Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten - Johann Wolfgang von Goethe - E-Book

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten E-Book

Johann Wolfgang von Goethe

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Beschreibung

Eine schöne Novellensammlung Goethes, die das Leben sowie die Hürden und Probleme einer Gruppe von Auswanderern thematisiert.In seinem Werk spiegelt Goethe die Spannungen der Zeit wider, zwischen dem Aufbruch zu etwas Neuem und der Bewahrung alter Normen und Traditionen. Den historischen Hintergrund für die Novellensammlung bildet die Französische Revolution.-

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Johann Wolfgang von Goethe

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

 

Saga

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

 

Coverbild/Illustration: © Koller Auctions, Zurich

Copyright © 1795, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726957426

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen, womit alle ausgezeichneten Personen bedrohet waren, denen man zum Verbrechen machte, daß sie sich ihrer Väter mit Freuden und Ehren erinnerten, und mancher Vorteile genossen, die ein wohldenkender Vater seinen Kindern und Nachkommen so gern zu verschaffen wünschte.

Die Baronesse von C., eine Witwe von mittlern Jahren, erwies sich auch jetzt auf dieser Flucht, wie sonst zu Hause, zum Troste ihrer Kinder, Verwandten und Freunde, entschlossen und tätig. In einer weiten Sphäre erzogen und durch mancherlei Schicksale ausgebildet war sie als eine treffliche Hausmutter bekannt, und jede Art von Geschäft erschien ihrem durchdringenden Geiste willkommen. Sie wünschte vielen zu dienen, und ihre ausgebreitete Bekanntschaft setzte sie in Stand es zu tun. Nun mußte sie sich unerwartet als Führerin einer kleinen Karawane darstellen, und verstand auch diese zu leiten, für sie zu sorgen und den guten Humor, wie er sich zeigte, in ihrem Kreise, auch mitten unter Bangigkeit und Not, zu unterhalten. Und wirklich stellte sich bei unsern Flüchtlingen die gute Laune nicht selten ein; denn überraschende Vorfälle, neue Verhältnisse gaben den aufgespannten Gemütern manchen Stoff zu Scherz und Lachen.

Bei der übereilten Flucht war das Betragen eines jeden charakteristisch und auffallend. Das eine ließ sich durch eine falsche Furcht, durch ein unzeitiges Schrecken hinreißen; das andere gab einer unnötigen Sorge Raum, und alles, was dieser zu viel, jener zu wenig tat, jeder Fall wo sich Schwäche und Nachgiebigkeit oder Übereilung zeigte, gab in der Folge Gelegenheit sich wechselseitig zu plagen und aufzuziehen, so daß dadurch diese traurigen Zustände lustiger wurden, als eine vorsätzliche Lustreise ehemals hatte werden können.

Denn wie wir manchmal in der Komödie eine Zeitlang, ohne über die absichtlichen Possen zu lachen, ernsthaft zuschauen können, dagegen aber sogleich ein lautes Gelächter entsteht, wenn in der Tragödie etwas Unschickliches vorkommt: so wird auch ein Unglück in der wirklichen Welt, das die Menschen aus ihrer Fassung bringt, gewöhnlich von lächerlichen, oft auf der Stelle, gewiß aber hinterdrein, belachten Umständen begleitet sein.

Besonders mußte Fräulein Luise, die älteste Tochter der Baronesse, ein lebhaftes, heftiges und in guten Tagen herrisches Frauenzimmer, sehr vieles leiden, da von ihr behauptet wurde, daß sie bei dem ersten Schrecken ganz aus der Fassung geraten sei, in Zerstreuung, ja in einer Art von Abwesenheit, die unnützesten Sachen mit dem größten Ernste zum Aufpacken gebracht, und sogar einen alten Bedienten für ihren Bräutigam angesehen habe.

Sie verteidigte sich aber so gut sie konnte; nur wollte sie keinen Scherz, der sich auf ihren Bräutigam bezog, dulden, indem es ihr schon Leiden genug verursachte, ihn bei der alliierten Armee in täglicher Gefahr zu wissen, und eine gewünschte Verbindung durch die allgemeine Zerrüttung aufgeschoben und vielleicht gar vereitelt zu sehen.

