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Eva Björg Ægisdóttir

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Beschreibung

Als bei einem Hausbrand in der Kleinstadt Akranes ein junger Mann ums Leben kommt, deutet zunächst alles auf einen tragischen Unglücksfall hin. Auch in Eva Björg Ægisdóttirs drittem Krimi ist nichts so, wie es zunächst scheint, und sie erweist sich einmal mehr als Meisterin der psychologischen Spannungsliteratur. Die Kleinstadt Akranes ist zutiefst erschüttert, als beim Brand eines Einfamilienhauses ein junger Mann ums Leben kommt. Als sich im Zuge der Ermittlungen von Kommissarin Elma und ihrem Team herausstellt, dass es sich um Brandstiftung handelt, sehen sie sich schnell mit einem äußerst komplexen Fall mit verschiedenen Verdächtigen konfrontiert. Und die letzte Online-Recherche des mutmaßlichen Opfers legt nahe, dass man es eventuell nicht nur mit einem, sondern mit zwei Morden zu tun haben könnte. Ein paar Monate vor dem Brand: Eine junge Holländerin tritt eine Stelle als Au-pair-Mädchen in Akranes an, um sich nach dem Tod ihres Vaters ein neues Leben aufzubauen. Doch die zunächst so perfekt wirkende Familie, in der sie unterkommt, hat offenbar ihre ganz eigenen Probleme. Im Zuge der sich immer weiter verzweigenden Ermittlungen hat Elma zusätzlich noch mit einigen persönlichen Schwierigkeiten zu kämpfen — und sie gerät sogar in Lebensgefahr, als klar wird, dass jemand bereit ist, alles zu tun, damit sein Verbrechen nicht ans Licht kommt. Alle Fälle der Krimi-Reihe »Mörderisches Island«: - Verschwiegen - Verlogen - Verborgen - Verlassen Die Bücher erzählen eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 439

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Eva Björg Ægisdóttir

Verborgen

Ein Island-Krimi

Aus dem Isländischen von Freyja Melsted

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Eva Björg Ægisdóttir

Über dieses Buch

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

In der Nacht davor

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Zweiter Teil

Februar 2019 

Die Mädchen waren bis ...

Februar 2019 

Andri war es absolut ...

Februar 2019 

»Papa.« Anna machte eine ...

März 2019 

Am Ende des Tages ...

April 2019 

Montag

April 2019 

»Hallo?«

Mai 2019 

»Wie ihr hier seht, ...

Mai 2019 

Dienstag

Juli 2019 

Den ganzen Abend lang ...

August 2019 

»Ich habe zunehmend das ...

Mittwoch

August 2019 

Obwohl Lenas Nachricht andeutete, ...

September 2019 

Donnerstag

Freitag

September 2019 

Samstag

Sonntag

September 2019 

Die Einkaufstüten waren nicht ...

Montag

September 2019 

Laufeys Hände waren ganz ...

September 2019 

»Du hättest nicht kommen ...

Oktober 2019 

Eilmeldung vom 03.11.2019 

November 2019 

Personenregister

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

In der Nacht davor

Wenn der Regen nachließ, könnte man die Leiche möglicherweise riechen. Die Gefahr bestand jedenfalls. Deshalb hatte er angerufen und betont, wie dringend er sie wegbringen wolle. Er fand den Gedanken unangenehm, dass sie da herumlag und mit jeder Stunde weiter verweste. Allein die Vorstellung beunruhigte ihn so sehr, dass er kaum still sitzen konnte.

Aber es war ausgesprochen schwierig, sich eine Leiche vom Hals zu schaffen. Wie könnte er sie unbemerkt zum Auto bringen? Nachts wurde es um diese Jahreszeit nicht wirklich dunkel. Und wohin sollte er überhaupt mit ihr fahren? Wo sollte er sie vergraben? Er war noch nie viel gereist und kannte keine abgelegenen Orte oder wusste etwas über die Bodenbeschaffenheit. Er wollte das Risiko nicht eingehen, dass ein Bauer sie finden würde. Der Gedanke war ihm gekommen, die Leiche einfach ins Meer zu werfen, aber dann bestand immer die Gefahr, dass sie an irgendeinem Strand angespült wurde. Er kannte sich nicht mit Meeresströmungen aus, wusste nicht einmal, wann Ebbe und wann Flut war.

In der Nacht davor hatte er nach der Leiche gesehen. Im Alkoholrausch faszinierte ihn, wie der Zustand der Haut sich veränderte, sowohl die Farbe als auch die Struktur. Er entfernte die Decken und das Plastik und strich mit dem Finger über die Haut. Irgendwie war es spannend, einen toten Menschen zu sehen. Ein surreales Gefühl überkam ihn, von dem ihm schwindelig wurde, und er spürte das Blut bis in die Spitzen seiner Finger [8]und Zehen strömen. Kurz hatte er Angst, das Bewusstsein zu verlieren, und kauerte sich zusammen. Als es ihm besser ging, trank er die Wodkaflasche aus und besah sich das Gesicht. Er öffnete den Mund und betrachtete die Zunge und die Zähne. Schob vorsichtig die Augenlider auf. Über den Augen lag ein weißer Schleier, sie waren starr und matt. Plötzlich fühlte sich der Tod etwas zu real an, und er machte sich schnell davon.

Draußen dachte er, er müsse sich übergeben, aber stattdessen fiel er auf die Knie und weinte. Sie gingen ihm nicht aus dem Kopf, diese nichts sehenden Augen, die ihn leer anstarrten.

Samstag

Die Holzkirche von Akranes war voll bis auf den letzten Platz, sodass sogar die Fenster beschlugen. Mit dem Psalmenheft fächerte sich Elma unauffällig Luft zu. Trotz der vielen Menschen war nur das Knarren der schmalen Holzbänke zu hören und vereinzeltes Schluchzen oder Husten.

Hörður und seine Familie saßen in der ersten Reihe. Elma sah sein grau meliertes Haar und den gebügelten Hemdkragen. Er saß aufrecht, den Blick nach vorne gerichtet, und hatte keine Regung gezeigt, als die Tür aufgegangen und immer mehr Leute in die Kirche geströmt waren oder als seine Tochter ihren Kopf an seine Schulter gelehnt hatte. Er blieb starr, wie versteinert, vielleicht aus Angst, dass er schon bei der geringsten Bewegung zusammenbrechen könnte.

Elma betrachtete das Bild auf dem Psalmenheft. Es war ein aktuelles Bild von Gígja, wenn auch vor der Krebserkrankung aufgenommen. Nach der Diagnose war es mit ihr schnell bergab gegangen. Innerhalb weniger Wochen hatte diese energische Frau all ihre Kraft verloren und viel abgenommen, bis sie nur noch im Bett liegen konnte und starke Schmerzmittel brauchte. Elma hatte Gígja einige Monate vor ihrem Tod zuletzt gesehen. Ein paar Kollegen und sie waren mit Gebäck und einem Blumenstrauß zu ihr gefahren.

Hörður selbst hatte ebenfalls stark abgenommen, die Hosen hingen nur noch lose an seinen Beinen, und die Hemden wirkten viel zu groß. Gígjas Tod war eine Woche her, und Hörður hatte sich seitdem nicht in der Polizeistation blicken lassen.

Elma versuchte, durch Blinzeln und Schlucken die Tränen zu unterdrücken. Sævar lächelte geistesabwesend, als der Organist zu spielen begann. Die Musik füllte die kleine Kirche, und der Chor setzte ein. Stimmen wie aus einer anderen Welt. In dem Moment sah Elma, wie Hörður plötzlich doch den Kopf senkte und seine Schultern bebten.

***

Den Glasschrank im Wohnzimmer hatte Laufey von ihren Eltern geerbt, aber es war ihr nie wirklich gelungen, den muffigen Geruch loszuwerden, der an allem hängen blieb, das sie darin aufbewahrte; das Kaffeeservice ihrer Eltern, die Servierplatte von Royal Copenhagen und die schönen Kristallgläser, die sie zur Hochzeit bekommen hatten. Immer wenn sie etwas davon hervorholte, musste sie alles erst noch abspülen, bis es nicht mehr stank.

Sonst gab es aber nichts mehr zu tun, alles andere war vorbereitet. Die Kartoffeln standen mit Alufolie bedeckt auf dem Küchentresen, das Fleisch war gebräunt und brauchte nicht mehr lange im Ofen, und der Nachtisch wartete im Kühlschrank, eine große Baisertorte mit Erdbeeren und Lakritzkugeln.

