Inhalte
Titelangaben
Vorwort
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Epilog
Danksagung
Info
Joachim H. Peters
Verachtung ist der wahre Tod
Paderborn-Krimi
Prolibris Verlag
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2019
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelbild: © Joachim H. Peters
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-195-2
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-186-0
www.prolibris-verlag.de
Der Autor
Joachim H. Peters, Baujahr 1958, schrieb 2008 seinen ersten Kriminalroman,
seither sind dreizehn Bücher von ihm erschienen. Der Kriminalbeamte steht aber auch als Schauspieler,
Kabarettist, Leser oder Moderator auf der Bühne. Der gebürtige Gladbecker lebt und arbeitet seit 2004 in seiner Wahlheimat Detmold. Im
Prolibris Verlag veröffentlichte er drei Kurzgeschichten in den kriminellen Weihnachtsanthologien aus
Ostwestfalen-Lippe und nun auch einen Kriminalroman.
Für Katharina und Antonius Linnemann
Danke für viele Jahre Kultur und Literatur in Paderborn
Verachtung ist der wahre Tod
Friedrich Schiller
Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser!
Alle Personen sowie die Handlung im dritten Band dieser in Paderborn spielenden
Krimiserie sind wieder reine Fiktion und frei erfunden. Allen voran Jürgen Kleekamp, dieses »Enfant terrible« der Paderborner Polizei. Daher sind alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sowie Vorkommnissen
oder Handlungen rein zufällig und unbeabsichtigt.
Was jedoch real existiert, ist die wunderschöne Domstadt in der Region Hochstift, die im Gegensatz zur Romanhandlung natürlich sehr viel sicherer und auch immer eine Reise wert ist.
Joachim H. Peters
Prolog
Mein Gott, wie unglaublich schön sie war. Ihr Kopf war zur Seite gesunken und ein Meer aus langen
kastanienbraunen Haaren ergoss sich um ihr ebenmäßiges Gesicht. Ein Gesicht das keine Makel hatte. Reine, nur ganz leicht gebräunte Haut. Ausdrucksstarke, aber nicht zu kräftige Augenbrauen und eine gerade schmale Nase, die proportional gut zu ihrem
Mund mit den sinnlichen Lippen passte. Ihre Augen waren geschlossen, doch das
war normal. Das starke Beruhigungsmittel, dass er ihr verabreicht hatte, tat
seine Wirkung.
Er konnte sich an diesem schönen Gesicht nicht sattsehen. So mussten die Göttinnen der Antike ausgesehen haben. Sein Blick glitt über ihren schmalen Hals zu ihrer unbedeckten Brust, die sich kaum merklich hob
und senkte.
Nur mühsam widerstand er der Versuchung, ihre Brüste mit den kleinen Höfen um die Warzen herum zu berühren. Er ließ die Kamera weiter über ihren Körper gleiten und zeichnete jedes Detail penibel genau auf. An dem kleinen
Muttermal auf ihrem Bauch, knapp oberhalb ihrer rechten Leiste, ließ er das Kameraobjektiv einen kurzen Augenblick verharren, dann wanderte es über ihre rasierte Scham hinunter bis zu ihren Füßen.
Wirklich ein makelloser Körper, der da vor ihm lag. Fast zu schade, ihn zu zerstören, aber das Problem war ja nicht der Körper, sondern die Frau, die ihn besaß. Eine dumme und arrogante Person, die den Fehler gemacht hatte, ihn zurückzuweisen. Ihn, der ihr alles hätte geben können. Alles, was eine Frau sich wünschte. Seine Schönheit, seine Intelligenz, seine Zuwendung.
Das alles hatte sie verschmäht und nun würde er ihr eine andere Art der Aufmerksamkeit zukommen lassen müssen. Sie für dieses törichte Verhalten bestrafen.
Er trat an das Fußende des blanken Edelstahltisches und befestigte die Kamera auf dem dort bereitstehenden Stativ. Ein kurzer Blick auf
den Monitor zeigte ihm, dass die Ausrichtung perfekt war. Nach Beendigung der
Aufnahme würde er das Video auf seinen Rechner überspielen und unter ihrem Vornamen in der Datei »Opfer« ablegen. Die herauskopierten Bilder würde er sorgfältig der Reihenfolge nach ordnen und entsprechend beschriften. Er liebte es,
wenn alles seine Ordnung hatte.
Nach einem letzten prüfenden Blick auf die Kamera lächelte er zufrieden. Der Akku war voll und würde ausreichen. Als er sich wieder dem Tisch zuwandte, war er entspannt. Jedes
Detail war vorbereitet, alles war geregelt. So musste es sein. Er konnte
beginnen.
Langsam und sorgfältig streifte er sich die Latexhandschuhe über und band sich die weiße Einwegschürze um. Nur keine Flecken oder Spuren an seiner Kleidung verursachen! Die könnten später einmal fatale Folgen haben. Als er sich über sie beugte, stieg ihm ihr Parfüm in die Nase. Er wusste, dass es sich dabei um »Blue« von Dolce & Gabbana handelte. Der aufsteigende Geruch erregte ihn und ließ ihn einen Moment lang innehalten. Doch dann besann er sich seines Plans.
Ein letztes Mal ließ er den Blick über ihren Körper schweifen, den sie ihm freiwillig nicht hatte geben wollen.
Nun gut, er hatte ihn sich trotzdem geholt und nach ihm würde niemand mehr Interesse an ihm haben. Er richtete die Operationsleuchte exakt
auf ihren Kopf aus und nahm das Skalpell, das auf dem silbernen Besteckwagen
bereitlag.
