Yeah! Gerechtigkeit!«

Abraham legte die Fingerspitzen an die Stirn und sagte: »Okay, hab bitte Nachsicht mit mir, was aber, wenn es in Sodom fünfzig gute Menschen gibt? Würdest du dann immer noch die ganze Stadt zerstören? Es heißt doch, man soll jeden gerecht richten.«

Das war ein starkes Argument, und der Herr hatte, ehrlich gesagt, noch gar nicht darüber nachgedacht. Deshalb unterhielt er sich so gern mit Abraham – der Mann hatte Ideen, die genau ins Schwarze trafen. Wie ein Kind, das seine Eltern auf die richtigen Werte verpflichtet.

Der Herr sagte: »Okay, also weißt du, du hast recht. Wenn es in Sodom fünfzig gute Menschen gibt, werde ich der ganzen Stadt vergeben. Ja, wenn es fünfzig gibt, mache ich genau das.«

Nun, vielleicht war »allen vergeben« versus »alle vernichten« nicht wirklich das, worauf Abraham mit seiner Bemerkung über gerechtes Richten hinauswollte.

Aber so, wie man es bei einem schwierigen Chef eben macht, blieb Abraham ruhig und respektvoll. »Ehrlich, wer bin ich, um dir Vorschläge zu unterbreiten, ich bin buchstäblich nur Staub und Asche, und du bist der Herr, aber was hältst du davon: Wenn von diesen fünfzig guten Menschen nur fünf fehlen, würdest du die Stadt doch trotzdem nicht zerstören, oder? Wenn es nur fünfundvierzig gäbe, würdest du die Stadt auch verschonen, nicht wahr?«

Dem musste der Herr zustimmen.

Und Abraham fuhr fort, als müsste er dem Herrn der Heerscharen etwas unglaublich Wichtiges vor Augen führen. Nämlich, dass jedes menschliche Leben unendlich kostbar ist, sodass man nicht einfach ganze Städte zerbomben kann, selbst wenn dort beinahe alle einen Lebensstil pflegen, mit dem man nicht einverstanden ist.

»Du würdest die Stadt wegen vierzig verschonen«, sagte er. Dann: »Du würdest die Stadt wegen dreißig verschonen. Du würdest die Stadt wegen zwanzig verschonen. Du würdest die Stadt wegen zehn verschonen.«

Hier ging es um etwas wirklich Wichtiges; Abraham argumentierte gegen die Kollektivstrafe. Doch aus dem Text wird nicht ersichtlich, dass der Herr diese Idee wirklich schon begriffen hätte.

Und Abraham sagte noch etwas anderes. Nämlich, dass man, selbst wenn man unglaublich mächtig ist, nicht einfach gehen kann, wenn die Dinge sich zum Schlechten wenden. Dafür ist Macht nicht da. Man kann nicht einfach sagen: »Scheiß drauf, das hier war ein Fehler, ich mach mal Schluss damit.« Wenn man Macht hat, muss man sie einsetzen, um zu helfen.

»Okay, du hast recht«, sagte der Herr. »Ich würde die Stadt wegen zehn guten Menschen verschonen.«

Der Herr lernte dazu, und das ist echt kein schlechter Grund für die Erschaffung der Menschheit.

Jedenfalls stellte sich heraus, dass es in der Stadt keine zehn guten Menschen gab. Nur ein einziger Mann erfüllte halbwegs die Anforderungen – Lot, Abrahams Neffe. Der Herr hatte genug von dem Gespräch mit Abraham. Der war ein kluger Kerl, aber allmählich tat dem Herrn der Kopf weh. Und so beschloss er, Feuer und Asche auf die Städte der Ebene regnen zu lassen.

Aber ich meine, das ist doch die eigentliche Frage, oder? Ist es in Ordnung, einen Ort aufzugeben? Wie wenig Gutsein ist zu wenig? Wann ist keine Zukunft mehr übrig?

>> ArturoMegadog, Status: Alles dauerhaft haltbar

@OneCorn: Ehrlich, du fängst wieder mit dieser Scheiße an?

