Urbanität und Öffentlichkeit -  - E-Book

Urbanität und Öffentlichkeit E-Book

0,0
22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Autorinnen und Autoren aus Theologie und Politik diskutieren die Frage nach dem Verhältnis von Urbanität und Religiosität und von Kirche und Öffentlichkeit. Die Beiträge behandeln das Wesen und den Auftrag von Kirche im Licht gegenwärtiger gesellschaftlicher und theologischer Herausforderungen, aber auch anhand konkreter Praxisbeispiele aus der Schweiz, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und den USA. Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirchenleitende und an Kirchenentwicklung Interessierte finden in diesem Buch vielfältige Denkanstösse und Anregungen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 310

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Praktische Theologie im reformierten Kontext

herausgegeben von Albrecht Grözinger, Gerrit Immink, Ralph Kunz, Andreas Marti, Christoph Morgenthaler, Félix Moser, Isabelle Noth, David Plüss und Thomas Schlag.

Band 6 – 2013

Die Reihe »Praktische Theologie im reformierten Kontext« versammelt Arbeiten aus der praktisch-theologischen Forschung, die in der konfessionellen Kultur der Reformierten verankert sind. Der reformierte Kontext ist einerseits Gegenstand empirischer Wahrnehmung und kritischer Reflexion und andererseits das orientierende Erbe, aus dem Impulse für die zukünftige Gestaltung der religiösen Lebenspraxis gewonnen werden. Er bildet den Hintergrund der kirchlichen Handlungsfelder, prägt aber auch gesellschaftliche Dimensionen und individuelle Ausprägungen der Religionspraxis.

Ralph Kunz, Christina Aus der Au, Thomas Schlag, Hans Strub (Hg.)

Urbanität und Öffentlichkeit

Kirche im Spannungsfeld gesellschaftlicher Dynamiken

TVZ Theologischer Verlag Zürich

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich, unter Verwendung einer Fotografie von Andreas Hoffmann (Ausschnitt) aus der Serie «Krethi & Plethi. Christliches und Nachchristliches in Zürich», 1999 © Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich und Katholische Kirche im Kanton Zürich

ISBN 978-3-290-17666-2 (Buch) ISBN 978-3-290-17743-0 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2013 Theologischer Verlag Zürichwww.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

|5|

Vorwort

Die Kirche steht auch in der Schweiz in den wenigsten Fällen noch im Dorf. Und dies im übertragenen wie im wörtlichen Sinne: Sie hat ihre Stellung nicht mehr selbstverständlich und unangefochten inne, selbstbewusste und religiös mündige Menschen entscheiden autonom über ihre Mitgliedschaft und ihre Nähe und Distanz zur Institution Kirche. Und Kirche findet auch nicht mehr hauptsächlich im Kirchengebäude statt, sondern entsteht immer häufiger auch an den Rändern, an den Hecken und Zäunen, auf öffentlichen Plätzen, in Bahnhöfen und Flughäfen. Kirche ist nicht mehr einfach, aber sie wird, nämlich dort, wo Menschen wohnen und leben, und dies nicht nur in Dörfern, sondern in Städten und Agglomerationen. Und weil Menschen nicht mehr einfach in die Kirche kommen, ist Kirche neu herausgefordert, zu den Menschen zu gehen.

Urbanität und Öffentlichkeit sind Schlüsselbegriffe in der Diskussion um Kirchenentwicklung. Urbanisierung, so definieren es Dave Frenchak und Carol McGibbon aus Chicago im vorliegenden Band, ist mehr als Bevölkerungsverdichtung. Sie hat zu tun mit spezifischen Formen von menschlichen Beziehungen, mit Kommunikation, wechselseitigen Bezügen und komplexen Mustern des kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens, die über die eng verbundenen Lebensformen kleiner Gemeinschaften hinausgehen. Und die für die Kirche relevante Öffentlichkeit besteht nicht nur aus den Sphären, die David Tracy identifiziert hat, nämlich Universität, Kirche und Gesellschaft im Ganzen,1 sondern Letztere kann mit Nico Koopman noch weiter ausdifferenziert werden in die politische und die ökonomische Sphäre, die Zivilgesellschaft und die öffentliche Meinung.2 Dann besteht die Herausforderung an die Kirche «nicht nur darin, sich flexibel auf eine bestimmte kommunikative Situation einzustellen, sondern mit präziser Sachkenntnis und fachlicher Kompetenz in den Dialog über Gegenwartsfragen einzutreten».3

Die Vertreter v. a. der Praktischen Theologie der Universität Zürich haben diese Herausforderung aufgenommen und an verschiedenen Tagungen mit nationalen und internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmern Kirche im Spannungsfeld |6| von Urbanität und Öffentlichkeit diskutiert. So traf sich das Praktisch-Theologische Forschungskolloquium der Universitäten Zürich und Rostock im Frühjahr 2010 zur Tagung «Kybernetik?! Aktuelle Forschungsperspektiven zur Kirchen- und Gemeindeentwicklung» auf dem Monte Verità. Im Sommer 2010 fand zu Ehren von Hans Strub, dem langjährigen Leiter der Aus- und Weiterbildung von Pfarrpersonen in den Schweizerischen Landeskirchen in Zürich ein internationaler Workshop zu «Urbanität und Religiosität» statt. Schliesslich lud das neu gegründete Zentrum für Kirchenentwicklung am 22./23. Juni 2012 zur öffentlichen Tagung über «Öffentliche Kirche – Kirche im öffentlichen Raum» ein, an der Theologinnen und Theologen, Kirchenvertreterinnen und Politiker über die öffentlichen Erwartungen an die Landeskirchen diskutierten.

Aus diesen drei Tagungen sind Gedankenanstösse, Positionen und Gegenpositionen von Referentinnen und Referenten aus Frankreich, den Niederlanden, den USA, Deutschland und der Schweiz, aus Kirche, Politik, Medien und Literatur in diesem Band versammelt. Sie alle beleuchten die thematischen Schwerpunkte auf unterschiedliche Weise. Die Pluralität ist in diesem Band Programm, wie es Thomas Schlag formuliert, nämlich als Signal der Offenheit für unterschiedliche Deutungen gegenwärtigen Lebens und gelebter Religion. Der Zürcher Praktologe eröffnet diesen Band mit Überlegungen zu Urbanität und Öffentlichkeit als Zentralbegriffe, anhand derer die Rahmenbedingungen und Zielvorstellungen individuellen religiösen Lebens und gemeinsamen Zusammenlebens hermeneutisch und theologisch reflektiert werden können. Weit entfernt davon, in den Abgesang auf die Kirchen miteinzustimmen, sieht er darin Ressourcen für ein kirchliches Leben, das sich über die Kerngemeinde hinaus herausfordern lässt. Vor diesem Hintergrund lotet er die Ansprüche des vor drei Jahren gegründeten Zentrums für Kirchenentwicklung aus, dessen Leitung er vorsteht. Als Aufgabe des Zentrums bezeichnet er nicht die Entwicklung von geschlossenen ekklesiologischen und missionarischen Vorlagen, sondern eine offen orientierende Deutung in Interaktion mit den kirchlichen Akteuren, so dass protestantische Freiheit und Verbindlichkeit in ihrer Wechselwirkung zum Tragen kommen.