Kapitel 1
Thomas Golzig raufte sich die Haare. Verärgert griff er zu seinem Kaffee. Bereits nach einem kleinen Schluck schob er die
Tasse angewidert von sich. Die starke schwarze Brühe war mittlerweile kalt, weil er sich schon sehr lange auf das vor ihm liegende
Formular hatte konzentrieren müssen. Normalerweise scheute der Leiter einer Dienstgruppe bei der Paderborner
Polizei keine schriftlichen Arbeiten, aber das hier war etwas anderes. Im
Rahmen seiner Führungstätigkeit hatte er die Aufgabe, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu
beurteilen, und das bereitete ihm eigentlich keine Schwierigkeiten. Mit den
meisten arbeitete er schon eine Weile zusammen und kannte all ihre Stärken und Schwächen. Doch der Begriff Schwäche war eine gewaltige Untertreibung für das Verhalten und die Einstellung von Polizeioberkommissar Jürgen Kleekamp.
Golzig ließ sich gegen die Stuhllehne sinken und blickte zur Zimmerdecke hinauf. Würde man von ihm verlangen, Kleekamp mit drei Worten zu beschreiben, wäre dies sehr einfach: Arschloch, Kollegenschwein und Zyniker. Aber so
funktionierte das polizeiliche Beurteilungssystem nun mal nicht. Widerstrebend
richtete er sich wieder auf und griff nach dem Bleistift. Was konnte man überhaupt Positives über Kleekamp sagen?
Er hatte eine gute Nase, was Spuren anging, er war vollkommen angstfrei, und
wenn er sich wie ein Terrier mal in eine Sache verbissen hatte, dann ließ er nicht mehr so schnell los. Zusammen mit Natalie Börns, die als Berufsanfängerin erst vor drei Jahren in die Domstadt und zu seiner Dienstgruppe gekommen
war, hatten die zwei eine Reihe von brutalen Serienmorden aufgeklärt und in einem weiteren Fall mehrere junge Mädchen aus den Händen eines religiösen Fanatikers befreit. Ihre gute Zusammenarbeit war umso erstaunlicher, da es
anfangs so ausgesehen hatte, als würden Kleekamp und Börns niemals auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Die beiden Fälle hatten sie jedoch zusammengeschweißt und jeder hatte dem anderen bereits einmal das Leben gerettet.
Golzig lief auch jetzt wieder ein kalter Schauer den Rücken herunter, wenn er an diese dramatischen Ereignisse dachte. Er wischte sich
mit der Hand durchs Gesicht und schüttelte sich. Zurück an die Arbeit!
In diesem Moment öffnete sich die Tür seines Büros und Willi Martini hielt eine Kanne hoch. »Noch einen Kaffee?«
Golzig nickte und wollte ihm schon den Becher hinhalten, als er sah, dass sich
darin ein kaltgewordener Rest befand.
»Du siehst irgendwie scheiße aus«, bemerkte der dicke Wachhabende grinsend, während er zusah, wie Golzig die Tasse mit der schwarzen Brühe in das Waschbecken kippte und ausspülte.
»Ich muss eine Beurteilung schreiben«, antwortete Golzig und verzog angewidert das Gesicht.
»Lass mich raten«, verlangte Martini. »Bei deiner miesen Laune ist es die von Jürgen, richtig?«
Golzig nickte ergeben und hielt dem Dicken seine Tasse hin.
»Na, darum beneide ich dich wirklich nicht. Lass noch ein paar gute Haare an ihm.
Jürgen ist zwar ein Arsch, aber auch kein ganz Schlechter.« Martini schlurfte aus dem Raum und schloss grinsend die Tür hinter sich, ohne auf Golzigs Antwort zu warten.
Der ließ sich seufzend wieder auf seinen Bürostuhl sinken. Nach und nach ging er die einzelnen Punkte durch. Körperliche Belastbarkeit konnte er kaum jemandem bescheinigen, der übergewichtig war und dem Alkohol mehr als normal zusprach. Golzig scheute sich
jedoch davor, das Wort Alkoholiker auch nur zu denken. Außerdem weigerte sich Kleekamp, abzunehmen und seinen sonstigen Lebenswandel zu ändern. Sport war ihm verhasst und seine Ernährung bestand überwiegend aus Fast Food. Dabei hatte er bereits zwei Herzinfarkte hinter sich,
von denen ihn einer fast das Leben gekostet hätte. Um dem Fass die Krone aufzusetzen, hatte er die Reha dann auch noch
eigenverantwortlich und gegen den Rat der Ärzte abgebrochen. Kleekamp war einfach nicht zu helfen. Dazu kam seine große Klappe, seine vollkommene Resistenz gegen jede Form von Autorität und sein unmögliches Benehmen.
In diesem Punkt war der schmuddelige Oberkommissar konsequent. Unter seinen
ruppigen und provozierenden Umgangsformen hatten nicht nur seine Kollegen und
Mitbürger zu leiden, sondern genauso seine Vorgesetzten. Sein Lieblingsfeind war
Polizeioberrat Hartmann, den Kleekamp hasste wie die Pest. Allerdings ließ sich auch Hartmann keine Gelegenheit entgehen, gegen ihn zu ermitteln. Was
nicht schwierig war, denn Kleekamp hielt, was Dienstaufsichtsbeschwerden bei
der Paderborner Polizei anging, einen einsamen Rekord. Das war nur einer der Gründe, warum er trotz seines Alters immer noch Oberkommissar war. Selbst Kollegen,
die jünger waren und ihre Ausbildung viel später als er abgeschlossen hatten, waren bereits an ihm vorbeigezogen. Ein
Umstand, der Kleekamp jedoch nicht scherte.