Du wirst bestimmt wieder geflamt.

Geht es um die Sache mit den Milliardärsbunkern?

Krieg ich Gelegenheit, Lenk Sketlish zu haten?

Okay. Du wirst trotzdem geflamt, weil du das auf /strategien machst. Aber mach weiter. Ich glaube, ich bin sowieso der Einzige, der derzeit mitliest.

>> ArturoMegadog, Status: Alles dauerhaft haltbar

Na, dann fasse ich das mal als Kompliment auf, und vielen Dank auch!

>> DanSatDan, Status: Eine Dose Bohnen

@OneCorn:ABRAHAMUNDGOTT? Was ist das denn für ein religiöser Scheiß? Ich bin nicht wegen so einem Mist hier. Mit dem Zeug liegen mir meine Eltern schon ständig in den Ohren, vielen Dank auch. Ich dachte, in diesem Unterforum geht es um ernst zu nehmende Survival-Strategien und nicht um so einen Quatsch. Geh auf ntd/endofday, wenn das dein Ding ist.

>> ArturoMegadog, Status: Alles dauerhaft haltbar

@OneCorn: Ich hab’s dir gesagt.

ArturoMegadog

@DanSatDan: Mach mal halblang, Kleiner. Bevor du in einen flamewar gerätst und hinterher Brandsalbe brauchst … versuch dir klarzumachen, wen du beleidigst. Schau mal unter OneCorns Best-of, okay? OneCorn macht so was manchmal. Mit der Form experimentieren. Bruchstücke ineinanderfügen, die so wirken, als passten sie nicht zusammen. Am Ende hat das fast immer seinen Sinn. OneCorn weiß, was OneCorn tut. Hab Vertrauen.

zhen

1  seasons time: deine zeit

Einige Monate vor dem Weltuntergang shoppte Lai Zhen – Top Fifty Creator im Name-The-Day-Forum und dort die Topexpertin, was technische Hilfsmittel für den postapokalyptischen Überlebenskampf anging – an einem schwülwarmen Tag im Juni in der Seasons Time Mall in Singapur neue Hardware, als jemand versuchte, sie zu erschießen.

Ironischerweise hatte Zhen kürzlich ein Video mit dem Titel »Was dir durch den Kopf geht, wenn jemand auf dich schießt« gepostet. 6,3 Millionen Menschen hatten es gesehen. Sie war zynisch und geistreich aufgetreten und hatte in die Kamera gesprochen; als ihre Assistentin die Pistole abfeuerte, war sie tief unten am Boden in einer Vorwärtsrolle aus der Schusslinie gehechtet.

■Sie sagte: Vergiss nicht, dass der Schock es dir erschweren wird, dich zu konzentrieren.

■Sie sagte: Du wirst erstarren, du musst gegen deinen Instinkt ankämpfen.

■Sie sagte: Denk dran, du wirst dir vielleicht in die Hose machen.

■Sie grinste.

■Nein, wirklich, sagte sie. Das meine ich ernst.

Der oberste Kommentar lautete: »Verdammt cooler Survival-Instinkt.« Das Video hatte 15.272 Likes bekommen. Lai Zhen hatte den Untergang Hongkongs und siebzehn Monate in einem britischen Flüchtlingslager überlebt. Sie sprach in dem unbeteiligten, ironischen, humorvollen, fachmännischen und nur leicht emotional gebrochenen Stil darüber, der inzwischen angesagt war, wenn man über das Ende der Zivilisation redete. Zhen war dreiunddreißig Jahre alt, und eine zunehmend auf Survival-Fragen konzentrierte Welt ständig hochkochender Krisen war scharf auf das, was sie zu bieten hatte.