Der erste thematische Teil zu Urbanität und Religiosität beginnt mit Reflexionen einer urbanen und kirchenfernen Kirchensympathisantin. Gisa Klönne ist Autorin von Kriminalromanen, in denen sie auch mit den grossen Fragen des Lebens und den seelischen Untiefen von Schuld und Vergebung zu tun hat. Sie ist froh über eine Convenience-Kirche bei Gelegenheit, aber sie fordert deren Mut ein, jenseits aller Gefälligkeit darauf zu beharren, was Kirche ausmacht. Irene Gysel, Redaktorin für die Sendung «Sternstunde Religion» beim Schweizer Fernsehen und Vizepräsidentin des Zürcher Kirchenrats, denkt von ihren Erfahrungen in chinesischen Megastädten aus über die Suche nach Identität in virtuellen und realen Räumen nach. Sie hat gerade dort Kirche als realen Ort der Identitätskonstitution für urbane Menschen kennengelernt. Der Pfarrer und langjährige Leiter |7| der Aus- und Weiterbildung von Pfarrpersonen, Hans Strub, sieht die zukünftige Schweiz als grenzübergreifende urbane Siedlung. Wenn Kirche hier weiterhin präsent sein will, so kann dies nicht mehr lediglich territorial als Gemeinschaft am Wohnort und als Diakonie in Spitälern und Gefängnissen geschehen, sondern sie wird auch Momente der Unterbrechungen anbieten und medial präsent sein müssen. Christina Aus der Au, Theologische Geschäftsführerin des Zentrums für Kirchenentwicklung, reflektiert Religiosität als biologisch und soziologisch erfassbare menschliche Eigenschaft und befragt die Tauglichkeit religionssoziologischer Studien in Hinblick auf Kirchenentwicklung. Vor dem Hintergrund mehrerer Modelle von Kirche ruft sie auf zu einer Ergänzung dieser Studien mit einer fortwährenden ekklesiologischen und exegetischen Auseinandersetzung. Matthias Krieg, Leiter der Bildungsabteilung der Zürcher Landeskirche, entdeckt die Volkskirche als Erfindung der deutschen Romantik, als eine poetische und unter Umständen auch gefährliche Utopie. Er fragt nach der Kirche als der City of God, und nach uns, die wir vielleicht religiös noch nicht dort angekommen sind, wo wir urban schon sind. Hier ist ein Blick über die Grenzen ermutigend. Der Praktologe Henk de Roest, Professor in Groningen, zeigt Prozesse der Genügsamkeit, der Verbesserung und Erneuerung inmitten der Entkirchlichung in Amsterdam. Es entstehen dort neue Kirchenorte, die sich an die Frage anlagern: Was können wir einander bedeuten? Auch Isabelle Grellier, Professorin für Praktische Theologie in Strasbourg, findet aus der Minoritätssituation des Protestantismus in Frankreich heraus im Ereignis, im Spiel, in Märchen und Kunst die angemessene Art und Weise, wie wir etwas über eine Wahrheit aussagen können, die wir nicht in unsere Wörter einsperren können. Sie plädiert dafür, auf Umwegen auf das auch bei urbanen Menschen präsente Bedürfnis nach dem Heiligen einzugehen und für Spiritualität neue Ausdrucksformen zu erfinden. Dazu gehört auch der Protest gegen das Elend in Wort und Tat. Dave Frenchak und Carol Ann McGibbon, Präsident emeritus und Vizedekanin des Chicagoer SCUPE (Seminary Consortium for Urban Pastoral Education) rufen zu einer bewussten theologischen Reflexion über Städte auf. Kirche hat den Auftrag sicherzustellen, dass Gott in unseren Städten geehrt wird und dass sie lebenswerte Orte sind. Das Ziel ihrer Ausbildung sind theologische Führungskräfte, die den Stimmen urbaner Gemeinschaften nicht nur zuhören, sondern sie verkörpern.

Im zweiten thematischen Teil setzen sich Theologen und Politiker mit der Frage nach der Öffentlichen Kirche auseinander. Wilhelm Gräb, Professor für Praktische Theologie und Direktor des Instituts für Religionssoziologie und Gemeindeaufbau in Berlin, sieht das Wächteramt der Kirche kritisch. Für ihn ist Glaube eine unvertretbar individuelle Angelegenheit, und so setzt Öffentlichkeit auch hier Partizipation voraus. Was die Kirche in die Öffentlichkeit einbringen kann, ist Ort der kommunikativen Auseinandersetzung mit Religion als Glaubensdeutung zu sein. Religion als Glaubensgrund bleibt unhintergehbar privat. |8|Christina Aus der Au kontrastiert in ihrer Replik diese Aussensicht von Religion mit deren Innensicht. Da geht es nicht um Wahrheit, sondern um Gewissheit und den unverzichtbaren Anspruch auf Orientierung in der bleibenden Ambivalenz des Weltlichen. Pierre Bühler, Professor für Systematische Theologie an der Universität Zürich, kontrastiert seinerseits in seiner Antwort das liberale und unabhängige Subjekt mit dem Menschen in seinen Gemeinschaftsbezügen, der ständig über sein Leben und Tun Rechenschaft ablegen muss. In diesem Kontext des Bezeugens muss das Wächteramt gesehen werden, und Bühler konkretisiert dies am Beispiel der Zürcher Kirche und des Monitoring von Ausschaffungsflügen illegal in der Schweiz lebender Ausländer durch den SEK.