Ihr älterer Bruder Friedrich, ein entschlossener junger Mann, führte alles was die Mutter beschloß, mit Ordnung und Genauigkeit aus, begleitete zu Pferde den Zug und war zugleich Kurier, Wagenmeister und Wegweiser. Der Lehrer des jüngern hoffnungsvollen Sohnes, ein wohl unterrichteter Mann, leistete der Baronesse im Wagen Gesellschaft; Vetter Karl fuhr mit einem alten Geistlichen, der als Hausfreund schon lange der Familie unentbehrlich geworden war, mit einer ältern und jüngern Verwandten in einem nachfolgenden Wagen. Kammermädchen und Kammerdiener folgten in Halbchaisen, und einige schwerbepackte Brancards, die auf mehr als einer Station zurückbleiben mußten, schlossen den Zug.

Ungern hatte, wie man leicht denken kann, die ganze Gesellschaft ihre Wohnungen verlassen, aber Vetter Karl entfernte sich mit doppeltem Widerwillen von dem jenseitigen Rheinufer; nicht daß er etwa eine Geliebte daselbst zurückgelassen hätte, wie man nach seiner Jugend, seiner guten Gestalt und seiner leidenschaftlichen Natur hätte vermuten sollen; er hatte sich vielmehr von der blendenden Schönheit verführen lassen, die unter dem Namen Freiheit sich erst heimlich, dann öffentlich so viele Anbeter zu verschaffen wußte, und, so übel sie auch die einen behandelte, von den andern mit großer Lebhaftigkeit verehrt wurde. Wie Liebende gewöhnlich von ihrer Leidenschaft verblendet werden, so erging es auch Vetter Karl. Sie wünschen den Besitz eines einzigen Gutes, und wähnen alles übrige dagegen entbehren zu können. Stand, Glücksgüter, alle Verhältnisse scheinen in nichts zu verschwinden, indem das gewünschte Gut zu einem, zu allem wird. Eltern, Verwandte und Freunde werden uns fremd, indem wir uns etwas zueignen, das uns ganz ausfüllt und uns alles übrige fremd macht.

Vetter Karl überließ sich der Heftigkeit seiner Neigung und verhehlte sie nicht in Gesprächen. Er glaubte um so freier sich diesen Gesinnungen ergeben zu können, als er selbst ein Edelmann war, und, obgleich der zweite Sohn, dennoch ein ansehnliches Vermögen zu erwarten hatte. Ebendiese Güter, die ihm künftig zufallen mußten, waren jetzt in Feindes Händen, der nicht zum besten darauf hauste. Demungeachtet konnte Karl einer Nation nicht feind werden, die der Welt so viele Vorteile versprach, und deren Gesinnungen er nach öffentlichen Reden und Äußerungen einiger Mitglieder beurteilte. Gewöhnlich störte er die Zufriedenheit der Gesellschaft, wenn sie ja derselben noch fähig war, durch ein unmäßiges Lob alles dessen, was bei den Neufranken Gutes oder Böses geschah, durch ein lautes Vergnügen über ihre Fortschritte, wodurch er die andern um desto mehr aus der Fassung brachte, als sie ihre Leiden durch die Schadenfreude eines Freundes und Verwandten verdoppelt nur um so schmerzlicher empfinden mußten.

Friedrich hatte sich schon einigemal mit ihm überworfen und ließ sich in der letzten Zeit gar nicht mehr mit ihm ein. Die Baronesse wußte ihn auf eine kluge Weise wenigstens zu augenblicklicher Mäßigung zu leiten. Fräulein Luise machte ihm am meisten zu schaffen, indem sie, freilich oft ungerechter Weise, seinen Charakter und seinen Verstand verdächtig zu machen suchte. Der Hofmeister gab ihm im stillen recht, der Geistliche im stillen unrecht, und die Kammermädchen, denen seine Gestalt reizend und seine Freigebigkeit respektabel war, hörten ihn gerne reden, weil sie sich durch seine Gesinnungen berechtigt glaubten, ihre zärtlichen Augen, die sie bisher vor ihm bescheiden niedergeschlagen hatten, nunmehr in Ehren nach ihm aufzuheben.