Unnar betrat die Küche, er trug ein figurbetontes Hemd und war frisch rasiert. Er hatte Zeit gehabt zu duschen, sich zu rasieren und zu überlegen, was er anziehen wollte, im Gegensatz zu ihr, die vor einer halben Stunde nur schnell dasselbe Kleid wie immer übergeworfen hatte.

»Möchtest du etwas Champagner?«, fragte Unnar und hielt die Flasche hoch.

»Nein, danke.« Laufey legte die Schürze ab und versuchte, sich von Unnar nicht die Laune verderben zu lassen. Sie wollte jetzt nicht streiten, ihre Freunde könnten jeden Moment eintreffen.

»Bist du müde?«

»Ist das dein Ernst, Unnar?«, fragte Laufey. »Nur damit das klar ist, nach dem Essen machst du sauber. Ich werde keinen Finger rühren.«

»Kein Problem«, sagte Unnar und ging mit dem Champagnerglas ins Wohnzimmer, um ein anderes Lied aufzulegen. Er hatte viel Zeit mit dem Erstellen der Playlist verbracht, während Laufey in der Küche geschuftet hatte.

Laufey nahm einen Lappen und wischte die Abdrücke weg, die seine feuchten Finger auf einem der Gläser hinterlassen hatten. Nach kurzer Überlegung schenkte sie sich auch ein Glas ein und trank einen Schluck. Dann noch einen.

»Sie kommen sicher bald«, sagte sie und setzte sich in den Sessel im Wohnzimmer.

Unnar zuckte mit den Schultern. »Du weißt, wie das ist, niemand kommt auf die Minute pünktlich.«

»Nein, ich schätze nicht.« Plötzlich schreckte sie auf und stellte das Glas weg.

»Alles in Ordnung?«

»Ja, ich hätte nur fast die Duftkerze vergessen«, antwortete Laufey und öffnete eine Schublade. Heute war der perfekte Anlass, um die völlig überteuerte Duftkerze anzuzünden, die sie neulich in einem schicken Laden in Reykjavík gekauft hatte.

»Gott bewahre«, meinte sie Unnar murmeln zu hören, während sie nach einem Feuerzeug kramte.

Laufey atmete tief durch und erinnerte sich daran, dass es nichts bringen würde, jetzt etwas zu sagen. Nichts Gutes würde dabei herauskommen. Sie stellte die Duftkerze auf den Tisch im Flur, zündete alle drei Dochte an, und beinahe augenblicklich erfüllte der Geruch das Haus. Eau de Champagne stand auf der Kerze. Wie passend, dachte Laufey und trank ihr Champagnerglas in einem Zug aus.

 

Im Laufe des Abends machte sich ihre Müdigkeit bemerkbar. Laufey ließ sich auf das Sofa fallen und schaffte es kaum, den Gesprächen zu folgen. Villi gähnte, und kurz vor Mitternacht standen er und seine Frau Brynhildur auf und verabschiedeten sich. Óskar und Harpa waren jedoch noch in Feierlaune. Harpa hatte acht Gläser Champagner getrunken und redete wie ein Wasserfall. Óskar war genauso aufgeweckt, er hatte die Playlist übernommen und spielte die Hits ihrer Jugend.

Der Alkohol stieg Laufey zu Kopf, und sie ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Auf dem Esstisch türmten sich die Teller und Essensreste. Laufey verspürte einen starken Drang, das Geschirr zu spülen, aber das wäre nicht fair. Sie hatte gekocht, also sollte Unnar sauber machen. Diesmal würde er nicht einfach so davonkommen.

Sie faltete das Geschirrtuch und warf einen Blick aus dem Fenster.

Draußen regnete es große, schwere Tropfen, die in der Windstille senkrecht zu Boden fielen. Sie schloss die Augen, atmete durch die Nase aus und spürte ihren Rausch.

Sie hatte schon lange nicht mehr so viel getrunken und genoss es. Fühlte sich entspannt und unbeschwert. Die Müdigkeit war beim Aufstehen aus ihr gewichen, und plötzlich war ihr nach Tanzen zumute. In dem Ort gab es leider keine guten Bars, wo man spätabends hätte hingehen können. Der Wohnzimmerboden musste genügen.

Laufey holte eine frische Rotweinflasche und schenkte sich ein. Scheiß auf die Teller, dachte sie, Unnar sollte sie am nächsten Tag spülen. Sie trank einen großen Schluck, und erst in dem Moment bemerkte sie die Stille. Die Musik war verstummt, und Harpa sagte kein Wort mehr.

Laufey ging ins Wohnzimmer und sah die Weingläser auf dem Tisch neben einem Käsebrett stehen.

»Unnar?«, fragte sie, aber bekam keine Antwort.

Es war, als hätten sie sich alle in Luft aufgelöst.

Sonntag

Ævar sah das Feuer, als er vom Badezimmerfenster aus einen seltsamen Schimmer über dem Nachbarhaus bemerkte. Erst dachte er, die Sonne würde mitten in der Nacht hinter dem Haus untergehen, doch dann durchdrang ein lauter Heulton die nächtliche Stille, und er verstand, was Sache war. Schnell zog er seine Pyjamahose hoch und eilte hinaus, kam nicht einmal auf die Idee, Rósa zu wecken oder sich wärmer anzuziehen.

Die Äste kratzten an seiner Haut, als er sich einen Weg durch die Hecke zwischen den beiden Grundstücken bahnte. Das Feuer brannte auf der Vorderseite des Hauses, aber Ævar ging sofort zur Hintertür und versuchte, sie zu öffnen. Als es nicht gelang, hämmerte er gegen die Scheibe.

»Hallo«, rief er und legte die Stirn ans Fenster. »Ist jemand da drinnen?«

Er erwartete, dass die Bewohner schreien oder herauslaufen würden, aber nichts passierte. In dem Haus lebte ein Ehepaar mit zwei Kindern. Eigentlich waren sie keine Kinder mehr, sie waren beide um die zwanzig, wohnten aber immer noch bei ihren Eltern.

Ævars Herz pochte unter seinem Pyjama, aber die Kälte spürte er nicht. Er überlegte, ob er die Tür aufbrechen sollte. In Kinofilmen sah das immer so einfach aus, aber er wusste genau, dass es in Wirklichkeit deutlich schwieriger war.

Er lief um die Ecke des Hauses und stellte bestürzt fest, dass ein Auto in der Einfahrt stand. Vermutlich war jemand zu Hause.

»Was ist los?«

Ævar drehte sich um. Es war sein Nachbar. Wie hieß er noch mal? Jón? Jens? Irgend so etwas.

»Es brennt«, sagte Ævar außer Atem. »Ich komme nicht rein. Ich weiß nicht, ob jemand zu Hause ist. Ich …«

»Ich rufe die Feuerwehr«, sagte Jón oder Jens, der so schlau gewesen war, eine Jacke anzuziehen und ein Handy mitzunehmen. Ævar selbst hatte keine Schuhe und nur einen Schlafanzug an, aber jetzt war nicht die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

»Ruf an, ich probier’s an der Eingangstür«, rief er und eilte los. Die Kieselsteine bohrten sich in seine Fußsohlen, und er verzog das Gesicht vor Schmerzen.

Die Eingangstür war auch abgeschlossen, und trotz angestrengter Versuche bekam er sie nicht auf. Ein lauter Knall erklang, und er sah, dass die Fensterscheibe von einem der Zimmer zerschellt war.

Ævar versuchte noch einmal, laut zu rufen.

»Ist da jemand?«, schrie er ins Feuer, bekam aber keine Antwort.

Die Hitze und der Rauch versperrten ihm den Weg. Er hielt die Hand vor den Mund und hustete. Dann hörte er Sirenen und wusste, dass er nichts mehr tun konnte.

***

Unnar wachte vollständig angezogen in seinem Bett auf. Das weiße Hemd klebte an seinem Körper, und die Anzughose war aufgeknöpft, sodass die Unterhose zu sehen war. Sein Mund war staubtrocken, und er schmatzte ein paarmal, um Speichel zu produzieren, dann hielt er sich die Augen zu, denn die Sonne knallte durch das Fenster.

Er versuchte, sich aufzurichten, aber die Kopfschmerzen waren so stark, dass er sich sofort wieder hinlegte und die Augen schloss. Nach einer Weile kroch er aus dem Bett und schaffte es mit Mühe und Not zum Bad, wo die Überreste der Nacht in der Kloschüssel landeten.