Als Golzig ihn mal auf den finanziellen Aspekt eines höher dotierten Dienstranges ansprach, hatte er nur abgewinkt. »Dann würde meine Olle ja noch mehr Kohle kriegen. Das fehlte mir gerade noch!« Golzig wusste, dass Kleekamp seit etlichen Jahren geschieden war und zwei
mittlerweile erwachsene Kinder hatte, aber er hatte auch gehört, dass Kleekamp jeglichen Kontakt zu seiner Familie abgebrochen hatte. Keine
Familie, keine Freunde. Ein absoluter Einzelgänger. Lediglich Natalie Börns hatte einen gewissen Zugang zu ihm.
Thomas Golzig kaute auf seinem Bleistift herum. Wenn er alles in die Waagschale
warf, was ihm zu Jürgen Kleekamp einfiel, würde er nicht umhinkommen, ihm eine Beurteilung zu schreiben, die unter dem
Durchschnitt war. Und das war genau das, was Polizeioberrat Hartmann von ihm
erwartete.
Golzig hatte jedoch nicht vor, Kleekamp mit einer negativen Beurteilung an
Hartmanns Messer zu liefern. Also würde er sie notgedrungen so formulieren, dass er Kleekamp noch soeben am
untersten Rand des Durchschnitts ansiedelte. Dafür würde er sich bei Hartmann garantiert eine blutige Nase holen. Denn Kleekamp war
zwar das Enfant terrible der Paderborner Polizei, aber immerhin sein Kollege
und kein schlechter Polizist. Wenn er sich erst mal in einen Fall verbissen
hatte, dann konnte er sogar ein guter Ermittler sein. Ja, wenn, dachte Golzig.
Angewidert blickte er auf den inzwischen weichgekauten Bleistift und warf ihn
den Papierkorb.
Kapitel 2
Das Objekt der Beurteilung versuchte gerade krampfhaft, Currysauce von seinem
hellblauen Diensthemd zu wischen, was aber lediglich zur Folge hatte, dass sich
der hässliche rote Fleck nur noch vergrößerte. Kleekamp fluchte und feuerte die Schale mit der scharfgewürzten Wurst wütend in den Mülleimer. Er war just in dem Moment von einem Fahrradfahrer angerempelt worden,
der verbotswidrig den Gehweg benutzt hatte, als er einen Bissen nehmen wollte. »Pass doch auf, du Arsch!« hatte Kleekamp ihm nachgerufen, als Antwort aber nur einen Stinkefinger
erhalten. Hatten diese kleinen Wichser denn heute gar keinen Respekt mehr?
»Mensch Jürgen, reg dich nicht auf!«, versuchte seine Kollegin Natalie Börns ihn zu beruhigen. Sie bezahlte noch, während Kleekamp schon auf dem Weg zum Streifenwagen war, der auf der anderen Straßenseite im Halteverbot parkte.
Der Mann in dem zum Imbiss umgebauten Anhänger blickte Kleekamp hinterher. »Der ist aber geladen. Was sagen denn seine Freunde zu diesem Verhalten?« Er blätterte drei Scheine auf die Theke.
»Nichts, Kleekamp hat keine Freunde!«, antwortete Natalie trocken und steckte das Wechselgeld ein.
Wenn einer Jürgen Kleekamp kannte, dann Natalie. Schon an ihrem ersten Tag auf der
Paderborner Wache hatte er sie auflaufen lassen. Sie, das Küken aus der Polizeischule, er der alte desillusionierte Streifenbeamte, zusammen
auf einem Wagen.
Sie erinnerte sich lebhaft daran, wie er versucht hatte sie rauszuekeln, sie brüskiert und gemobbt hatte. Außerdem hatte er ihr den Spitznamen »Bunny« verpasst, nachdem sie sich als Vegetarierin geoutet hatte. Aber dann waren sie
in diesen dubiosen Mordfall verwickelt worden und am Ende waren sie beide in
Lebensgefahr geraten. Und auch wenn Jürgen ein Arschloch war, hatte er doch keine Sekunde gezögert sein Leben für sie zu riskieren.
Mittlerweile kannte sie ihn besser als alle anderen Kollegen. Er war ein
Trinker, Choleriker und übler Zyniker. Sie hoffte nur, dass es nicht der Dienst war, der ihn dazu gemacht
hatte. Sie verspürte Unbehagen bei dem Gedanken, dass sie vielleicht einmal genauso werden könnte. Jürgen hasste Frauen und Vorgesetzte, denn beide erwarteten etwas von ihm, das er
nicht zu geben bereit war. Sein Verhältnis zu einer Prostituierten wäre ihm beinahe zum Verhängnis geworden, nachdem sie getötet worden war und der Mörder ihn bei der anschließenden Verfolgung ebenfalls fast umgebracht hätte.
Seine Familie kannte sie nicht. Er hatte Kinder, sprach jedoch nie über sie. Er war ungepflegt und sicherlich kein Vorzeigebeamter. Aber er hatte
das Herz am rechten Fleck und sie wusste, dass seine raue Schale und seine rüde Art oft nur Schau waren. Eine Art Maske, um der Trostlosigkeit seines Lebens
nicht das wahre Gesicht zeigen zu müssen.
Sie mochte ihn und würde immer zu ihm halten, egal was er tat. Jetzt galt es, ihn erst mal dazu zu
bewegen, sich umzuziehen und den Dienst nicht mit einem Hemd zu versehen, das
aussah, als gehe er mit einem Bauchschuss auf Streife.
»Na, dann fahre ich mal zur Wache, oder?« Natalie ließ sich auf den Fahrersitz fallen und steckte den Schlüssel ins Schloss.
»Wieso das denn?«, kam die prompte Frage.
»Du kannst doch wohl nicht den ganzen Tag so rumfahren!«
»Machen wir unseren Dienst bei der Polizei oder nehmen wir an einem Schönheitswettbewerb teil, Frau Saubermann?«, fragte Kleekamp mit einem schiefen Grinsen.