Die Bedürfnisse des Tages, die Hindernisse des Weges, die Unannehmlichkeiten der Quartiere führten die Gesellschaft gewöhnlich auf ein gegenwärtiges Interesse zurück, und die große Anzahl französischer und deutscher Ausgewanderten, die sie überall antrafen und deren Betragen und Schicksale sehr verschieden waren, gaben ihnen oft zu Betrachtungen Anlaß, wie viel Ursache man habe, in diesen Zeiten alle Tugenden, besonders aber die Tugend der Unparteilichkeit und Verträglichkeit zu üben.

Eines Tages machte die Baronesse die Bemerkung, daß man nicht deutlicher sehen könne, wie ungebildet in jedem Sinne die Menschen seien, als in solchen Augenblicken allgemeiner Verwirrung und Not. Die bürgerliche Verfassung, sagte sie, scheint wie ein Schiff zu sein, das eine große Anzahl Menschen, alte und junge, gesunde und kranke, über ein gefährliches Wasser, auch selbst zu Zeiten des Sturms, hinüber bringt; nur in dem Augenblicke wenn das Schiff scheitert, sieht man wer schwimmen kann, und selbst gute Schwimmer gehen unter solchen Umständen zugrunde.

Wir sehen meist die Ausgewanderten ihre Fehler und albernen Gewohnheiten mit sich in der Irre herumführen und wundern uns darüber. Doch wie den reisenden Engländer der Teekessel in allen vier Weltteilen nicht verläßt, so wird die übrige Masse der Menschen von stolzen Anforderungen, Eitelkeit, Unmäßigkeit, Ungeduld, Eigensinn, Schiefheit im Urteil, von der Lust ihrem Nebenmenschen tückisch etwas zu versetzen, überallhin begleitet. Der Leichtsinnige freut sich der Flucht wie einer Spazierfahrt und der Ungenügsame verlangt, daß ihm auch noch als Bettler alles zu Diensten stehe. Wie selten daß uns die reine Tugend irgend eines Menschen erscheint, der wirklich für andere zu leben, für andere sich aufzuopfern getrieben wird.

Indessen man nun mancherlei Bekanntschaften machte, die zu solchen Betrachtungen Gelegenheit gaben, war der Winter vorbei gegangen. Das Glück hatte sich wieder zu den deutschen Waffen gesellt, die Franzosen waren wieder über den Rhein hinüber gedrängt, Frankfurt befreit und Mainz eingeschlossen.

In der Hoffnung auf den weitern Fortgang der siegreichen Waffen, und begierig wieder einen Teil ihres Eigentums zu ergreifen, eilte die Familie auf ein Gut, das an dem rechten Ufer des Rheins, in der schönsten Lage, ihr zugehörte. Wie erquickt fanden sie sich, als sie den schönen Strom wieder vor ihren Fenstern vorbeifließen sahen, wie freudig nahmen sie wieder von jedem Teile des Hauses Besitz, wie freundlich begrüßten sie die bekannten Mobilien, die alten Bilder und jeglichen Hausrat, wie wert war ihnen auch das Geringste das sie schon verloren gegeben hatten, wie stiegen ihre Hoffnungen, dereinst auch jenseits des Rheines alles noch in dem alten Zustande zu finden! Kaum erscholl in der Nachbarschaft die Ankunft der Baronesse, als alle alten Bekannten, Freunde und Diener herbeieilten sich mit ihr zu besprechen, die Geschichten der vergangenen Monate zu wiederholen, und sich in manchen Fällen Rat und Beistand von ihr zu erbitten.