Unnar war zu alt für diese Dinge. Auch wenn er regelmäßig trank, ließ er sich nur selten so gehen.

Unter der Dusche versuchte er, sich die Geschehnisse des Vorabends ins Gedächtnis zu rufen. An das gemeinsame Abendessen mit ihren Freunden erinnerte er sich noch gut. Den Bollinger-Champagner, den sie dazu getrunken hatten, das sous-vide gegarte Steak, das im Mund zerschmolz, und die Hasselback-Kartoffeln. Das Essen war gut angekommen, und Villi hatte für danach zehn Jahre alten Whiskey mitgebracht.

Aber dann verschwammen die Erinnerungen, und als Unnar aus der Dusche stieg, wusste er immer noch nicht, wie er vollständig angezogen im Bett gelandet war. Ein unbehagliches Gefühl ließ ihn nicht los, aber je angestrengter er versuchte, aus dem vergangenen Abend schlau zu werden, desto wirrer kam ihm alles vor.

Im Wohnzimmer machte seine siebenjährige Tochter Turnübungen.

Sie hob beide Hände hoch und streckte einen Fuß aus, bevor sie den Rücken nach hinten beugte und sich irgendwie verdrehte. Das Kind schien keine Gelenke zu haben.

»Wow«, sagte Unnar beeindruckt. »Was hab ich nur für eine talentierte Tochter.«

Anna strahlte vor Stolz und rümpfte dann die Nase. »Papa, du stinkst.«

Im Arbeitszimmer sah er Laufey, die mit der Brille auf der Nase vor dem Computer saß. Als sie ihn bemerkte, schloss sie das offene Browserfenster.

»Buchst du etwa einen Flug?« Im Augenwinkel hatte er das Logo einer Fluggesellschaft gesehen.

Laufey drehte sich zu ihm um und lächelte. »Ja«, sagte sie. »Ich hatte den Flug nach Schweden noch nicht gebucht.«

»Noch nicht? Das ist schon in zwei Wochen.«

»Ja, ich weiß, ich bin ziemlich spät dran.« Laufey setzte die Brille ab und rieb sich die Augen. Sie sah ihn an, und ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. »Wie geht es dir eigentlich?«

»Gut«, log Unnar.

»Du hast gestern ganz schön viel getrunken.«

»Du auch.«

Laufey sagte nichts weiter.

In Wahrheit wusste Unnar nicht mehr, ob Laufey viel getrunken hatte. Er hatte sie kaum wahrgenommen, wusste nur noch, dass sie sich mit den anderen Frauen unterhalten hatte, als er mit seinen Freunden die Erinnerungen an ihre gemeinsame Grundschulzeit hatte aufleben lassen. Und er erinnerte sich an ihren bösen Blick, als er nach dem Essen nicht sofort die Teller weggeräumt hatte.

Er versuchte, aus ihrem Gesichtsausdruck herauszulesen, ob noch mehr passiert war, aber sie ließ sich nicht durchschauen und fragte nur, ob er Kaffee wolle.

»Nein«, sagte Unnar. »Nein, danke.«

Er blickte ihr hinterher, als sie in die Küche ging und Kaffeebohnen in den Vollautomaten füllte, den sie letztes Jahr zu Weihnachten gekauft hatten.

Seine Frau war einmal schön gewesen, aber jetzt achtete sie kaum noch auf ihr Aussehen. Vor ein paar Jahren hatte sie sich die Haare kurz geschnitten und angefangen, Brille zu tragen. Wie sehr er diese Brille hasste. Sie ließ sie mindestens zehn Jahre älter wirken.

Als sie sich kennengelernt hatten, war sie fünfzehn Jahre alt gewesen und hatte davon geträumt, Friseurin zu werden. Anfangs waren sie richtig scharf aufeinander gewesen; hatten Sex im Hinterhof einer Diskothek, im Bett seiner Eltern und auf einem spanischen Hotelbalkon. Mittlerweile war sie zweiundvierzig und saß im Gemeinderat, gab Yogakurse und studierte irgendetwas an der Uni. Wenn sie in der Öffentlichkeit den Mund aufmachte, schämte er sich für ihre schrille Stimme. Sie schliefen nur noch selten miteinander, und wenn, war es immer schnell wieder vorbei.

Die meisten Frauen seiner Arbeitskollegen sahen deutlich besser aus und schienen sich mehr Gedanken um ihr Äußeres zu machen. Keine von ihnen konnte es aber mit Helena aufnehmen. Helena war die neue Freundin von Tommi, der mit ihm in der Exportabteilung arbeitete. Tommi hatte sich vergangenes Jahr von seiner Frau scheiden lassen, ihre Kinder waren bereits Teenager, und er sah sie nur sehr selten. Helena hatte dunkle Haare, eine schmale Taille und große Brüste. Vor Kurzem hatte sie einen Abschluss in Tourismuswissenschaften gemacht, und sie ging liebend gern wandern. Sie zerrte Tommi mit auf Bergtouren, und Unnar erkannte ihn kaum wieder. Als er Tommi darauf ansprach, meinte er, das liege nicht an den Bergtouren, sondern an dem vielen Sex. Er zeigte ihm ein Bild von Helena, wie sie nackt auf dem Bett schlief, und lachte laut.

Unnar war bewusst, dass seine Gedanken oberflächlich waren. Nach einer langen Ehe sollten diese Dinge keine Rolle spielen, aber sie taten es doch. Und es war nicht nur Laufeys Aussehen, das ihn störte, sondern auch, wie sehr sie sich verändert hatte. Sie war nicht mehr so interessant wie früher, so abenteuerlustig und unbekümmert.

Manchmal wirkte es, als hätten sie nichts mehr gemeinsam, abgesehen von den Kindern, und die würden irgendwann ausziehen. Dann würden sie wieder allein sein, und er wusste nicht einmal, worüber sie dann reden sollten.

»Was?«, fragte Laufey, als sie seinen Blick bemerkte. Sie tauchte einen halben Keks in die Tasse und steckte ihn in den Mund.

»Nichts«, sagte Unnar.

»Bist du so verkatert?«

»Sicher, dass du diesen Keks essen willst?«, fragte er im Gegenzug. »Ich dachte, du wärst auf Diät.«

Laufey sah ihn genervt an und wandte sich ab.

***

Ein langes und eindringliches Geräusch riss sie aus dem traumlosen Schlaf. Elma vergrub das Gesicht im Kissen, sie war noch nicht bereit aufzustehen. Das Geräusch erklang erneut, und Elma stellte fest, dass es die Türklingel war. Sie kroch aus dem Bett, warf sich einen Bademantel über und ging zur Tür. Auf dem Weg dahin sah sie in den Spiegel und verzog das Gesicht. Die Haare waren platt gedrückt, sie hatte Schlupflider und Augenringe, die bis zu den Wangen hinunterreichten.

Dagnýs Blick nach zu urteilen, bemerkte sie ihren Zustand auch.

»Was ist passiert?«, fragte sie besorgt, als Elma sie und ihre Söhne, Alexander und Jökull, hineingelassen hatte. »Bist du krank? Oder … warst du gestern etwa aus?«

»Bist du jetzt erst aufgewacht?«, fragte Alexander, bevor Elma antworten konnte. »Es ist doch schon längst ein neuer Tag, Mann.« Er riss vor Verwunderung den Mund auf und betonte das Wort längst.

»Ja, ich weiß, ich habe schlecht geschlafen«, sagte sie zu Alexander und wuschelte in seinen blonden Haaren. Nach einem sonnigen Sommer waren sie fast weiß, und seine Haut war braun gebrannt. Elma sah ihre Schwester an. »Aber keine Sorge, ich war nicht feiern, ich konnte nur nicht einschlafen.«

»Na gut. Sag mal, hast du schon von dem Brand ge…« Dagný blickte plötzlich an Elma vorbei und seufzte. »Jökull, Finger weg von der Schublade.«

Obwohl er erst drei Jahre alt war, wusste Jökull genau, wo seine Tante die Kekse aufbewahrte. Außerdem lag die Schublade in genau der richtigen Höhe, um sie aufzumachen und sich zu bedienen, weshalb er es bei jedem Besuch versuchte.