Thomas Schlag verbindet den Öffentlichkeitsanspruch der Kirche mit ihrer Rolle als intermediäre Institution zwischen Individuum und Gesellschaft. Ein kirchliches Wächteramt kann dann nur im Dienst der Versöhnung gesehen werden, wodurch der öffentliche Auftritt mit der Seelsorge am Einzelnen um seiner selbst willen zu verbinden ist. Ralph Kunz, ebenfalls Professor für Praktische Theologie in Zürich, verweist darüber hinaus auf die liturgische Dimension der öffentlichen Kirche. Im öffentlichen Gottesdienst wird der Aufbruch des Reiches Gottes wachgehalten und daran erinnert, dass hier etwas ganz anderes gelten soll als in der Gesellschaft. Der Gottesdienst ist sowohl Anruf der Gnade als auch Aufruf zur Heiligung, Fürbitte und Segen, und dies ist vor allem bei besonderen Anlässen oder bei der Bewältigung von Katastrophen, aber auch in den auch für viele Säkulare selbstverständlichen Weihnachtsfeiern öffentlich erlebbar. Auch für Hans Strub ist die Kirche wesentlich öffentlich: für die Öffentlichkeit, mit der Öffentlichkeit, in der Öffentlichkeit. Er sieht ihre Aufgabe weniger als Wächter, als vielmehr in kritischer Wahrnehmung und Begleitung, die um ihre eigenen Kriterien weiss. Strub schlägt vor, dass für eine bestimmte Zeit fähige und zuverlässige Personen diese kirchliche Kritikfunktion übernehmen und sich regelmässig und selbstverständlich zu anstehenden Themen vernehmen lassen könnten. Bernhard Egg, Präsident des Kantonsrates Zürich und Kirchenrat der reformierten Landeskirche Zürich, bestätigt, dass der Staat von den Kirchen offensichtlich erwartet und erhofft, sie seien kritisch, wertebegründend, wertevermittelnd und integrativ. Provokativ fragt er, welche Werte denn in den Predigten verkündigt werden sollen, wenn die Kirchen zu gesellschaftlichen Realitäten schweigen müssten. Martin Graf, Regierungsrat und Vorsteher der Direktion der Justiz und des Innern im Kanton Zürich, misst den Erfolg der Kirche an der Qualität der Antworten, die sie auf gesellschaftliche Probleme geben. Er skizziert die globale Problemlage und fordert, die Kirchen müssten sich einmischen, allerdings habe dabei die religiöse, rein kultische Seite der Kirche beim Erfüllen dieser Aufgabe in den Hintergrund zu treten.

Dieses Stichwort nimmt der dritte Hauptteil auf: Mission – ein sinnvoller Leitbegriff praktisch-theologischer Forschung und kirchlicher Praxis? Hat Kirche |9| eine hidden agenda, wenn sie über und durch ihr gesellschaftliches Engagement den christlichen Glauben ins Gespräch bringen will? In Rede und Gegenrede diskutieren Wilhelm Gräb und Ralph Kunz: Beide sind sich einig darin, dass das Thema Mission auch ein Thema der Praktischen Theologie ist. Während aber Gräb dafür die kritische Beobachterperspektive reklamiert und einen religionswissenschaftlich aufgeklärten praktisch-theologischen Theorierahmen voraussetzt, sieht Kunz darin eine gefährliche Einseitigkeit: Es sind dann immer nur die Teilnehmenden, die sich von den Beobachteten in Frage stellen lassen, nie umgekehrt. Er verweist dagegen auf den Gedanken der Sendung Gottes in die Welt, der missio Dei, die ein solches Teilnahme-Beobachtungs-Modell theologisch dekonstruiert, weil sie mit der Tradition gegen die Tradition argumentiert. Gräb wiederum sieht darin die Gefahr, dass sich damit das Menschliche in ein – vorausgesetztes – Göttliches auflöst. Eine verantwortliche Missiologie bedeutet für ihn, die Allgemeingeltung und Verbindlichkeit christlichen Gottglaubens in den Herausforderungen der Zeit mit vernünftigen Gründen zu behaupten. Genau diese Vernunft will Kunz allerdings seinerseits theologisch verwurzelt wissen, damit das interreligiöse Gespräch nicht nur ein Wie, sondern auch ein Worüber erhält. Nicht nur von der Vernunft, sondern auch vom Geist soll geredet werden.

Dieser Tagungsband steht gewissermassen für die Arbeit und den Auftrag des ZKE. Darüber, was Kirche ist und was sie werden soll, muss debattiert werden – und dies von verschiedenen Standpunkten her und möglichst perspektivenreich.

Wir danken all denjenigen, die zum Zustandekommen dieses Bandes beigetragen haben, insbesondere Frau Marianne Stauffacher, Verlagsleiterin und Lektorin beim TVZ, die uns dabei sehr liebenswürdig und äusserst engagiert betreut hat.

Wir wünschen den Leserinnen und Lesern eine angeregte Lektüre.

Christina Aus der Au/Ralph Kunz/Thomas Schlag/Hans Strub

Zürich, im März 2013 |10|

|11|

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Inhalt

I Programmatischer Auftakt

Thomas Schlag Urbanität und Öffentlichkeit – Dynamische Rahmenbedingungen und Ressourcen für die Kirchenentwicklung und ihre Erforschung durch ein neues Zentrum

II Urbanität und Religiosität

Gisa Klönne Wie relevant ist Kirche in meinem Leben?

Irene Gysel Zu Urbanität und Religiosität

Hans Strub Kybernetische Voraussetzungen und Konsequenzen für die Kirche von heute und morgen. Gedanken zum Begriff der Urbanität

Christina Aus der Au Kirche als Funktion des menschlichen Geistes und als göttliche Manifestation des Heiligen. Gedanken zum Begriff der Religiosität

Matthias Krieg Wurmlinger Kapelle oder City of God? Ein Plädoyer

Henk de Roest Kirche in Grenzsituationen

Isabelle Grellier Orte von Kirche – verschieden und komplementär. Französische Perspektiven|12|

David Frenchak, Carol Anne McGibbon Führungskräfte lehren, die Stadt mit prophetischer Vorstellungskraft zu betrachten

III Öffentliche Kirche

Wilhelm Gräb Kirche im öffentlichen Raum? – Zum Wächteramt der Kirche

Christine Aus der Au «Ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme». Replik auf Wilhelm Gräb

Pierre Bühler Reflexionen zum prophetischen Wächteramt. Replik auf Wilhelm Gräb

Thomas Schlag Public Theology – ein globales Programm für die lokale Kirche

Ralph Kunz Die religiöse Feierkultur als Basis der öffentlichen Kirche. Replik auf Thomas Schlag

Hans Strub Worauf warten wir noch? Replik auf Thomas Schlag

Bernhard Egg Das Verhältnis von Kirchen und Staat im Kanton Zürich

Martin Graf Öffentliche Kirche – ?! Nachgedanken aus der Sicht eines politischen Menschen

IV Missiologische Perspektiven der Praktischen Theologie

Wilhelm Gräb Mission – Ein sinnvoller Leitbegriff praktisch-theologischer Forschung und kirchlicher Praxis?|13|

Ralph Kunz Missiologie – Reflexionsperspektive der Praktischen Theologie

Wilhelm Gräb Noch einmal ein Plädoyer für eine andere praktisch-theologische Begriffsstrategie

Ralph Kunz Noch einmal «Missio Dei» als Leitbegriff einer kritischen Missiologie

Autorinnen und Autoren

Fussnoten

Seitenverzeichnis

|14|

|15|16|

I Programmatischer Auftakt

|17|

Urbanität und Öffentlichkeit – Dynamische Rahmenbedingungen und Ressourcen für die Kirchenentwicklung und ihre Erforschung durch ein neues Zentrum

Thomas Schlag

1. Thematische Schwerpunktsetzungen

In den thematischen Schwerpunkten Urbanität und Öffentlichkeit, die in diesem Band von verschiedenen Seiten aus beleuchtet und bearbeitet werden, manifestieren und verdichten sich grundsätzliche Herausforderungen gegenwärtiger Kirchenentwicklung und Kirchentheorie. Dass sich diese ersten thematischen Schwerpunktsetzungen des im Juni 2010 gegründeten Zürcher Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) und nun auch die Ausführungen der hier versammelten Beiträge in diese Richtung bewegen, hat eine Reihe unterschiedlicher Gründe und ist nicht zufällig. Vielmehr lassen sich dafür aktuelle, empirische, kontextuell-institutionelle und programmatisch-hermeneutische Gründe ins Feld führen.