Umgeben von diesen Besuchen, ward sie aufs angenehmste überrascht, als der Geheimerat von S. mit seiner Familie bei ihr ankam, ein Mann dem die Geschäfte von Jugend auf zum Bedürfnis geworden waren, ein Mann der das Zutrauen seines Fürsten verdiente und besaß. Er hielt sich streng an Grundsätze und hatte über manche Dinge seine eigene Denkweise. Er war genau im Reden und Handeln und forderte das gleiche von andern. Ein konsequentes Betragen schien ihm die höchste Tugend.

Sein Fürst, das Land, er selbst hatten viel durch den Einfall der Franzosen gelitten; er hatte die Willkür der Nation, die nur vom Gesetz sprach, kennen gelernt und den Unterdrückungsgeist derer die das Wort Freiheit immer im Munde führten. Er hatte gesehen, daß auch in diesem Falle der große Haufe sich treu blieb, und Wort für Tat, Schein für Besitz mit großer Heftigkeit aufnahm. Die Folgen eines unglücklichen Feldzugs, sowie die Folgen jener verbreiteten Gesinnungen und Meinungen, blieben seinem Scharfblicke nicht verborgen, obgleich nicht zu leugnen war, daß er manches mit hypochondrischem Gemüte betrachtete und mit Leidenschaft beurteilte.

Seine Gemahlin, eine Jugendfreundin der Baronesse, fand, nach so vielen Trübsalen, einen Himmel in den Armen ihrer Freundin. Sie waren miteinander aufgewachsen, hatten sich miteinander gebildet, sie kannten keine Geheimnisse voreinander. Die ersten Neigungen junger Jahre, die bedenklichen Zustände der Ehe, Freuden, Sorgen und Leiden als Mütter, alles hatten sie sich sonst, teils mündlich, teils in Briefen, vertraut, und hatten eine ununterbrochene Verbindung erhalten. Nur diese letzte Zeit her waren sie durch die Unruhen verhindert worden, sich einander, wie gewöhnlich, mitzuteilen. Um so lebhafter drängten sich ihre gegenwärtigen Gespräche, um desto mehr hatten sie einander zu sagen, indessen die Töchter der Geheimerätin ihre Zeit mit Fräulein Luisen in einer wachsenden Vertraulichkeit zubrachten.

Leider ward der schöne Genuß dieser reizenden Gegend oft durch den Donner der Kanonen gestört, den man, je nachdem der Wind sich drehte, aus der Ferne deutlicher oder undeutlicher vernahm. Ebenso wenig konnte, bei den vielen zuströmenden Neuigkeiten des Tages, der politische Diskurs vermieden werden, der gewöhnlich die augenblickliche Zufriedenheit der Gesellschaft störte, indem die verschiedenen Denkungsarten und Meinungen von beiden Seiten sehr lebhaft geäußert wurden. Und wie unmäßige Menschen sich deshalb doch nicht des Weins und schwer zu verdauender Speisen enthalten, ob sie gleich aus der Erfahrung wissen, daß ihnen darauf ein unmittelbares Übelsein bevorsteht: so konnten auch die meisten Glieder der Gesellschaft sich in diesem Falle nicht bändigen, vielmehr gaben sie dem unwiderstehlichen Reiz nach, andern wehe zu tun und sich selbst dadurch am Ende eine unangenehme Stunde zu bereiten.

Man kann leicht denken, daß der Geheimerat diejenige Partei anführte, welche dem alten System zugetan war, und daß Karl für die entgegengesetzte sprach, welche von bevorstehenden Neuerungen Heilung und Belebung des alten Kranken Zustandes hoffte.

Im Anfange wurden die Gespräche noch mit ziemlicher Mäßigung geführt, besonders da die Baronesse durch anmutige Zwischenreden beide Teile im Gleichgewicht zu halten wußte; als aber die wichtige Epoche herannahete, daß die Blockade von Mainz in eine Belagerung übergehen sollte, und man nunmehr für diese schöne Stadt und ihre zurückgelassenen Bewohner lebhafter zu fürchten anfing, äußerte jedermann seine Meinungen mit ungebundener Leidenschaft.