»Ach, Elma, kannst du die Kekse nicht mal woanders hintun?«, sagte Dagný genervt, während Jökull Kekskrümel auf dem Küchenboden verteilte.

»Ich will keinen Keks«, sagte Alexander. »Mein Trainer sagt, wenn man gut im Fußball sein will, muss man gesund essen.«

Elma zog die Augenbrauen hoch. »Muss man sich darüber mit sieben Jahren Gedanken machen?«

»Klar, Mann«, antwortete Alexander. In letzter Zeit hatte er jede Menge Phrasen und Ausdrücke gelernt. Das Neueste war, alle Sätze mit Mann zu beenden. »Du solltest dich schnell anziehen, Elma. Die Vorstellung fängt bald an, Mann.«

Elma blickte auf die Uhr und sah, dass sie sich tatsächlich beeilen mussten, wenn sie nicht zu spät kommen wollten. Sie hatte ihren Neffen versprochen, mit ihnen ins Theater zu gehen.

»Gib mir fünf Minuten.«

»Du wirst mehr als fünf Minuten brauchen«, sagte Dagný und zog die Augenbrauen hoch.

»Ach, Jökull, nimm dir doch noch einen Keks.« Elma strich Jökull über den Kopf und ging sich anziehen. »Was meintest du eben von einem Brand?«, rief sie ihrer Schwester zu, aber in dem Moment klingelte ihr Handy.

Es war Hörður. Heute würde sie wohl nicht mehr ins Theater gehen.

***

Das Haus war ultramodern, mit einer großen Veranda und einer Doppelgarage. Nur der vordere Teil war abgebrannt, eine Fensterscheibe war zerbrochen, und um das Loch zog sich eine schwarze Rußspur.

Dieses Viertel von Akranes war ruhig, hier lebten vorwiegend Familien mit Kindern in frei stehenden Häusern. Eine Freundin von Elma wohnte mit ihren drei Kindern nicht weit entfernt, im Sommer hatten sie auf ihrer Veranda zusammen Kaffee getrunken. Bei gutem Wetter waren die Gärten voller Leben, Kinder hüpften auf Trampolinen und planschten in Whirlpools.

Auf dem Weg zum Brandort hatte Hörður Elma auf den neuesten Stand gebracht. In der Nacht war ein Feuer in dem Zimmer des Sohnes ausgebrochen, der gerade darin geschlafen hatte. Ein Nachbar rief die Feuerwehr, und obwohl sie schnell kam, konnte der Junge nicht mehr gerettet werden.

»Er hieß Marinó Finnsson, zwanzig Jahre alt«, sagte Hörður, als sie aus dem Auto stiegen. »Seine Eltern waren in einem Hotel in Borgarfjörður und seine Zwillingsschwester bei ihrem Freund, also war außer ihm niemand zu Hause. Der Ursprung des Brandes scheint in seinem Zimmer gewesen zu sein.«

»Das dort?«, fragte Elma und zeigte auf das kaputte Fenster.

»Ja, das ist sein Zimmer«, sagte Hörður. »Die Spurensicherung untersucht gerade den Schauplatz. Ich habe sie heute Morgen angerufen, sie gehen von Brandstiftung aus. Als die Feuerwehr ankam, lag Marinó noch in seinem Bett.«

Vielleicht war es Einbildung, aber Elma kam die Umgebung ungewöhnlich ruhig vor. Sie blickte sich um, ein paar neugierige Augen beobachteten sie. Vor einem der Häuser wehte eine Flagge auf halbmast.

»Gab es keine Rauchmelder im Haus?«, fragte sie.

»Doch, doch. Der Alarm hat sogar die Nachbarn geweckt.«

»Aber Marinó wurde nicht wach?«, fragte Elma.

»Nein, anscheinend nicht. In seinem Zimmer war ein Rauchmelder, der vermutlich schnell angeschlagen hat. Unter normalen Umständen hätte er genug Zeit gehabt, sich in Sicherheit zu bringen, würde man zumindest denken. Ich habe heute Morgen mit dem Brandmeister gesprochen, er meinte, in solchen Fällen könne es um Sekunden gehen.«

»Und sie haben direkt erkannt, dass es Brandstiftung war?«

»Das war ihre erste Vermutung«, sagte Hörður und öffnete die Haustür. »Aber wie gesagt, der Brandherd war in Marinós Zimmer, was eher gegen eine Brandstiftung spricht. Die Haustür war verschlossen, also halte ich es für unwahrscheinlich, dass jemand eingedrungen ist. Es sei denn, die Person hat beim Rausgehen hinter sich abgeschlossen.« Hörður beugte sich näher zu ihr und senkte die Stimme. »Aber es kann natürlich auch sein, dass Marinó das Feuer selbst gelegt hat.«

»Ja, kann sein«, sagte Elma nach kurzer Überlegung. »Oder der Brandstifter hatte Zugang zum Haus.«

***

Finnur konnte die Wohnung seiner Mutter nicht ausstehen. Das Cordsofa im Wohnzimmer, das Gemälde des kleinen Mädchens beim Bach und die blau karierte Bettdecke im Schlafzimmer. Überall roch es nach Zigaretten, obwohl seine Mutter mit dem Rauchen aufgehört hatte, nachdem sein Vater an Lungenkrebs gestorben war.

Im Haus, in dem er aufgewachsen war, hatte immer eine erdrückende Stille geherrscht, nur der Fernseher war den lieben langen Tag an gewesen. Seine Eltern hatten davor geklebt, beide arbeitsunfähig und arm, doch für Zigaretten und Alkohol schien immer Geld übrig gewesen zu sein. Finnur lernte schnell die einzige Regel im Haus, ja nicht das Glas von Mama oder Papa anzurühren. Ansonsten durfte er so lange wegbleiben, wie er wollte, und musste nur darauf achten, seine Eltern nicht zu stören, denn die waren meist müde und hatten Kopfschmerzen. Seine Eltern taten ihm nie etwas an, nicht direkt, aber ihre Gleichgültigkeit war eigentlich noch schlimmer.

Schon als kleiner Junge hatte Finnur sich geschworen, dieses Elend so früh wie möglich hinter sich zu lassen und auf keinen Fall so zu werden wie seine Eltern – und das gelang ihm auch. Jetzt war er fünfundfünfzig Jahre alt, hatte, seit er neunzehn war, keinen Alkohol angerührt und konnte sich alles leisten, was er wollte.

Über Jahre hinweg hatte er seinen Kontostand anwachsen sehen und dabei das Gefühl gehabt, selbst immer größer zu werden. Er fühlte sich stolz und mächtig, wie ein Gewinnertyp.

Aber was hatte er überhaupt gewonnen, fragte er sich, als er auf das Foto in seinen Händen starrte. Was war das für ein Sieg?

Das Bild zeigte den fünfjährigen Marinó mit einem Kätzchen auf dem Arm, das die Geschwister zu Weihnachten bekommen hatten. Obwohl Marinó monatelang um eine Katze gebettelt hatte, bekam er plötzlich Angst, als ihm das Tier in den Arm gelegt wurde. Das sah man ihm auch an. Die Augen waren weit aufgerissen und der Körper angespannt, als erwarte er jeden Augenblick, dass die Katze die Krallen ausfahren und ihn kratzen könnte. Finnur strich über das Bild, wie gerne würde er doch seinen Sohn noch einmal berühren.

Seit Marinós Tod hatte er das Gefühl, in ein tiefes Loch zu fallen. Wie konnte das Leben ohne Marinó einfach weitergehen?

Er spürte ein plötzliches Stechen in der Brust. Für einen Moment fühlte sich die Trauer überwältigend an, doch dann kam Wut in ihm auf.

Das war kein Unfall. Jemand hatte seinem Sohn das angetan, und er hatte einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte. Er klappte den Laptop auf, suchte eine alte Mail heraus und las die wütenden Worte. Er hatte sie nie wirklich ernst genommen, denn was kümmerten ihn schon die Probleme anderer Leute. Für ihn war der Absender eine kranke Person, die ihre Drohungen nie wahr machen würde. Er hatte Mitleid mit ihr gehabt. Doch jetzt las er die Botschaft anders.

Er tippte den Namen des Absenders in die Suchmaschine ein und speicherte die Adresse. Dann klappte er den Laptop zu und sah sich noch einmal das Foto an. Und er verlor sich in Erinnerungen an eine Vergangenheit, die er so nie mehr zurückbekommen würde.