In aktueller Hinsicht ist die Schwerpunktsetzung dadurch begründet, dass sowohl das Urbanitäts- wie das Öffentlichkeitsthema im Zusammenhang gegenwärtiger Mobilitäts-, Globalisierungs-, und Informationsdynamiken überaus stark diskutiert werden – und zwar sowohl in wissenschaftlichen wie in medialen Zusammenhängen. Aber auch das alltägliche Weltgefühl bleibt von diesen Entwicklungen nicht unberührt, sei es durch die damit verbundenen Befürchtungen zunehmender Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, sei es durch die Hoffnung auf eine weiter wachsende Optionenvielfalt eigener Lebens- und Erkenntnismöglichkeiten. Beide Begrifflichkeiten bilden somit im Kontext aktueller gesellschaftsanalytischer Forschung zentrale Kategorien der Deutung der Welt, in der wir gegenwärtig und zukünftig leben wollen bzw. müssen.4 Da von diesen Entwicklungen und deren Deutung natürlich nun auch das kirchliche Leben und die unterschiedlichen Teilhabepraktiken ihrer Mitglieder wesentlich mitbeeinflusst werden, erhalten beide Themen auch in kirchentheoretischen Überlegungen und |18| reformpraktischen Initiativen aktuell eine zunehmende Aufmerksamkeit.5 Schon deshalb besteht guter Grund, sich an diese Diskussionen anzuschliessen. Zugleich sollen die unterschiedlich weiten internationalen Kontexte der Referierenden deutlich machen, dass wir uns längst in weiterreichenden Zusammenhängen befinden, die eben damit auch kirchentheoretisch nach einem sehr weiten Blick verlangen.

In empirischer Hinsicht wird gegenwärtig sowohl zu Fragen der Urbanität wie der Öffentlichkeit in unterschiedlichsten wissenschaftlichen Zusammenhängen geforscht. Dabei sind die einzelnen Trends, Tendenzen und Erkenntnisse bisher durchaus vielfältig und kaum eindeutig bestimmbar. Zudem ist nach wie vor klärungsbedürftig, wonach sich Urbanitätsdynamiken überhaupt bemessen lassen und wie die vielfältigen Phänomene von Öffentlichkeit sowohl quantitativ wie qualitativ näher sondiert und eingeordnet werden können. Offenbar korrespondiert also die sachliche Komplexität der Gegenstände mit der Notwendigkeit einer hochgradig ausdifferenzierten empirischen Forschung. Damit sei an dieser Stelle mindestens angedeutet, dass sich Kirchentheorie und Kirchenentwicklung auch bei dieser Schwerpunktsetzung sehr viel intensiver mit dieser empirischen Forschung befassen und ihrerseits auch aktiv dazu beitragen muss – einerseits, um das eigene Gegenstandsfeld nicht nur der religionssoziologischen und religionswissenschaftlichen Forschung gleichsam allein zu überlassen6, andererseits, um damit am wissenschaftlichen Diskurs gegenwärtiger empirischer Forschung verantwortlich und eigenständig partizipieren zu können. Dass dafür der vorliegende Band allerdings erst einmal nicht mehr als eine erste Problemorientierung in Sachen notwendiger zukünftiger empirischer Forschung liefert, sei hier ausdrücklich erwähnt.|19|

Als ein weiterer Grund für die hier vorgenommene Schwerpunktsetzung ist die kontextuell-institutionelle Dimension der Zürcher kirchentheoretischen Forschung und auch des Zürcher Zentrums für Kirchenentwicklung zu nennen. Nicht nur in der Arbeit, sondern schon im äusseren Setting der Forschung inmitten des Zürcher «Weltstadt-Altstadt»-Ensembles sind wir von vielfältigen Phänomenen der Urbanität und zugleich einer weitreichenden und pluriformen Öffentlichkeit umgeben. Hierbei stellen wir in unseren Arbeitskontakten mit Wissenschaft und Kirche immer wieder fest, dass die über Jahrhunderte eingespielte öffentliche Rolle der Kirche eben längst nicht mehr selbstverständlich ist und somit die Relevanz kirchlicher Präsenz immer wieder der neuen Erläuterung und Plausibilisierung bedarf. Diese kontextuell-institutionelle Dynamik hat sich im Übrigen ganz konkret darin gezeigt, dass im Jahr 2012 im Kanton Zürich eine politische Initiative zur Änderung bisheriger kirchensteuerrechtlicher Regelungen zum heiss diskutierten Thema geworden ist, von dem auch Kirche und Fakultät tangiert sein werden. Der symbolische Zentralort des Grossmünsters hat jedenfalls inmitten der religionspluralen Verhältnisse längst neue Bedeutungszuschreibungen erfahren, die ihrerseits der kirchentheoretischen Reflexion bedürfen. Zur institutionellen Dimension gehört aber natürlich auch die spezifische Verankerung im reformierten Kontext und seiner wechselvollen Geschichte des Kirche-Staat-Verhältnisses und auch seiner spezifischen Fassung eines protestantischen Öffentlichkeitsbegriffs. Indem diese Dimension hier mit im Blick ist, soll zugleich signalisiert werden, dass kirchentheoretische Forschung ohne ihre theologiehistorisch orientierte Rückbesinnung eine wesentliche Facette ihrer eigenen Herkunft und Aufgabe aus dem Blick verliert. Davon wird weiter unten noch in grundsätzlicherem Sinn die Rede sein.

