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In "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" entfaltet Johann Wolfgang von Goethe ein vielschichtiges Panorama der deutschen Emigration des 18. Jahrhunderts. In Form lebendiger Dialoge zwischen verschiedenen Exilanten, die ihre Heimat aus unterschiedlichen Gründen verlassen haben, beleuchtet Goethe die emotionalen und sozialen Herausforderungen des Exils. Der literarische Stil ist geprägt von einer kunstvollen Sprache und einer tiefen Sensibilität für die psychologischen Zustände der Protagonisten, was das Werk sowohl als literarische als auch als soziologische Betrachtung der damaligen Zeit erhebt. Ein eindrucksvolles Zusammenspiel von Philosophie und Poesie führt den Leser durch die verzweifelten Traumentbehrungen der Ausgewanderten und deren Sehnsucht nach Heimat und Identität. Johann Wolfgang von Goethe, ein herausragender Literat der Weimarer Klassik, war nicht nur Dichter, sondern auch Naturwissenschaftler, Staatsmann und Philosoph. Seine eigenen Reisen und Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Heimat prägten seine Schriften entscheidend. Die Thematik der Auswanderung und der Sehnsucht nach der Heimat spiegelt Goethes tiefe menschliche Empathie wider, die aus seinen vielfältigen Erfahrungen und seiner unerschöpflichen Neugier auf die Welt resultiert. Dieses Buch ist eine unverzichtbare Lektüre für jeden, der sich mit der Komplexität von Identität und Zugehörigkeit auseinandersetzen möchte. Mit seinen eindringlichen Darstellungen und philosophischen Reflexionen fordert Goethe den Leser heraus, sich mit den existenziellen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen. "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" ist nicht nur ein historisches Dokument, sondern auch ein zeitloses Werk, das die universelle Trauer und das Streben nach einem besseren Leben thematisiert.
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In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen, womit alle ausgezeichnete Personen bedrohet waren, denen man zum Verbrechen machte, daß sie sich ihrer Väter mit Freuden und Ehren erinnerten, und mancher Vortheile genossen, die ein wohldenkender Vater seinen Kindern und Nachkommen so gern zu verschaffen wünschte.
Die Baronesse von C., eine Wittwe in mittlern Jahren, erwieß sich auch jetzt auf dieser Flucht, wie sonst zu Hause, zum Troste ihrer Kinder, Verwandten und Freunde, entschlossen und thätig. In einer weiten Sphäre erzogen und durch mancherley Schicksale ausgebildet, war sie als eine treffliche Hausmutter bekannt, und jede Art von Geschäft erschien ihrem durchdringenden Geiste willkommen. Sie wünschte Vielen zu dienen und ihre ausgebreitete Bekanntschaft setzte sie in den Stand es zu thun. Nun mußte sie sich unerwartet als Führerin einer kleinen Caravane darstellen und wußte auch diese zu leiten, für sie zu sorgen und den guten Humor, wie er sich zeigte, in ihrem Kreise, auch mitten unter Bangigkeit und Noth zu unterhalten. Und wirklich stellte sich bey unsern Flüchtlingen die gute Laune nicht selten ein, denn überraschende Vorfälle, neue Verhältnisse gaben den aufgespannten Gemüthern manchen Stoff zu Scherz und Lachen.
Bey der übereilten Flucht war das Betragen eines jeden charakteristisch und auffallend. Das eine ließ sich durch eine falsche Furcht, durch ein unzeitiges Schrecken hinreissen; das andere gab einer unnöthigen Sorge Raum, und alles, was dieser zu viel jener zu wenig that, jeder Fall wo sich Schwäche in Nachgiebigkeit oder Uebereilung zeigte, gab in der Folge Gelegenheit sich wechselseitig zu plagen und aufzuziehen, so daß dadurch diese traurige Zustände lustiger wurden, als eine vorsätzliche Lustreise ehemals hatte werden können.