***

»Ich verstehe das nicht«, sagte Marinós Mutter Gerða und stellte mit zitternden Händen ihr Wasserglas ab. »Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Es muss ein Kurzschluss gewesen sein. Die Lampe in Marinós Zimmer hat immer geflackert, und ich habe ihm schon so oft gesagt …«

»Nein«, unterbrach sie Hörður. »Auf einen Kurzschluss deutet nichts hin.«

Gerða schloss die Augen und holte tief Luft. Elma sah, dass sie mit aller Kraft gegen die Tränen ankämpfte.

Die Wohnung, in der sie saßen, gehörte Agnes, Finnurs hochbetagter Mutter. Sie hatte Elma und Hörður mit langsamen Bewegungen und starrem Blick empfangen. Die Umstände waren natürlich nicht erfreulich, aber Elma hatte den Eindruck, dass Agnes auch sonst kaum lächelte. Sie sagte kein einziges Wort, brachte sie nur ins Wohnzimmer und verschwand danach selbst in einem der Zimmer und schloss hinter sich die Tür.

»Die Spurensicherung untersucht immer noch den Brandort«, sagte Hörður, »aber leider müssen wir von Brandstiftung ausgehen.«

»Wie kann das sein?«, fragte Gerða verblüfft. »Wer würde …?«

»Wir wissen leider noch nicht, wer der Täter war«, sagte Hörður. »Es gab Spuren von einer leicht entflammbaren Flüssigkeit, und auch der Hergang des Feuers lässt auf Brandstiftung schließen, denn es hat sich außergewöhnlich schnell ausgebreitet.«

Im Wohnzimmer herrschte Schweigen, und der laute Schlag der Wanduhr ließ sie alle aufschrecken. Alle, bis auf Finnur. Dieser kleine, zierliche Mann saß starr auf dem Sofa und schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Die buschigen Augenbrauen verliehen ihm einen ziemlich ernsten Gesichtsausdruck.

»Wo wart ihr in der Nacht von Samstag auf Sonntag?«, unterbrach Elma das Schweigen.

»Wir haben in einem Hotel in Borgarfjörður übernachtet«, antwortete Gerða.

»Wie heißt das Hotel?«

»Hotel Húsafell. Wir sind am Freitag gegen fünf dort angekommen und zwei Nächte geblieben. Wir waren auch in Krauma, diesem … diesem Geothermalbad, und haben dort im Restaurant gegessen.«

»Erinnerst du dich, wann ihr zuletzt von Marinó gehört habt?«, fragte Elma.

»Er hat mich am Samstagnachmittag angerufen. Hat seine Schwimmsachen gesucht, er wollte ins Fitnessstudio und danach in den Whirlpool.«

»War er irgendwie anders als sonst?«

»Nein«, sagte Gerða. »Nein, er war wie immer.«

»Und in den vergangenen Tagen oder Wochen?«

»Nein«, sagte Finnur plötzlich. »Da war nichts.«

»Wobei er etwas zerstreut war, Finnur«, sagte Gerða leise. »Eigentlich war er in der letzten Woche kaum zu Hause. Ging abends aus und kam erst spät wieder.«

»War das ungewöhnlich?«

»Das kam schon mal vor, aber nicht oft.«

»Hattet ihr das Gefühl, dass ihn etwas beschäftigt hat?«

»So weit habe ich ehrlich gesagt nicht gedacht«, sagte Gerða. »Aber jetzt, wo ihr das sagt …«

»Da war nichts.« Finnurs Stimme klang beinahe wütend. »Er hatte keine Sorgen, mit ihm war nichts. Er war wie immer. Genau gleich …« Die Stimme brach, und Finnur senkte den Blick.

»Fällt euch jemand ein, der etwas gegen Marinó gehabt haben könnte?«, fragte Elma. »Hatte er in letzter Zeit irgendwelche Konflikte mit jemandem?«

»Nein«, sagte Gerða schnell. Sie zog die Nase hoch und wirkte sehr aufgewühlt. »So war Marinó nicht, niemand wollte ihm etwas Böses. Er war ein Vorzeigestudent, hatte gute Freunde, ein ganz normaler Junge. Er … er war ehrgeizig, hat sich für Politik interessiert, Saxofon gespielt und wollte Informatiker werden. Besonders spannend fand er griechische Philosophie, er hat lauter Bücher von Platon und Aristoteles gelesen. Aber Probleme hatte er nicht, nein.«

»Marinó hat vor Kurzem erst ein Informatikstudium an der Universität Islands begonnen«, sagte Finnur, der seine Stimme wieder unter Kontrolle hatte. »Er hat nie Dummheiten gemacht, falls es das ist, was ihr wissen wollt. Hat keinen schlechten Umgang gehabt und auch keine Drogen genommen oder dergleichen.«

»Wer waren seine Freunde?«

»Sein Freundeskreis hat sich seit der Grundschule nicht verändert«, sagte Gerða und wischte sich mit schneller Bewegung eine Träne von der Wange. »Ísak, Andri und Fríða, Marinós Schwester. Ja, und deren Freundin Sonja.«

Elma fragte nach den vollständigen Namen der Freunde und notierte sie.

»Wer hatte Zugang zu eurem Haus?«, fragte sie anschließend.

»Nur wir.« Gerða sah ihren Ehemann an.

»Ja, nur die Familie«, sagte Finnur. »Warum fragt ihr?«

»Als die Feuerwehr eintraf, war die Tür abgeschlossen«, sagte Elma, »und der Ursprung des Feuers war im Haus.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Gerða. »Was heißt das?«

»Wir überlegen, ob Marinó die Tür vielleicht nicht zugesperrt hat, als er nach Hause kam, und der Brandstifter sie dafür hinter sich abgeschlossen hat«, sagte Elma. Sie wusste, wie unsinnig das klang, aber eine andere Erklärung hatte sie nicht. Wenn ein Außenstehender den Brand gelegt hatte, musste er irgendwie ins Haus gekommen sein. Sie bezweifelte, dass Marinó bewusst jemanden hineingelassen hatte, denn beim Eintreffen der Feuerwehr hatte er im Bett gelegen.

»Nein, das ergibt keinen Sinn«, sagte Finnur.

»Dass er die Tür nicht abgeschlossen hat?«

»Nein, das meine ich gar nicht. Aber die Tür fällt nicht von selbst ins Schloss, man muss sie mit einem Schlüssel zusperren. Ohne geht es nicht.«

»Verstehe.« Elma lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Der Brandstifter hat also von außen mit einem Schlüssel abgeschlossen.«

»Aber …« Gerða beugte sich vor. »Aber außer uns hat niemand einen Schlüssel.«

»Seid ihr ganz sicher?«, fragte Elma.

»Ja, nur wir und Fríða, Marinós Schwester«, sagte Gerða. »Ja, und Agnes, Finnurs Mutter.«

Hörður räusperte sich, und Elma spürte, wie unangenehm ihm die nächsten Fragen waren. »Hat Marinó irgendwelche Medikamente genommen?«

»Medikamente?«, fragte Finnur empört. »Nein, das hat er nicht.«

»Waren irgendwelche Medikamente im Haus?«

»Was … warum fragst du?«, fragte Gerða verwirrt.

»Ich frage mich nur, ob Marinó vielleicht unabsichtlich irgendetwas eingenommen hat«, sagte Hörður. »Vielleicht hat er bestimmte Pillen für Schmerztabletten gehalten oder dergleichen.«

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst«, sagte Finnur entrüstet, »aber Marinó hat keine Medikamente genommen. Er hat keine Dummheiten gemacht.«

»Haltet ihr es für möglich, dass Marinó das Feuer selbst gelegt hat?«, fragte Hörður vorsichtig.

»Jetzt reicht es aber. Ich höre mir das nicht länger an.« Finnur sprang auf und presste die Lippen zusammen.

Hörður fügte schnell hinzu: »Ich frage, weil euer Sohn offenbar nicht vom Rauchmelder aufgewacht ist, den sogar die Nachbarn gehört haben. Als die Feuerwehr eintraf, lag Marinó immer noch im Bett, und er scheint nicht versucht zu haben, vor dem Feuer zu fliehen.«

***

Das Gespräch mit Marinós Eltern war nicht leicht gewesen. Elma kam sich in diesen Situationen immer so aufdringlich vor, aber das war nun einmal notwendig. Die unangenehmen Fragen waren oft am wichtigsten, aber die Menschen reagierten unterschiedlich darauf. Marinós Vater Finnur war ziemlich wütend geworden. Er hatte sich nach dem Gespräch nicht einmal verabschiedet, sondern war in einem der Zimmer verschwunden, und Gerða hatte sie allein zur Tür gebracht.

