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Erstmals in Buchform: Vier Danksagungen von Marie-Luise Scherer für zuerkannte Preise, vor allem aber vier Prosakunststücke, in denen sie über ihr Leben erzählt. Marie-Luise Scherer hat ihr Schreiben einmal als Silbenarbeit bezeichnet; jeder Satz müsse passen wie ein Handschuh. Dieser höchste Anspruch an Beobachtungsgenauigkeit und Formulierungskunst mag eine Ursache dafür sein, dass wir heute so wenige Texte von ihr haben. Allerdings sind diejenigen, die sie denn doch zur Veröffentlichung freigegeben hat, auf allergrößte und anhaltende Bewunderung gestoßen. Leser, Schriftstellerkollegen, Literaturpreisjurys zeigten sich gleichermaßen fasziniert. So hat Marie-Luise Scherer in den letzten Jahren gleich mehrere renommierte Literaturpreise erhalten. Sie nutzte die Dankesreden, die ihr abverlangt wurden, für Prosastücke über die Menschen, die für ihr Leben wichtig waren und sind: über die Großeltern, die Eltern, familiäre häusliche Verhältnisse. Sie widmet sich dem sonst oft Übersehenen, unbedeutend Scheinendem, dem Kreatürlichen, den Tieren. Wie sie das zur Sprache bringt, ist einzigartig. Vier dieser Danksagungen nicht nur an die Preisgeber, sondern vor allem an die, von denen die Rede ist, versammelt dieser Band. Große Literatur.
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Seitenzahl: 54
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Marie-Luise Scherer
Nachdem im Sommer von einigen Zeitungen gemeldet worden war, dass ich den diesjährigen Ludwig-Börne-Preis erhalten sollte, bekam ich Post aus Italien. Es war ein großformatiges Kuvert mit vielen dicht beschriebenen, durch die Kopierschwärze schwer lesbaren Textseiten und ebenso schwarzen Fotos. Bei der Absenderin handelte es sich um eine in der Toskana lebende Deutsche.
Den Briefkopf ihres Anschreibens bildeten ein Hunde- und ein Katzengesicht. Ich hatte also einen jener Briefe geöffnet, die ich ihres Umfanges wegen für gewöhnlich fürchte. Sie sind in der Regel üppig frankiert, die Marken mit Bedacht gewählt und legen so schon optisch eine gewisse Zutraulichkeit an den Tag, die einen zur Lektüre nötigt.
Häufig beinhalten solche Zusendungen Lebensläufe oder Geschehnisse, welche in thematischer Nähe zu meiner jeweils letzten Reportage liegen. Das Hunde- und das Katzengesicht auf dem Briefkopf signalisierten mir Tierschicksale, deren journalistische Verbreitung sich die Schreiberin von mir erhoffen mochte. Für jenen dicken Brief jedoch hatte der Ludwig-Börne-Preis bzw. der Ort seiner Verleihung den Ausschlag gegeben. In einer der Pressenotizen war die Paulskirche anfangs als Örtlichkeit genannt worden. Aber genauso würde der Kaisersaal des Frankfurter Römer das Ansinnen der Frau provoziert haben. Schon in den ersten Sätzen gab sie sich als eine unmoderate, hemmungslos das Leid der Tiere beklagende Frau zu erkennen. Sie verunglimpfte die berühmte Landschaft, in der sie lebte, als ein Siedlungsgebiet für Fresser aus Deutschland, als eine Kolonie der Fettleberkranken, als Revier der schlimmen Jäger und Hölle für die ansässige Kreatur.
Die Hundemeuten der Jägerschaft vegetierten unter praller Sonne in kleinen Pferchen, und sie versuche hier und dort, ihnen mit Schirmen und Planen Schatten zu schaffen. Der Bauer treibe in Ermangelung eines Bolzenschussgerätes seinem Schwein einen Nagel in den Kopf, und sie sammele Geld für Bolzenschussgeräte. Sie brachte das bessere Töten bei Massenschlachtung in Erwähnung. Eine Pilotanlage im schweizerischen Tänikon berücksichtige unter anderem die Vorliebe des Schweines, zu zweit statt alleine zu laufen. Aus diesem Grund habe das Förderband, welches zur Tötungsstelle fahre, einem Spiegel vergleichbare Seitenwände aus poliertem Metall, sodass das Schwein sich von einem Artgenossen begleitet fühle und seine Angst verliere.