Denn wie wir manchmal in der Comödie eine Zeitlang ohne über die absichtlichen Possen zu lachen, ernsthaft zuschauen können, dagegen aber sogleich ein lautes Gelächter entsteht, wenn in der Tragödie etwas Unschickliches vorkommt: so wird auch ein Unglück in der wirklichen Welt das die Menschen aus ihrer Fassung bringt gewöhnlich von lächerlichen, oft auf der Stelle, gewiß aber hinterdrein, belachten Umständen begleitet seyn.
Besonders mußte Fräulein Luise, die älteste Tochter der Baronesse, ein lebhaftes, heftiges und in guten Tagen herrisches Frauenzimmer sehr vieles leiden, da von ihr behauptet wurde, daß sie bey dem ersten Schrecken ganz aus der Fassung gerathen sey, in Zerstreuung, ja in einer Art von völligen Abwesenheit die unnützesten Sachen mit dem größten Ernste zum Aufpacken gebracht, ja sogar einen alten Bedienten für ihren Bräutigam angesehen habe.
Sie vertheidigte sich aber so gut sie konnte, nur wollte sie keinen Scherz der sich auf ihren Bräutigam bezog, dulden, indem es ihr schon Leiden genug verursachte, ihn bey der alliirten Armee, in täglicher Gefahr, zu wissen, und eine gewünschte Verbindung durch die allgemeine Zerrüttung aufgeschoben und vielleicht gar vereitelt zu sehen.
Ihr älterer Bruder Friedrich, ein entschloßner junger Mann, führte alles was die Mutter beschloß mit Ordnung und Genauigkeit aus, begleitete zu Pferde den Zug und war zugleich Courier, Wagenmeister und Wegweiser. Der Lehrer des jüngern, hoffnungsvollen Sohnes, ein wohl unterrichteter Mann, leistete der Baronesse im Wagen Gesellschaft; Vetter Karl fuhr mit einem alten Geistlichen, der, als Hausfreund, schon lange der Familie unentbehrlich geworden war, mit einer älteren und jüngeren Verwandten in einem nachfolgenden Wagen. Kammermädchen und Kammerdiener folgten in Halbchaisen, und einige schwerbepackte Brankards, die auf mehr als einer Station zurückbleiben mußten, schlossen den Zug.
Ungern hatte, wie man leicht denken kann, die ganze Gesellschaft ihre Wohnungen verlassen, aber Vetter Karl entfernte sich mit doppeltem Widerwillen von dem jenseitigen Rheinufer; nicht daß er etwa eine Geliebte daselbst zurückgelassen hätte, wie man nach seiner Jugend, seiner guten Gestalt und seiner leidenschaftlichen Natur hätte vermuthen sollen, er hatte sich vielmehr von der blendenden Schönheit verführen lassen, die unter dem Namen Freyheit sich erst heimlich, dann öffentlich so viele Anbeter zu verschaffen wußte, und, so übel sie auch die einen behandelte, von den andern mit grosser Lebhaftigkeit verehrt wurde.
Wie Liebende gewöhnlich von ihrer Leidenschaft verblendet werden, so erging es auch Vetter Karln. Sie wünschen den Besitz eines einzigen Gutes, und wähnen alles übrige dagegen entbehren zu können. Stand, Glücksgüter, alle Verhältnisse scheinen in Nichts zu verschwinden, indem das gewünschte Gut zu Einem zu Allem wird. Eltern, Verwandte und Freunde werden uns fremd indem wir uns etwas zueignen, das uns ganz ausfüllt und uns alles übrige fremd macht.
Vetter Karl überließ sich der Heftigkeit seiner Neigung und verhehlte sie nicht in Gesprächen. Er glaubte um so freyer sich diesen Gesinnungen ergeben zu können, als er selbst ein Edelmann war, und, obgleich der zweyte Sohn, dennoch ein ansehnliches Vermögen zu erwarten hatte. Eben diese Güter, die ihm künftig zufallen mußten, waren jetzt in Feindes Händen, der nicht zum besten darauf haußte, demohngeachtet konnte Karl einer Nation nicht feind werden, die der Welt so viele Vortheile versprach, und deren Gesinnungen er nach öffentlichen Reden und Aeusserungen einiger Mitglieder beurtheilte. Gewöhnlich störte er die Zufriedenheit der Gesellschaft, wenn sie ja derselben noch fähig war, durch ein unmässiges Lob alles dessen, was bey den Neufranken Gutes oder Böses geschah, durch ein lautes Vergnügen über ihre Fortschritte, wodurch er die Andern um desto mehr aus der Fassung brachte, als sie ihre Leiden durch die Schadenfreude eines Freundes und Verwandten verdoppelt nur um so schmerzlicher empfinden mußten.