Schliesslich ist für die hier vorgenommene Themensetzung auf die hermeneutisch-programmatische Dimension zu verweisen: Man mag von einem neuen Forschungszentrum, das sich mit Zukunftsfragen der Kirche befasst, erwarten, dass andere Begrifflichkeiten als ausgerechnet Urbanität und Öffentlichkeit prioritär behandelt werden. Auf den ersten Blick liegen als besonders heisse Eisen die Fragen von Kirchenreformstrategien, der Mitgliedergewinnung oder der Mission im Feuer. Dass unsere Forschung nicht mit der Bearbeitung dieser Themen eingesetzt hat, darf nun allerdings als durchaus programmatischer Entscheid verstanden werden. Denn in kirchentheoretischer Hinsicht ist es entscheidend, vor allen konkreten Reformprojektierungen erst einmal die Rahmenbedingungen für kirchliche Praxis möglichst genau in Augenschein zu nehmen.

Wesentlich ist hier – und dazu sind die Themen Urbanität und Öffentlichkeit besonders geeignet –, dass Fragen der Kirchenentwicklung eben allererst als religionshermeneutische und theologische gestellt und mit der entsprechenden professionellen Kompetenz bearbeitet werden. Denn es handelt sich bei Urbanität und Öffentlichkeit um Zentralbegriffe, anhand derer die Rahmenbedingungen |20| und Zielvorstellungen individuellen religiösen Lebens und gemeinsamen Zusammenlebens reflektierend, kommunizierend und interagierend näher in Augenschein genommen werden können. Es geht dann aber um nicht weniger als die Frage, ob urbaner Raum und öffentlicher Raum in besonderer Weise mit und von der Präsenz Gottes her zu denken sind – eine theologische Frage, die gleichsam zum kirchentheoretischen Kernbestand seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört7.

In diesem Fall stellen Urbanität und Öffentlichkeit folglich nicht nur heuristische Analysekategorien dar, sondern Deutungsmuster gegenwärtigen Lebens bzw. gelebter Religion. Damit handelt es sich aber um nicht weniger als um Kategorien der Welterschliessung und Weltinszenierung8, die auf gemeinsames Verstehen angelegt und damit auch für dezidiert theologische Deutungen offen sind. Interessanterweise sind es biblisch gesprochen gerade städtische Metaphern wie die des neuen Jerusalem, die die Vorstellung eines vollendeten Lebens leiten.9 In christologischer Ausrichtung kann diese theologische Perspektive auf den urbanen Raum etwa so formuliert werden: «Mit der Orientierung an den drei Ämtern Christi und den daraus abgeleiteten Zielformulierungen – geistliche Verankerung, kompetente Anwaltschaft und missionarischer Aufbruch – hat die evangelische Kirche in der Stadt eine Grundorientierung, die sowohl ihr Spezifisches stärkt als auch eine Öffnung nach außen ermöglicht».10

Gerade weil solche Deutungen ihrerseits aber komplex sind, bedarf dies der weiteren kirchentheoretische Bearbeitung und damit gewissermassen der reflektierenden und reflektierten hermeneutischen Entschleunigung. Die hier versammelten Sondierungs- und Angebotsbeiträge aus praktisch-theologischer wie aus systematisch-theologischer Sicht wollen folglich den Anspruch dieser Kirchentheorie verdeutlichen, Teil der wissenschaftlichen Theologie selbst zu sein. Damit schliessen sich aber alle Versuche der Kolonialisierung kirchlicher Lebenswelten durch eine bestimmte Form voreingenommener Forschung kategorisch aus. Dass sich dies dann gleichwohl auch mit der Frage nach der missiologischen Perspektive verbinden kann und soll, werden die Schlussbeiträge dieses Bandes deutlich machen. |21|

2. Kirchentheoretische Grundanliegen

So zeigen sich also in der vielfältigen Beleuchtung der Themen Urbanität und Öffentlichkeit exemplarisch die grundlegenden kirchentheoretischen Herausforderungen an. Zugleich werden schon durch dieses Agendasetting bestimmte kirchentheoretische Grundanliegen und -überzeugungen mittransportiert:

Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass sich sowohl Aspekte der Urbanität wie der Öffentlichkeit als Ressourcen zukünftiger Kirchenentwicklung ausmachen lassen. Fern sei jedenfalls das Klagelied über den vermeintlichen Verfall einstmals überschaubarer lokaler Strukturen und einer einstmals organischen und ganz konfliktfreie Verfassung des öffentlichen Lebens. Dabei handelt es sich wohl um kaum mehr als Mythenbildung, auf deren Revitalisierung man allerdings sinnvollerweise weder Zeit und Energie verwenden sollte. Es geht auch nicht um eine Abwertung der Begriffe Urbanität und Öffentlichkeit unter der Hand oder um eine Art missionarischer Kolonialisierung, wie man dies in anderen kirchentheoretischen Zusammenhängen im Blick auf den Postmoderne-Begriff feststellen muss.11 Kirche und Gemeinden sind jedenfalls nicht einfach weltferne Grössen vor Ort, die sich nun etwa durch eine Art der Gegenkultur von allem Weltgetriebe per se absetzen könnten. Vielmehr besteht die kirchentheoretische Herausforderung darin, sich zu diesen Dynamiken in ein theologisch verantwortetes Verhältnis setzen zu können. Oder anders gesagt: Eine entscheidende kirchentheoretische Herausforderung besteht darin, nicht nur mit den Geschwindigkeiten und Kontrasten dieser Dynamiken umgehen zu können, sondern auch mit deren permanenten Innovationen, Transzendenzbewegungen12 und nicht zuletzt deren immanenten Widersprüchen,13 mit denen die Menschen im urbanen Raum aber offenbar zu leben gelernt haben.

Das heisst aber auch, dass hinter den zu bearbeitenden Schwerpunkten die Frage nach der verantwortlichen kirchlichen Praxis im Blick auf die Menschen selbst im Zentrum zu stehen hat – und zwar auch diejenigen Menschen, die auf den ersten Blick nicht den Kernbereich kirchlicher Gemeinde ausmachen. Denn offenkundig ballen sich in den Entwicklungen des technischen Zeitalters nicht nur Rohstoffe und Kapital, sondern auch die Ressourcen und Möglichkeiten des je einzelnen Menschen, mit diesen Herausforderungen des beschleunigten – und nun besonders verletzlichen – Lebens umzugehen. Städte bzw. urbane Kontexte sind im tatsächlichen und im symbolischen Sinn Ballungsräume unterschiedlichster Lebensformen und Lebenswelten.14 Damit ist aber auch klar, dass weder urbane noch öffentliche Entwicklungsdynamiken eine Eingrenzung kirchentheoretischer |22| Arbeit auf den vermeintlichen Kern oder heiligen Rest kirchlichen Lebens erlaubt.

Vielmehr steht hinter dieser Schwerpunktsetzung die feste Überzeugung, dass kirchentheoretisch auch zukünftig von vielfältigen Möglichkeiten volkskirchlichen Lebens ausgegangen werden kann.15 Schliesslich kann es nicht darum gehen, hier Patentprogramme für die zukünftige Kirchenentwicklung vorzulegen, sondern einige erste kirchentheoretische Überlegungen anzustellen und damit vor allem die inhaltliche Diskussion zu befördern, um damit dann auch über kriteriologische Massstäbe für konkrete Reformentwicklungen zu verfügen.