Doch Symbol und Wirklichkeit sind niemals dasselbe. Wenn eine Freundin für ein Video, das mehr Klicks für die Outdoorbekleidungsmarke deines Sponsors generieren soll, Platzpatronen verschießt, ist das etwas ganz anderes, als wenn vier Kugeln die Schaufenster eines Elektronikmarkts in der Seasons Time Mall in Singapur durchschlagen. Als die Schüsse zwei Fernseher und die Touristin trafen, die neben ihr stand, nutzte Zhen tatsächlich keine Merksätze, um ihre Angst zu überwinden, und wandte auch nicht die Vier-sieben-acht-Atemtechnik an. Vielmehr war alles, was sie hörte, ihre eigene dumme Stimme in ihrem Kopf, die sagte: Du wirst dir vielleicht in die Hose machen.

Die Seasons Time Mall war die größte Einzelhandels-Megacity der Welt; sie gehörte einem internationalen Tech-Konzern, der Zhen eingeladen hatte, an einer Wohltätigkeitsveranstaltung teilzunehmen – Flüchtlingshilfe, Hilfe für Flut- oder andere Katastrophenopfer, irgendwas in dieser Art. Zhen musste immer noch verwinden, dass die Frau, auf die sie stand, sie anscheinend abserviert hatte und sie seit Monaten mehr oder weniger ghostete. Dabei hatte Zhen geglaubt, es könnte etwas Ernstes daraus werden. Sie hatte die Einladung angenommen, weil sie gehofft hatte, es würde sie trösten, sich im verklemmtesten Staat der Welt aufzuhalten, und weil es ihre Devise war, in Bewegung zu bleiben, wenn sie sich beschissen fühlte.

Ihr guter Freund Marius hatte gesagt: »Du gehst hin, weil Flüchtlingshilfe dir wichtig ist. Diesen düsteren postmodernen ironischen Jean-François-Lyotard-Quatsch kauf ich dir nicht ab.«

Es stimmte schon, sie hatte es abgelehnt, ein selbstaufbauendes Zelt in Addis Abeba und eine revolutionäre neue Smartfaser-Jacke in Helsinki zu testen. Sie hatte eine mehrere Länder umfassende PR-Reise für Schutzräume abgesagt, die in achtzig Großstädten der Welt ab 7.000 Dollar jährlich für jedermann zu mieten waren – was sind schon 7.000 Dollar im Austausch für Seelenfrieden? Das war ihr Ding: nicht Stöckchen aneinanderzureiben, um Feuer zu machen, sondern die beste Ausrüstung zu kaufen, die man sich leisten konnte, und sich smarte Technologien zunutze zu machen, um beim grauenhaften Zusammenbruch der Zivilisation mit dem Leben davonzukommen. Doch all das hatte sie zugunsten einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Singapur abgelehnt.

»Idiot«, sagte sie zu Marius. »Ich habe keine Gefühle; du kannst mir keine nachweisen.«

Sobald sie mit dem Flugzeug aus San Francisco eingetroffen war, hatte sie sich direkt von ihrem Hotel zur Seasons Time Mall begeben, um zu sehen, welche technologischen Neuheiten noch nicht bis in die USA gelangt waren. Die Flüchtlingskrise ließ sie kalt, die Ungleichverteilung des Reichtums regte sie nicht auf, und die verdammte Funkstille mit dieser Frau war ihr scheißegal. Sie war hier, um zu konsumieren.

Der Slogan für das größte Einkaufszentrum der Welt lautete: »In der Seasons Time ist immer deine Zeit«, aber eigentlich hätte es heißen müssen, es ist niemals überhaupt irgendeine Zeit. Verschiedene Bereiche der Mall hielten unausgesetzt eine künstliche Vorspiegelung dieser oder jener Jahreszeit aufrecht; religiöse Feste, Naturereignisse und nationale Feiertage drängten sich ohne Ordnung zusammen, ganz im Einklang mit dem Agnostizismus der Shoppingmall. Wie in Disneyland war es immer die richtige Zeit für einen Umzug, und der Winterschlussverkauf fand alle achtundvierzig Stunden jeweils für eine Stunde statt, einem Zeitplan folgend, der nur auf der It’s-Your-Time-App der Seasons Time veröffentlicht wurde. Glaubte man den vielfältigen Posts mit lahmen Kommentaren, war die Seasons Time entweder ein unglaublich abstoßender Fall kultureller Aneignung, eine ökologische Katastrophe, ein charmantes Beispiel singapurischer Launenhaftigkeit oder – ehrlich, mach dich mal ein bisschen locker – ein cooler Ort für einen nachmittäglichen Einkaufsbummel.