Friedrich hatte sich schon einigemal mit ihm überworfen und ließ sich in der letzten Zeit gar nicht mehr mit ihm ein. Die Baronesse wußte ihn auf eine kluge Weise wenigstens zu augenblicklicher Mäßigung zu leiten; Fräulein Luise machte ihm am meisten zu schaffen, indem sie, freylich oft ungerechter Weise, seinen Charakter und seinen Verstand verdächtig zu machen suchte. Der Hofmeister gab ihm im Stillen recht; der Geistliche im Stillen unrecht und die Kammermädchen, denen seine Gestalt reizend und seine Freygebigkeit respektabel war, hörten ihn gerne reden, weil sie sich durch seine Gesinnungen berechtigt glaubten, ihre zärtlichen Augen, die sie bisher vor ihm bescheiden niedergeschlagen hatten, nunmehr in Ehren nach ihm aufzuheben.
Die Bedürfnisse des Tages, die Hindernisse des Weges, die Unannehmlichkeiten der Quartiere führten die Gesellschaft gewöhnlich auf ein gegenwärtiges Interesse zurück, und die grosse Anzahl französischer und deutscher Ausgewanderten, die sie überall antrafen und deren Betragen und Schicksale sehr verschieden waren, gaben ihnen oft zu Betrachtungen Anlaß, wieviel Ursach man habe, in diesen Zeiten alle Tugenden, besonders aber die Tugend der Unpartheylichkeit und Verträglichkeit zu üben.
Eines Tages machte die Baronesse die Bemerkung, daß man nicht deutlicher sehen könne wie ungebildet, in jedem Sinne, die Menschen seyen, als in solchen Augenblicken allgemeiner Verwirrung und Noth. Die bürgerliche Verfassung, sagte sie: scheint wie ein Schiff zu seyn, das eine grosse Anzahl Menschen, alte und junge, gesunde und kranke über ein gefährliches Wasser, auch selbst zu Zeiten des Sturms, hinüber bringt, nur in dem Augenblicke wenn das Schiff scheitert, sieht man wer schwimmen kann und selbst gute Schwimmer gehen unter solchen Umständen zu Grunde.
Wir sehen meist die Ausgewanderten ihre Fehler und alberne Gewohnheiten mit sich in der Irre herum führen und wundern uns darüber. Doch wie den reisenden Engländer der Theekessel in allen vier Welttheilen nicht verläßt, so wird die übrige Masse der Menschen von stolzen Anforderungen, Eitelkeit, Unmässigkeit, Ungeduld, Eigensinn, Schiefheit im Urtheil und der Lust ihrem Nebenmenschen tückisch etwas zu versetzen, überall hinbegleitet; der Leichtsinnige freut sich der Flucht wie einer Spatzierfahrt und der Ungenügsame verlangt daß ihm auch noch als Bettler alles zu Diensten stehe. Wie selten daß uns die reine Tugend irgend eines Menschen erscheint, der wirklich für andere zu leben, für andere sich aufzuopfern getrieben wird.
Indessen man nun mancherley Bekanntschaften machte, die zu solchen Betrachtungen Gelegenheit gaben, war der Winter vorbey gegangen. Das Glück hatte sich wieder zu den deutschen Waffen gesellt, die Franzosen waren wieder über den Rhein hinüber gedrängt, Frankfurt befreyt und Maynz eingeschlossen.
