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Ein vermeintlicher Suizid wird zum mysteriösen Mordfall für Kommissarin Elma und ihr Team – der zweite Teil der preisgekrönten isländischen Krimiserie von Eva Björg Ægisdóttir Als eine alkoholabhängige, alleinerziehende Mutter verschwindet und einen Abschiedsbrief hinterlässt, gehen alle von einem Selbstmord aus. Bis ihre Leiche sieben Monate später in einem Lavafeld entdeckt wird. Auch im zweiten Band der preisgekrönten isländischen Krimiserie ermitteln Kommissarin Elma und ihr Team in einem hochspannenden und komplexen Fall. Im Spätherbst wird in einem Lavafeld in Westisland eine Leiche entdeckt. Es handelt sich um Maríanna, eine alleinerziehende Mutter, die vor sieben Monaten spurlos verschwand und von der man annahm, dass sie Selbstmord begangen hatte. Doch Maríanna ist zweifelsfrei ermordet worden, und Kommissarin Elma und ihr Team müssen den Fall neu aufrollen. Maríannas fünfzehnjährige Tochter Hekla wohnt inzwischen bei Pflegeeltern, und scheint dort zufriedener zu sein als bei ihrer Mutter. Warum? Fünfzehn Jahre zuvor liegt eine junge Mutter auf der Entbindungsstation, verzweifelt, weil es ihr nicht gelingt eine Verbindung zu ihrer neu geborenen Tochter zu knüpfen. Der Beginn einer komplizierten und konfliktreichen Beziehung. Für das Ermittlungsteam um Elma und Sævar wird der zunächst einfach scheinende Fall immer komplexer, je mehr sie herausfinden. Zumal immer neue Details über Maríannas Vergangenheit ans Licht kommen. Auch in ihrem zweiten Kriminalroman erweist sich Eva Björg Ægisdóttir als Meisterin psychologischer Fallstricke und falscher Fährten. Ein hochspannender Fall mit unerwarteten Wendungen, die man mit angehaltenem Atem verfolgt. Alle Fälle der Krimi-Reihe »Mörderisches Island«: - Verschwiegen - Verlogen - Verborgen - Verlassen Die Bücher erzählen eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 478
Eva Björg Ægisdóttir
Ein Island-Krimi
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Titelseite
Über Eva Björg Ægisdóttir
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Eva Björg Ægisdottir ist Jahrgang 1988 und lebt mit ihrem Partner und drei Kindern in Reykjavik. Sie ist in Akranes geboren und aufgewachsen, der Stadt, in der ihre Krimis spielen. Nach ihrem Abschluss in Soziologie zog sie nach Trondheim in Norwegen, wo sie einen Master in Globalisierung machte. Für ihren ersten Krimi wurde sie mit dem renommierten isländischen Blackbird-Award ausgezeichnet.
Freyja Melsted ist in Österreich und Island aufgewachsen. Sie übersetzt aus dem Englischen, Spanischen und Isländischen.
zur Kurzübersicht
Ein vermeintlicher Suizid wird zum mysteriösen Mordfall für Kommissarin Elma und ihr Team – der zweite Teil der preisgekrönten isländischen Krimiserie von Eva Björg Ægisdóttir
Als eine alkoholabhängige, alleinerziehende Mutter verschwindet und einen Abschiedsbrief hinterlässt, gehen alle von einem Selbstmord aus. Bis ihre Leiche sieben Monate später in einem Lavafeld entdeckt wird. Auch im zweiten Band der preisgekrönten isländischen Krimiserie ermitteln Kommissarin Elma und ihr Team in einem hochspannenden und komplexen Fall.
Im Spätherbst wird in einem Lavafeld in Westisland eine Leiche entdeckt. Es handelt sich um Maríanna, eine alleinerziehende Mutter, die vor sieben Monaten spurlos verschwand und von der man annahm, dass sie Selbstmord begangen hatte. Doch Maríanna ist zweifelsfrei ermordet worden, und Kommissarin Elma und ihr Team müssen den Fall neu aufrollen. Maríannas fünfzehnjährige Tochter Hekla wohnt inzwischen bei Pflegeeltern, und scheint dort zufriedener zu sein als bei ihrer Mutter. Warum? Fünfzehn Jahre zuvor liegt eine junge Mutter auf der Entbindungsstation, verzweifelt, weil es ihr nicht gelingt eine Verbindung zu ihrer neu geborenen Tochter zu knüpfen. Der Beginn einer komplizierten und konfliktreichen Beziehung.