Auf dem Weg durch das Kürbisgewürz-Tor zur Plaza des Internationalen Frauentags hatte Lai Zhen die verschiedenen Möglichkeiten im Kopf durchgespielt. Sie war hier, um die Mall zu erleben und zu genießen, aber auch, um sich zu ihr zu äußern und sowohl verächtlich als auch beleidigt über sie abzulästern. Eine berauschende Mischung, so intensiv wie der Duft von Zimt, Muskatnuss und Nelken, der aus den Belüftungsschächten über ihrem Kopf strömte. Genüsslich gab sie sich der wundervollen Ablenkung hin, dass nichts, was hier geschah, jemals gänzlich real war, und so war sie selbst – solange sie hier war – es auch nicht.

In Christmas ging sie in einen Elektronikmarkt: Glasdecken und funkelnde Lichter. Es gab eine neue Kamera, die sie gern ausprobieren wollte. Sie nahm sie mit zum Fenster. Draußen zeigte eine Wand von Thinscreens Aufnahmen des von seinen Assistentinnen und Assistenten flankierten Lenk Sketlish, der die Einrichtung eines weiteren FutureSafe-Naturschutzgebietes ankündigte. Nein! Bitte keine Auseinandersetzung mit der realen Welt in der Seasons Time! Zhen richtete die selbstfilternde multifokale Linse auf eine Art Schneekristall aus Glas, der von der Decke herabhing. Sie zoomte das Bild heran, stellte es ein und erzeugte mit verschiedenen Filtern eine gestochen scharfe Version. Sie betrachtete die Schneeflocke gerade durch den Sucher, als diese plötzlich explodierte.

Sie platzte auf, als liefe ein Zerfallsprozess im Zeitraffer ab. Die Spitzen brachen ab, das Innere spritzte heraus, und beinahe gleichzeitig ertönte ein Geräusch wie von ein paar Feuerwerkskrachern drei Stockwerke weiter oben.

Sie dachte:

■Cooler Effekt?

■Nein.

■Ist das eine Art …

■Könnte das eine Panne sein, denn es wirkt wie …

■Ich wette, im Film fummeln sie am Sound herum, damit der Schuss eindrucksvoller wirkt. Das hat sich wirklich nur nach einem kleinen Kracher angehört.

■Oh, Scheiße.

Vier explodierende Löcher öffneten sich im Schaufenster, Glassplitter glitzerten wie Lametta.

Lai Zhen hatte zwölf Videos über das Szenario eines Amoklaufs mit Schusswaffen gedreht. Sie spürte, dass ihr Mund aufklappte wie die Anzeige eines Spielautomaten, und registrierte, dass sie krampfhaft nach einer Erklärung suchte, wie Glas einfach so kaputtgehen konnte. Im Kopf ging sie diverse Survival-Strategien durch, kam jedoch zunächst auf keinen grünen Zweig. Wie man Regenwasser mit einem Bettlaken auffängt? Nein. Wie man frischen Mais mit Salz haltbar macht? Nein. Wie man eine AK-47 auseinandernimmt und reinigt? Schon wärmer. Ein Amoklauf. Das ist es. Rennen.

Und sie rannte.

Nicht aus dem Laden heraus. Auf der Weite der Christmas Plaza wäre sie ein einfaches Ziel. Sie sah sich um. Ja, dort, weiter hinten, Lagerräume. Dort musste es einen Lieferanteneingang geben. Die anderen Kunden standen noch immer mit offenen Mündern da. Zhen selbst kam sich zu langsam vor, doch die anderen hatten noch nicht einmal zu schreien begonnen.

