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Dieser Band enthält folgende Titel: G.S. Friebel: Lilly erobert ein einsames Herz Alfred Bekker/ W.A.Hary: Nach Paris der Liebe wegen Cedric Balmore: Flucht aus dem Elternhaus Eva Joachimsen: Ferien - Zeit zum Träumen A.F. Morland: Ihr letzter Sommer mit Tobias? G.S.Friebel: Rätselhaft, doch vielgeliebt Alfred Bekker: Ein Gespräch unter Müttern G.S.Friebel: Auch Engel müssen weinen Alfred Bekker: Der Fisch G.S.Friebel: Von der Sünde gezeichnet - aber nicht verloren Alfred Bekker: Unverdiente Loorbeeren A.F.Morland: Zwei Liebende in Paris A.F.Morland: Das Mädchen aus Paris Ob Paris im Regen, wie Emma und ihre Freundin Lucie es erleben, oder Randis Tanzkurs mit ihrem Kollegen Alex, der zwei linke Füße hat, im heißen Andalusien oder eine Kur im Teutoburger Wald - mit Schmetterlingen im Bauch lässt sich alles leichter ertragen. Und was quengelnde Kinder an der Ostsee, eine Autopanne im Elsass, ein verschlafenes Nest im Schwarzwald, einem Heiratsschwindler ein Schnippchen zu schlagen und weitere heitere Geschichten rund um die schönste Zeit des Jahres gemein haben, ist, dass man nur gewinnen kann, wenn man das Beste aus allem macht ...
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Seitenzahl: 1375
Veröffentlichungsjahr: 2019
Urlaub August 2019 - Zeit zum Lesen und Träumen - Sammelband 13001: 13 Romane und Kurzgeschichten großer Autoren
Copyright
Lilly erobert ein einsames Herz
Nach Paris – der Liebe wegen
Flucht aus dem Elternhaus
Ferien – Zeit zum Träumen
Ihr letzter Sommer mit Tobias?
Rätselhaft, doch vielgeliebt
Ein Gespräch unter Müttern
Auch Engel müssen weinen
Der Fisch
Von der Sünde gezeichnet - aber nicht verloren Redlight Street #99
Unverdiente Loorbeeren
Zwei Liebende in Paris
Das Mädchen aus Paris
Dieser Band enthält folgende Titel:
G.S. Friebel: Lilly erobert ein einsames Herz
Alfred Bekker/ W.A.Hary: Nach Paris der Liebe wegen
Cedric Balmore: Flucht aus dem Elternhaus
Eva Joachimsen: Ferien - Zeit zum Träumen
A.F. Morland: Ihr letzter Sommer mit Tobias?
G.S.Friebel: Rätselhaft, doch vielgeliebt
Alfred Bekker: Ein Gespräch unter Müttern
G.S.Friebel: Auch Engel müssen weinen
Alfred Bekker: Der Fisch
G.S.Friebel: Von der Sünde gezeichnet - aber nicht verloren
Alfred Bekker: Unverdiente Loorbeeren
A.F.Morland: Zwei Liebende in Paris
A.F.Morland: Das Mädchen aus Paris
Ob Paris im Regen, wie Emma und ihre Freundin Lucie es erleben, oder Randis Tanzkurs mit ihrem Kollegen Alex, der zwei linke Füße hat, im heißen Andalusien oder eine Kur im Teutoburger Wald – mit Schmetterlingen im Bauch lässt sich alles leichter ertragen. Und was quengelnde Kinder an der Ostsee, eine Autopanne im Elsass, ein verschlafenes Nest im Schwarzwald, einem Heiratsschwindler ein Schnippchen zu schlagen und weitere heitere Geschichten rund um die schönste Zeit des Jahres gemein haben, ist, dass man nur gewinnen kann, wenn man das Beste aus allem macht ...
Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author /COVER MARA LAUE
© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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von G. S. Friebel
Der Umfang dieses Buchs entspricht 119 Taschenbuchseiten.
Peter hat sich viel zu lange in seiner Arbeit vergraben. Er hat kaum auf andere Menschen geachtet, seit seine Frau gestorben ist. Doch eines Tages findet er im Vorzimmer zu seinem Büro ein lustig plapperndes Mädchen und seine Sekretärin erzählt ihm verlegen, dass sie das Kind für die nächsten zwei Tage mitbringen müsse, weil sie es anders nicht unterbringen könne. Peter ist begeistert von dem Kind und nimmt sogar die Einladung zur Geburtstagsfeier von ihr an. Bei Kuchen und Kakao lernt er dann auch seine Sekretärin besser kennen.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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Lilly hatte eine Klassefigur, wie man so schön im Volksmund sagt. Sie war einfach tadellos, und auch die schlimmsten Klatschbasen konnten an ihr nichts aussetzen. Dazu hatte sie blondes Haar, blaue Augen, eine Stupsnase und einen süßen kleinen Mund, der immer zum Lachen aufgelegt war. Sie trug mit Leidenschaft die kürzesten Minis, und wenn sie durch die Straßen ging, blieben die Leute stehen und sahen ihr bewundernd nach. Lilly genoss das, und die Funken in ihren Augen tanzten vor Freude.
Doch niemand ist ganz makellos; irgendwo gibt es immer etwas, das störend wirkt. So war es auch bei Lilly. Ihr blondes Haar war nie ordentlich, stets zerzaust; denn so fühlte sie sich am wohlsten. Und dann ihre Hände! Es war einfach eine Schande!
Eben noch blitzsauber und im nächsten Augenblick . . .
Aber Lilly fand, so ganz ordentlich brauche man nicht zu sein. Ein bisschen Unordnung, das war schick! Lilly störte es überhaupt nicht, wenn man an ihren Schwächen Anstoß nahm, sie war mit sich selbst ganz zufrieden. Schließlich war Lilly auch erst fünf Jahre alt.
In diesem Augenblick saß sie auf einem großen Bürodrehstuhl, ließ die Beine baumeln, in der nicht ganz sauberen Hand einen dicken roten Bleistift, und versuchte mit Hingabe, ein Kunstwerk fertigzustellen. Das war so anstrengend, dass sie hin und wieder mit der kleinen Zunge die Lippen befeuchten musste.
Zuerst einmal wurde ein birnenförmiger Kopf gemalt, dazu ein dicker Bauch und darunter Elefantenbeine. Dafür wurden die Arme eben spindeldürr gezeichnet. Lilly nahm das nicht so genau. Das Wesen bekam grüne Haare, einen lila Mund, eine blaue Nase und karierte Augen. Jetzt lehnte sich die kleine Person zurück und betrachtete das Bild eingehend. Sie fand es so lustig, dass sie laut zu lachen begann.
„Aber Lilly!“, mahnte eine Stimme, aus dem Hintergrund.
Die Blauaugen des kleinen Mädchens plinkerten, und das Lachen wurde ein wenig leiser. Aber man konnte es noch draußen auf den langen Gängen hören. Peter Jensen war verblüfft. Kam das etwa aus seinem Vorzimmer? Er hatte sich doch nicht verlaufen? Nein, was für dumme Gedanken, natürlich befand er sich in seiner Fabrik. Doch er hatte eine schlechte Nacht hinter sich, und seine Nerven spielten ihm mitunter einen bösen Streich. Man müsste mal Urlaub machen, sinnierte er, doch dann dachte er an seine vielen Verpflichtungen und verdrängte den begreiflichen Wunsch wieder.
Da hörte er abermals das helle Kinderstimmchen. Mit einem Ruck öffnete er die Vorzimmertür und blieb einigermaßen verwirrt auf der Schwelle stehen.
Lilly hatte ihn kommen gehört. Sie wandte sich lebhaft um und wackelte mit den langen seidigen Wimpern wie ein Schmetterling mit seinen Flügeln.
„Eh“, sagte Peter Jensen verdutzt und starrte die winzige Portion Frau vor sich mit großen Augen an.
Lilly rutschte von ihrem hohen Sitz, machte einen hübschen Knicks und piepste lautstark:
„Ich bin Lilly Sommer. Ich bleibe jetzt hier, das heißt, heute und morgen. Mein Kindergarten hat nämlich geschlossen. Alle Kinder haben nämlich Masern. Ich nicht! Meine Freundin Betti sieht lustig aus. Sie hat überall rote Punkte, auf’n Bauch und im Gesicht. Hast du auch schon mal überall Punkte gehabt?“
„Wie?“, sagte Peter Jensen nicht gerade sehr gescheit. „Warum sollte ich Punkte haben?“
„Die hat man doch, wenn man die Masern kriegt“, belehrte ihn Lilly altklug.
„Ach so“, murmelte der Mann noch immer verständnislos.
Die kleine Maid irritierte ihn. Nun hörte er seine Sekretärin sagen: „Aber, Lilly, ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht so vorlaut sein. Das tut man nicht. Setz dich schon still auf deinen Platz und male weiter.“
„Guten Morgen, Frau Sommer“, beeilte sich Peter zu sagen.
Marge Sommer machte ein besorgtes Gesicht. „Ich hoffe, Herr Jensen, Sie sind mir nicht böse, dass ich Lilly, meine kleine Tochter, einfach mitgebracht habe, aber ich wusste mir beim besten Willen keinen anderen Rat. Der Kindergarten hat tatsächlich geschlossen, und ich kann das Kind nicht allein zu Hause lassen. Sie stört auch ganz bestimmt nicht. Sie ist ein braves Kind, nicht Lilly?“
„Natürlich“, brummte sie wie ein Bär.
Peter hatte gar nicht gewusst, dass seine Sekretärin eine Tochter hatte. Er wusste nur, dass sie seit zwei Jahren Witwe und außerdem sehr tüchtig und flink war. Eigentlich sah er sie immer nur wie einen grauen Schatten in seinem Zimmer hin und her huschen.