Natalie wollte gerade etwas darauf erwidern, als das Funkgerät ihr zuvorkam. »Atlas 11/31, Kinder haben an der Alme im Bereich Ziegenberg im Wasser einen
Damenschuh gefunden.« Der Kollege unterbrach seinen Funkspruch, und Kleekamp nutzte sofort die
Chance, ihm in die Parade zu fahren. Natalie sah, wie ihm dabei die
Halsschlagadern anschwollen.
»Sagt mal, seid ihr jetzt komplett bekloppt geworden? Was sollen wir denn da? Müssen wir uns um jeden Scheiß kümmern?«
Aufgrund des wütenden Ausbruchs herrschte eine Sekunde lang Stille im Funk. Dann meldete sich
die Leitstelle erneut zu Wort. »Wenn du mich mal ausreden lassen würdest, wüsstest du, worum es geht. Also halte dich am besten an das alte Sprichwort: Vor
Inbetriebnahme des Mundwerks Gehirn einschalten!« Dieses Mal ließ der Kollege Kleekamp keine Chance zur Erwiderung. »Die Kinder haben nicht nur einen Schuh gefunden, es steckt wohl noch ein Fuß darin.«
Natalie schluckte, als sie sich vorstellte, was sie dort erwartete. Auch Kleekamp war einen Moment lang sprachlos.
Der Kollege hakte nach. »Also was ist? Übernehmt ihr das oder soll ich einen anderen schicken?«
»Was ist mit der Kripo? Sind die schon informiert?«, wollte Kleekamp wissen. Das war eigentlich eher eine Sache für die Kollegen in Zivil.
»Fahrt erst mal hin, sichert den Fundort und meldet euch dann noch mal«, kam die genervte Antwort der Leitstelle.
Natalie wendete bereits den Streifenwagen und machte Anstalten, nach dem
Schalter für Blaulicht und Martinshorn zu greifen, als Kleekamp ihre Hand wegschob. »Warum willst du denn mit Sonderrechten fahren?«
»Na, das ist doch möglicherweise ein Tatort, der schnell gesichert werden muss«, wandte sie ein.
»Erst mal ist es nur der Teil einer Leiche, genauer gesagt ein Fuß und der läuft uns ja wohl nicht mehr weg, oder?« Kleekamp lachte über seinen eigenen Witz und ergötzte sich nebenbei am erstaunten Gesicht seiner jungen Kollegin. »Also immer langsam mit den jungen Pferden«, schlug er vor, drehte die Sitzlehne etwas herunter und machte es sich bequem.
Es sah eher so aus, als begänne er eine Urlaubsfahrt, und nicht, als seien sie auf dem Weg zu einem
Leichenteil.
Natalie seufzte, dann gab sie Gas.
***
Schon von Weitem sahen die beiden die Kinder am Straßenrand stehen und aufgeregt winken. Natalie stoppte den Wagen und Kleekamp ließ das Fenster herunter. »Habt ihr angerufen?«, fragte er in barschem Ton.
Natalie sah, dass die drei Jungen und das Mädchen sofort eingeschüchtert waren. Ein Junge nickte zögerlich und hielt sein Handy hoch. Kleekamp wuchtete sich aus dem Wagen und
blickte ihn an. Der Zehnjährige schien im Erdboden versinken zu wollen. Als Kleekamp ihm auch noch die
Hand auf die Schulter legte, zitterten ihm die Knie.
»Das hast du gut gemacht. Wie heißt du?«
»Marvin«, erwiderte das Kerlchen schüchtern, und die anderen nickten, als ob eine Bestätigung nötig sei, dass er wirklich Marvin war und angerufen hatte.
Natalie war ebenfalls ausgestiegen und um den Wagen herumgekommen. »Hallo, ich bin Natalie. Na, was habt ihr denn gesehen und wo?«
Das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen ergriff ihre Hand und zog sie ein Stück mit sich. Sie schien sich lieber der jungen Frau mit den kurzen dunklen
Haaren anvertrauen zu wollen als dem dicken Polizisten mit dem rotverschmierten
Hemd. »Das ist da drüben.« Die Kleine zog Natalie weiter in Richtung Böschung.
Die sah sich um und war froh, dass Kleekamp hinterherkam. Selbstverständlich war das nicht, denn Jürgen hatte bisweilen eine seltsame Vorstellung davon, wie Teamwork aussah.
Anfangs hatte sie das gestört, aber mittlerweile wusste sie, dass es zwar wie Desinteresse wirkte, er sie
dabei trotzdem nie aus den Augen ließ. Oft war er ein echtes Arschloch, manchmal tat er auch nur so.
Die anderen Kinder folgten ihnen mit einigem Abstand. Natalie musste sich
mehrmals bücken, um unter tiefhängenden Zweigen hindurchgehen zu können. Hinter sich hörte sie Kleekamp leise fluchen, der mit seinem Hemd an einem Strauch hängen geblieben war. Man konnte den Kindern deutlich anmerken, dass Kleekamp
ihnen nicht ganz geheuer war.
Nach einiger Zeit erreichten sie die Alme. Die Kleine blieb stehen, blickte zu
Natalie auf und deutete daraufhin zum anderen Ufer. »Da drüben!«
Natalie folgte ihrem Fingerzeig und dann sah sie es. Auf der anderen Uferseite
hatte sich ein abgebrochener Ast mit vielen Blättern an der Böschung verhakt und so ein natürliches Hindernis erzeugt. Mitten im noch frischen Grün des Laubs konnte Natalie nicht nur einen roten Damenschuh mit hohem Absatz
erkennen, sondern auch, dass der Schuh tatsächlich nicht leer war. Durch die Blätter schimmerte der Fuß, der in dem Schuh steckte und darüber der Unterschenkel. Mehr gab es offensichtlich nicht, denn einen kompletten Körper hätte der Zweig nicht verdecken können.