Sie sprang über die Theke, als eine kleine japanische Dame in einer makellos sauberen Jeans und einem beigefarbenen Wollmantel eine Kugel in die Schulter bekam. Blut spritzte über die Thinscreens, die Tastaturen und die Kamera-Gimbals. Zhen warf einen Blick zurück. Der Ehemann der Japanerin kauerte über ihr, die anderen Kunden rannten in alle Richtungen davon. Denk nach. Nachdenken. Versuch dich an irgendetwas von dem zu erinnern, das du gelernt hast, du Idiotin.

In dem Raum hinter der Theke standen Kartons mit technischen Geräten auf Metallregalen. Einen Moment lang dachte sie, verdammt, Sackgasse, doch im gleichen Augenblick erspähte sie, halb von den Regalen verdeckt, eine weitere Tür. Sie drehte am Türgriff. Das Schloss leuchtete rot auf. Fuck. In ihrer Hosentasche fand sie ihren Schlüsselbund mit dem elektronischen Universalschlüsselanhänger und hielt ihn ans Schloss. Sie wartete drei lange Sekunden und dachte an den Hinweis des Herstellers, »universal« habe eine begrenzte Bedeutung, und an Marius’ Spöttelei, das Ding sei »ein blödes Gadget, mit dem du nicht mal Umschlag aufkriegst«. Aber wie gut gesichert konnte der Lieferanteneingang einer Mall schon sein? Sie wartete. Wartete noch länger. Das Licht wechselte zu Grün. Der Griff ließ sich drehen.

Sie trat in einen langen, spärlich erleuchteten Gang, an dessen Wänden sich Kartons stapelten. Die Schreie aus der Mall wirkten sofort gedämpft.

Sie machte die Tür hinter sich zu. Ihre Hände zitterten. Okay, sie war in Sicherheit. Doch was, wenn andere Menschen entkommen mussten? Sie öffnete die Tür wieder und klemmte ein Stück Pappe ins Schloss. Okay, du bist eine Heldin. Oder zumindest kein schlechter Mensch. Und jetzt raus hier, Zhen, weg von der Tür, los, weiter.

Sie schaute nach links und rechts. Rechts waren Fiberglasstühle aufgetürmt wie Bücherstapel. Links bildeten dreihundert Meter Pappkürbisse, manche mit dem Schriftzug »Sale«, einen wackeligen Hügelkamm. Zhen versuchte sich zu erinnern, wo es nach draußen ging. Links kam erst … Halloween, dann Valentinstag, dann Kirschblütenfest, dann Mexikanischer Totentag und dann der Ausgang. Sie wandte sich nach links und rannte los.

Hinter ihr war nichts zu hören. Sie war noch am Leben und unverletzt, abgesehen von ein paar Kratzern am Arm, wo sie herumfliegende Glassplitter getroffen hatten. Sie hatte niemandem das Leben gerettet, aber sie hatte ihre Sache auch nicht schlecht gemacht. Das hier war schrecklich, aber sie war nur zufällig hineingeraten; der Schütze war vermutlich bereits tot – in Singapur würde man da nicht lange fackeln. Zhen hatte Material für einen total coolen Post, in dem sie davon berichten würde, wie sie ihr Wissen im präapokalyptischen Großstadtdschungel eingesetzt hatte. Ah, der Eigennutz kehrt zurück, dann fühle ich mich wohl wieder sicherer.

Zhen warf einen weiteren Blick zurück. Nichts. Niemand war ihr durch die Tür gefolgt. Schüsse ertönten auch keine. Sie hörte nicht einmal, dass jemand an dem Türgriff hantierte. Okay. Survival-Training. Sie verharrte hinter einem Regal mit Plastikkürbis-Laternen und wartete, bis ihr Herzschlag sich normalisierte und das Rauschen in ihren Ohren aufhörte. Wenn es ein Einzeltäter war, wäre es am besten, aus dem Gebäude zu verschwinden. Aber es konnte sich auch um einen Terrorangriff handeln. Möglicherweise warteten mehrere Schützen vor der Mall und knallten die Herauskommenden ab. In diesem Fall sollte sie sich hier verstecken, in diesem düsteren Nirgendwo zwischen den Verkaufsräumen.