Natürlich hielten Marinós Eltern es für unwahrscheinlich, dass jemand mitten in der Nacht das Haus betreten, ein Feuer im Zimmer ihres Sohnes gelegt hatte und danach wieder verschwunden war und dann auch noch hinter sich abgeschlossen hatte – alles, ohne Marinó zu wecken. Elma wollte die Möglichkeit trotzdem nicht ausschließen, schließlich standen sie erst ganz am Anfang der Ermittlungen.

Von Gerða hatten sie erfahren, dass der einzige Ersatzschlüssel unter einem Stein vor dem Haus aufbewahrt wurde. Also konnte es sein, dass jemand den Schlüssel gefunden hatte und hineingegangen war. Vielleicht wusste ein Nachbar von dem Versteck. Außerdem fragte sich Elma, ob Marinó vielleicht selbst jemanden hineingelassen hatte, wobei dann seltsam war, dass er im Bett gelegen hatte. Vielleicht hatte er aber auch eine Freundin, von der seine Eltern nichts wussten.

»Wie sieht der Stein denn aus?«, fragte Sævar.

»Gerða hat von einem relativ großen Stein unter dem Fenster gesprochen«, sagte Elma.

Nach dem Besuch bei Marinós Eltern hatte Sævar sie an der Polizeistation abgeholt. Hörður war dort geblieben, er wollte vor Feierabend noch einmal die Pressemitteilung überlesen. Elma verstand nicht, warum Hörður schon wieder arbeitete, Gígjas Tod war erst eine Woche her. Am Wochenende hatte er noch davon gesprochen, ein paar Monate freizunehmen, aber am Tag nach der Beerdigung war er bereits wiedergekommen. Elma hätte ihm gerne nahegelegt, es ruhig angehen zu lassen, aber sie wusste nicht, wie sie es formulieren sollte.

»Die sind alle eher groß«, sagte Sævar.

Er hatte recht. Entlang der Hauswand lagen große Steine wie zur Dekoration aufgereiht.

»Es war jedenfalls ein gutes Versteck«, sagte Elma. »Die meisten Leute legen die Ersatzschlüssel einfach in einen Blumentopf oder die Lampenhalterung neben der Tür.«

Bei ihr zu Hause hatte der Ersatzschlüssel für Notfälle in einem Blumentopf gelegen. Meist war die Tür aber ohnehin nicht abgeschlossen gewesen, egal ob jemand zu Hause war oder nicht.

Elma zog sich Handschuhe an und hob einen der größten Steine unter dem Fenster auf. Es lag kein Schlüssel darunter, also suchte sie noch eine Weile weiter.

»Hier ist kein Schlüssel«, sagte sie schließlich, stand auf und blickte sich um.

In der Straße war ungewöhnlich viel Verkehr, Schaulustige, die vor dem Haus langsamer fuhren und sich vermutlich die Schäden nach dem Brand ansehen wollten. Die Geschehnisse der vorherigen Nacht hatten sich schnell herumgesprochen, alle großen Medien des Landes berichteten darüber.

Als Elma vorhin durch den Ort gefahren war, hatte sie einige Flaggen auf halbmast gesehen. Das Leben in einem kleinen Ort war nicht immer leicht, aber diese Verbundenheit war etwas ganz Besonderes. Wenn etwas Schlimmes passierte, hielten die Menschen zusammen.

Elma versuchte, nicht zu viel an Marinós Familie und Freunde zu denken. Sævar und sie mussten sich darauf konzentrieren, den Fall zu lösen, und der erste Schritt war, mit den Nachbarn zu sprechen. Hoffentlich hatte jemand von ihnen etwas gesehen, das diesen schrecklichen Vorfall erklären könnte.

 

Nachdem sie geklingelt hatten, verging eine Weile, bis die Tür aufging. Der Mann, der sie begrüßte, war etwa in ihrem Alter, Mitte dreißig, mit dünnen Haaren und einer Brille. Sie folgten ihm in die Küche, wo eine Frau saß, die ihre Haare in einem losen Dutt trug.

»Ihr habt in der Nacht die Feuerwehr gerufen, nicht wahr?«, fragte Elma.

»Ja«, antwortete die Frau und blickte ihren Mann an. »Jens hat angerufen.«

»Ja«, sagte Jens. »Ich konnte nicht einschlafen, und als ich in die Küche ging, habe ich den Rauchmelder gehört. Vom Fenster aus sah ich dann auch den Rauch bei Gerða und Finnur. Ich bin hinausgerannt, und Ævar von nebenan hat gegen die Tür gehämmert, also habe ich sofort die Feuerwehr gerufen. Wenn ich gewusst hätte, dass der Junge da drinnen war, hätte ich mehr versucht, um …«

»Aber wir haben die Feuerwehr sofort gehört«, sagte die Frau wie zur Aufmunterung. »Jens hatte kaum aufgelegt, da haben wir sie schon gehört.«

»Habt ihr in der Umgebung des Hauses irgendjemanden gesehen?«

»In der Umgebung des Hauses? Nein, ich … Jens?«

Jens runzelte die Stirn. »Nein, ich habe niemanden gesehen. Aber wenn jemand durch die Eingangstür hinausgegangen ist, hätten wir es gar nicht sehen können.«

Elma warf einen Blick aus dem Fenster, in die Richtung, in die Jens zeigte, und er hatte recht. Man konnte die Haustür von Gerða und Finnur nicht sehen, denn die Garage versperrte die Sicht auf den Eingang.

Jens verstand sofort, worauf sie hinauswollten. »Ihr denkt, jemand hat den Brand gelegt, das habe ich in den Nachrichten gesehen.«

»Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen«, antwortete Sævar, obwohl Jens eigentlich gar keine Frage gestellt hatte. »Die Brandursache ist noch unklar.«

Das Ehepaar schien nicht überzeugt, dass Sævar ihnen die ganze Wahrheit sagte, und wartete ab, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass ihr Schweigen ihm weitere Informationen entlocken würde. Aber dann rief jemand im Haus »Mama, ich bin fertig«, und die Frau entschuldigte sich.

»Kennt ihr Gerða und Finnur gut?«, fragte Elma.

»Gut kann man vielleicht nicht sagen, aber wir sind Nachbarn, da haben wir ab und zu miteinander zu tun.« Jens’ Mundwinkel zuckten ein wenig, von Lächeln konnte man aber nicht sprechen. »Ich habe mitbekommen, dass sie übers Wochenende weggefahren sind. Finnur hat am Freitagnachmittag eine Tasche in den Kofferraum gepackt. In den letzten Tagen war da drüben ganz schön viel los.«

»Ach?«

»Ja, zumindest am Freitag.«

»Inwiefern?«

»Nur so. Die Geschwister haben offenbar die sturmfreie Bude genutzt, um eine kleine Party zu feiern. Wir beschweren uns ja nicht, aber es war bis spät in die Nacht ganz schön laut. Die Polizei haben wir aber nicht gerufen.«

»Hat jemand anderes die Polizei gerufen?«

»Ja, irgendwann ist die Polizei gekommen und hat die Sache beendet. Selbst habe ich nichts gesehen, aber Rósa und Ævar von gegenüber haben uns davon erzählt. Sie hatten auch die Polizei gerufen.«

***

»Es ist so unfassbar traurig, ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Der arme Finnur, die arme Gerða.« Rósa blickte aus dem Küchenfenster und seufzte tief. »Ich kann nicht glauben, dass Marinó tot ist. Er war so ein wundervoller Junge.«

Rósa und Ævar lebten im Haus hinter dem von Marinós Familie. Ihre Grundstücke grenzten aneinander, getrennt von einer dichten Hecke. Ævar hatte das Feuer vor allen anderen gesehen. Elma fand heraus, dass er zu dem Haus gelaufen war und versucht hatte, hineinzukommen.

»Ich habe erfahren, dass du der Erste warst, der das Feuer bemerkt hat«, sagte Elma und richtete sich an Ævar.

»Ja.« Ævar blickte ernst über den Tisch. »Aber gebracht hat es nichts.«

»Kannst du uns schildern, was passiert ist?«

Ævar räusperte sich und berichtete mit wenigen Worten, dass er in der Nacht aufgewacht sei und den Schimmer des Feuers gesehen habe. Er habe sich erst gefragt, was los sei, aber dann habe er den lauten Rauchmelder gehört und sei sofort hinausgelaufen.