»Und? Was ist nun?«, wollte Kleekamp wissen, der keuchend neben Natalie und dem Mädchen angekommen war.
»Da ist es!« Natalie zeigte auf den Fundort.
»Mist, das hat uns gerade noch gefehlt.« Kleekamp schnaufte verärgert.
»Ich weiß nicht, warum ausgerechnet wir immer mit irgendwelchen Leichen zu tun haben.« Natalie schüttelte resigniert den Kopf.
»Ach, komm, halb so schlimm«, wiegelte Kleekamp ab, »aber wieso muss dieses Ding«, er deutete auf das Bein, »auf der anderen Seite der Alme liegen?«
Natalie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Das war mal wieder typisch. Sie
hatten das Teil einer Leiche vor sich, und Kleekamp machte sich darüber Gedanken, dass sie vermutlich einen weiten Fußweg zum Fundort in Kauf nehmen mussten. In diesem Moment fielen Natalie die
Kinder ein und sie drehte sich um. »Also, ihr Hübschen. Ihr geht jetzt brav zurück zu unserem Streifenwagen und wartet dort auf uns. Verstanden?«
Die vier nickten unisono.
»Bevor ihr euch schleicht, habe ich eine Frage«, grätschte Kleekamp dazwischen. »Habt ihr nur das Ding da gefunden oder habt ihr noch was anderes gesehen?«
Alle blickten betroffen zu Boden und schüttelten den Kopf. »Wir wollten doch nur am Bach spielen«, versuchte das Mädchen sich zu rechtfertigen.
»Obwohl wir das eigentlich nicht dürfen«, petzte Marvin.
»Lasst mal gut sein, ist schon in Ordnung. Geht mal zum Streifenwagen zurück und wartet dort auf uns.« Natalie strich dem Mädchen dabei zärtlich übers Haar. »Ich muss mir nachher eure Namen aufschreiben, falls wir später noch Fragen an euch haben.«
»Be… be... bekommen wir nun Ärger?« Vor lauter Aufregung stotterte einer der Jungen.
»Nein, ihr habt alles richtig gemacht.«
Mit einem schüchternen Blick zu Kleekamp vergewisserten sie sich, ob sie tatsächlich gehen durften, doch der beachtete sie schon gar nicht mehr, sondern
schien in den Anblick des Fundstückes vertieft zu sein.
Als die vier außer Sichtweite waren, trat Natalie neben ihren Kollegen und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich vermute, wir müssen ein ganzes Stück an diesem breiten Bach entlang, bis wir eine Brücke oder einen Steg finden.«
Kleekamp verzog das Gesicht. »Weißt du, in welcher Richtung und wie weit das sein kann?« Er war noch nie ein großer Freund von körperlicher Betätigung gewesen.
»Na super, und wie willst du da sonst rüberkommen?«
Kleekamp streckte ihr seinen Arm hin. »Ich denke das Wasser dürfte nicht so tief sein. Gib mir mal deine Hand.«
Kaum war Natalie seiner Aufforderung nachgekommen, stellte er sich auf ein Bein
und begann, sich den Schuh aufzuknoten. Dann zog er ihn und die Socke aus und
krempelte sich das Hosenbein bis zum Knie hoch.
»Willst du da tatsächlich durchwaten?«, wollte Natalie ungläubig wissen.
»Immer noch besser, als kilometerlang an diesem Bach entlangzulatschen und eine
Brücke zu suchen«, entgegnete Kleekamp und wechselte das Standbein.
Kurze Zeit später lief er barfuß die Böschung hinunter und blieb auf dem sandigen Randstreifen der Alme stehen. Natalie
sah ihm kopfschüttelnd zu.
»Sieht so aus, als ob es da drüben geht.« Kleekamp ging ein paar Meter nach rechts und setzte den ersten Fuß ins Wasser.
Natalie sah, wie er zusammenzuckte und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme
einen ironischen Klang bekam. »Na, kalt?«
Kleekamp antwortete nicht, sondern setzte den zweiten Schritt ins kühle Nass. Die Alme war an dieser Stelle sicherlich sechs Meter breit und er
hatte erst einen kleinen Teil der Strecke zurückgelegt, als ihm eine Idee kam.
Direkt links neben ihm ragte ein flacher Stein aus dem Bachlauf. Er bugsierte
einen Fuß darauf und sah einen Meter dahinter zur Bachmitte hin den nächsten Stein und danach noch einen weiteren.
Er wagte den ersten Schritt und balancierte dabei mit den Armen. Nur rüber über das verdammt kalte Wasser. Deshalb entschloss er sich, auf längeres Ausbalancieren zu verzichten und dafür auf Schnelligkeit zu setzen. Doch er hatte seinen Plan ohne die Algen und
Moose der Alme gemacht. Der zweite Stein war derart glatt, dass er prompt den
Halt verlor und in die tiefere Rinne der Bachmitte fiel. Begleitet wurde diese
Aktion durch einen gotteslästerlichen Fluch aus seinem und einem schadenfrohen Lachen aus Natalies Mund.
***
Die Kinder waren entlassen, Kleekamp stand in Unterhose neben dem Streifenwagen
und versuchte, seine Diensthose auszuwringen. Er war klatschnass und seine
Laune auf dem Tiefpunkt. Als Natalie zu ihm hinübersah, musste sie sich ein Kichern verkneifen. Kleekamp, der in diesem
Augenblick aufsah, polterte sofort los.
»Was guckst du denn so blöd?« Doch dann verzog sich seine ärgerliche Miene zu einem breiten Grinsen und Natalie stimmte in das unmittelbar
darauffolgende Lachen ein.
»Es sah aber auch zu komisch aus, als du in den Bach gefallen bist.«
»Und wofür das alles?« Kleekamp legte die blaue Diensthose auf das Dach des Streifenwagens und knöpfte sein Hemd auf.