Zhen lief an den letzten Promi-Kürbissen vorbei – Ryan Reynolds mit aufgesprühtem Silberhaar und Zendaya, beide als knollige, orangerote Karikaturen. Sie wandte sich nach rechts zu den rosa Glitzerherzen aus Styropor. Valentinstag. Neben »antiken« griechischen Krügen aus Plastik, die mit Konfetti gefüllt waren, lehnten, dreifach gestaffelt, grellbunte Putten mit langen Augenwimpern an der Wand. Tonnen in langen Reihen waren mit Kuscheltieren gefüllt, die Plüschherzen in den Pfoten hielten. Viele von ihnen waren Füchse. War das jetzt in? Weihnachten Rentiere, Ostern Hasen und am Valentinstag Füchse? Musste inzwischen jedes Fest sein Tier-Maskottchen haben? Zhen lauschte erneut. In verschiedenen Bereichen des Gebäudes heulten Sirenen. Aber hinter ihr waren keine Schritte zu hören.

Sie schaute sich um – der Gang war menschenleer. Das Fiberglasgestell eines Drachenboots lehnte an der Wand. Sie wandte sich nach vorn – das japanische Kirschblütenfest in Verbindung mit einer Papierlaternenzeremonie. Pappmaschee-Zweige voller Papierblüten und Glitter, mit Laternen behängt, eine Reihe Jukeboxes aus den 1950er-Jahren, die Kabel in Steckdosen. Seit vier Jahren hielt Zhen jährlich einen dreitägigen Outdoor-Survival-Kurs zum Thema »kalkuliertes Risiko« ab. Denk nach.

Weiter vorn gab es einen sicheren Weg nach draußen. Hinter den Totentag-Totenschädeln und den mexikanischen Deko-Fächern aus Spitze entdeckte sie ein grünes Exit-Schild. Zweite Exit-Möglichkeit: hinter den Zucker-Totenköpfen das Paneel zur Zwischendecke öffnen. Gut. Verstecken und sich weitere Informationen beschaffen. Seit der Explosion der Schneeflocke mussten sechs oder sieben Minuten vergangen sein. Inzwischen würde der Vorfall viral sein.

Sie eilte zurück und versteckte sich in einer Tonne voller Valentinstagsfüchse aus Plüsch. Sie kauerte sich ganz unten am Rand der Tonne zusammen, wo Haarbüschel aus falschem Fuchsfell lagen, dick wie feuchtes Moos auf dem Boden eines Regenwaldes, und schob sich die Stofftiere über den Kopf.

Sie schaltete den flexiblen Thinscreen an ihrem Jackenärmel ein. War der schwarze Punkt auch da schon in der Ecke des Displays gewesen? Hinterher konnte sie sich nicht mehr daran erinnern. Sie suchte nach der Seasons Time Mall.

Da war es. Post um Post. An einer Lichtschiene hatte es eine Panne gegeben. Dabei waren Metallteile in alle Richtungen geflogen und hatten zwei Fenster zerschmettert. Eine Touristin war von einer Glasscherbe am Arm verletzt worden, zum Glück nicht schwer. Man sah Fotos von Sicherheitsleuten, die die riesigen Türen zu beiden Seiten des Quadranten öffneten, und von Ständen auf den Parkplätzen, wo kostenlos heiße Schokolade und Pho-Suppe ausgegeben wurden. Die Kunden erhielten zur Entschädigung für die Unannehmlichkeiten einen Hundert-Dollar-Gutschein, den sie in jedem Laden der Mall einlösen konnten. Konsumentenfreundlicher Kapitalismus vom Feinsten.