Für das Ermittlungsteam um Elma und Sævar wird der zunächst einfach scheinende Fall immer komplexer, je mehr sie herausfinden. Zumal immer neue Details über Maríannas Vergangenheit ans Licht kommen. Auch in ihrem zweiten Kriminalroman erweist sich Eva Björg Ægisdóttir als Meisterin psychologischer Fallstricke und falscher Fährten. Ein hochspannender Fall mit unerwarteten Wendungen, die man mit angehaltenem Atem verfolgt.
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Widmung
Die Geburt
Sonntag
Zwei Monate
Als wenig später …
Fünf Monate
Elma, mein Schatz …
Sieben Monate
Montag
Ein Jahr
Als Saunn die Tür öffnete …
Achtzehn Monate
Dienstag
Zwanzig Monate
Es war einfach so langweilig …
Zwei Jahre
Mittwoch
Drei Jahre
Heklas Atem roch immer noch …
Sechs Jahre
Donnerstag
Acht Jahre
Sævar und Hörður fanden das Datum …
Neun Jahre
Die Schule in Borgarnes war groß …
Neun Jahre
Freitag
Neun Jahre
»Komm rein«, sagte Elma …
Zehn Jahre
Samstag
Zehn Jahre
Der Kleiderschrank war nur zur Hälfte voll.
Montag
Zehn Jahre
Nachdem sie aufgelegt hatte …
Zehn Jahre
Dienstag
Mittwoch
Montag
Dreizehn Jahre
Dienstag
Epilog
I. Kapitel
II. Kapitel
Personenregister
Für Gunni
Die weißen Bettbezüge erinnern mich an Papier. Sie rascheln bei jeder Bewegung, und es juckt am ganzen Körper. Ich mag keine weißen Bettbezüge, und Papier mag ich auch nicht. Etwas an der Struktur fühlt sich komisch an. Ein griffiger Stoff, der an meiner empfindlichen Haut klebt. Deshalb habe ich seit der Ankunft kaum ein Auge zugemacht.
Meine Haut ist fast so weiß wie der Stoff und erinnert mich ironischerweise auch an Papier. Sie ist dünn, und wenn ich mich bewege, dehnt sie sich auf eigenartige Weise. Es kommt mir vor, als könne sie jeden Augenblick reißen. Die blauen Adern sind deutlich erkennbar, und ich kratze mich, obwohl ich weiß, dass ich das nicht soll. Die Fingernägel hinterlassen rote Striche, und ich zwinge mich aufzuhören, bevor es blutet. Die verstohlenen Blicke der Ärzte und Hebammen sind ohnehin schon schlimm genug.
Offensichtlich denken sie, dass mit mir etwas nicht stimmt.
Ich frage mich, ob sie bei den anderen Frauen im Flur auch so unangekündigt ein und aus spazieren. Ich bezweifle es und habe das Gefühl, sie warten nur darauf, dass ich etwas anrichte. Sie stellen übergriffige Fragen und untersuchen meinen Körper. Beäugen die Narben an den Handgelenken und werfen einander ernste Blicke zu. An meinem Gewicht haben sie auch etwas auszusetzen, aber ich bin zu müde, um ihnen zu erklären, dass ich schon immer so war. Ich bin nicht magersüchtig, sondern einfach nur schlank gebaut und habe meist nicht viel Appetit. Manchmal vergesse ich über Tage hinweg zu essen und merke es erst, wenn mein Körper vor Hunger zittert. Aber das mache ich nicht mit Absicht. Wenn ich einfach eine Tablette schlucken könnte, um die notwendigen Nährstoffe und Kalorien zu mir zu nehmen, würde ich es sofort tun.
Aber ich sage nichts und ignoriere die aufgeblähten Nasenflügel und prüfenden Blicke des Arztes. Ich glaube, er mag mich nicht besonders. Vor allem nicht, seit ich beim Rauchen im Zimmer erwischt wurde. Sie haben so getan, als wollte ich das ganze verdammte Krankenhaus abfackeln, dabei habe ich doch nur das Fenster weit aufgerissen und etwas Rauch in die Nacht hinausgeblasen. Ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt jemand merkt, aber sie kamen sofort, zu dritt oder viert, und befahlen mir, die Zigarette auszumachen. Im Gegensatz zu mir fanden sie die Situation überhaupt nicht lustig. Nicht einmal, als ich die Zigarette aus dem Fenster warf und wie eine Verbrecherin die Arme hob, entschlüpfte ihnen ein Lächeln. Aber ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen.