»Ich habe versucht, hineinzukommen, aber …« Ævar wandte den Blick ab, und Rósa legte ihre Hand auf seinen Arm. Ihre Finger waren aufgedunsen, und der Ehering wirkte viel zu eng.

»Du hättest nichts tun können«, sagte Elma. »Das Feuer hat sich so schnell ausgebreitet, dass du dich wahrscheinlich nur selbst in Gefahr gebracht hättest, wenn du hineingegangen wärst.«

»In den Nachrichten haben sie gesagt, dass es sich vielleicht um Brandstiftung handelt«, sagte Rósa nach kurzem Schweigen.

»Einiges deutet darauf hin«, sagte Elma. »Deshalb wollten wir fragen, ob euch um das Haus herum irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen ist.«

»Nein, nichts«, sagte Ævar. »Aber ich habe auch nicht darauf geachtet.«

»Ævar ist im Schlafanzug hinausgelaufen«, sagte Rósa. »Er hat versucht, in das Haus zu kommen, er hatte also andere Dinge im Kopf.«

»Hast du etwas bemerkt?«, fragte Elma sie.

»Nein, aber …« Rósa überlegte. »Aber ich habe in der Nacht ein Auto gehört und Leute, die vor dem Haus miteinander geredet haben.«

Ævar schnaubte. »Das bildest du dir doch nur ein. Neulich dachtest du, du hättest mitten in der Nacht ein Kleinkind schreien gehört.«

»Das habe ich wirklich gehört. Ganz sicher.«

Ævar schüttelte den Kopf: »Hier in der Nachbarschaft hat niemand kleine Kinder. Niemand«, sagte er, diesmal an Elma und Sævar gerichtet.

»Was redest du da?«, sagte Rósa. »Natürlich gibt es hier in der Straße kleine Kinder.«

»Der eine Junge wohnt drei Häuser weiter«, sagte Ævar. »Glaubst du wirklich, das würdest du hören? Du hörst nicht einmal, wenn ich dich hier im Haus rufe.«

»Manchmal stellt man sich taub.« Rósa lächelte Sævar und Elma zu. »Aber ich bin ganz sicher, dass ich ein Auto gehört habe.«

»Hast du das Auto oder die Menschen auch gesehen?«

»Nein, das war gegen ein Uhr nachts. Ich bin nur aufgewacht, weil Ævar sich im Bett gewälzt hat.«

»Wir haben erfahren, dass hier am Freitag ganz schön viel Trubel war«, sagte Elma.

»Oh, ja«, sagte Rósa. »Ich habe aber nicht die Polizei gerufen. Ich habe kein Problem damit, wenn die jungen Leute ihren Spaß haben. Man ist nur einmal jung.«

»Die Musik war viel zu laut. Bei dem ohrenbetäubenden Lärm konnte ja niemand schlafen«, sagte Ævar. »Da wohnen kleine Kinder nur wenige Häuser …«

»Ha!«, sagte Rósa. »Jetzt wohnen in der Gegend auf einmal doch Kleinkinder?«

»Kleine Kinder, nicht Kleinkinder«, korrigierte Ævar.

»Wir wissen von dem Lärm«, sagte Elma. Sie hatte bereits mit den Kollegen gesprochen, die den Anruf bekommen und die Party aufgelöst hatten. Sie meinten, die Leute seien betrunken gewesen und die Musik sehr laut, aber es habe keine Hinweise auf Auseinandersetzungen gegeben.

»Na ja … Ich habe gehört, dass etwas zerbrochen ist und Leute gestritten haben«, sagte Ævar.

»Das ist aber auch nichts Neues«, sagte Rósa. »Ich höre sie ständig streiten.«

»Wen hast du streiten gehört?«, fragte Elma, denn Rósa schien nicht die Party zu meinen.

»Na, die Geschwister«, sagte Rósa. »Fríða und Marinó.«

***

Das Sonntagslamm war bereits fertig, als Elma zu ihren Eltern nach Hause kam. Ihr Vater deckte den Tisch, und ihre Mutter stand am Herd.

»Wie geht es Sævar?«, fragte Aðalheiður sofort. Dann nahm sie eine Packung Milch und schüttete sie mit geschickten Bewegungen auf die Mehlschwitze im Topf, während sie mit der anderen Hand umrührte.

»Gut, glaube ich. Am besten fragst du ihn das selbst«, sagte Elma und klaute ein Stück Gurke aus der Salatschüssel.

»Ja, das würde ich auch machen, wenn er hier wäre.«

Seit Elma und Sævar vergangene Weihnachten zusammen nach Teneriffa gefahren waren, fragte ihre Mutter regelmäßig nach ihm. Für sie bedeutete der gemeinsame Urlaub, dass sie mehr waren als nur Freunde.

Die Reise war eine spontane Idee gewesen. Elma und Sævar standen an einem ähnlichen Punkt im Leben, waren unverheiratet und hatten keine Kinder, und irgendwie waren sie beide nicht wirklich in Weihnachtsstimmung gewesen, hatten sich eher nach Sonne und Wärme gesehnt.

Sævar hatte vor vielen Jahren seine Eltern verloren, und sein Bruder Maggi, der lange in einer betreuten Wohngemeinschaft in Akranes gelebt hatte, war gerade in eine eigene Wohnung gezogen. Maggi wollte die Feiertage mit seiner neuen Freundin und ihrer Familie verbringen, was bedeutete, dass Sævar ein einsames Weihnachtsfest bevorstand. Zwar hatte ihn seine Tante aus Akureyri eingeladen, aber das klang nicht unbedingt verlockend. Deshalb hatte er sofort zugesagt, als Elma halb im Scherz die Reise in den Süden vorgeschlagen hatte.

Nach dem Essen räumten Elma und ihr Vater das Geschirr weg, und ihre Mutter setzte sich mit ihrem Strickzeug vor den Fernseher.

»Mama«, fragte Elma, als sie sich nach dem Aufräumen zu ihr setzte. »Was weißt du über Finnur und Gerða?«

Seit Elma denken konnte, arbeitete ihre Mutter für die Gemeinde, und in der Regel wusste sie alles über alle. Sie plauderte munter drauflos, während sie ununterbrochen weiterstrickte.

»Du meinst die Eltern von Marinó, dem Jungen, der bei dem Feuer letzte Nacht umgekommen ist? Mein lieber Gott, wie furchtbar. Marinó war so ein fleißiger Junge. Ein talentierter Saxofonist, soweit ich weiß.« Ihre Mutter warf einen kurzen Blick auf die Strickanleitung und fuhr dann fort. »Lass mich überlegen. Marinó hatte eine Zwillingsschwester, ihr Name ist Fríða. In letzter Zeit war es nicht so einfach mit ihr, seit sie mit ihrem neuen Freund zusammen ist, der ist einige Jahre älter. Ich habe gehört, dass sie neulich einen Autounfall hatten …« Die Stricknadeln klapperten rhythmisch weiter, während Aðalheiður redete, und nach dem Gespräch hatte Elma ein gutes Bild von der Familie und deutlich detailliertere Informationen, als sie je im Internet gefunden hätte. Manchmal war die Neugier ihrer Mutter ausgesprochen nützlich.

Als Elma später am Abend in ihre Wohnung kam, ließ sie sich ein Bad ein und dachte über die Worte ihrer Mutter nach. Sie streckte die Zehen aus dem Wasser und legte den Kopf zurück.

Finnur war aus Akranes, und Gerða stammte aus Dalir in Nordwestisland, den Großteil ihres Lebens hatten sie aber in Reykjavík verbracht. Aðalheiður hatte Finnurs Familiengeschichte bis ins kleinste Detail geschildert, wusste die Namen seiner Eltern und sogar der Großeltern. Elma kannte sie alle nicht, und deshalb gingen die meisten Geschichten bei ihr zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Hellhörig wurde sie aber, als ihre Mutter erzählte, dass Finnur und Gerða nach der Finanzkrise 2008 viel Geld mit zwangsversteigerten Immobilien verdient hatten. Finnur hatte sie günstig ersteigert und später mit großem Gewinn weiterverkauft. Damit hatten sie sich im Ort nicht gerade beliebt gemacht, manche bezeichneten die Käufe als unmoralisch, andere wiederum bedauerten, dass sie nicht selbst auf die Idee gekommen waren. Wobei nicht jeder in der Position gewesen wäre, diese Wohnungen zu kaufen, dafür musste man gut vernetzt sein, und das war Finnur zweifellos.