Zhen kam sich dämlich vor. Das hatte man davon, wenn man zu viel trainierte. Eine Lichtschiene ist explodiert, und du denkst, man schießt auf dich. Was kommt als Nächstes? Jemand betätigt die Klospülung, und du meinst, es ist ein Tsunami? Ihre Ex Ya-Ling hatte recht gehabt: Sie sollte eine Therapie machen. Darüber reden, dass sie als Jugendliche in einem Flüchtlingslager gelebt und ihre Mutter verloren hatte. Und über die Sache mit dem Hund. Und sie sollte sich eine neue Beschäftigung suchen, weil sie die Gefahr überall lauern sah. Apokalypse-Shows, der unausgesetzte Trommelschlag von Survival-Strategien, Fluchtrouten und Notfalltaschen, und das macht die Dinge nicht besser, Zhen, oder? Es macht sie nur schlimmer, und am Ende landest du da, wo du jetzt bist.

Als sie sich vorstellte, wie sie von außen aussehen musste, stieg ein Lachen in ihr auf. Sie lag im menschenleeren Gang einer Shoppingmall unter einem Berg von Plüschfüchsen. Was trieb sie hier eigentlich? Ganz einfach, sie ließ sich einen kostenlosen Teller Pho-Suppe entgehen.

Ihr unterdrücktes Kichern wollte gerade in Gelächter übergehen, da zerriss ein Schuss die Plüschtiere zu Fellwolken, die sie zu ersticken drohten. Noch bevor sie darüber nachdenken konnte, was sie für diesen Fall trainiert hatte, sprang sie aus der Tonne und schleuderte sie in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Und dann rannte sie los.

Sie warf einen Blick zurück. Eine Frau. Langes, schlabberiges Blümchenkleid, das Haar zusammengebunden und unter eine sackartige Mütze gestopft. Jeansjacke, ausgelatschte Turnschuhe. Wäre man ihr auf der Straße begegnet, hätte man sie für eine dieser verbissenen Fußball-Mütter halten können, der die anderen Eltern aus dem Weg gingen. Doch ihre Waffe war mehr als real: eine Beretta M9A3 mit Schalldämpfer. Diese Frau kannte sich mit Pistolen aus. Hätte Zhen sich nicht am Rand der Tonne zusammengerollt, sondern in der Mitte gesessen, hätte diese Frau sie erschossen.

Mit einem kleinen Vorsprung bog Zhen um die nächste Ecke. Sie warf eine große Fiberglasbrücke um und stieß die künstlichen Kirschblütenbäume darauf. Das würde ihre Verfolgerin nicht aufhalten, aber Zhen konnte sich einige Sekunden niederkauern, ohne dass die Frau sie sah. Die zweite Exit-Möglichkeit. Zhen schleuderte Körbe voller Flexifilm-Kirschblüten in die Luft. Sie schwebten ganz langsam nieder, verwandelten dabei die kinetische Energie in flackerndes Licht und schufen einen funkelnden Vorhang aus Pink, Rosa, Altrosa, Weiß und Rosé. Zhen drückte die Schalter an der erstbesten Jukebox – sie spielte eine funkige Version des Sakura-Lieds, laut genug, um die Geräusche zu übertönen, die sie nun gleich machen würde. Während die falschen Blütenblätter nach unten schwebten und der Bass dröhnte, schlüpfte Zhen in den Kriechraum hinter dem Baum und zog das Paneel hinter sich zu.

Sie bemerkte es kaum, aber sie hatte sich tatsächlich in die Hose gemacht.

2  mit perfekt vorgespielter überraschung

Im Januar war Lai Zhen eine der gefragteren Referentinnen bei der jährlichen DEMOlition-Konferenz in London gewesen. Jedoch nicht eine der wohlhabendsten oder mächtigsten Geladenen. Die Reichen waren anderswo gewesen, und ihre Wege hatten sich kaum mit denen der eigentlichen Content Creator auf den unteren Stockwerken des Konferenzgebäudes gekreuzt.

Während Lai Zhen einen Vortrag über »Fünf Survival-Tools, ohne die man buchstäblich nicht leben kann (und zehn neue Arten, sie zu benutzen)« hielt, trat Martha Einkorn, Persönliche Assistentin von Lenk Sketlish, aus dem Aufzug auf die begrünte Dachterrasse. Die Champagnerkorken knallten wie Pistolenschüsse, und das blasse Getränk strömte perlend in die Gläser.