Er beeilte sich, zu versichern, dass er nichts gegen die Einquartierung habe. Besser das Kind hier, als ohne Sekretärin zu sein. Wenn Marge Sommer nicht da war, fühlte er sich immer hilflos.
„Aber selbstverständlich kann sie bleiben“, sagte er lächelnd und sah auf Lilly herab.
„Da, ich schenke es dir, weil du so nett bist“, sagte Lilly. „Das bist du!“, setzte sie noch großmütig hinzu.
Peter nahm das Blatt entgegen, sah auf die urkomische Gestalt und da er eine ganze Portion Humor besaß, fragte er belustigt: „Habe ich etwa grüne Haare und karierte Augen?“
„Warum nicht?“, zwitscherte die Kleine. „Ist doch viel hübscher. Die anderen Bilder sind so langweilig.“
„Da hast du auch wieder recht“, sagte der Mann sehr ernsthaft, dann ging er in sein Zimmer.
Aber mit seiner Arbeitslust war es heute nicht weit her. Obwohl seine Tür gepolstert war, hörte er doch immer wieder das helle Kinderstimmchen.
Merkwürdige Gedanken stiegen in ihm auf. Ich hätte auch so eine süße Tochter haben können, überlegte er. Wie man doch die Zeit vergaß. Da hatte man geheiratet, hatte einen halbwüchsigen
Sohn, dann war die Frau gestorben und die Oma ins Haus gezogen. Man war all die Jahre mit dem Aufbau der Fabrik beschäftigt gewesen und hatte darüber das Privatleben völlig vergessen. Seltsam, dass er ausgerechnet heute daran denken musste. Fühlte er sich alt und verbraucht? Mit Vierzig stand man doch in der Blüte seiner Jahre und hatte noch eine ganze Menge schöner Jahre vor sich. Aber war Arbeit wirklich das einzig Beglückende im Leben? Wenn er so zurückdachte, hatte er bis jetzt nur geschuftet und sich wenig Freude gegönnt. Sein Sohn machte sich ganz gut, alles ging seinen Lauf. Aber war das genug?
Wieder drang das helle Kinderlachen zu ihm herein.
Marge musste für einen Augenblick ihr Büro verlassen und schärfte ihrer Tochter ein, ja keine Dummheiten zu machen. Als sie kurze Zeit später zurückkam, war die Chefzimmertür geöffnet und Lilly stand, ein Bein um das andere gewickelt, die Söckchen verrutscht, vor Peters Schreibtisch. Sie konnte gerade mit ihrer kleinen Stupsnase darüber blicken.
Sie schien sich köstlich zu amüsieren. Auch Peter lachte in diesem Augenblick hell auf. Als Marge das Zimmer betrat, sahen beide betreten drein, so, als hätte sie zwei Sünder ertappt.
„Was habe ich dir gesagt, Lilly?“, fragte sie streng.
„Wieso?“, verteidigte sich die Kleine keck. „Herr Peter hat mich gerufen und wollte sich mit mir unterhalten, und du hast immer zu mir gesagt, ich soll freundlich und höflich zu großen Leuten sein!“
Marges Gesicht war vor Verlegenheit rosig angehaucht.
Peter räusperte sich. „Es stimmt wirklich. Bitte, schimpfen sie nicht mit dem Kind. Ich bin der Schuldige!“ Er stand auf und kam hinter dem Schreibtisch vor.
„Wie ist es, Lilly, fährst du mit? Ich muss in der Stadt etwas erledigen.“
„Prima. Mit dem Auto?“
„Mit dem Auto.“ Er lächelte auf sie herab.
„Aber sie wird Ihnen bestimmt lästig werden, Herr Jensen.“
„Ach wo, ist mal etwas anderes. Außerdem kann das Kind nicht den ganzen Tag still im Büro sitzen. Ich nehme sie gern mit.“
Und so zogen die beiden ab. Ein drolliges Gespann waren sie.
Marge sah ihnen mit gemischten Gefühlen nach.
Die beiden blieben ziemlich lange fort, und Marge machte sich langsam Sorgen, aber dann hörte sie Lillys Stimme auf dem Flur und ging ihnen erleichtert entgegen.
„Sie haben doch nicht etwa auf uns gewartet, Frau Sommer?“
Die junge Frau lächelte kurz. So hatte sie ihren Chef noch nie gesehen. Richtig verjüngt sah er aus, und die Sorgenfalten auf seiner Stirn waren wie weggeblasen.
„War Lilly auch brav?“
„Sehr. Sie ist ein sehr liebes Mädchen, und wir haben viel Spaß miteinander gehabt. Übrigens haben wir beide schon zu Mittag gegessen.“
„Ja, ja“, sagte Lilly. „Mein Bauch ist zum Platzen voll.“
Marge nahm sie bei der Hand.
„Es ist zu liebenswürdig von Ihnen, Herr Jensen. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.“
„Ach, lassen Sie das doch. Wissen Sie, Lilly hat mir gezeigt, dass es auch noch etwas anderes gibt als die Arbeit. Ich bin ihr dankbar für die schönen Stunden. Sie ist wirklich unschlagbar. Wenn ich da an meinen Jungen denke! Mädchen sind doch viel niedlicher und kecker!“ Schmunzelnd ging er in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
„Herr Peter ist wirklich sehr nett“, sagte Lilly und hopste im Zimmer umher.
„Er heißt nicht Herr Peter, sondern Herr Jensen, Lilly“, sagte die Mutter belehrend.
„Er hat gesagt, ich darf ihn so nennen. Du, Mutti, ich habe ihn zu meinem Geburtstag eingeladen.“ Als sie die erschrockenen Augen der Mutter sah, setzte sie schnell hinzu: „Durfte ich das denn nicht? Du hast mir doch gesagt, ich dürfe alle einladen, die ich will!“
Nun musste Marge doch lachen. „Du, damit habe ich deine Freunde und Freundinnen aus dem Kindergarten gemeint. Herr Jensen ist doch ein großer Mann.“
„Aber er hat mir gesagt, er würde ganz bestimmt kommen“, sagte Lilly ein wenig weinerlich. „Ich hab’ gesagt, es gibt massenhaft Kuchen und Kakao, und er hat mir gesagt, das mag er sehr gern!“ Nun heulte sie fast.
Marge wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Jensen hatte das bestimmt nur so gesagt. Sicher würde er es in einer Viertelstunde schon wieder vergessen haben. Aber wie sie Lilly kannte, würde sie fest mit seinem Besuch rechnen. Sie verstand das Kind ja. Alle ihre Freunde hatten Eltern, Großeltern oder wenigstens eine Tante oder einen Onkel, der sie besuchen kam, aber sie beide waren völlig allein. Ihr Mann und sie hatten keine Geschwister gehabt, und die Eltern waren schon lange gestorben.
Das Kind lehnte sich an ihre Schulter und rieb den Blondkopf an ihrer Wange.
„Bist du mir böse, Mutti?“
„Nein, mein Häschen“, sagte Marge gerührt.
„Ich dachte, weil du so traurige Augen machst und gar nicht mit mir sprichst.“
„Ach, mein Kleines.“ Marge schloss das Kind in ihre Arme. „Die Mutti hat immer soviel zu tun. Wenn ich doch nur mehr Zeit für dich hätte!“
„Aber du musst doch Geld verdienen, sonst können wir nichts essen“, sagte das Kind ernsthaft.
Ja, so hatte sie dem Kind erklärt, warum es alle Tage in den Kindergarten gehen musste und sie zur Arbeit. Lilly war ein sehr verständiges kleines Mädchen, und Marge liebte sie abgöttisch. Die Kleine war der einzige Lichtblick in ihrem Leben. Wenn sie damals das Kind nicht gehabt hätte, damals, als man zu ihr kam, um ihr zu sagen, dass ihr Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen sei... Nein, sie durfte nicht an die Vergangenheit denken, das machte sie nur traurig. Und sie wollte doch eine fröhliche Mutter für ihr Kind sein. Musste sie ihm doch jetzt beides sein: Vater und Mutter.
Lilly hatte sich schon wieder in ihre Ecke verkrochen und versuchte, aus einem Taschentuch eine Maus zu knüpfen. Die junge Frau ging an ihre Schreibmaschine zurück, und bald waren beide emsig bei der Arbeit.
Das Licht flutete voll in das Zimmer und ließ die Züge der jungen Mutter weich und zärtlich erscheinen. Wenn sie auch vieles verloren hatte, aber einen Schatz besaß sie, einen sehr kostbaren.
Peter Jensen kam noch einmal durch das Zimmer, und dann sahen sie ihn den ganzen Tag nicht mehr. Er musste zu einer Konferenz und hatte wichtigere Dinge zu erledigen, als sich um ein kleines fremdes Mädchen zu kümmern.
Lilly schloss mit jedem Freundschaft, der in das Zimmer der Mutter kam, um etwas zu holen oder zu bringen. Alle waren von dem niedlichen Mädchen bezaubert.
Dann war Büroschluss, und Lilly hüpfte wie ein Gummiball an Marges Seite und freute sich wie ein gefangenes Vögelchen auf ihre Freiheit.
Noch ein Tag, und die Kleine konnte wieder in den Kindergarten gehen und mit ihren Spielgefährten beisammen sein.
Der Sonntag brach an. Hell und klar schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Heute war Lillys großer Tag. Da die Mutter in der Woche arbeiten musste, wurden die Geburtstage immer Sonntags gefeiert. Das war sehr praktisch. Lilly war am frühen Morgen schon wie aufgezogen. Sieben kleine Mädchen und Jungen hatte sie zu diesem Schmaus eingeladen, und natürlich Herrn Peter. Marge wusste nicht, wie sie dem Kind erklären sollte, dass ihr Chef bestimmt nicht kommen würde. Das kleine Mädchen war felsenfest davon überzeugt. Resigniert hatte sie die Waffen gestreckt und wünschte nur, die Tochter möge über den vielen Spielgefährten seinen Besuch vergessen.