3. Ansprüche des Zentrums für Kirchenentwicklung

Von diesen Überlegungen aus sei noch auf den Anspruch des für diesen Band verantwortlichen Zentrums für Kirchenentwicklung eingegangen. Um mit einigen eher generellen Überlegungen zu beginnen: Ein Zentrum – wo auch immer man sich dieses vorstellt – hat es mit sehr unterschiedlichen Referenzgrössen und Dynamiken zu tun. Streng genommen und kybernetisch gesprochen kann von einem Zentrum überhaupt nur die Rede sein, weil es eben auch das Nicht-Zentrum gibt, also all das, was sich um diesen Punkt bzw. Ort herum, ganz nah, in gewisser Entfernung oder an der Peripherie abspielt.

Ein Zentrum hat es zugleich kybernetisch gesprochen nicht nur mit Steuerungsvorgängen, sondern dabei auch mit Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zu tun: Kern und Umgebung sind keineswegs unabhängig voneinander zu denken. Dabei ist durchaus nicht automatisch klar, was eigentlich was beeinflusst, gar steuert? Das Zentrum die Umgebung oder die Umgebung das Zentrum? Zudem ist ja immer auch die Frage, wie gross der proklamierte Zentralort etwa im Verhältnis zu allem Umgebenden mit seinen Eigendynamiken ist – auch von dort her bestimmt sich die wechselseitige Dynamik und die Einflusskraft in erheblichem Sinn.

Zudem stellt sich die Frage, wie fest und stabil ein solches Zentrum überhaupt sein kann. Ist es möglicherweise aufgrund der verschiedenen Zentripetal- und Zentrifugalkräfte sogar in permanenter Neuformung und Entwicklung, per se hoch plural, multiperspektivisch, möglicherweise gar instabil und somit womöglich gar ein virtueller Ort? Weiter wäre zu fragen: Ist ein solches Zentrum als das Auge eines Orkans vorzustellen oder stellt es einen Brennpunkt dar, in dem unterschiedliche Dynamiken aufeinander treffen, mit einander korrespondieren, sich versöhnen oder neue Kraft gewinnen, bestimmte Kräfte permanent zur Mitte hin oder davon weg streben? |23|

Zu merken ist hier schon, dass es der Zentrumsbegriff im wahrsten Sinn des Wortes in sich hat. Und nun stellt sich die Frage nach den Dynamiken, Wechselwirkungen und Steuerungskräften umso stärker, wenn man wie die Praktische Theologie in Zürich ein Zentrum für Kirchenentwicklung aus der Taufe hebt. Denn damit wird es einerseits inhaltlich konkreter und klarer, aber auch deutlich komplexer:

Klarer wird der Begriff im konkreten Fall des Zentrums für Kirchenentwicklung durch eine bestimmte Form der Institutionalisierung: eine Geschäftsordnung, festgeschriebene Verantwortlichkeiten, reale Räume und Personen, schliesslich die Finanzierung, die bestimmte Möglichkeiten und Grenzen mit sich bringen. So heisst es in der entsprechenden Geschäftsordnung, dass das Zentrum zum Ziel hat, «Fragen der Kirchenentwicklung und des Gemeindeaufbaus sowohl wissenschaftlich fundiert wie praxisrelevant zu bearbeiten». Es soll sich «der Forschung, Lehre und Anwendung im Bereich der praktisch-theologischen Kybernetik» widmen und sich insbesondere «für die Profilierung der reformierten Ekklesiologie in der schweizerischen und ökumenischen Öffentlichkeit» einsetzen. Zum Aufgabenkatalog gehört, «der verstärkten Forschung auf dem Gebiet der Kirchenentwicklung und des Gemeindeaufbaus» zu dienen, «Personen aus dem universitären und kirchlichen Umfeld im In- und Ausland, welche sich mit den Fragestellungen des Zentrums beschäftigen», zu vernetzen, «Grundlagenarbeit im Hinblick auf künftige Herausforderungen an die kirchliche Präsenz in der Gesellschaft» zu leisten sowie «Kirchen und kirchliche Gremien in ihrer ekklesiologischen Konzeptions- und Planungsarbeit» zu unterstützen.

Komplexer ist nun allerdings im Anschluss an die vorherigen kybernetischen Überlegungen, welcher Auftrag inhaltlich mit dem Titel selbst sinnvollerweise verbunden werden kann. Es ist also zu fragen, in welchem Sinn die Begrifflichkeit «Zentrum für Kirchenentwicklung» gemeint ist: Das heisst, geht es darum, Kirche tatsächlich zu entwickeln, oder darum, Entwicklungen zu beobachten und zu begleiten? Immerhin ist ja zu bedenken, dass es sich hier um eine universitäre Einrichtung handelt, die sich zu Recht auf ihre Wissenschaftsfreiheit beruft und bezieht. Von daher kann es nicht um eine Pro-domo-Aufgabe im Sinn der Auftragswissenschaft für das Kirchenregiment und die Kirchenleitung gehen, weil man sich ansonsten sogleich auf einer rein anwendungsorientierten, instrumentellen Ebene befände. Gefragt ist vielmehr die wissenschaftliche Beschreibungsleistung von Kirchenentwicklung, womit wir uns richtigerweise auf der grundlagenforschenden Ebene positionieren.

Es geht dann aber ganz konkret um die Frage, welche Steuerungs- und Leitungsfunktion ein solches Zentrum in Korrespondenz mit seinem Umfeld haben kann. Und hier verweisen die Aufgaben und Möglichkeiten des Zentrums auf ihre unmittelbare Sache selbst. |24|

Dass dabei von Kirchen- und nicht von Gemeindeentwicklung und schon gar nicht von Gemeindeaufbau gesprochen wird, ist hier ebenfalls kein Zufall. Die Sache selbst ist vielmehr in der Tat möglichst weit zu denken. Abgesehen davon, dass für konkrete Gemeindeentwicklungsprozesse mindestens im Zürcher Kontext schon eine Reihe von kirchlichen Beratungs- und Begleitungsstellen bestehen, erscheint eine Fokussierung auf Struktur-, Gestaltungs- und Umsetzungsfragen vor Ort sicherlich deutlich zu eng.