Zum Zeitpunkt des Banken-Crashs hatte er bei einem Investmentfonds in Reykjavík gearbeitet. Während der darauffolgenden Finanzkrise, als viele nicht wussten, wie sie ihre Kredite bezahlen sollten, kaufte er ein Grundstück in Akranes und ließ dieses große Einfamilienhaus errichten. Das Haus erregte so viel Aufsehen, dass Autos oft im Schritttempo daran vorbeifuhren. Manche machten keinen Hehl aus ihrer Neugier und blieben sogar davor stehen, stiegen aus und betrachteten das auffällige Gebäude.

Während das Haus im Bau war, war die Familie, die dort einziehen wollte, Gesprächsthema Nummer eins im Ort gewesen. Alle hatten erwartet, dass sie ziemlich versnobt sein würden, wie ihre Mutter es formulierte. Doch es kam anders, denn Finnur und Gerða stellten ihren Reichtum nicht zur Schau. Sie waren bereits etwas älter, hatten erst spät Kinder bekommen und zogen in Akranes, abgesehen von dem prachtvollen Haus, keine Aufmerksamkeit auf sich. Sie waren beide eher klein und zierlich, fuhren selten mit dem Auto, das in der Doppelgarage stand, und radelten stattdessen oder gingen zu Fuß. Ihre freundliche Art ließ die Klatschmäuler schnell verstummen, und die Leute verloren das Interesse an ihnen.

Die Zwillinge waren ausgesprochen normale Kinder und fielen in der Schule kaum auf. Fríða und Marinó gingen in dieselbe Schule, aber in unterschiedliche Klassen.

Elma hatte Fríða noch nicht getroffen, aber sie wusste, dass sie früher oder später mit ihr sprechen müsste. In der Nacht von Marinós Tod hatte Fríða bei ihrem Freund übernachtet, aber vermutlich kannte niemand Marinó besser als sie.

Elma wusch sich das Gesicht mit dem heißen Badewasser und wischte die Tusche von den Wimpern.

Die Trauer von Marinós Eltern ging ihr sehr nahe. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie schlimm es sein musste, ein Kind zu verlieren. Allein die Vorstellung, dass ihren Neffen Alexander und Jökull etwas zustoßen könnte, machte ihr Angst. Solche Gedanken schaukelten sich schnell hoch, aber sie konnte nichts dagegen tun. Es fiel ihr nun einmal schwer, kein Mitleid zu haben und sich nicht in andere hineinzuversetzen.

Elma hatte schon einige Male Eltern getroffen, die vor vielen Jahren ein Kind verloren hatten, ob durch Unfälle oder aus anderen Gründen, und es kam ihr immer vor, als fehle ihnen etwas. Als hinterlasse der Verlust bleibende Spuren in ihren Gesichtern.

Elma ließ sich ins Wasser gleiten und tauchte unter. Dann richtete sie sich auf und wrang die nassen Haare aus, bevor sie aus der Wanne stieg.

Heute vor einem Monat hatte sie zum ersten Mal bemerkt, dass etwas los war, und vor drei Wochen und fünf Tagen hatte sie auch die Bestätigung bekommen. In etwa sieben Monaten würde sich alles verändern.

***

Gegen Abend hielt Unnar es nicht mehr aus und rief Villi an.

»Was zur Hölle war am Samstag los?«, fragte er. »Ich erinnere mich an gar nichts, verdammt noch mal.«

Villi lachte so laut, dass er sich an seinem Energydrink verschluckte.

»Warst du so betrunken?«, fragte Villi, als er wieder Luft bekam.

Unnar hätte am liebsten geschrien. Für gewöhnlich verlor er nicht so leicht die Fassung, er legte viel Wert darauf, sich in jeder Situation unter Kontrolle zu haben.

»Ich meine es ernst. Was ist passiert?«

»Wir haben meinen Whiskey getrunken.«

»Und?«

»Und?« Villi hustete ins Telefon. Unnar stellte sich vor, wie seine Wampe dabei auf und ab hüpfte. Die Keto-Diät, auf der er seit einem Jahr war, hatte noch keine Wirkung gezeigt. Wenn überhaupt, hatte er von all dem Speck und Käse zugenommen. »Du hast U2 und Prince aufgelegt, und dann wusste ich, dass es Zeit für mich war, zu gehen.«

Unnar lehnte sich über den Schreibtisch und massierte seine Schläfen.

»War Laufey … Wie war Laufey drauf?«

»Was meinst du?«

»War sie auch betrunken?«

»Ja …« Für einen Moment wurde es still. »Wahrscheinlich ging es ihr noch am besten von uns allen. Brynhildur und ich waren am nächsten Tag völlig neben der Spur. Brynhildur hatte ihre Eltern zum Essen eingeladen, aber das mussten wir absagen, sie hat einfach gesagt, ich hätte Magen-Darm. Aber ich weiß natürlich nicht, was noch passiert ist, nachdem wir weg waren.«

»Seid ihr so früh gegangen?«

»Na ja … so gegen Mitternacht. Wir haben euch mit Óskar und Harpa allein gelassen. Ich weiß nur noch, dass du und Harpa euch sehr angeregt unterhalten habt, und Óskar hat die Kontrolle über die Playlist übernommen. Sein Musikgeschmack ist deutlich besser als deiner, muss ich sagen.«

Unnar legte auf und versuchte, sich an Unterhaltungen zu erinnern, an die Musik, an irgendetwas. Aber alles, woran er sich noch entsinnen konnte, waren der Geruch von nassem Gras und das feuchte Hemd, das an seinem Rücken klebte.

Montag

»Gute Neuigkeiten.«

Elma schreckte auf, als Begga in die Kaffeeküche platzte. Ihre Kollegin war alles andere als eine graue Maus. Im Gegensatz zu Elma, die als Kriminalpolizistin zu gewöhnlichen Bürozeiten arbeitete, hatte Begga als Streifenpolizistin Schichtdienste. Seit Elma bei der Polizei in Akranes angefangen hatte, waren sie gute Freundinnen geworden, und sie freute sich immer, wenn Begga unter der Woche tagsüber Dienst hatte und sie sich trafen.

Im Sommer hatten sie viele Abende im Whirlpool auf Beggas Terrasse verbracht. Sie lebte allein mit ihrer großen gelben Katze und lud immer gerne zu sich ein, im Frühling war sogar einmal die gesamte Station bei ihr gewesen. Es war ein skurriler Abend, an dem manche ihre schreckliche Singstimme offenbarten und sich trotz vergessener Badesachen nicht davon abhalten ließen, in Unterwäsche in den Whirlpool zu steigen.

»Erzähl!«, sagte Elma, die etwas Aufmunterung gut gebrauchen konnte. In letzter Zeit hatte sie nicht viele gute Nachrichten zu hören bekommen.

»Ich habe alle Häuser abgeklappert und mit den Nachbarn gesprochen«, sagte Begga und setzte sich zu ihr. »Niemand hat etwas Außergewöhnliches bemerkt, die meisten haben um die Uhrzeit geschlafen, und die anderen haben nichts gehört, weil sie gerade ihrem Kind einen Schnuller in den Mund gesteckt haben oder so etwas in der Art. Aber auf der anderen Straßenseite, etwa drei Häuser entfernt, wohnt ein Technik-Nerd. In seinem Haus ist alles voller Bildschirme, er hat eine Art Fotostudio im Wohnzimmer, und auf dem Dach steht eine riesige Satellitenschüssel, die sicher Billionen Sender empfangen kann – also wirklich, dass es heutzutage echt noch Leute gibt, die sich so etwas aufstellen? Diese Dinger sind doch völlig veraltet …«

»Ja, und?« Elma wartete ungeduldig darauf, dass Begga zum Punkt kam.

»So weit, so gut, aber er hat auch überall Überwachungskameras. Fast in jeder Ecke, ich hoffe nur, dass er zumindest im Bad keine hat.« Begga grinste. »Er hat also auch draußen welche. Auf jeder Seite des Hauses eine, sodass man alles rundherum sehen kann, und, zu unserem Glück, auch auf die Straße hinaus. Er hat mir die Aufnahme von der Nacht geschickt.«