Besonders waren die daselbst zurückgebliebenen Klubisten ein Gegenstand des allgemeinen Gesprächs, und jeder erwartete ihre Bestrafung oder Befreiung, je nachdem er ihre Handlungen entweder schalt oder billigte.

Unter die ersten gehörte der Geheimerat, dessen Argumente Karl am verdrießlichsten fielen, wenn er den Verstand dieser Leute angriff und sie einer völligen Unkenntnis der Welt und ihrer selbst beschuldigte.

Wie verblendet müssen sie sein! rief er aus, als an einem Nachmittage das Gespräch sehr lebhaft zu werden anfing, wenn sie wähnen, daß eine ungeheure Nation, die mit sich selbst in der größten Verwirrung kämpft und, auch in ruhigen Augenblicken, nichts als sich selbst zu schätzen weiß, auf sie mit einiger Teilnehmung herunterblicken werde. Man wird sie als Werkzeuge betrachten, sie eine Zeitlang gebrauchen und endlich wegwerfen, oder wenigstens vernachlässigen. Wie sehr irren sie sich, wenn sie glauben, daß sie jemals in die Zahl der Franzosen aufgenommen werden könnten. Jedem der mächtig und groß ist erscheint nichts lächerlicher als ein Kleiner und Schwacher, der in der Dunkelheit des Wahns, in der Unkenntnis seiner selbst, seiner Kräfte und seines Verhältnisses, sich jenem gleichzustellen dünkt. Und glaubt ihr denn, daß die große Nation nach dem Glücke, das sie bisher begünstigt, weniger stolz und übermütig sein werde, als irgend ein anderer königlicher Sieger?

Wie mancher, der jetzt als Munizipalbeamter mit der Schärpe herumläuft, wird die Maskerade verwünschen, wenn er, nachdem er seine Landsleute in eine neue widerliche Form zu zwingen geholfen hat, zuletzt in dieser neuen Form von denen, auf die er sein ganzes Vertrauen setzte, niedrig behandelt wird. Ja es ist mir höchst wahrscheinlich, daß man bei der Übergabe der Stadt, die wohl nicht lange verzögert werden kann, solche Leute den Unsrigen überliefert oder überläßt. Mögen sie doch alsdann ihren Lohn dahinnehmen, mögen sie alsdann die Züchtigung empfinden, die sie verdienen, ich mag sie so unparteiisch richten als ich kann.

Unparteiisch! rief Karl mit Heftigkeit aus; wenn ich doch dies Wort nicht wieder sollte aussprechen hören! Wie kann man diese Menschen so geradezu verdammen? Freilich haben sie nicht ihre Jugend und ihr Leben zugebracht, in der hergebrachten Form sich und andern begünstigten Menschen zu nützen. Freilich haben sie nicht die wenigen wohnbaren Zimmer des alten Gebäudes besessen und sich darinne gepflegt; vielmehr haben sie die Unbequemlichkeit der vernachlässigten Teile eures Staatspalastes mehr empfunden, weil sie selbst ihre Tage kümmerlich und gedrückt darin zubringen mußten: sie haben nicht, durch eine mechanisch erleichterte Geschäftigkeit bestochen, dasjenige für gut angesehen, was sie einmal zu tun gewohnt waren; freilich haben sie nur im stillen der Einseitigkeit, der Unordnung, der Lässigkeit, der Ungeschicklichkeit zusehen können, womit eure Staatsleute sich noch Ehrfurcht zu erwerben glauben; freilich haben sie nur heimlich wünschen können, daß Mühe und Genuß gleicher ausgeteilt sein möchten! Und wer wird leugnen, daß unter ihnen nicht wenigstens einige wohldenkende und tüchtige Männer sich befinden, die, wenn sie auch in diesem Augenblicke das Beste zu bewirken nicht imstande sind, doch durch ihre Vermittlung das Übel zu lindern und ein künftiges Gutes vorzubereiten das Glück haben; und da man solche darunter zählt, wer wird sie nicht bedauern, wenn der Augenblick naht, der sie ihrer Hoffnungen vielleicht auf immer berauben soll. Der Geheimerat scherzte darauf, mit einiger Bitterkeit, über junge Leute die einen Gegenstand zu idealisieren geneigt seien: Karl schonte dagegen diejenigen nicht, welche nur nach alten Formen denken könnten, und was dahinein nicht passe notwendig verwerfen müßten.