Martha hatte tausend Dinge einfädeln müssen, um zu diesem Moment zu gelangen. Und wenn alles gut lief, würde dieser Moment erst der Anfang sein.

Alle waren da, wiesen auf die Besonderheiten der Londoner Skyline in der Januarsonne hin oder beachteten die Skyline gar nicht erst, weil sie sie schon so oft gesehen hatten. Zimri Nommik von Anvil, das asymmetrische Gesicht gebräunt, wie er sich an dem Lächeln versuchte, das ein Coach ihm beigebracht hatte. Neben ihm, selbstbewusst und entspannt, Selah Nommik – sie hatte in Cambridge Informatik studiert, war dieser Tage aber vor allem für ihre Bemühungen bekannt, Zimris riesiges Vermögen, wo immer er es zuließ, für gemeinnützige Zwecke einzusetzen. Lenk Sketlish war natürlich auch da, schlank und blass in seinem perfekt sitzenden Anzug; Martha stellte sich neben ihn. Ebenfalls vor Ort: Ellen Bywater, CEO von Medlar, vor Kurzem verwitwet, irischer Abstammung und – in Naturstoffe und neutrale Farben gekleidet – so elegant wie immer. Sie wandte den Kopf zur Seite, als hörte sie dort ihren verstorbenen Mann Will, als flüsterte er ihr noch immer etwas ins Ohr.

Ellen Bywater hatte ihr jüngstes Kind zur Party mitgebracht. Badger Bywater hatte kurzes dunkles Haar und schwarz lackierte Fingernägel. Vor Kurzem hatte Badger sieren Fantail-Kanal dazu benutzt, kritische Videos über Tech-Firmen zu posten. Es war typisch für Ellen Bywater, dass sie Badger daraufhin zu dem Event mitgenommen hatte. Auf ähnliche Weise war auch Albert Dabrowski, der ausgebootete Gründer von Medlar, zu seiner Einladung gekommen. Albert versteckte sich hinter der schmelzenden Eisskulptur eines Reihers. Das weite Hawaiihemd war über seinem runden Bauch zugeknöpft, und er trank mit stummer Entschlossenheit. Ellen lud ihn immer zu den hochkarätigen Medlar-Events ein, weil es ihr wichtig war, dass alle anderen die Geschichte glaubten, sie habe ihn zu einem unglaublich reichen Mann gemacht. Viel reicher, als er je hätte werden können, hätte sie zugelassen, dass er seine Firma weiterhin so stümperhaft führte. Wahrscheinlich war er ganz zufrieden damit. Hin und wieder nahm er diese Einladungen an, brachte niemals seinen Mann mit, trank immer zu viel und erzählte jedem, dass er auf dieser Feier die »böse Fee« sei.

Martha lächelte Zimri zu und schaute dann weg – das war angenehmer für ihn, da er sich bei solchen Veranstaltungen immer unwohl fühlte. Zwischen Lenk, Ellen und Zimri hatte Martha aktuell die meiste Zeit auf Zimri verwandt. Er hatte es nie öffentlich zugegeben, doch Martha vermutete, dass er autistisch veranlagt war. Er war extrem intelligent und tiefer in jede Einzelheit seiner weltverändernden Firma eingearbeitet, als selbst Lenk oder Ellen es sich je hätten vorstellen können. In einem anderen Zeitalter wäre er vielleicht Gelehrter oder sogar Mönch geworden, und niemand hätte von ihm verlangt, auf Partys zu erscheinen. Aber natürlich stellte Martha sich das alles nur vor – in einem früheren Zeitalter wäre er vielleicht der ehrgeizige Berater eines skrupellosen Königs gewesen. Die Tatsachen im Leben eines Menschen sind, wie sie sind. Zimri war keineswegs von seinem Zeitalter geformt worden, sondern hatte die ersten Jahrzehnte des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu seinen eigenen gemacht. Anvil war mehr wert als Medlar und Fantail zusammen. Es wäre unsinnig, Mitgefühl mit ihm zu haben.