Will man die Unterscheidung von Makro- Meso- und Mikroebene hier in Verwendung bringen, so positioniert sich dieses Zentrum folglich nicht auf der Mikroebene. Kirche rückt vielmehr in einem weiten theologischen und gesellschaftlichen Bezugshorizont in den Blick. Wie ja schon im Blick auf die Schwerpunktsetzung dieses Bandes festgehalten wurde: Erst von der weitgreifenden Reflexion auf die Konstruktions- und Existenzbedingungen des Systems Kirche können und sollten dann konkrete Reformprogramme und Umsetzungsschritte anvisiert werden. Oder um es in Analogie zu den ökonomischen Disziplinen zu sagen: Die hier betriebene kirchentheoretische Forschung versteht sich sehr viel stärker in einer volkswirtschaftlichen als in einer betriebswirtschaftlichen Perspektive. In Analogie zur Erziehungswissenschaft würde dies heissen: Nicht um die Beratung einzelner Schulen soll es hier gehen, sondern um Schulentwicklung im Sinn der Analyse der Rahmenbedingungen und der Konzipierung grundlegender Zukunftsstrategien von Schule als intermediärer und zivilgesellschaftlicher Institution.

Angesichts dieser Ortsbestimmung stellt sich dann nochmals die grundsätzliche Frage, wie sich die zukünftige Grundlagenforschung mit der Sache selbst verbindet: Braucht es – kurz gesagt – ein vorgängig bestimmtes Leitbild von Kirche und Gemeinde, eine genauere Fassung etwa des Entwicklungs- und Wachstumsbegriffs, um dann von dort aus bestimmte Zielvorstellungen überhaupt erst entwickeln zu können? Sind also bestimmte inhaltliche Vorentscheidungen mit dem prinzipiellen Ziel einer offenen und freien Forschung vereinbar?

Möglicherweise lässt sich diese Frage am besten beantworten, indem man einen vergleichenden Blick auf das EKD-Zentrum «Mission in der Region» wirft. Dieses ist Teil des EKD-Reformprozesses, an den Standorten Dortmund, Stuttgart und Greifswald angesiedelt und soll eng mit dem Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald kooperieren. Im ersten digitalen Newsletter dieses Zentrums heisst es unter anderem: Die Arbeit des Zentrums «soll möglichst effektiv unterstützen und begleiten, was einen missionarischen Aufbruch in Regionen, Gemeinden und Landeskirchen fördert»16. Konkret nimmt man sich u. a. vor: Theologische und sozialwissenschaftliche |25| Arbeit «zur Entwicklung einer missionarischen Ekklesiologie für die Region in der EKD» und etwa die Aufstellung eines exemplarischen Tableaus von zehn bis fünfzehn Modellregionen für missionarische Initiativen. Dazu kommt die Aufgabe, «Förderer und Bremser des Mentalitätswandels in einer aufbrechenden Kirche [zu] identifizieren»,17 damit die Gemeinden dem «Nazaretheffekt»18 entgehen, also nicht die Erfahrung Nazareths zu wiederholen, «ohne Neugier» auskommen zu wollen und damit die Wunder des eigenen Propheten Jesu zu verpassen – sprich: vorbildliche Gemeindeerfahrungen einfach zu übersehen. Dazu werden dann im weiteren Verlauf des Newsletters z. B. «Tugenden eines Veränderungsprozesses» benannt, wie «Handeln Sie mehr in Kooperation und weniger in Konkurrenzen»,19 «Bleiben Sie offen dafür, dass Gott was anderes will als Sie».20

Das Problem eines solchen Zentrums muss nun nicht unbedingt eine bestimmte problematische Theologie sein. Was es aber, mindestens aus Sicht des Zürcher kirchentheoretischen Selbstverständnisses, dort kritisch zu bedenken gibt, ist der unübersehbare implizite und explizite Steuerungsanspruch und ein kybernetisches Leitbild, bei dem der «Gemeindeaufbau zum Anfang und Zenit der theologischen Praxis»21 erklärt wird – wie wenn durch einen Magneten einzelne Eisenspäne monolinear ausgerichtet werden sollen. Eine solche eindeutige Orientierungsinstanz mitsamt gewissen Tendenzen zu einer «Kultivierung von Unzufriedenheit»22 und den entsprechenden «handlungs- und strukturbezogenen absoluta»23 mit eindeutigen Entwicklungszielen schwebt jedenfalls den Zürcher Initianten nicht vor. Schon gar nicht soll es darum gehen, «missionarische Blaupausen zu entwickeln, die in möglichst unterschiedlichen Regionen Deutschlands eingesetzt werden können».24

Von welchem kybernetischen Paradigma soll dann aber für die schweizerischen Verhältnisse ausgegangen werden? Und wo steht das hiesige Zentrum in der weiteren deutschsprachigen kirchentheoretischen Landschaft?

Wie schon oben angedeutet, geschieht die kirchentheoretische Arbeit nicht voraussetzungslos, sondern erfolgt auf dem konkreten Boden der reformierten Tradition und vor dem Hintergrund der aktuellen religiösen und kirchlichen |26| Situation und Entwicklungen in der Schweiz. Prinzipiell kann allerdings davon ausgegangen werden, dass sich die Grundherausforderungen gegenwärtiger Kirchenreformen in Deutschland und der Schweiz grundsätzlich nicht wesentlich unterschiedlich darstellen25. Zudem ist zu erwähnen, dass zwar die faktischen und rechtlichen Gegebenheiten der protestantischen Kirchen in der Schweiz mehrheitlich reformiert geprägt sind, andererseits natürlich sowohl unter den Pfarrerinnen und Pfarrern wie unter den Gemeindegliedern auch mit lutherischen Denktraditionen und einem entsprechenden theologisch-ekklesiologischen Selbstverständnis zu rechnen ist.

Eine Kernaufgabe des Zentrums kann darin gesehen werden, den Sinn für ein Verständnis protestantischer Freiheit zu schärfen, wonach diese nicht als eine Freiheit von Verbindlichkeit und Verpflichtung, sondern als eine Freiheit zur Partizipation an der Zukunft von Volkskirche und ihren Einzelgemeinden verstanden wird.

Grundsätzlich ist jedenfalls kybernetisch davon auszugehen, dass sich die Kirche und Gemeinden bzw. das Priestertum aller Getauften nur in einem sehr begrenzten Umfang überhaupt zentralinstanzlich komplett regieren oder gar neu umsteuern lassen. Somit sollten die Steuerungsmöglichkeiten nicht überschätzt werden. Kirchenentwicklung ist in gewissem Sinn steuerbar, zugleich aber auch der Sache nach organisatorisch wie theologisch und kybernetisch gleichermassen eben nur in bestimmte Grenzen planbar, um nicht zu sagen, unorganisierbar26 und unverfügbar.