»Ja, wofür?« Natalie blickte auf das Bein, das auf der Rückbank des Wagens lag.
Kleekamp hatte sich von seinem unfreiwilligen Bad nicht davon abhalten lassen,
das Fundstück am anderen Ufer zu bergen. Dass er sauer war, lag vor allem an der Tatsache,
dass es sich bei dem angeblichen Leichenteil um das Bein einer
Schaufensterpuppe gehandelt hatte. Als er damit zu Natalie zurückkehrte, musste sie unwillkürlich an ein Erlebnis denken, das sich vor einiger Zeit in einer Lagerhalle
zugetragen hatte.
Seltsamerweise hatten die Kinder, die am Streifenwagen gewartet hatten, einen
enttäuschten Eindruck gemacht. Vermutlich hätten sie einen echten Leichenteil spannender gefunden. Dennoch hatte Natalie sie
alle mit ihrer Visitenkarte ausgestattet nach Hause geschickt und gebeten,
ihren Eltern von der Geschichte zu erzählen. Sollten noch Fragen sein, stünde sie ihnen gerne zur Verfügung. Sie selbst war froh, dass es nur das Teil einer Schaufensterpuppe gewesen
war.
Kleekamp hatte nun auch sein Hemd ausgezogen. Ein aparter Anblick wie der
einhundertzehn Kilo schwere Mann in weißer durchnässter Unterwäsche da vor ihr stand.
»Super! Und wie komme ich jetzt zur Wache?«
Natalie zuckte mit den Schultern. »Entweder ziehst du dich wieder an und läufst so nass wie du bist zu Fuß oder du setzt dich in deinen aufreizenden Dessous in den Streifenwagen und ich
fahre dich.«
Kleekamp grinste. »Ich wundere mich, wie jemand, der in Lebensgefahr schwebt, noch so eine große Klappe haben kann.«
»Von wem habe ich die wohl?«
Natalie begab sich zum Kofferraum und zog eine Rettungsdecke aus Aluminium aus
ihrer Verpackung. Sie faltete sie auseinander und bedeckte den Beifahrersitz
damit. »So weichst du wenigstens den Sitz nicht auf.«
Kleekamp raffte seine nassen Uniformteile zusammen und warf sie in den Fußraum. »Auf jeden Fall ist dir eine Menge Arbeit erspart geblieben«, verkündete er, während er einstieg.
»Wieso?« Natalie schloss die Tür hinter ihm.
»Weil du lediglich eine Fundanzeige schreiben musst und keinen elendig langen
Tatortbefundbericht.«
»Wieso ich?«, wollte Natalie wissen und ließ sich auf dem Fahrersitz nieder.
»Na, wer denn sonst? Ich als Streifenführer etwa?«, regelte Kleekamp die Zuständigkeiten. »Und jetzt: Abfahrt!«
Kapitel 3
Am Ende der Schicht hing Kleekamps Uniform zum Trocknen im Keller der Wache, das
Bein der Puppe befand sich mit einem Zettel am Schuh im Asservatenraum und
Natalie hatte Thomas Golzig die Fundanzeige auf den Tisch gelegt.
Kleekamp war bei seiner nassen Rückkehr von den Kollegen mit einem gewissen Maß an Schadenfreude begrüßt worden. Sie mussten zwar mit ihm arbeiten, aber sie mussten ihn nicht mögen, und da kam ihnen sein unfreiwilliges Vollbad natürlich genau recht.
Kleekamp hatte erstaunlicherweise nicht darauf reagiert, sondern war ohne ein
Wort in den Umkleideraum gegangen und hatte sich angekleidet. Der Rest der
Schicht verlief dann recht unspektakulär. Ein kleiner Verkehrsunfall, ein Ladendieb, eine Personalienfeststellung in
einem Linienbus. Alltägliche Polizeiarbeit, wie sie in jeder Stadt anfiel.
Als die beiden umgezogen vor dem Polizeigebäude in der Riemekestraße standen, versuchte Kleekamp, seine jüngere Kollegin noch zu einem Feierabendbier zu überreden, doch die winkte ab.
»Sorry, ich habe leider was anderes vor.« Dabei blickte sie Kleekamp nicht direkt an, sondern an ihm vorbei.
Obwohl man ihn sonst für einen groben Klotz hielt, hatte er für Natalies Gefühlslage eine feine Antenne entwickelt. »Oh, ein Date?« Mit einem breiten Grinsen sah er, dass sie leicht errötete. Volltreffer, dachte er.
»Na ja, ein Date es ist nicht gerade, mal sehen, was daraus entsteht.« Natalie klopfte ihm auf die Schulter. »Dann mach’s mal gut und viel Spaß.«
Als sie in Richtung ihres Wagens ging, blickte Kleekamp ihr nach und stellte
fest, dass so etwas wie Ärger in ihm hochkam. Nein, wenn er ehrlich war, war Ärger das falsche Wort. Eifersucht traf es besser. Aber warum war das so? Okay,
sie waren sich in den letzten beiden Jahren nahegekommen und er hatte auch
gewisse Gefühle für sie entwickelt, nur Natalie war über fünfundzwanzig Jahre jünger als er. Sie könnte seine Tochter sein. Außerdem hatte es von ihrer Seite nie Anzeichen dafür gegeben, dass er mehr für sie war als ein Kollege.
Er mochte sie sehr gern, aber er hatte sich schon mehrfach eingestehen müssen, dass eine Beziehung mit ihr, ihnen beiden nicht nur nichts gebracht,
sondern vermutlich sogar ihr gutes kollegiales Verhältnis zerstört hätte. Doch die Tatsache, dass sie keinen Freund hatte, hatte es ihm bisher ermöglicht, einem Traum nachzuhängen. Dem Traum von einer Beziehung, einer Familie und einem normalen Leben.