Gleich nach dem Frühstück wurde die Kindertafel im Kinderzimmer gedeckt. Marge besaß eine hübsche kleine Zweizimmerwohnung im Grünen. Jeder hatte darin sein Reich für sich. Lilly half fleißig mit und schleppte Tassen und Teller herbei. Lustig wurde es mit Girlanden geschmückt, und in der Mitte prangte der große Kuchenberg. Nun konnten die hungrigen Mäuler kommen.
Gleich nach dem Mittagessen ging die Türglocke ununterbrochen. Lilly freute sich über die vielen niedlichen Geschenke, die ihr die Freunde mitbrachten. Es herrschte ein unbeschreiblicher Tumult in dem Zimmer, und man konnte sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Marge bediente die kleinen Gäste und schleppte Riesenkannen Kakao heran.
Gegen halb vier ertönte abermals die Glocke. Sollte sich ein Kind verspätet haben? Sie ging zur Tür und öffnete. Oben am Geländer blieb sie stehen und sah ins Treppenhaus.
Peter Jensen kam, in der einen Hand einen Blumenstrauß und in der anderen ein umfangreiches Paket.
„Dass Sie wirklich gekommen sind!“, rief Marge erfreut.„Da wird sich Lilly aber freuen. Sie hat also doch recht behalten.“
Peter begrüßte seine Sekretärin und überreichte ihr die Blumen.
„Ich habe es ihr doch versprochen, meine Liebe.“
„Ja, ich weiß“, sagte sie etwas verwirrt. „Aber ich dachte, Sie hätten es nur so dahin gesagt, oder würden es vergessen.“
Peter Jensen stand im Flur und sah sie lächelnd an. „Ich weiß“, sagte er gut gelaunt. „Aber damit ich es nicht vergesse, habe ich es in meinem Terminkalender vermerkt. Und wenn man Kindern etwas verspricht, dann muss man es auch halten. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie demütigend es sein kann, wenn man vergebens hofft. Als kleiner Junge versprach mir ein Onkel, er werde am Sonntag kommen und mit mir segeln gehen. Ich habe den ganzen Sonntag auf ihn gewartet, und als er dann nicht kam, glaubte ich an ein Unglück. Bis man mir sagte, er habe gar nicht mehr daran gedacht. Es war nur eine Redewendung gewesen. Ich habe sehr unter dieser Demütigung gelitten, und es mir fürs Leben gemerkt. Und Sie dürfen nicht vergessen, ich habe selbst einen Sohn. Ich erwarte von ihm, dass er sein Wort hält, so wie ich das meine halte.“
Marge kannte ihren Chef gar nicht wieder. Im Werk war er ganz anders. Dort hatten sie nie über persönliche Dinge gesprochen. Immer war alles trocken und nüchtern zugegangen.
Lilly musste seine Stimme gehört haben. In diesem Augenblick kam sie aus dem Kinderzimmer gestürmt. Das Haar wie immer zerzaust, mit einem kakaoverschmierten Gesicht, die Söckchen hingen unordentlich um die Beinchen. Strahlend sprang sie auf den Gast zu.
Marge schämte sich für ihre Tochter.
„Fein, dass du gekommen bist, Herr Peter. Ein bisschen Kuchen haben wir noch und auch Kakao. Schau mal, ich habe ein neues Kleid bekommen und Schuhe, siehst du, und ein Rüschenhöschen. Wenn ich mich bücke, siehst du so“, sie setzte es gleich in die Tat um, „dann habe ich einen Hühnerpopo, hat Mutti gesagt. Wegen der vielen Spitzen, weißt du?“
Peter konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Er hatte noch nie mit einer Dame Bekanntschaft gemacht, die ihm strahlend erzählte, sie habe ein neues Kleid und lustige Höschen an. Es sah einfach urkomisch aus, wie Lilly ihm das demonstrierte.
Marge musste mitlachen, und sie führte den Gast ins Kinderzimmer. Er prallte zurück, als er den Lärm vernahm. Lilly hatte schon das umfangreiche Paket in Empfang genommen und knubbelte den Faden auf. Ein Paar funkelnde Rollschuhe kamen zum Vorschein. Jubelnd wurden sie begrüßt. Und ehe sich der edle Spender versah, schlangen sich zwei weiche Ärmchen um seinen Hals,
und er wurde stürmisch abgeküsst. Wenn Lilly jemanden liebte, dann musste sie es auch zeigen.
Ihm wurde ganz seltsam zumute. Einen Augenblick dachte er an seinen Sohn. Er hatte ihn nie so stürmisch umarmt. Er war so still und sensibel, damals als kleiner Junge und jetzt erst recht. Mit lächelnden Augen löste er die Ärmchen, und Lilly hatte jetzt auch keine Zeit mehr für ihn, sie musste ihren Gästen ihren Schatz zeigen.
„Wollen Sie nicht ins Wohnzimmer eintreten? Dort ist es ruhiger, und ich mache uns eine Tasse Kaffee. Ich glaube, ich habe sie jetzt auch verdient. Oder möchten Sie Kakao?“, fragte Marge spitzbübisch.
Peter drohte ihr mit dem Finger und folgte ihr.
Das Zimmer war nicht groß, aber hübsch und gemütlich eingerichtet. An der Wand hing das Bild eines Mannes. Er betrachtete es. Das musste Lillys Vater sein. Seltsame Empfindungen zogen durch sein Herz. Er hatte ein hochherrschaftliches Haus und eine kostbare Einrichtung, Personal und die Mutter, die sich um alles kümmerte.
Aber zu Hause war es längst nicht so gemütlich wie hier. Dort war Stille, und niemand wagte ihn zu stören. Seine Nerven brauchten Ruhe, hörte er die Mutter immer wieder sagen. Doch hier ging es wie in einem Taubenschlag zu, und seltsam, er fühlte sich gar nicht gestört, im Gegenteil. Und wenn er an Lilly dachte, dann ging ihm das Herz auf. Warum hatte er nicht so eine süße kleine Tochter?
Marge deckte mit geschickter Hand den Kaffeetisch. Er saß im Sessel, sah ihr dabei zu und rauchte. Zum ersten Mal sah er sie nicht als seine Angestellte, sondern als das, was sie im Grunde genommen immer noch war: eine bezaubernde junge Frau, die es nicht leicht hatte im Leben, aber versuchte, das Beste daraus zu machen. Hier in der Wohnung trug sie ein farbenfrohes Sommerkleid, das braune Haar war schlicht gescheitelt und mit einem grünen Band zusammengehalten. Sie hatte ein sehr ausdrucksvolles Gesicht und schöne Augen. Marge,war schlank und anmutig in ihren Bewegungen Sie mussten wohl gleich groß sein. Sie hatte eine so seltene Art an sich. Er konnte es nicht in Worte fassen, aber man fühlte sich bei ihr geborgen. Älter als neunundzwanzig konnte sie bestimmt nicht sein. Jetzt, da sie mitten im Sonnenlicht stand, sah er die kleinen Fältchen um ihre Augen und ein paar Silberfäden in dem braunen Haar.
Eine Witwe mit einem Kind hatte es nie leicht. Nie klagte sie, sondern füllte gewissenhaft ihren Posten bei ihm aus. Ob sie wohl genug bei mir verdient, überlegte er. Nicht einmal das wusste er. Aber fragen? Sicher würde sie zu stolz sein, um ihm eine Antwort darauf zu geben.
Sie saßen sich gegenüber, tranken Kaffee und plauderten miteinander. Immer wieder schweifte sein Blick über ihre märchenhafte Gestalt. Warum hatte er nur in all den Jahren nicht entdeckt wie hübsch sie war?
Und wenn ich es entdeckt hätte?. grübelte er weiter. Nichts wäre geschehen. Auf einmal fühlte er sich vom Leben betrogen, aber er war gerecht genug, um zu erkennen, dass er selbst es ja nicht anders gewollt hatte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass seine Mutter ihm immer wieder in den Ohren gelegen hatte, sich doch wieder eine Frau zu nehmen. Vielleicht wäre Thomas dann nicht so isoliert aufgewachsen. Warum hatte er nur nie an diese Möglichkeit gedacht, sich ein neues Glück ins Haus zu holen?
In diesen Minuten fühlte er, wie einsam er überhaupt war. Mit niemandem konnte er über seine Probleme und Sorgen sprechen. Immer fraß er alles in sich hinein. Man müsste eine Frau wie Marge besitzen, durchfuhr es ihn. Sie war freundlich und still, und doch würde Leben in sein Haus einkehren. Was würde sie sagen, wenn sie um seine Gedanken wüsste? Er ertappte sich dabei, dass er rot wurde.
Marge wunderte sich einen Augenblick, dass er so still war, aber sie wagte nicht ihn zu stören. Sicher hatte er Kopfschmerzen und bereute schon, gekommen zu sein. Nach einer Weile stand sie auf und sorgte dafür, dass die Kinder einigermaßen still wieder nach Hause gingen. Nun war Lilly wieder allein. Sie packte sich den Arm voll Spielsachen und kam ins Wohnzimmer zu den Erwachsenen. Sie setzte sich auf den Teppich mitten in den Sonnenfleck und spielte selbstvergessen.
Marge und das Kind waren eins. Sie hatte etwas Lebendiges, das sie lieben durfte, das sich an ihr Herz anschmiegte. Er durchlebte noch einmal den kurzen Augenblick, da diese Ärmchen um seinen Hals gelegen hatten und er ihr Herzchen hatte klopfen hören. Fast brüsk stand er plötzlich auf und verabschiedete sich.
„Ich habe Ihre Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen“, sagte er laut.
„Oh, du gehst schon?“, fragte Lilly enttäuscht.