In der Hoffnung auf den weiteren Fortgang der siegreichen Waffen, und begierig wieder einen Theil ihres Eigenthums zu ergreifen, eilte die Familie auf ein Gut, das an dem rechten Ufer des Rhein’s, in der schönsten Lage, ihr zugehörte. Wie erquickt fanden sie sich, als sie den schönen Strom wieder vor ihren Fenstern vorbeyfliessen sahen, wie freudig nahmen sie wieder von jedem Theile des Hauses Besitz, wie freundlich begrüßten sie die bekannten Mobilien, die alten Bilder und jeglichen Hausrath, wie werth war ihnen auch das geringste das sie schon verloren gegeben hatten, wie stiegen ihre Hoffnungen: dereinst auch jenseit des Rheines alles noch in dem alten Zustande zu finden!
Kaum erscholl in der Nachbarschaft die Ankunft der Baronesse, als alle alte Bekannte, Freunde und Diener herbeyeilten sich mit ihr zu besprechen, die Geschichten der vergangenen Monate zu wiederhohlen und sich, in manchen Fällen, Rath und Beystand von ihr zu erbitten.
Umgeben von diesen Besuchen ward sie aufs angenehmste überrascht, als der Geheimerath von S. mit seiner Familie bey ihr ankam. Ein Mann dem die Geschäfte von Jugend auf zum Bedürfniß geworden waren, ein Mann der das Zutrauen seines Fürsten verdiente und besaß. Er hielt sich streng an Grundsätze und hatte über manche Dinge seine eigene Denkungsweise. Er war genau in Reden und Handeln und forderte das Gleiche von andern. Ein consequentes Betragen schien ihm die höchste Tugend.
Sein Fürst, das Land, er selbst hatten viel durch den Einfall der Franzosen gelitten; er hatte die Willkühr der Nation, die nur vom Gesetz sprach, kennen gelernt und den Unterdrückungsgeist derer die das Wort Freyheit immer im Munde führten. Er hatte gesehen, daß auch in diesem Falle der grosse Haufe sich treu blieb, und Wort für That, Schein für Besitz mit grosser Heftigkeit aufnahm. Die Folgen eines unglücklichen Feldzugs, so wie die Folgen jener verbreiteten Gesinnungen und Meynungen blieben seinem Scharfblicke nicht verborgen, obgleich nicht zu leugnen war, daß er manches mit hypochondrischem Gemüthe betrachtete und mit Leidenschaft beurtheilte.
Seine Gemahlinn, eine Jugendfreundin der Baronesse, fand, nach so viel Trübsalen, einen Himmel in den Armen ihrer Freundin. Sie waren mit einander aufgewachsen, hatten sich mit einander gebildet, sie kannten keine Geheimnisse vor einander. Die ersten Neigungen junger Jahre, die bedenklichen Zustände der Ehe, Freuden, Sorgen und Leiden als Mütter, alles hatten sie sich sonst, theils mündlich, theils in Briefen, vertraut, und hatten eine ununterbrochene Verbindung erhalten. Nur diese letzte Zeit her waren sie durch die Unruhen verhindert worden, sich einander, wie gewöhnlich, mitzutheilen. Um so lebhafter drängten sich ihre gegenwärtige Gespräche, um destomehr hatten sie einander zu sagen, indessen die Töchter der Geheimeräthin ihre Zeit mit Fräulein Luisen in einer wachsenden Vertraulichkeit zubrachten.
Leider ward der schöne Genuß dieser reizenden Gegend oft durch den Donner der Kanonen gestöhrt, den man, je nachdem der Wind sich drehte, aus der Ferne deutlicher oder undeutlicher vernahm. Eben so wenig konnte bey den vielen zuströmenden Neuigkeiten des Tages der politische Discurs vermieden werden, der gewöhnlich die augenblickliche Zufriedenheit der Gesellschaft stöhrte, indem die verschiedenen Denkungsarten und Meynungen von beyden Seiten sehr lebhaft geäusert wurden. Und wie unmässige Menschen sich deßhalb doch nicht des Weins und schwer zu verdauender Speisen enthalten, ob sie gleich aus der Erfahrung wissen, daß ihnen darauf ein unmittelbares Uebelseyn bevorsteht; so konnten auch die meisten Glieder der Gesellschaft sich in diesem Falle nicht bändigen, vielmehr gaben sie dem unwiderstehlichen Reiz nach, andern wehe zu thun und sich selbst dadurch am Ende eine unangenehme Stunde zu bereiten.