Seitdem lassen sie mich nicht mehr mit dem Kind allein. Eigentlich bin ich ganz froh darüber, denn ich traue mir ohnehin nicht zu, mich ohne Hilfe darum zu kümmern. Immer wenn sie damit kommen und es an meine Brust legen, beißt es auf meine Nippel. Wenn es zu saugen beginnt, fühlt es sich an wie tausend Nadeln, die mich von innen stechen. Wenn das Kind auf meiner Brust liegt, sehe ich keine Ähnlichkeit mit mir. Die Nase ist zu groß für das Gesicht, und in den dunklen Haarsträhnen klebt immer noch Blut. Ich finde es nicht sonderlich hübsch und erschrecke, als es plötzlich mit dem Saugen aufhört und zu mir hochblickt. Mir direkt in die Augen sieht, als würde es mich mustern. Das ist sie also, meine Mutter, denkt es vermutlich.
Für eine Weile sehen wir einander an. Hinter den dunklen Wimpern liegen steingraue Augen. Die Hebammen meinen, dass sich die Farbe mit der Zeit verändern wird, aber ich hoffe nicht. Grau hat mir schon immer gefallen. Ich wende den Blick schnell ab und spüre Tränen aufwallen. Als ich wieder hinunterschaue, starrt das Kind mich immer noch an.
»Verzeih mir«, flüstere ich. »Verzeih mir, dass ich deine Mutter bin.«
»Nicht so schnell.« Elma legte einen Zahn zu, aber Alexander hörte nicht auf seine Tante und rannte weiter. Die hellen schulterlangen Haare leuchteten in der Dezembersonne.
»Fang mich doch.« Er drehte sich kurz mit funkelnden Augen zu ihr um, doch dann stolperte er und fiel hin.
»Alexander!« Elma lief zu ihm und beugte sich hinunter. Sie erkannte schnell, dass er sich abgesehen von ein paar kleinen Kratzern auf den Handflächen nicht wirklich verletzt hatte. »Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung. Nichts passiert. Nichts Schlimmes jedenfalls.« Sie half ihm auf, strich den Sand von seinen Händen und wischte die Tränen von seinen roten Wangen. »Wollen wir mal schauen, ob wir am Strand irgendwelche hübschen Muscheln oder Schneckenhäuser finden?«
Alexander zog die Nase hoch und nickte. »Und Krebse.«
»Ja, vielleicht finden wir auch Krebse.«
Der Junge vergaß den Unfall schnell wieder, und Elma konnte ihn nicht überzeugen, ihre Hand zu nehmen, bevor er wieder losrannte.
»Vorsicht«, rief sie ihm hinterher.
Als sie zum schwarzen Sandstrand gelangten, blieb er plötzlich stehen und beugte sich nach unten. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Sie ging langsam zu ihm und atmete tief die Meeresluft ein. Trotz der Kälte schien die Sonne hell, und die weiße Schneedecke, die am Morgen noch über allem gelegen hatte, war verschwunden. Die Wellen wogen sich in der sanften Brise, und überall war es still. Elma lockerte ihren Schal und beugte sich zu Alexander hinunter.
»Was hast du da gefunden?«
»Den Fuß von einem Krebs.« Er hielt ein rotes Bein hoch.
»Wow«, sagte Elma. »Den nehmen wir auf jeden Fall mit.«
Alexander nickte und legte das Bein vorsichtig in die Box, die Elma ihm hinhielt. Dann sprang er auf und machte sich auf die Suche nach weiteren Schätzen.
Alexander war vor Kurzem sechs geworden, und in seinen Augen war die Welt voller faszinierender Dinge. Er liebte die gemeinsamen Strandausflüge bei der Landspitze Elínarhöfði, denn dort gab es viel Spannendes zu entdecken. In ihrer Kindheit war Elma auch gerne dort zum Strand gegangen. Hatte immer eine Box für Muscheln mitgenommen und beim Erkunden des Ufers jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren. Die Geräusche und der Geruch hatten eine beruhigende Wirkung. Als lägen alle Sorgen der Welt in weiter Ferne.