Dies impliziert für die Zentrumsarbeit neben der Sensibilisierung für die gemeinsamen Traditionen und Zukunftsaufgaben die konkrete Wertschätzung der beteiligten Personen und die Beachtung der menschengemässen Grenzen jeglicher Kirchen- und Gemeindeentwicklung. Insofern sind hier die Stellgrössen und die Stellhebel so genau wie möglich in den Blick zu nehmen: Was lässt sich steuern, was entwickelt sich eigendynamisch? Was sind die kommunizierenden Röhren im System und was sind die inhaltlichen Antriebskräfte? Und wie kann – um es noch einmal auf die kirchentheoretische Zentrumsarbeit zu übertragen – ein Transmissionsriemen zwischen Theorie und Praxis konkret aussehen?

Natürlich stellt eine solche Initiative eine Gratwanderung zwischen Grundlagenforschung und Anwendungswissenschaft dar. Einerseits besteht man als wissenschaftliches Forum, andererseits versteht man sich selbst als Einfluss nehmender Faktor – nicht im Sinn des genehmen Stichwortgebers, sondern im Einzelfall |27| durchaus als tatsächlich sperrige Orientierungsgrösse. Für eine von solchen Faktoren bestimmte Aufgabe braucht es aber eben erhebliche Unterscheidungskompetenz und Pluralitätsfähigkeit. Gerade weil bestimmte Strukturen und ihre einzelnen Elemente immer nur von relativer Stabilität sind, bedürfen sie der permanenten Deutung und Interpretation. Es geht also um eine «realistische und theologisch orientierte Bearbeitung der ‹Zukunftsaufgaben des protestantischen Kirchentums›».27 Dies könnte dann möglicherweise sogar im hilfreichen Sinn als ein produktives Irritieren und Entschleunigen der gegenwärtigen Reformhysteriestimmung empfunden werden.

4. Hermeneutische Perspektiven auf gelebte Religion und kirchliche Praxis

Daraus folgt, dass die kybernetische Praxis als eine Hermeneutik protestantischer Ekklesiologie und kirchlicher Praxis zu profilieren ist. «Steuern» kann das Zentrum nur im Modus einer offen orientierenden Deutungspraxis – und dies unter möglichst breitem Einschluss der Kommunikation mit den betroffenen bzw. verantwortlichen Akteuren und Multiplikatoren.

Gegenüber etwa einer religionssoziologischen oder religionswissenschaftlichen Betrachtungsweise wird die besondere praktisch-theologische Kompetenz dabei gerade in der theologischen Deutung der institutionellen Aspekte und organisatorischen Phänomene von Kirche und Gemeinde bestehen – denn ob die gegenwärtig von jener Seite aus konstatierte Deinstitutionalisierung und der angeblich massive Bindungsverlust der Mitglieder so tatsächlich stattfindet, wäre erst noch weiter zu verifizieren.

Das Zentrum für Kirchenentwicklung kann also als Steuerungs-, Leitungs- Deutungsinstanz in wechselseitiger Kommunikation und Korrespondenz mit den kirchlichen Akteuren verstanden werden.

Zudem gilt es, sich gegen schnelle Verzweckung eindeutig zu verwahren. Dies heisst dann aber auch, dass es nicht einfach darum gehen kann, einen bestimmten kybernetischen Regelkreis, also etwa die Temperatur oder das Fliessgleichgewicht der Institution Volkskirche irgendwie auf dem bisherigen gewohnten Niveau aufrechtzuerhalten, also diesem System gleichsam neue Substanz zuzuführen, wenn das Absinken der Temperatur oder das Erstarren der Strukturen droht. Wenn man schon in diesem Beispiel bleiben will, geht es eher um die Aufgabe zu überlegen, wie ein geeigneter Thermostat aussehen könnte. Damit ist dann aber auch zugleich klar, dass ein Zentrum für Kirchenentwicklung nicht die Steuerungsaufgabe |28| selbst übernehmen kann. In seinen Bereich fallen vor allem Diagnose, Analyse und Prognose, Zielsetzung und gegebenenfalls Kontrolle im Sinn einer neuen Analyse, nicht aber die einzelne Zielsetzung, deren Planung, Organisation und Realisation im Sinn der Durchführung/Erledigung der geplanten Massnahmen. Es geht also tatsächlich um Kybernetik und nicht in erster Linie um die Ausarbeitung konkreter Kybernesen.

Zugleich geht es – und dies wird in vergleichbaren Forschungseinrichtungen zu häufig vergessen – um die Forschung gelingender Praxis, also um die Sondierung dessen, was an kirchlicher Praxis nach wie vor gut gelingt: Dementsprechend kann es nicht einfach nur um die Sammlung von best practices gehen, sondern um die Bearbeitung der Frage, was eine best practice tatsächlich zu einer solchen macht. Dies wird – um nochmals den Faden von oben aufzunehmen – ebenfalls zugleich nicht ohne eine stärkere Aufmerksamkeit auf die empirische Forschung gelingen können.

Die Frage nach dem output oder outcome des Zentrums mag vonseiten der Geldgeber berechtigt sein und in der Tat wird man hier über kurz oder lang Rechenschaft über die eigene Wirkkraft geben müssen. Allerdings ist dann auch immer wieder daran erinnern, dass sich gerade der Beitrag der Praktischen Theologie nicht in das Raster eines einlinigen Ursache-Wirkungs-Komplexes einordnen lassen kann. Deutung heisst folglich hier, so die Komplexität der realen Situation zu fokussieren, dass wichtige Wechselwirkungen in den Blick geraten können. Zugleich muss man sich aber professionell kybernetisch auch der Tatsache bewusst zu sein, dass die (zwischen-)menschliche Wirklichkeit immer mehr beinhaltet als die Informationen, die durch die Theoriearbeit erfasst werden können. Und das ist dann tatsächlich eine genuin theologische Aufgabe! Und immerhin sei daran erinnert, dass bei den ersten Überlegungen zur Kybernetik in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein der Theologie nicht ganz unvertrauter Begriff in Anwendung kam: konkret ging es um die Konstruktion und das Verstehen eines sogenannten Fliehkraftreglers, im Englischen ein so genannter governor, also um nichts anderes als den gubernator28.

Kirchentheoretische Professionalität erfordert also eine «Reflexionsperspektive»29, genauer eine Deutungs- und Beschreibungskunst, die sowohl dogmatische Beschreibungen der geglaubten als auch nichttheologische Beschreibungen der sichtbaren und erfahrbaren empirischen Kirche miteinander in ein Korrespondenzverhältnis bringt. Nur wenn man sich sowohl für die Sache der Kirchenentwicklung |29| wie für ihre theoretische Durchdringung klar macht, dass hier jeweils von denselben funktionalen Konstruktionsmechanismen und Wirkweisen auszugehen ist, wird dies dann auch eine sachgemässe Arbeit ermöglichen.

Problematisch wäre es dabei allerdings, «nicht auf die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen und damit nicht auf ein locker integriertes Netzwerk setzen, sondern auf Arbeitsteilung und Hierarchie sowie […] auf einen ‹Paradigmen- und Mentalitätswechsel›»:30