„Soll ich denn bleiben?“, fragte Peter lächelnd.
„Warum nicht?“, meinte das Kind unbefangen.
„Aber, Lilly, Herr Jensen hat auch einen Sohn, und der möchte doch auch am Sonntag seinen Vater um sich haben!“
„Warum hast du deinen Jungen nicht mitgebracht? Das wäre doch lustig gewesen“, sagte Lilly mit ihrer hellen Stimme.
„Thomas?“ Peter musste bei diesem Gedanken lachen. „Nein, weißt du, Thomas ist schon sechzehn Jahre alt und fühlt sich sehr erwachsen. Ich glaube, er findet kleine Mädchen scheußlich.“
„Das sagen die blöden Jungen immer“, meinte Lilly lakonisch, „und dann kommen sie doch und wollen mit uns spielen, komisch, was?“
Die Erwachsenen mussten über den drolligen Ausspruch lachen.
„Kommst du bald wieder?“
Eine Sekunde zögerte er. Warum sollte er das Angebot nicht annehmen? Es war einmal eine hübsche Abwechslung.
„Wenn ich darf?“, fragte er weich und sah Marge forschend an.
Die junge Frau errötete leicht. „Aber natürlich, Sie können jederzeit kommen, Herr Jensen.“
„Ja, und ich freue mich auch. Jetzt habe ich auch endlich einen Onkel wie die anderen Kinder in der Straße. Du musst recht oft kommen, Herr Peter!“
Die kleinen schmalen Fingerchen lagen in seiner Hand. Er blickte in die Vergissmeinnicht-Augen und lächelte. Eines Tages, wenn sie groß war, würde sie sämtlichen jungen Männern den Kopf verdrehen. Er hatte schon jetzt Mitleid mit seinem Geschlecht. Hatte sie ihm denn nicht schon den Kopf verdreht?
Der Alltag ging seinen gewohnten Gang. Lillys Kindergarten war wieder geöffnet, und sie war sehr glücklich darüber. Marge ging wie jeden Tag ins Büro und arbeitete still und gewissenhaft. Peter sah oft den leeren Stuhl am Fenster und erkundigte sich jetzt immer nach seiner kleinen Freundin.
Wenn Marge zum Diktat kam, dann geschah es oft, dass Peter sie versonnen ansah, sich plötzlich räusperte und sich dann auf seine Arbeit konzentrierte.
Eines Tages fragte er unvermittelt: „Würde Lilly sich freuen, wenn ich sie zu einer Autofahrt abholen würde?“ Marge war ein wenig verlegen. „Es ist sehr nett von Ihnen, noch immer an das Kind zu denken, aber wir möchten Ihnen keinesfalls zur Last fallen.“
„Das tun Sie ganz und gar nicht. Ich bin es doch, der den Vorschlag macht. Also abgemacht? Darf ich am Sonntag kommen?“
„Aber werden Sie sich mit dem Kind nicht langweilen? Außerdem kann sie einem ganz schön auf die Nerven gehen.“
„Ach, das glaube ich nicht, und außerdem sind Sie natürlich mit eingeladen!“, fügte er lächelnd hinzu.
Marge stand auf, nahm den Stenogrammblock und ging zur Tür. Plötzlich drehte sie sich um und sah ihn groß an. „Warum tun Sie das, Herr Jensen?“
Er konnte ihr keine Antwort darauf geben. Hatte er nicht ganz spontan gehandelt?
„Muss man immer einen Grund haben?“, fragte er zurück.
„Ich glaube, ich bin sehr dumm. Statt mich zu freuen, stelle ich dumme Fragen. Verzeihen Sie! Aber wissen Sie, ich bin es nicht mehr gewohnt, dass sich jemand um uns kümmert.“
„Sie haben keine guten Freunde oder Bekannten?“ ,
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, als mein Mann noch lebte, da kamen oft seine Freunde, und wir hatten sehr viel Spaß. Doch später..“ Sie brach hilflos ab und floh aus dem Zimmer.
Er sah ihr nachdenklich nach und dachte sich seinen Teil. Marge fühlte, dass ihr Herz unruhig war, und konnte sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren. Seit Tagen hatte sie schon dieses unruhige Gefühl in sich. Was sollte das noch werden? Sah sie nicht Gespenster am helllichten Tage? Es war dumm. Sie kannte das Leben und machte sich keine Illusionen. Und für Träume hatte sie schon gar keine Zeit.
Viele junge Sekretärinnen träumten davon, die Frau des Chefs zu werden. Nein, sie war kein junges Mädchen mehr; sie hatte alles hinter sich. Liebe und Leid, Freude und Sorgen, das waren ihre ständigen Begleiter, und so würde es auch bleiben.
Sie lächelte bitter vor sich hin, und dann nahm die Arbeit sie wieder gefangen.
Am Sonntag kam Peter tatsächlich mit seinem Wagen vorgefahren. Lilly war ganz aus dem Häuschen, und als er ihr noch eine große Türe Süßigkeiten überreichte, war sie selig.
„Warum hast du deinen Jungen nicht mitgebracht?“, fragte sie kauend.
„Du weißt doch, er mag keine Mädchen.“
„Aber du magst Mädchen, oder?“
Er lachte. „Ich glaube schon. Bestimmt solche wie dich!“
Sie zwinkerte ihm zu. Wie zwei Verschwörer, fand Marge und sah aus dem Fenster. Fühlte sie Eifersucht, weil er sich so gut mit ihrer Tochter verstand und sie nicht mehr allein in deren Herzen wohnte?
Die junge Frau fühlte sich von zwei Kinderärmchen umschlungen, und Lilly sagte: „Ich bin sehr froh, dass du auch mitfahren darfst. Herr Peter ist doch ein sehr netter Mann, nicht?“
Tränen traten ihr in die Augen, und sie wischte sie heimlich fort. Peter tat so, als sähe er es nicht. Sie fuhren aus der Stadt hinaus und in einen großen Wald hinein. Er stellte den Wagen ab, und sie durchstreiften die Wildnis. Lilly war immer ein Stück voraus. Marge und er unterhielten sich angeregt, und ehe er sich versah, sprach er auf einmal von seinen Problemen und Kümmernissen. Sie war eine gute Zuhörerin und konnte ihm oft einen guten Ratschlag geben.
Als sie einen Graben überspringen mussten, reichte er ihr seine Hand und sie klammerte sich daran fest. Er spürte die Wärme, und ein Beben ging durch seinen Körper. Er sah ihr aufmerksam ins Gesicht. Noch immer hielten sie sich bei den Händen. Langsam, ein wenig schüchtern löste sie sich aus seinem Griff und ging voraus. Er sollte nicht sehen, wie rot sie geworden war.
„Ich glaube, wir benehmen uns wie zwei Kinder“, sagte er und eilte ihr nach.
„Heute ist wirklich ein schöner Sonntag, und ich freue mich für Lilly, dass sie sich mal so richtig austoben kann“, erwiderte sie ausweichend.
„Marge“, zum ersten Mal sprach er sie mit dem Vornamen an. „Ich meine, wir sollten mal vernünftig miteinander reden, glauben Sie nicht auch?“
Sie wandte den Kopf zur Seite.
„Ich weiß, Sie wollen es nicht“, meinte er zögernd. „Zwar kennen wir uns schon seit Jahren und doch auch wieder nicht. Erst das Kind hat mich wachgerüttelt. Man sollte nicht so gleichgültig nebeneinander leben, meinen Sie nicht auch? Man sollte den Menschen in dem Anderen sehen. Man sollte ihm eine Chance einräumen. Ich weiß nicht, vielleicht breche ich da in etwas ein, was Ihnen heilig ist, wo kein Raum für mich ist. Aber ich wollte Ihnen nur sagen, Ihnen hiermit zu verstehen geben, es ist mir, als wäre ich aus einem tiefen Winterschlaf aufgewacht. Die Welt ist plötzlich ganz anders geworden. Ich hab das Gefühl, sehr viel versäumt zu haben, und meine jetzt, man sollte die Zeit nützen. Man sollte versuchen, vielleicht noch einen Zipfel vom Glück zu erhaschen und festzuhalten.“
Marge war blass geworden. Sie zitterte leicht, obwohl es sehr heiß war. Spürte sie sie Werbung des Mannes? Wie sollte sie sich entscheiden?
„Wenn ich nur wüsste, Marge, wenn ich genau wüsste, dass ich Ihnen nicht unsympathisch bin, ich meine, ich will gern warten und Ihnen Zeit lassen, vielleicht, ich wage den Gedanken nicht zu Ende zu denken, aber vielleicht könnten Sie sich eines Tages dazu entschließen, Marge!“
Die Frau blieb stehen, sah ihn an und blickte in seine klugen Augen. Ein Lächeln verschönte ihr Gesicht. „Man mag ihn schon“, sagte sie leise. „Man ist nur so erschrocken, man will es nicht glauben. All die Jahre haben wir gleichgültig nebeneinander gelebt, und auf einmal ... Es ist zu neu; ich muss erst mit dem Gedanken warm werden. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, umsorgt zu werden, jemanden zu haben, dem man vertrauen kann. Ich muss das alles erst wieder lernen. Aber ich glaube, ich ...“
Seine Augen leuchteten auf. Wieder fasste er nach ihrer Hand. Er hatte sie verstanden. Sie waren beide reife Menschen und hatten einiges durchgestanden. Da musste man erst wieder lernen, glücklich zu sein. Er wollte behutsam vorgehen.
Plötzlich war ihm ganz leicht ums Herz. Marge und er! Wenn er dann nach Hause kam, würde es sonnig sein, und er würde sich freuen, heimzukommen. Es würde nie mehr sein wie jetzt, da es ihm gleichgültig war. Sein Sohn, dieses stille merkwürdige Geschöpf, würde auch aufleben und vielleicht froh und heiter werden. Warum lachte er denn so selten? Weil er keine Nestwärme spürte, das war es.