Sie erinnerte sich vage an die Geschichte hinter dem Namen Elínarhöfði. Irgendwas mit der Schwester des Gelehrten Sæmundur fróði aus dem 12. Jahrhundert, die Elín hieß. Die beiden hatten noch eine Schwester namens Halla, die auf der anderen Seite des Fjords lebte. Und wenn Elín Kontakt zu Halla aufnehmen wollte, setzte sie sich auf die Landspitze und winkte ihr mit einem Taschentuch zu, damit Halla sie auf der anderen Seite von einem nach ihr benannten Felsen aus sehen konnte. Elma wollte Alexander die Geschichte erzählen, aber als sie ihn gerade eingeholt hatte, klingelte ihr Handy.
»Elma …« Aðalheiður klang kurzatmig am Telefon.
»Mama, ist alles in Ordnung?« Elma setzte sich neben Alexander auf einen großen Stein.
»Ja.« Rascheln und ein hastiger Atemzug erklangen in der Leitung. »Doch, ich bin nur grade dabei, die Lichterketten für Weihnachten aufzuhängen. Ich will das endlich erledigen. Keine Ahnung, warum ich es nicht schon längst gemacht habe.«
Ihre Eltern schmückten meist viel zu viel und viel zu früh. Wobei es vor allem ihre Mutter war, die sich um die Weihnachtsdeko kümmerte. Ihr Vater würde sicher helfen, aber Aðalheiður gab ihm gar nicht die Gelegenheit dazu. Meist nutzte sie die Zeit, während er bei der Arbeit war, um so viel wie möglich zu dekorieren.
»Soll ich dir helfen?«
»Nein, nein, ich mach das schon. Ich habe mich nur gefragt … dein Vater wird in zwei Wochen siebzig. Könntet ihr Schwestern vielleicht zusammen nach Reykjavík fahren und ein Geschenk für ihn besorgen? Ich weiß, dass er sich neue Wathosen fürs Angeln wünscht.«
»Nur wir beide?« Elma verzog das Gesicht. Ihre Schwester und sie hatten sich noch nie besonders nahegestanden, obwohl sie nur drei Jahre auseinander waren. »Ich weiß nicht, Mama …«
»Dagný wollte unbedingt mit dir zusammen fahren.«
»Warum fährst du nicht mit ihr?«
»Ich habe hier genug zu tun«, sagte Aðalheiður. »Ich dachte, ihr könntet nächstes Wochenende fahren und einen Ausflug draus machen. Hier liegt noch ein Gutschein für ein Spa rum, den dein Vater und ich nie einlösen werden. Ihr solltet ihn nehmen und auf dem Weg dort vorbeischauen.«
»Der Gutschein, den ich euch zu Weihnachten geschenkt habe?« Elma ließ ihren Ärger darüber durchklingen.
»Ach so, ja, war der von dir? Ich wünsche mir jedenfalls, dass ihr den Tag genießt. Ein bisschen Schwesternzeit zusammen verbringt.«
»Mama, den Gutschein habe ich für euch gekauft. Papa und du habt euch ein wenig Erholung verdient. Ihr fahrt nie weg.«
»Was für ein Unsinn, wir fahren doch im Frühling nach Prag. Du wirst dich doch hoffentlich für den einen Tag überwinden können …«
»Das ist also eine beschlossene Sache?«
»Stell dich nicht so an, Elma …«
Da fiel Elma ihr ins Wort. »Ich mache nur Witze. Natürlich fahre ich. Kein Problem.«
Sie steckte das Handy weg und ging zu Alexander, der schon fast beim Ufer war. Es war lange her, dass ihre Schwester und sie Zeit allein miteinander verbracht hatten. Elma passte immer wieder auf Alexander auf, vor allem weil er manchmal sogar selbst anrief und darum bat, von ihr abgeholt zu werden. Aber abgesehen davon lief der Kontakt meist über ihre Eltern. Elma fragte sich manchmal, wie das Verhältnis aussähe, wenn sie nicht wären.
»Elma, schau mal, wie viel ich schon gefunden hab.« Alexander öffnete die Hand und zeigte ihr eine Menge bunter Steine. Er sah seinem Vater Viðar mit jedem Jahr ähnlicher. Von ihm hatte er die zierlichen Gesichtszüge und die blauen Augen. Wie der Vater war er herzensgut und wurde nie wütend.