Man kann leicht denken, daß der Geheimerath diejenige Parthey anführte, welche dem alten System zugethan war, und daß Karl für die entgegengesetzte sprach, welche von bevorstehenden Neuerungen Heilung und Belebung des alten kranken Zustandes hofften.
Im Anfange wurden diese Gespräche noch mit ziemlicher Mässigung geführt, besonders da die Baronesse durch anmuthige Zwischenreden beyde Theile im Gleichgewicht zu halten wußte; als aber die wichtige Epoke herannahete, daß die Blokade von Maynz in eine Belagerung übergehen sollte, und man nunmehr für diese schöne Stadt und ihre zurückgelassenen Bewohner lebhafter zu fürchten anfing, äusserte jedermann seine Meynungen mit ungebundener Leidenschaft.
Besonders waren die daselbst zurückgebliebenen Clubbisten ein Gegenstand des allgemeinen Gesprächs und jeder erwartete ihre Bestrafung oder Befreyung je nachdem er ihre Handlungen entweder schalt oder billigte.
Unter die ersten gehörte der Geheimerath, dessen Argumente Karl’n am verdrießlichsten auffielen, wenn er den Verstand dieser Leute angriff, und sie einer völligen Unkenntniß der Welt und ihrer selbst beschuldigte.
Wie verblendet müssen sie seyn! rief er aus, als an einem Nachmittage das Gespräch sehr lebhaft zu werden anfing: wenn sie wähnen, daß eine ungeheure Nation, die mit sich selbst in der größten Verwirrung kämpft und, auch in ruhigen Augenblicken, nichts als sich selbst zu schätzen weiß, auf sie mit einiger Theilnehmung herunter blicken werde. Man wird sie als Werkzeuge betrachten, sie eine Zeitlang gebrauchen und endlich wegwerfen oder wenigstens vernachlässigen. Wie sehr irren sie sich, wenn sie glauben, daß sie jemals in die Zahl der Franzosen aufgenommen werden könnten.
Jedem der mächtig und groß ist erscheint nichts lächerlicher als ein kleiner und schwacher, der in der Dunkelheit des Wahns, in der Unkenntniß sein selbst, seiner Kräfte und seines Verhältnisses sich jenem gleich zu stellen dünkt, und glaubt ihr denn, daß die grosse Nation nach dem Glücke, das sie bisher begünstigt, weniger stolz und übermüthig seyn werde, als irgend ein anderer königlicher Sieger?
Wie mancher, der jetzt als Municipalbeamter mit der Schärpe herumläuft, wird die Maskerade verwünschen, wenn er, nachdem er seine Landsleute in eine neue widerliche Form zu zwingen geholfen hat, zuletzt, in dieser neuen Form, von denen, auf die er sein ganzes Vertrauen setzte, niedrig behandelt wird. Ja es ist mir höchst wahrscheinlich, daß man bey der Uebergabe der Stadt, die wohl nicht lange verzögert werden kann, sie den unsrigen überliefert oder überläßt. Mögen sie doch alsdenn ihren Lohn dahin nehmen, mögen sie alsdenn die Züchtigung empfinden, die sie verdienen, ich mag sie so unpartheyisch richten als ich kann.