„Marge, dann darf ich also hoffen? Ich werde also warten, aber es wird kein qualvolles Warten sein. Und eines Tages, ach, glauben Sie, dass auch wir noch einmal glücklich sein werden?“
Sie saßen nebeneinander auf einer Grasnarbe. Ameisen huschten über ihre Beine. Die Sonne schien warm, und Marge sah auf einmal aus wie ein ganz junges Mädchen.
„Warum nicht? Glück? Was ist es? Vertrauen? Ist das nicht schon eine sehr gute Grundlage? Liebe?“ Ihre Lippen zitterten leicht, als sie das Wort aussprach. „Ich habe einmal sehr geliebt. Es war wie ein Rausch, wie ein Sichversenken in den Anderen. Man war eins. Vielleicht kommt es wieder, füllt einen aus, und dann ist man bereit, ja, dann kommt das Glück!“
Lilly kam angehüpft, schmutziger denn je und mit einem Riss in ihrem Kleid. Sie hatte Kühe gesehen und ein dickes Pferd und wollte unbedingt reiten. Ihre Bäckchen waren hochrot. Peter streckte die Hand nach ihr aus, und sie flog auf ihn zu.
„Hast du Pferde, Herr Peter?“
„Nein, aber möchtest du eines?“
„O ja, ich glaube schon.“
„Wer weiß“, murmelte er lächelnd und strich über ihr zerzaustes Haar.
„Ich möchte dich mit meiner Mutter bekannt machen, Marge.“
Die junge Frau zögerte einen Augenblick mit der Antwort.
Peter fuhr fort: „Sie wundert sich schon die ganze Zeit, wo ich in meiner Freizeit immer hingehe. Ich glaube aber, sie ahnt schon so etwas.“
Nun lächelte sie und drückte das Kind an sich. Sie saßen im Wohnzimmer und tranken Kaffee. Wochen waren seit ihrem Ausflug in den Wald vergangen. Sie hatten gemeinsam Theater und Veranstaltungen besucht. Langsam waren sie sich nähergekommen und hatten dabei verblüfft festgestellt, dass sie viele gemeinsame Interessen hatten.
„Ja, wenn du meinst! Wann wird es ihr recht sein? Ich möchte sie nicht überrumpeln.“
Er blies zu Lillys Entzücken große Rauchkringel in die Luft. Vorsichtig streifte er die Asche ab, sah Marge lächelnd an und meinte: „Ich werde sie natürlich vorbereiten, hab’ keine Angst. Mutter ist schon alt und ein wenig komisch, aber sonst eine ganz patente Frau. Man muss sie nur halt so nehmen, wie sie ist, und ich kann sie nicht vor die Tür setzen, wenn wir mal heiraten, sie hat fast ihr ganzes Leben bei mir gelebt. Es wäre grausam.“
„Aber das will ich doch gar nicht, Peter. Natürlich wird sich für sie nichts ändern. Sie kann das gleiche Leben weiterführen wie bisher.“
„Du bist eine sehr selbständige Frau, meine Liebe, aber Mutter regiert gern. Willst du dir das gefallen lassen? Willst du nicht die Herrin im Haus sein?“
„Warum sollten wir über etwas debattieren, was noch gar nicht spruchreif ist? Ich bin der Ansicht, man sollte alles auf sich zukommen lassen, dann kann man darüber nachdenken. Du bist ein Mann und siehst das alles mit ganz anderen Augen, mein Lieber!“
Sie beschlossen, dass sie und Lilly am nächsten Sonntag Besuch machen sollten bei der alten Dame und Peters Sohn. Marge war voller Zuversicht und glaubte an eine neue Zukunft. Lilly hatte sie allmählich beigebracht, dass Peter Jensen bald ihr neuer Vater sein würde. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, sondern fand es sogar sehr lustig und prahlte mächtig damit im Kindergarten.
Der Sonntag kam heran, und sie machten sich beide hübsch. Marge kämmte Lilly das Haar und ermahnte sie, artig, nicht vorlaut und wirklich mal ein nettes kleines Mädchen zu sein.
„Warum?“, schmollte die Kleine. „Das ist doch schrecklich langweilig.“
„Bitte, tu mir den Gefallen, hörst du? Es ist eine alte Dame, und sie ist bestimmt nicht an Krach gewöhnt. Womöglich wird sie dann krank, und was dann?“
Lilly versprach alles, aber ob ihre Vorsätze lange anhalten würden, das wusste nur der liebe Gott.
Marge hatte gesagt, sie wolle allein kommen, Peter solle sie nicht abholen. So wanderten sie durch die Stadt. Am Rande, in einem weiten Grüngürtel, lag die wunderhübsche Villa, versteckt hinter Sträuchern und Bäumen. Riesige Rasenflächen und Blumenrabatten umgaben das Haus. Lilly war entzückt und wollte gleich einen Purzelbaum schlagen. Marge hielt sie noch im letzten Augenblick zurück.
Das Haus kam in Sicht. Für einen kurzen Augenblick blieb sie stehen. Hier also sollte sie in Zukunft wohnen. Peter hatte sie wohl kommen sehen; er trat aus dem Eingang heraus und lief
ihnen entgegen. Lilly schwenkte er durch die Luft, und anschließend küsste er Marge herzlich.
Frau Jensen, zart und zerbrechlich, aber mit gütigen Augen, stand im Salon und erwartete die Gäste.
„Mutter, das ist Marge Sommer. Ich habe dir schon von ihr erzählt.“
Die klugen Augen forschten in dem Gesicht der jungen Frau, und ein Lächeln glitt um ihren Mund.
„So hast du also meinen Rat endlich befolgt. Wie ich sehe, hast du eine gute Wahl getroffen. Willkommen, Frau Sommer!“
Marges Wangen färbten sich rosig. Es stand ihr bezaubernd.
„Wissen Sie, Frau Sommer, viele Leute glaubten all die Jahre, ich wäre ein Drachen und gönnte meinem Sohn keine zweite Frau, aber genau das Gegenteil war der Fall. Aber Männer können schrecklich dickfällig sein, nicht wahr?“
„O ja“, sagte Marge spitzbübisch und sah Peter von der Seite an.
Verblüfft starrte er die beiden Frauen an. Zum Teufel, sie verstanden sich ja prächtig und schienen sofort ein Komplott gegen ihn zu schmieden.
Lilly zupfte ihn am Hosenbein. „Du, gibt es bei euch keinen Kuchen?“
Frau Jensen blieb stehen und betrachtete das winzige Persönchen.
„Natürlich, mein Kind. Entschuldige bitte, dass wir dich übersehen haben. Du bist also die Lilly. Ich freue mich, dich kennenzulernen. Sicher werden wir noch gute Freunde, was?“
Lilly reckte ihr Stupsnäschen in die Höhe, sah die alte Dame prüfend an und meinte schließlich seufzend: „Na ja, und ich werde auch immer brav sein und nie Krach machen, damit Sie nicht umfallen tun und dann krank sind; das will ich nämlich nicht.“
„Was sagst du da, mein Kind?“, fragte die alte Dame verblüfft.
„Ich will immer artig sein“, brüllte Lilly, da sie glaubte, Frau Jensen sei ein wenig taub.
Die Erwachsenen zuckten zusammen.
„Aber, Lilly“, sagte Marge leise und wollte sie bei der Hand fassen, aber sie hatte sich schon hinter Peter verkrochen.
„Wieso, ich war doch gar nicht böse! Ich hab’ doch nur gesagt, dass ich immer artig sein will.“
„Warum denn, mein Kind? Sehe ich denn so streng aus?“
„Nein“, sagte Lilly lächelnd, und die Grübchen in ihren Wangen vertieften sich, „aber Mutti hat gesagt, vielleicht kannst du keinen Krach vertragen und fällst dann vor Schreck um.“
Nun musste die alte Dame herzlich lachen. „Ach, Kindchen, wenn’s weiter nichts ist. Ich hab’ früher vier Buben gehabt, und die haben mächtig viel Krach gemacht. Nein, du kannst ruhig lustig und fröhlich sein. Ich freue mich, wenn endlich mal Leben in dieses Haus kommt. Das war es ja, was ich in all den Jahren so vermisst habe. Leben, Kinder!“
Sie gingen weiter in den Salon. Marge wunderte sich einen Augenblick. Hatte sie denn nicht Peters Sohn aufgezogen? Wo war er überhaupt? Bis jetzt hatte sie ihn noch nicht zu Gesicht bekommen.
„Hast du Geburtstag gehabt?“, fragte Lilly die alte Frau.
„Wieso?“ Frau Jensen ließ sich auf einem Sofa nieder und forderte Marge auf, Platz zu nehmen.
„Na ja, weil du so schöne blanke neue Schuhe anhast. Sie sind noch kein bisschen zerkratzt. Ich habe nur immer so feine, wenn ich grad Geburtstag hatte!“
Wieder mussten die Erwachsenen herzlich lachen. Dieses Lachen drang durch die Wände und Türen bis in die weite Halle, und dort stand jemand und lauschte.
Der Vater hatte ihm von der neuen Frau erzählt, und dass sie auch ein kleines Mädchen mitbringen würde. Heute waren sie also gekommen. Thomas Jensen, sechzehn Jahre alt, hatte es nicht vergessen. Er stand in der Halle. Durch die bunten Glasfenster schien die Sonne auf den Marmorfußboden. Zögernd stand er am Fuß der breiten Treppe und wagte sich nicht weiter.
Er war in einem Alter, wo man mit sich selbst nie zufrieden ist, wo die Beine und Arme zu lang scheinen, man sich selbst schrecklich findet und gegen alles eine Abneigung hatte.