In dem Brief breitete sich ein Kosmos der Tierqualen aus. Und in seiner Mitte stand eine Frau, welche sich das Ansehen einer Verrückten erworben hatte. Sie beeile sich jetzt, schrieb sie, den Papst in Rom, bevor er vollends hinfällig werde, noch für die Tiere gewinnen zu können, für ein weltweit hörbares Machtwort an all die Menschen gerichtet, die ihnen Leid zufügen. Und schließlich bat sie mich, für den Fall, dass ich eine Rede halten müsse, im Sinne der Tiere den prominenten Ort der Preisverleihung sowie die Multiplikatoren in der Zuhörerschaft zu nutzen. Sie halte sich auch gerne bereit, mit Tieren nach Frankfurt hinaufzufahren.
Im August dieses Jahres war in der »Tageszeitung« ein Agenturfoto von der Ankunft kubanischer Flüchtlinge in Key West / Florida erschienen. Im Hintergrund lag ein Boot der amerikanischen Küstenwache, welches sie gerettet hatte, und im Vordergrund der Menschenfülle lief ein Hund. Neben dem kompakten Schatten seines Körpers gab es noch den schmalen Schatten einer Schnur. Es gehörte zu jenen Fotos, deren eigentliches Hauptmotiv mich weniger zu bannen vermag als eine in das Bild hineingeratene Nebensache.
Ähnlich erging es mir bei einer Fotografie, auf der Sigmund Freud mit seiner Frau Martha und seiner Schwägerin Minna Bernays in deren Garten in Hamburg-Wandsbek sitzt. Das Foto gilt als ein Dokument für die delikate Eintracht des Psychoanalytikers mit beiden Schwestern. In meiner Erinnerung habe ich mir jedoch die drei Sitzenden weder auf einen Gefühlskonflikt hin angesehen, noch habe ich einen Hinweis für das Wesen ihrer Bindung darin gesucht, wie ihre Stühle zueinander standen. Mein ganzes Interesse galt dagegen dem völkischen Rautenmuster auf der Kaffeedecke. – Was nun diese Schnur betraf: Sie war bei näherem Hinsehen am Hals des Hundes befestigt und endete zusammen mit den Trageriemen einer Tasche in der Hand einer Frau. Es war ein unscheinbarer Hund, einer von der Sorte jener Hungerhündchen in den Städten heißer Länder, der hier im Bild eine gelungene Flucht anführte. Mit der anderen Hand hielt die Frau den Arm eines Jungen, ihres Sohnes offenbar, und hinter diesem, in augenfälliger Zugehörigkeit, lächelte ein Mann.
Die Familie schien vollzählig zu sein, zumindest in der Konstellation von Vater, Mutter und Kind. Vielleicht würde sie Großeltern, einige Tanten und Onkel in ihrem bevorstehenden Leben vermissen, für ihr engeres Glück wären diese Zurückgelassenen aber zu verschmerzen. Außerdem könnte die Familie auf die Hoffnung setzen, in besseren Zeiten heimzukehren. Man würde sich also nicht verlieren.
Ich gebe zu, all diese Überlegungen nie angestellt zu haben, wäre die Familie ohne den Hund geflohen. Die Vorstellung jedoch, dass er zum Allernötigsten gehörte, sein Dabeisein unaufschiebbar war, dass man ihn anstelle einer zweiten Tasche mit aufs Floß genommen hatte, entzückte, ja erquickte mich.
Meine Damen und Herren, verzeihen Sie bitte, dass ich immer noch nicht von Ludwig Börne geredet habe, es auch nicht zufriedenstellend tun kann, obwohl ich in den zurückliegenden Wochen viel von ihm und über ihn gelesen habe. Allein die Menge seiner »Briefe aus Paris«, die er in kurzen Abständen verfasste, bedrängte mich. Nicht einmal im Diktat, in einer nur handschriftlich mir abverlangten Gehorsamsübung, würde ich das bewältigen können. Jeanette Wohl, die Frau, die – gerade weil sie ihn liebte – ihm die Ehe ausschlug, hatte ihn zu den Briefen verführt. Sie sagt:
»Ist nicht in Briefen eine weit frischere, lebendigere, anziehendere und ansprechendere Darstellung möglich als in Aufsätzen … Auch weiß ich ja schon von früher, wie das mit Aufsätzen geht. Bis nur der Plan fertig, ist schon soviel Zeit verloren, und manchmal oder gar oft, wie das natürlich, auch die Lust zur Ausführung … Bedenken Sie täglich den so reichen Stoff!«
Jeanette Wohl war seine Adressatin und die Richterin der Pariser Briefe. Und da Börne ihr gefallen wollte, ihre Gunst sein Ansporn und ihr Beifall der Maßstab für sein Schreiben war, entstanden diese Briefe unter dem besten aller Zwänge, nämlich dem, die Liebe wachzuhalten.