Unpartheyisch! rief Karl mit Heftigkeit aus: wenn ich doch dieß Wort nicht wieder sollte aussprechen hören! Wie kann man diese Menschen so geradezu verdammen? Freylich haben sie nicht ihre Jugend und ihr Leben zugebracht in der hergebrachten Form sich und andern begünstigten Menschen zu nützen. Freylich haben sie nicht die wenigen wohnbaren Zimmer des alten Gebäudes besessen und sich darinne gepflegt, vielmehr haben sie die Unbequemlichkeit der vernachlässigten Theile eures Staatspallastes mehr empfunden, weil sie selbst ihre Tage kümmerlich und gedrückt darin zubringen mußten; sie haben nicht, durch eine mechanisch erleichterte Geschäftigkeit bestochen, dasjenige für gut angesehen, was sie einmal zu thun gewohnt waren; freylich haben sie nur im Stillen der Einseitigkeit, der Unordnung, der Läßigkeit, der Ungeschicklichkeit zusehen können, womit eure Staatsleute sich noch Ehrfurcht zu erwerben glauben; freylich haben sie nur heimlich wünschen können, daß Mühe und Genuß gleicher ausgetheilt seyn möchten! Und wer wird leugnen, daß unter ihnen nicht wenigstens Einige wohldenkende und tüchtige Männer sich befinden, die, wenn sie auch in diesem Augenblicke das Beste zu bewirken nicht im Stande sind, doch durch ihre Vermittlung das Uebel zu lindern und ein künftiges Gute vorzubereiten das Glück haben, und da man solche darunter zählt, wer wird sie nicht bedauern, wenn der Augenblick naht, der sie ihrer Hoffnungen vielleicht auf immer berauben soll.
Der Geheimerath scherzte darauf, mit einiger Bitterkeit, über junge Leute die einen Gegenstand zu idealisiren geneigt seyen; Karl schonte dagegen diejenigen nicht, welche nur nach alten Formen denken könnten, und was dahinein nicht passe nothwendig verwerfen müßten.
Durch mehreres Hin- und Wiederreden ward das Gespräch immer heftiger und es kam von beyden Seiten alles zur Sprache, was im Laufe dieser Jahre so manche gute Gesellschaft entzweyt hatte. Vergebens suchte die Baronesse, wo nicht einen Frieden, doch wenigstens einen Stillstand zuwege zu bringen; selbst die Geheimeräthin, die als ein liebenswürdiges Weib, einige Herrschaft über Karls Gemüth sich erworben hatte, suchte vergebens auf ihn zu wirken, das ihr um so weniger gelang als ihr Gemahl fortfuhr treffende Pfeile auf Jugend und Unerfahrenheit loszudrücken und über die besondere Neigung der Kinder mit dem Feuer zu spielen, das sie doch nicht regieren könnten, zu spotten.
Karl, der sich im Zorn nicht mehr kannte, hielt mit dem Geständniß nicht zurück: daß er den französischen Waffen alles Glück wünsche, und daß er jeden Deutschen auffordere, der alten Sklaverey ein Ende zu machen, daß er von der französischen Nation überzeugt sey, sie werde die edlen Deutschen, die sich für sie erklärt, zu schätzen wissen, als die ihrigen ansehn und behandeln und nicht etwa aufopfern oder ihrem Schicksale überlassen, sondern sie mit Ehren, Gütern und Zutrauen überhäufen.
Der Geheimerath behauptete dagegen, es sey lächerlich zu denken, daß die Franzosen nur irgend einen Augenblick, bey einer Capitulation oder sonst für sie sorgen würden, vielmehr würden diese Leute gewiß in die Hände der Alliirten fallen und er hoffe sie alle gehangen zu sehen.
Diese Drohung hielt Karl nicht aus und rief vielmehr: er hoffe, daß die Guillotine auch in Deutschland eine gesegnete Erndte finden und kein schuldiges Haupt verfehlen werde. Dazu fügte er einige sehr starke Vorwürfe, welche den Geheimerath persönlich trafen und in jedem Sinne beleidigend waren.
So muß ich denn wohl, sagte der Geheimerath: mich aus einer Gesellschaft entfernen, in der nichts was sonst achtungswerth schien, mehr geehrt wird. Es thut mir leid, daß ich zum zweytenmal, und zwar durch einen Landsmann vertrieben werde; aber ich sehe wohl, daß von diesem weniger Schonung als von den Neufranken zu erwarten ist, und ich finde wieder die alte Erfahrung bestätigt, daß es besser sey den Türken als den Renegaten in die Hände zu fallen.