Aber ewig konnte er nicht hier stehenbleiben. Großmutter würde sonst noch das Mädchen nach ihm schicken, und das war dann schrecklich peinlich. Wieder hörte er das Lachen, nicht nur das des fremden Kindes, sondern auch die Großmutter und der Vater lachten herzlich mit. Das war er gar nicht gewohnt. Schritt für Schritt ging er auf die Tür zu und öffnete sie behutsam. Niemand bemerkte ihn. Alle sahen auf das winzige Persönchen, das in der Mitte stand und seine Lebensweisheiten zum Besten gab.
In diesem Augenblick hob Marge den Kopf und sah den Jungen an der Tür stehen. Ihr Lachen brach unvermittelt ab. Für ein paar Sekunden begegneten sich ihre Blicke.
Mein Gott, dachte Marge erschrocken, das ist Peters Sohn? Schlank, groß und sehr blass, beinahe fad sah er aus, mit seinem schmalen Gesicht und der dunklen Tolle. Er wirkte wie ein Musterschüler. So gar nichts Fröhliches oder Heiteres war an dem Jungen. Scheu, mit sich selbst im Unreinen, so beurteilte sie ihn. Mitleid wallte in ihrem Herzen auf.
Dann sah auch die Großmutter den Enkel. „Thomas, komm näher und begrüße unsere Gäste. Wir warten schon die ganze Zeit auf dich. Wo hast du nur gesteckt?“
Wie weit doch der Weg durch das Zimmer war. Und alle starrten ihn jetzt an. Er kam näher, blutrot, verbeugte sich tadellos vor Marge, sah Lilly kaum an und berührte ihre kleine Hand nur mit den Fingerspitzen. Es war, als wäre ein Frosthauch ins Zimmer gedrungen. Marge spürte es fast körperlich.
Ob der Junge immer so gewesen war? All die Jahre? Sie hatte ja nicht erwartet, dass er sie gleich mit offenen Armen aufnehmen würde Ganz gewiss nicht. Aber über sein seltsames Wesen war sie denn nun doch sehr erschrocken. Lilly musste wohl auch diese seltsame Atmosphäre spüren. Sie sah den fremden Jungen unverwandt an.
„Ich war oben auf meinem Zimmer“, sagte er spröde und blieb steif im Zimmer stehen.
Die Großmutter nahm ihn in Schutz. „Thomas ist ein kluger Junge. Er lernt den ganzen Tag und gönnt sich fast keine Ruhe, obwohl ich schon so oft geschimpft habe. Aber er macht sich nichts aus Vergnügungen und Spielen.
Aber nun kommt, nun wollen wir endlich Kaffee trinken, bevor er uns kalt wird!“
Ob Peter gar nicht merkt, wie seltsam sein Sohn ist?, dachte Marge verwundert. Er muss es doch sehen. Warum hat er es zugelassen, dass er so erzogen wurde? Das soll einmal sein Nachfolger werden?
Als sie ihm an der Kaffeetafel noch einmal kurz in die Augen sah, da spürte sie, dass diese voller Hass waren, und ein kalter Schauer rann ihr den Rücken hinunter.
Die Anderen schienen es nicht zu bemerken. Lilly tat das einzig Richtige. Sie ignorierte ihn und amüsierte sich auf ihre Art, und bald war sie wieder der Mittelpunkt der Gesellschaft. Die Großmutter lachte Tränen über das ulkige Kind.
„Möchtest du dir nicht den Park und Garten ansehen?“, schlug Marge nach einer Weile vor. „Später kannst du ja wieder zu uns zurückkommen.“
Sie glaubte, das Kind würde sich bald langweilen, da sie das lange Stillsitzen nicht gewohnt war.
„Komm“, sagte Peter und stand auf. „Ich werde dir alles zeigen. Du wirst dich wundern, was wir hier alles haben. Sogar Kaninchen, ganz weiße mit roten Augen!“
„Wirklich?“ Lillys Augen leuchteten auf.
Peter nahm das Kind, schwenkte es einmal durch die Luft und ging dann mit der sich kugelnden Lilly aus dem Zimmer.
Thomas saß auf seinem Stuhl und rührte sich nicht. Die ganze Zeit hatte er kein Wort gesprochen, wortlos den Kaffee und Kuchen genossen. Marge hatte das Gefühl, als wäre es ihm völlig gleichgültig, was er aß und trank. Steif wie ein Ladestock saß er da, mit seltsamen Augen und verstörtem Gesicht. Sie hatte Mitleid mit ihm. Ihr erster Impuls war, aufzustehen, zu ihm zu gehen und einmal über sein Haar zu streichen. Aber sie wusste, dass es grundfalsch gewesen wäre. Wenn sie das Herz dieses Jungen erobern wollte, musste sie sehr behutsam vorgehen.
Frau Jensen forderte sie wieder auf, sich mit ihr aufs Sofa zu setzen, dort konnte man sich ungestörter unterhalten und hatte gleichzeitig einen wunderschönen Ausblick in den Garten. Ganz hinten am Gatter stand Peter mit Lilly auf seinen Schultern. Wärme durchströmte ihr Herz. Sie war ihm dankbar, dass er ihre kleine Tochter liebte.
Was dröhnte und pochte da nur so im Haus? Dumpf und hohl klang es. Thomas hob lauschend den Kopf. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass es sein eigenes Herz war. Hart ging sein Pulsschlag. Seine rechte Hand umkrampfte die Serviette. Ganz allein und verlassen saß er am Kaffeetisch. Alle hatten ihn verlassen. Er hörte die Stimme der Großmutter, und durch das Fenster sah er den Vater.
Alles in ihm krampfte sich zusammen. Fast körperlich fühlte er den Schmerz. Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen. Nein, niemand sollte sehen, wie es um ihn stand.
Unendlich einsam, scheu und voller Sehnsucht nach Liebe, so hatte er sein bisheriges Leben zugebracht. Er hatte sich fast krankhaft nach dem Vater gesehnt, doch dieser hatte nie Zeit für ihn gehabt. Immer war er fort. Was blieb, war das Personal und die Großmutter, aber sie hatte soviel zu tun, dass sie sich nicht ausschließlich mit dem Jungen beschäftigen konnte. Er war immer so still gewesen all die Jahre, dass man ihn mitunter einfach vergaß. Thomas spürte das, und doch fühlte er sich beinahe glücklich dabei. Bei seinen Büchern oben in seinen Zimmer fand er Trost. Eines Tages würde er erwachsen sein und seinem Vater zur Seite stehen. Auf diese Zeit hatte er sich immer gefreut. Der Vater würde ihn loben und sehen, wie klug sein Junge war.
Nun war die Fremde gekommen. Sie störte seinen Frieden, nahm ihm den Platz fort. Sie war nun an die erste Stelle gerückt; nur sie sah der Vater noch, nicht den Sohn, der doch das meiste Anrecht auf seine Liebe hatte. Wie er sie hasste, sie und das Kind! Wie sie sich alle um sie scharten, sogar die Großmutter. Als wäre sie etwas Besonderes.
Er wollte aufschreien: Warum lasst ihr mich im Stich? Warum seht ihr mich nicht mehr an? Aber seine Lippen blieben geschlossen, und fahle Blässe überzog sein Gesicht.
Mit flatternden Lidern beobachtete er die Frau am Fenster. Die Sonne spielte mit ihrem Haar, und sie sah so lächerlich jung und hübsch aus. Für einen winzigen Augenblick wünschte er sich, sie möge aufstehen, zu ihm kommen, ihm gut sein! Er hatte ihre Augen gesehen, als sie den Vater und das Kind betrachtete. Frohe und gute Augen waren das. Nein, er durfte nicht weich werden; er wollte sie hassen.
Aber seltsam, er hasste den Vater mehr als diese Frau. Wie er sich mit diesem Kind abgab! Thomas hatte nie mit dem Vater gespielt, war immer einsam und allein gewesen. Lilly und er schienen schon recht gute Freunde zu sein.
Warum hatte der Vater nur soviel Freude an dem fremden Kind? Weil es ihr Kind war? Und nun würde sie mit in dieses Haus ziehen und immer da sein.
Da hörte er die Stimme der Großmutter.
„Thomas, mein Junge, willst du nicht auch ein wenig nach draußen gehen? Es ist doch so hübsch dort. Geh zu deinem Vater, leiste ihm Gesellschaft.“
Blutübergossen stand er auf, sah die fremden Augen auf sich gerichtet, und bevor er die Tür erreicht hatte, hörte der Junge die alte Frau sagen: „Immerzu muss man ihm sagen, er soll ’raus gehen, sich ein wenig vergnügen. Von allein kommt er nie auf die Idee. Ein scheues, seltsames Kind. Er muss viel von meiner Schwiegertochter geerbt haben. Ich hoffe, Sie werden ihn verstehen, Sie müssen Geduld mit ihm haben.“
Mehr hörte er nicht mehr, da hatte er schon die Tür hinter sich geschlossen. Mit brennenden Wangen durchquerte er die Halle. Was sollte er draußen? War es nicht besser, er verkroch sich wieder in seinem Zimmer? Was sollte er beim Vater? Sie hatten sich nichts zu sagen, standen sich steif gegenüber, so dass es immer peinlich wurde.
Thomas ging die Treppe hoch, blieb am Flurfenster stehen und sah in den Garten. Peter tollte mit dem kleinen Mädchen herum, und er hörte ihr Lachen.
Er wusste nicht, was Marge der Großmutter geantwortet hatte; er wollte es auch gar nicht wissen. Niemand sollte ihn bemitleiden. Er brauchte keinen Trost.
Da waren die beiden im Garten hinter der Hausecke verschwunden. Langsam schloss er das Fenster und ging auf sein Zimmer. Er verschloss hinter sich die Tür und warf sich auf das Sofa und sah mit starren Augen zur Decke.
Er hörte nicht, wie der Vater und auch die Großmutter nach ihm riefen; er wollte nie mehr ’runtergehen.