Durch mehreres Hin- und Widerreden ward das Gespräch immer heftiger und es kam von beiden Seiten alles zur Sprache, was im Laufe dieser Jahre so manche gute Gesellschaft entzweit hatte. Vergebens suchte die Baronesse, wo nicht einen Frieden, doch wenigstens einen Stillstand zuwege zu bringen; selbst der Geheimerätin, die, als ein liebenswürdiges Weib, einige Herrschaft über Karls Gemüt sich erworben hatte, gelang es nicht auf ihn zu wirken; um so weniger, als ihr Gemahl fortfuhr treffende Pfeile auf Jugend und Unerfahrenheit loszudrücken, und über die besondere Neigung der Kinder mit dem Feuer zu spielen, das sie doch nicht regieren könnten, zu spotten.

Karl, der sich im Zorn nicht mehr kannte, hielt mit dem Geständnis nicht zurück: daß er den französischen Waffen alles Glück wünsche, und daß er jeden Deutschen auffordere, der alten Sklaverei ein Ende zu machen, daß er von der französischen Nation überzeugt sei, sie werde die edlen Deutschen, die sich für sie erklärt, zu schätzen wissen, als die Ihrigen ansehn und behandeln, und nicht etwa aufopfern oder ihrem Schicksale überlassen, sondern sie mit Ehren, Gütern und Zutrauen überhäufen.

Der Geheimerat behauptete dagegen, es sei lächerlich zu denken, daß die Franzosen nur irgend einen Augenblick, bei einer Kapitulation oder sonst, für sie sorgen würden; vielmehr würden diese Leute gewiß in die Hände der Alliierten fallen, und er hoffte sie alle gehangen zu sehen.

Diese Drohung hielt Karl nicht aus und rief vielmehr: er hoffe, daß die Guillotine auch in Deutschland eine gesegnete Ernte finden und kein schuldiges Haupt verfehlen werde. Dazu fügte er einige sehr starke Vorwürfe, welche den Geheimerat persönlich trafen und in jedem Sinne beleidigend waren.

So muß ich denn wohl, sagte der Geheimerat, mich aus einer Gesellschaft entfernen, in der nichts, was sonst achtungswert schien, mehr geehrt wird. Es tut mir leid, daß ich zum zweitenmal, und zwar durch einen Landsmann vertrieben werde; aber ich sehe wohl, daß von diesem weniger Schonung als von den Neufranken zu erwarten ist, und ich finde wieder die alte Erfahrung bestätigt, daß es besser sei, den Türken als den Renegaten in die Hände zu fallen.

Mit diesen Worten stand er auf und ging aus dem Zimmer; seine Gemahlin folgte ihm; die Gesellschaft schwieg. Die Baronesse gab mit einigen, aber starken, Ausdrücken ihr Mißvergnügen zu erkennen; Karl ging im Saale auf und ab. Die Geheimerätin kam weinend zurück und erzählte, daß ihr Gemahl einpacken lasse und schon Pferde bestellt habe. Die Baronesse ging zu ihm ihn zu bereden; indessen weinten die Fräulein und küßten sich und waren äußerst betrübt, daß sie sich so schnell und unerwartet voneinander trennen sollten. Die Baronesse kam zurück; sie hatte nichts ausgerichtet. Man fing an nach und nach alles zusammenzutragen was den Fremden gehörte. Die traurigen Augenblicke des Loslösens und Scheidens wurden sehr lebhaft empfunden. Mit den letzten Kästchen und Schachteln verschwand alle Hoffnung. Die Pferde kamen, und die Tränen flossen reichlicher.