Kleekamp steckte verärgert die Hände in die Hosentaschen, zog den Kopf zwischen die Schultern und marschierte
los. Familie, pah!
Das hatte er ja schon alles hinter sich. Seine Alte war abgehauen und ließ sich von ihm freihalten, seinen Sohn und seine Tochter hatte er seit einer gefühlten Ewigkeit weder gesehen noch gesprochen. Eigentlich war der Traum von einer
glücklichen Familie für ihn schon längst ausgeträumt und doch kam dieser Wunsch ab und zu noch mal hoch.
Seine Laune wurde immer schlechter, und der Gedanke daran, dass Natalie sich
heute Abend mit einem Mann treffen würde, verbesserte sie nicht gerade. Manch einer wäre, um seinen Frust abzubauen, zum Joggen in den Wald oder ins Fitnessstudio
gegangen, Kleekamp hatte andere Mittel. Er ging in die Kneipe.
***
Während die einen die Nacht dazu nutzten, ihre Ängste, Sorgen oder ihre Enttäuschung zu ertränken, nutzten andere sie, um zu lieben, zu schlafen oder ziellos herumzulaufen.
Wieder andere taten im Schutz der Dunkelheit Dinge, die man dem Tageslicht und
neugierigen Augen besser vorenthielt.
Sechzig Kilogramm sind normalerweise kein allzu großes Gewicht, doch wenn sie aus leblosem Fleisch bestehen, können sie schon sehr unhandlich werden.
Seine größte Sorge war, dass sein Wagen beschmutzt werden könnte. Daher wickelte er den toten Körper in eine Plastikplane ein und sicherte sie mit Klebestreifen, damit sie
nicht wieder aufging. Als Letztes war ihr Kopf dran. Dabei verwandelte sich
sein vorher professionell gleichgültiger Gesichtsausdruck jedoch plötzlich in eine Maske aus Abscheu und Arroganz. Er musste sich zusammenreißen, um der Toten nicht ins Gesicht zu spucken.
Sie hatte ihn zurückgewiesen, ihn! Aber okay, dadurch hatte sie ihren Tod letztendlich selbst
provoziert. Sie zu töten war so etwas wie Notwehr gewesen. Die Verteidigung seiner Ehre, seiner
Position, seiner Männlichkeit. Unwirsch riss er einen Klebestreifen von der Rolle und presste ihn
brutal auf den eingewickelten Kopf. Er widerstand der Versuchung auch noch
zuzuschlagen.
Bedächtig ging er auf die Knie, zog ihren Oberkörper vom Boden hoch und wuchtete ihn sich auf die Schulter, atmete tief durch
und stand auf. Mühsam balancierte er den toten Körper aus und lief ein wenig schwankend zum Auto. Er ließ den Kofferraumdeckel mit einer Fußbewegung unterhalb der Stoßstange aufspringen und die Leiche hineingleiten. Er rückte sie noch kurz zurecht, damit auch die Füße darin verschwanden, und schloss den Kofferraum per Knopfdruck.
Danach eilte er zu der Stahltür zurück, durch die er gekommen war und drückte das Vorhängeschloss zu. Es verband die Enden der Kette, die er zuvor durch die beiden
Stahlgriffe gezogen hatte. Mit einem kontrollierenden Griff in die Hosentasche überzeugte er sich, dass er das Skalpell eingesteckt hatte und ging dann zu dem
großen Rolltor. Bevor er es öffnete, zog er sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und aktivierte die App,
die mit den Kameras draußen gekoppelt war. Vor Wochen schon hatte er sie montiert, sie ermöglichten ihm einen Blick auf die Umgebung vor dem Tor. Er rief sie der Reihe
nach ab, bis er sich sicher war, dass er das Gebäude ungesehen verlassen konnte.
Leise entriegelte er das Tor und schob es auf. Obwohl es sehr alt und verrostet
aussah, bewegte es sich doch beinahe lautlos auf seinen Rollen. Er hatte viel
Zeit darauf verwendet, es in diesen Zustand zu versetzen. Unansehnlich, unauffällig, aber hoch funktionell. Genauso lange hatte er damit verbracht, die Kameras
zu verstecken, sie waren jetzt fast unsichtbar, und man musste schon genau
danach suchen, um sie zu entdecken. Dem Blick eines unbedarften Beobachters würden sie entgehen.
Eilig begab er sich zum Wagen und fuhr ihn ins Freie. Er ließ die Wagentür offen und den Motor laufen, während er das Rolltor zuschob und verschloss, dann verteilte er etwas Laub vor
der Laufschiene. Selbst wenn er sich nicht vorstellen konnte, wer sich hierher
verirren sollte: Sicher war sicher.
Sein größter Schutz jedoch waren nicht die Kameras oder die Vorhängeschlösser. Nein, sein größter Schutz war die unheimliche Atmosphäre, die dieses Gebäude umgab.
Er stieg in den Wagen und verschwand in der Dunkelheit.
Kapitel 4
Am nächsten Morgen glaubte Kleekamp, er sei von einem Lkw überrollt worden. Danach musste der Fahrer ausgestiegen und seinen Kopf zusätzlich mit einem Presslufthammer bearbeitet haben, das suggerierten ihm
zumindest seine Kopfschmerzen. Dazu kam dieses penetrante piepende Geräusch, das er erst etliche Sekunden später als Wecksignal seines Handys identifizierte.
Ein Blick darauf sagte ihm, dass es bereits kurz vor zwölf Uhr war und ihm nur eine Stunde blieb, um einigermaßen klar und halbwegs nüchtern zu werden. Vorsichtig drehte er sich auf den Rücken. Bloß keine hastigen Bewegungen, sonst würde sein Kopf an der perforierten Linie abreißen.