„Ich weiß nicht, was mit dem Jungen los ist“, sagte Peter langsam. „Sonst ist er doch nicht so störrisch!“
„Lass ihn doch“, bat Marge leise. „Er hat es nicht leicht. Wir müssen Nachsicht mit ihm haben, sonst wird es noch schlimmer.“
„Nachsicht?“ Er runzelte die Stirn. „Ich habe die ganzen Jahre viel zu sehr Nachsicht geübt“, sagte er langsam. „Er ist ein Waschlappen und kein Junge. Er hat einfach keinen Mumm in den Knochen. Es ist unerträglich mit ihm. Ich möchte wissen, warum er so ist. Niemand hat ihm je etwas Böses getan; er hatte alles, was er sich wünschte, und das ist nun der Dank!“
„Vielleicht fehlt ihm doch etwas“, sagte sie leise.
„Was denn?“
„Liebe.“
„Aber wir lieben ihn doch alle“, Peter verstand Marge nicht.
Die Hochzeit fand in kleinem Kreise statt. Die Großmutter war der Ansicht, man solle nicht noch länger warten. Sie wäre auch nicht mehr die Jüngste und wolle sich endlich einmal ausruhen. Marge verstand sie, und Peter hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Er hatte seiner Mutter all die Jahre tatsächlich zu viel zugemutet, aber sie hatte sich nie beklagt, und so hatte er es einfach versäumt, sie zu fragen, ob sie überhaupt alles bewältigen konnte. Jetzt merkte er erst, dass er vieles falsch gemacht hatte.
Immer war er nur in der Fabrik gewesen und hatte sein Privatleben völlig vergessen. Es hatte ihm einfach eine Frau gefehlt.
Lilly war natürlich enttäuscht. Sie hatte sich das so schön gedacht, wollte Blümchen streuen und ein hübsches Kleid tragen. Sie hatte mal eine Hochzeit in der Kirche gesehen.
Aber trotzdem wurde es ein sehr schöner Tag. Nur die engsten Freunde von Peter waren eingeladen worden.
Lilly trug ein niedliches Kleid. Sie war sehr aufgeregt und flüsterte nur, als sie in der Kirche waren. Marge trug ein schlichtes weißes Kostüm und wirkte wie ein junges Mädchen. Die Sorgen waren wie weggewischt, und ihr Gesicht strahlte vor Glück und Heiterkeit.
Lilly stand neben Thomas und sah mit glänzenden Augen zu. Sie schob langsam ihre kleine Hand in die des Jungen. Dieser schien es gar nicht zu bemerken. Seine Gedanken waren weit fort. Es sah so aus, als klammerten sich die Kinder aneinander. Die Orgel spielte, und man verließ die Kirche.
„Du, Thomas, das war doch hübsch, nicht?“, fragte Lilly und hob ihr glühendes Gesichtchen zu ihm empor.
Für den Bruchteil einer Sekunde starrte er in die blauen Augen des Kindes. Dann spürte er ihre heiße feuchte Hand in der seinen. Wie eine heiße Kartoffel ließ er sie los und rückte ein Stück von ihr ab.
„Lass mich“, sagte er unwirsch.
Lilly hatte bis jetzt von den Menschen nur Liebe empfanden. Sie hatte es noch nicht gelernt, dass es auch einige gab, die sie nicht lieben wollten, die sie womöglich hassten. Warum Thomas auf einmal ihre Hand losließ, das verstand sie nicht. Scheu kam sie näher. In der dunklen Kirche zwischen den fremden Menschen fühlte sie sich einsam und verschüchtert. Dort drüben ging die Mutti mit Peter wie sie ihn jetzt nannte. Thomas kannte sie, und so hielt sie sich an den Jungen.
Seine dunklen Augen durchbohrten das Kind. „Lass mich“, sagte er noch einmal sehr leise, aber mit grollender Stimme.
Lilly spürte, er war anders, er war nicht freundlich zu ihr. Um ihre Lippen zuckte es. Langsam blieb sie zurück und fühlte ihr kleines Herz heftig schlagen. Die Leute gingen weiter; niemand kümmerte sich um das Mädchen. Plötzlich war ein großer Schatten über ihr und streckte ihr seine Hand entgegen.
„Aber Mäuschen, warum bleibst du denn zurück? Wir haben dich schon überall gesucht. Komm, wir warten auf dich!“
Schluchzend warf sie sich Peter an den Hals. Gerührt strich er der Kleinen über das Köpfchen.
„Du hast wohl Angst gehabt in der Kirche?“
Lilly schüttelte den Kopf. Sie wollte sagen, Thomas war nicht lieb zu mir, aber da brachte Peter sie schon hinaus in den hellen Sonnenschein, und da war die Mutter, und alles war wieder gut.
„Sie hat sich gefürchtet“, sagte Peter.
Marge nahm das Kind in ihre Arme. Da fühlte sie sich beobachtet, und als sie den Kopf wandte, bemerkte sie Thomas, der sie mit brennenden Augen anstarrte. Hass loderte aus diesem Blick. Mechanisch ließ sie das Kind zu Boden gleiten. Der Junge war ihr unheimlich. Warum hasste er sie? Fühlte er sich verraten, weil sie jetzt die Stelle seiner Mutter einnahm? Aber er war doch noch so klein gewesen, als sie gestorben war. Er konnte sich doch gar nicht mehr an sie erinnern.
Peter und Marge hatten ursprünglich keine Hochzeitsreise machen wollen, aber Frau Jensen hatte ihnen dazu geraten.
„Ihr fangt schon mit zwei Kindern an, da solltet ihr euch ruhig die paar sonnigen Wochen gönnen. Lilly bleibt bei mir, nicht wahr? Sie ist doch ein so liebes Mädchen, und wir werden uns prächtig verstehen. Fahrt nur; die kurze Zeit kann ich auch noch das Haus versorgen. Hab’ es ja all die Jahre tun müssen.“
„Ja, wenn du meinst“, sagte Marge zögernd.
Lilly hatte nichts dagegen, dass die Mutter mit Peter fortfuhr. Sie kam ja bald wieder, und außerdem hatte sie ihr versprochen, wenn sie recht brav sei, werde sie ihr etwas Hübsches mitbringen, und Peter hatte ihr heimlich ins Ohr geflüstert, sie solle sich schon mal einen Namen für ein niedliches Pony ausdenken.
Lilly stand am Gatter und ließ das Taschentuch flattern, aber dann war das Auto verschwunden, und sie schlenderte zum Haus zurück. Zwischendurch machte sie ein paar Purzelbäume auf dem grünen Rasen. Er war einfach zu verlockend. Dann trollte sie sich zu den Kaninchenställen und amüsierte sich mit dem Gärtner über diese possierlichen Tierchen.
„Kann ich sie nicht mal anfassen?“, fragte sie sehnsüchtig auf die Wolltierchen starrend.
„Lieber nicht“, meinte der gutmütige Mann.
„Warum nicht? Sieh mal, sie haben ein so niedliches Stummelschwänzchen und die süßen Ohren! Nur einmal, ich tu ihnen auch bestimmt nicht weh!“
„Das glaub’ ich dir ja gerne, Lilly, darum ist es auch nicht, aber diese niedlichen Tiere haben scharfe Zähne, und sie beißen zu, ehe du dich versiehst. Ritsch, und sie haben dich in den Finger gezwickt.“
Lilly nagte an der Unterlippe. „Schade, dass so niedliche Tiere nicht zum Spielen sind.“
Später half sie aber, Futter und Wasser heranzuschleppen. Überhaupt machte sie sich überall nützlich. Langeweile kannte sie nicht. Hin und wieder rannte sie mit erhitzten Bäckchen in den Salon, um die Oma, wie sie diese nannte, ein wenig zu unterhalten. „Womöglich langweilte sie sich.
Frau Jensen musste immer herzlich lachen. Das Kind war einfach bezaubernd, und was sie nicht alles wissen wollte.
„Du bist ein lebendiges Fragezeichen“, sagte sie eines Tages.
„Das hat die Schwester im Kindergarten auch gesagt“, kicherte Lilly und ließ die Beine vom Sofa baumeln.
„Ja, ja, sie wird wohl froh sein, dass du endlich fort bist, wie?“, neckte die alte Frau sie.
„Iwo, sie konnte mich immer gut gebrauchen“, sagte Lilly. „Nein, sie wird bestimmt sehr traurig sein. Aber jetzt bin ich ja hier und habe keine Zeit mehr für den Kindergarten. Außerdem komme ich bald in die Schule. Du, Oma glaubst du, dass Peter das süße Pony gleich von der Reise mitbringt?“
„Hat er dir das denn versprochen?“
Sie nickte eifrig.
Thomas ertappte sich bei dem Gedanken, wie er gerade die Kleine ermordete. Seine Hände führten unbewusst diesen Befehl aus. Er sah sie entsetzt an und rannte in sein Zimmer zurück. Eben, ja eben hatte er den heißen Wunsch in sich verspürt, seine Hände um den weißen Kinderhals zu legen und solange zuzudrücken, bis sie keinen Mucks mehr von sich gab.
Er schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte wild auf. Was war er doch für ein schlechter Junge! Wie konnte man so etwas überhaupt denken!
Das Herz lag ihm schwer wie ein Stein in der Brust. Seit das Kind für immer in ihr Haus gezogen war, fand er keine Ruhe mehr. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren, nicht mehr an seine Schularbeiten denken. Immer hob er lauschend den Kopf. Überall hörte er diese hohe helle Stimme und ihr Lachen.
Oh, wie hasste er sie; er hasste sie abgrundtief, wie er noch nie gehasst hatte in seinem Leben. Sie nahm ihm alles. Was blieb ihm denn noch? Unwirsch wurde er von der Großmutter angefahren, wenn es um Lilly ging. Lilly, immer wieder Lilly, sogar die Großmutter, die er so heiß und innig liebte, hatte sich zu Lilly geschlagen, sah sie mit lachenden Augen an, ließ es zu, dass das Kind auf ihren Schoß krabbelte und sie abküsste. Nein, sie schimpfte auch nicht, wenn ihr Kleid dabei zerdrückt wurde, die Löckchen anschließend schief auf dem Kopf lagen.
Was sie doch für ein schreckliches Getue um das Kind machten. Der Gärtner, der Chauffeur, alle waren wie vernarrt. Nie hatte einer so mit ihm gespielt, gelacht und herumgetollt.
Heiß fielen die Tränen auf das Heft und hinterließen einen feuchten Fleck. Thomas war schrecklich einsam und hilflos. Er wusste nicht, wie er in dieser Welt zurechtkommen sollte.
Alles war zusammengebrochen. Seine ganze schöne Welt, die er sich mühselig aufbauen wollte, war verloren. Wie hatte er nach einem lieben Wort sich gesehnt. Er hatte gelernt, bis ihm schwarz vor Augen wurde, aber ein Lob aus dem Mund der Großmutter und des Vaters machten ihn schon glücklich. Wenn die Großmutter über sein Haar strich, der Vater das Wort an ihn richtete, da war er so glücklich gewesen. Nie war er ungezogen gewesen, nie ungestüm, immer darauf bedacht, der Großmutter keinen Kummer zu machen. All die Jahre hatte sie ihm gehört, ihm allein. Ihre Gedanken und Sorgen galten dem Enkelkind. Sie erkundigte sich nach der Schule, nach seinen Wünschen. Und jetzt? Wieder stöhnte er wild auf.
Seit zwei Wochen war das Kind hier, seit zwei Wochen sah sie nur noch Lilly. Was Lilly sich wünschte, wurde gekocht. Lilly konnte ins Zimmer stürmen, wenn die Großmutter ein Nickerchen machte, und er, Thomas ging dann auf Zehenspitzen umher. Nein, die Oma lachte nur über das Kind.
„Thomas, bitte rück den Stuhl für Lilly heran“, hieß es dann. „Würdest du wohl bitte in der Küche Bescheid sagen, Lilly möchte noch ein wenig Kakao!“ So ging es den ganzen Tag.
Und das kleine Mädchen selbst? Das Erlebnis in der Kirche lag weit zurück. Sie hatte es vergessen. Sie hatte ein gutes Herz und wollte alle mit ihrer Liebe glücklich machen. Auch Thomas. Oft kam sie die Treppe hinaufgetrippelt, Öffnete seine Tür und blieb an seinem Schreibpult stehen, ihre großen runden Augen unverwandt auf ihn gerichtet, die Puppe an ihr Herz gedrückt. Meistens sprach sie dann halblaut mit ihrem Puppenkind.
„Schau mal, Mia, wie fleißig der Thomas ist!“
Der Junge rührte sich nicht.
Dann vergaß sie sich wohl, lehnte an ihn und flüsterte.ihm zu: „Du, Thomas, glaubst du, ob ich das alles auch mal schaffe? Ich meine die ollen Zahlen und Buchstaben? Ich komm doch im Herbst zur Schule. Du kannst das fein, aber ich!“
Unwirsch wandte er sich zur Seite und sah sie an. Diese leuchtenden Augen, die so voller Zuversicht auf ihn gerichtet wurden. Nein, er las keinen Hass darin, nur Liebe und den Wunsch, dass man gut zu ihr sei.
Thomas schluckte und schob sie von sich. „Lass mich in Ruhe“, knurrte er sie an. „Hau ab aus meinem Zimmer. Das ist mein Zimmer.“
Lilly ging rückwärts zur Tür, Mia fest an sich gepresst. „Er muss lernen Mia, wir dürfen ihn nicht stören. Hörst du, du musst ganz leise sein.“
Dann fiel die Tür ins Schloss, und er war wieder allein. Klappernd fiel der Federhalter aus seiner Hand, und er starrte blicklos vor sich hin.
Nirgends fand er Ruhe. Überall war sie. Er schluckte. Wenn doch der Vater endlich wiederkäme! Aber gleichzeitig fiel ihm ein, dass er jetzt ja eine Frau hatte und ihn, seinen Sohn bestimmt darüber vergessen würde.
Die Eltern waren zurück. Ein Trubel herrschte in der weiten Halle. Lachend umarmte Marge ihre kleine Tochter. Es war das erste Mal gewesen, dass sie getrennt waren, aber Lilly war gar nicht traurig.
„Na, mein kleiner Schnickschnack, wie war es denn? Warst du brav?“
„Immerzu, den ganzen Tag, nicht, Oma?“ Lilly lachte und sprang von einem Bein aufs andere.
„Ja, dann hast du also die hübschen Sachen verdient, die ich dir mitgebracht habe? Schau mal, was es ist!“
Ein kleines rotes Köfferchen voller Puppensachen für Mia. Das kleine Mädchen war völlig aus dem Häuschen. Glückselig kniete es mitten in einem Sonnenfleck und bewunderte die schönen Sachen.
„Das Pony kommt morgen“, sagte Peter an ihrer Seite.
Sie legte für einen kurzen Augenblick die Arme um seinen Hals und küsste ihn feucht. „Du bist der beste Peter, den ich kenne!“, sagte sie schelmisch.
„Aber du kennst ja nur einen“, meinte Marge, die mitgehört hatte.
„Und? Er ist aber der Beste.“
Alles lachte herzhaft.
Bei der Begrüßung war auch Thomas heruntergekommen, weil die Großmutter es gewünscht hatte. Stumm und hilflos stand er in der Halle, und das lustige Treiben der Anderen brandete wie eine Meereswoge um ihn herum. Er fühlte sich fehl am Platze, ausgestoßen, weggeworfen. Niemand schien sich um ihn zu kümmern. Kaum dass der Vater ihm die Hand gereicht hatte. Die neue Frau hatte sich gleich auf ihr kleines Mädchen gestürzt.
Was soll ich noch hier?, dachte er erbittert. Ich werde wieder gehen. Ich habe meine Pflicht getan. Großmutter kann also nicht böse werden. Schon wandte er sich zur Treppe und wollte sich heimlich fortschleichen. In diesem Augenblick gewahrte ihn Marge, und ihre Augen wurden dunkel.
„Thomas“, sagte sie leise, „bitte, hast du noch einen Augenblick Zeit für mich? Verzeih, dass ich dich noch nicht begrüßt habe. Ich hätte es bald vergessen.“
Der Junge wandte sich linkisch um, nahm ihre Hand und murmelte unverständlich: „Willkommen daheim. Ich freue mich, dass du wieder da bist!“
„Aber doch nicht so“, ermahnte ihn die alte Frau.
„Bitte schimpf nicht“, bat Marge. „Ich kann ihn verstehen. Ich bin für ihn noch eine Fremde. Aber komm, Thomas, ich habe dir auch etwas mitgebracht von der Reise. Ich hoffe nur dass ich die richtige Wahl getroffen habe. Weißt du, mit Jungen in deinem Alter kenne ich mich noch nicht so aus. Aber ich werde es lernen, wenn du mir dabei hilfst, willst du das?“
Seine Wangen waren puterrot geworden, und er wusste keine Antwort darauf. Er stand steif da und wartete auf das, was kommen würde.
Marge hatte in der Tat lange nachdenken müssen, was sie Peters Sohn mitbringen sollte. Peter selbst konnte ihr keinen Rat geben. Er wusste selbst nichts über seinen Sohn. Nicht mal, ob er ein Hobby hatte oder dergleichen.
„Schau hier. Aber wenn es dir nicht gefällt, können wir es wieder hinschicken; ich habe das mit dem Geschäft vereinbart!“
Mit diesen Worten überreichte sie dem Jungen eine Schreibtischgarnitur aus dunkelgrünem Leder. An den Ecken war jeweils sein Name in Goldbuchstaben eingraviert. Es war eine sehr schöne und wertvolle Ausstattung.
Lilly ließ ihre Sachen im Stich, kam näher und bewunderte sie. Ihr gefiel besonders der feine Duft, den das Leder ausströmte, und die Weichheit. Es war eine Schreibunterlage, ein Löscher, Federschale und Briefständer, alles aus demselben Leder. Selbst die Großmutter fand das Geschenk sehr passend.
Und Thomas?
Im ersten Augenblick hatte noch keiner einen Blick auf ihn geworfen. Nur Marge, und sie rührte sich nicht. Etwas Eiskaltes griff an ihr Herz und presste es für einen Augenblick zusammen.
Der Junge war schneeweiß geworden, zitterte an allen Gliedern, und seine Augen traten fast aus den Höhlen, so intensiv starrte er auf sein Geschenk. Und dann stieg da etwas in ihm hoch, heiß und wild, von unten her aus der Magengrube; er hatte das Gefühl, der ganze Raum drehte sich um seine Person. Alles verschwamm vor seinen Augen. Hatte er überhaupt noch Macht über seine Glieder?
Mit letzter Kraft hob er den Kopf und sah Marge an. Ein Hundeblick. Marge hielt diesem Blick stand. Sie wollte lächeln, aber das Lächeln gefror auf ihren Lippen, bevor es überhaupt zustande kam.
Und ehe es sich einer versah, sprang der Junge wie ein gehetztes Wild die Treppe hinauf.
Peter lief ihm nach und rief scharf: „Sofort kommst du herunter! Was sind das für Manieren? Kannst du dich denn nicht mal bei Marge bedanken? Das ist doch das Wenigste, oder? Wird’s bald!“
Marge legte eine Hand auf den Arm ihres Mannes. „Lass ihn gehen, Peter. Lass ihn.“
„Aber“, unwillig wandte er sich nach ihr um „die Höflichkeit gebietet es doch, Thomas!“