Er schloss die Augen und versuchte mühsam, sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Den Weg in seine Stammkneipe und
die ersten zehn Bier konnte er nachvollziehen. Dann erschien ein gelbes Auto in
seiner Erinnerung. Also hatte er den Kanal mal wieder nicht voll bekommen können und war mit einem Taxi noch woandershin gefahren. Aber wohin?
In irgendeine Kneipe in der Innenstadt. Whisky! Wie durch einen Nebel sah er das
Glas mit der goldgelben Flüssigkeit vor sich. Glenfiddich Single Malt, sein altbewährtes Zaubermittel, um Sorgen zu ertränken. Ein Kollege hatte das Zeug mal vor Jahren von einer Angeltour mitgebracht
und Kleekamp hatte Gefallen daran gefunden. Ihm fiel ein, dass der Kollege
damals sehr sauer gewesen war, weil er ihm die halbe Flasche ausgetrunken hatte. Komisch an solche Dinge erinnerte er sich, aber kaum an den
gestrigen Abend.
Er warf die Bettdecke zur Seite und versuchte, sich aufzurichten. Stöhnend sank er wieder auf das Kissen zurück. Er hatte das Gefühl, sein Schädel sei mit Blei ausgegossen, und im Mund einen Geschmack wie Laternenpfahl ganz
unten.
Resigniert schloss er die Augen und dachte darüber nach, sich krank zu melden. Aber dieses Mittel der »Dienstbefreiung« hatte er in letzter Zeit schon zu häufig benutzt. Und auch wenn ihm der damit verbundene Ärger ziemlich egal war, so wusste er doch, dass man ihn auf dem Kieker hatte und
jede Gelegenheit nutzen würde, um ihn rauszuschmeißen.
Also noch fünf Minuten liegen bleiben und sich dann in sein Schicksal ergeben. In diesem
Moment hatte er plötzlich das Gesicht einer blonden jüngeren Frau mit schulterlangen Haaren vor sich. Er ließ sich treiben und landete gedanklich neben ihr an der Theke.
Langsam erinnerte er sich auch daran, sie angesprochen zu haben. Nur was er ihr
erzählt hatte, das konnte er beim besten Willen nicht mehr sagen. In seinem
besoffenen Kopf vermutlich jede Menge dummes Zeug. Aber sie hatte ihn trotzdem
nicht abgewiesen, sondern sich sogar von ihm einladen lassen. Kleekamp überlegte, ob er noch weiter nachdenken sollte. Womöglich würde sich diese bis jetzt angenehme Erinnerung dann in eine mit einem bösen Ende verwandeln.
Wieder ein Taxi! Aber er hatte nicht allein darin gesessen, die blonde junge
Frau hatte ihn begleitet. Ihm fiel ein, dass sie dem Taxifahrer eine Adresse
genannt hatte: Hotel Aspethera. Davor angekommen hatte er das Taxi bezahlt und
war mit ihr ausgestiegen. Warum wohnte sie in einem Hotel? War sie nicht von
hier? Erinnere dich!, trieb er sich weiter an.
Irgendetwas mit einer neuen Stelle und Wohnungssuche tauchte vom Grund seiner
Erinnerung auf. Und ihr Name? Kleekamp schwor sich, nie wieder so viel zu
saufen, wobei ihm klar war, dass er diesen Schwur bereits einmal mehr gebrochen
als geleistet hatte.
Kathrin? Katharina? Karolina? Keine Ahnung. Er konnte sich einfach nicht daran
erinnern. Aber noch schlimmer war, dass er nicht wusste, was dann passiert war.
War er noch mit auf ihr Zimmer gegangen? Wie war er nach Hause gekommen? Fragen
über Fragen.
Ächzend wälzte er sich auf die Seite und hob die Beine über die Bettkante. Langsam, ganz langsam richtete er sich auf und bemühte sich, den Presslufthammer in seinem Schädel zu ignorieren. Nach ein paar Sekunden ließ der Druck so weit nach, dass er sich ins Badezimmer schleppen konnte. Seine
Zunge klebte ihm am Gaumen und er versuchte, sie mit etwas kaltem
Leitungswasser zu lösen.
Das mit Zahncreme verschmierte Waschbecken und die Zahnbürste auf dem Boden verrieten ihm, dass er gestern wohl noch einen Anflug von
Reinlichkeit gehabt hatte. Jetzt hoffte er stark, dass sich im Spiegelschrank über dem Waschbecken eine weitere Zahnbürste befand, denn sich nach der anderen zu bücken, wäre einem Todesurteil gleichgekommen.
Als er zehn Minuten später in seine Küche wankte, sah er, dass auf seinem Handy eine cremefarbene Visitenkarte lag. Er
griff danach, musste sie aber weit von sich halten, damit er sie überhaupt lesen konnte. Das allerdings war keine Folge seines Alkoholkonsums,
sondern einfach der Tatsache geschuldet, dass er nun schon Mitte fünfzig war und sich standhaft weigerte, zum Augenarzt zu gehen und sich eine
Lesebrille verschreiben zu lassen. Noch war der Arm lang genug.
Katharina Vogt, las Kleekamp. Darunter eine Handynummer und eine E-Mail-Adresse.
Keine Anschrift, kein Titel. Na ja, jedenfalls wusste er jetzt, wer sie war,
nur nicht, was er ihr erzählt und vor allem, wie er sich benommen hatte. Immerhin hatte er die Möglichkeit sie anzurufen, aber ob er dazu den Mut finden würde?
Er befestigte die Visitenkarte mit einem Magneten am Kühlschrank und griff dann nach der Kaffeedose. Wie um die Liste der Niederschläge an diesem Tag noch zu verlängern, war sie natürlich leer.
***