»Die sind aber schön«, sagte sie. »Das sind wahrscheinlich Zaubersteine, die Wünsche erfüllen können.«
»Wirklich?«
»Ja, da bin ich ganz sicher.«
Alexander legte die Steine in die Box, die Elma ihm hinhielt.
»Ja, das glaube ich auch«, sagte er und lächelte, sodass seine Zahnlücke hervorblitzte. Dann strich er Elma eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Elma lachte. »Oh, danke dir, sind meine Haare verwuschelt?«
Alexander nickte. »Ja, schon.«
»Und was willst du dir mit dem Stein wünschen?« Elma stand auf und klopfte den Sand von ihrer Hose.
»Ich will ihn dir geben. Damit du dir was wünschen kannst.«
»Bist du sicher?« Elma nahm seine Hand, und sie gingen Richtung Auto. »Du könntest dir alles Mögliche wünschen. Ein Raumschiff, ein U-Boot, Lego …«
»Ach, ich bekomm sowieso alles, was ich will. Ich schreibe einfach eine Liste für den Weihnachtsmann. Du brauchst die Steine viel mehr, weil der Weihnachtsmann nur zu den Kindern kommt und nicht zu den Erwachsenen.«
»Ja, da hast du vermutlich recht.« Sie öffnete die Tür zur Rückbank, und Alexander kletterte hinein.
»Ich weiß, was du dir wünschen solltest.« Alexander sah Elma bedeutungsvoll an, während sie ihm dabei half, den Sicherheitsgurt anzulegen.
»Ach, das weißt du? Kannst du etwa Gedanken lesen?«
»Ja. Also, nein, aber ich weiß es trotzdem«, sagte Alexander. »Du wünschst dir einen Jungen, so wie mich. Mama sagt, dass du deshalb manchmal traurig bist. Weil du keinen Jungen hast.«
»Aber du bist doch auch mein Junge?«, sagte Elma und küsste ihn auf die Stirn. »Ich brauch gar keinen anderen.«
Das Handy vibrierte in ihrer Tasche, bevor Alexander etwas sagen konnte.
»Bist du gerade unterwegs?«, fragte Sævar. Seine Stimme klang heiser, und Elma war froh, dass sie abgelehnt hatte, als er sie am Vorabend gefragt hatte, ob sie mit tanzen kommen wolle. Hin und wieder fanden in Akranes Tanzfeste statt, bei denen viele aus dem Ort zusammenkamen, so auch gestern. Elma hatte sich bisher noch nicht hingewagt. Die Vorstellung, dort lauter Leute zu treffen, mit denen sie jahrelang nicht gesprochen hatte, schreckte sie ab. Man würde sie nur mit Fragen löchern, darauf hatte sie keine Lust.
»Ich bin früh aufgestanden und habe mit meinem kleinen Neffen einen Strandausflug gemacht«, sagte sie. »Und, wie geht’s dir? Wie war’s gestern?«
Sævar stöhnte als Antwort, und Elma lachte. Sie wusste, dass er kaum Alkohol vertrug und meist tagelang verkatert war. Er war kräftig gebaut, aber schon wenige Schlucke machten ihn betrunken. »Das ist nicht der Grund für meinen Anruf, obwohl ich dir das auch noch erzählen muss …« Er räusperte sich, und sein Tonfall wurde ernst: »Soeben wurde eine Leiche gefunden.«
Elma warf einen Blick auf Alexander, der im Auto saß und seine Steine betrachtete. »Was? Wo?«
»Wo bist du?«, fragte Sævar, ohne ihre Frage zu beantworten. Im Telefon erklangen Hintergrundgeräusche.
»Bei Elínarhöfði.«
»Kannst du mich abholen? Ich glaube, ich sollte noch nicht wieder fahren …«
»Bin auf dem Weg«, sagte Elma und legte auf. Sie steckte das Handy in die Jackentasche und setzte sich ans Steuer. Im Rückspiegel lächelte sie Alexander zu. Dem Jungen, der ihr Zaubersteine geben wollte, damit sie nicht mehr traurig sein müsste.
Elma brachte Alexander nach Hause und fuhr dann zu Sævars blauem Wohnblock. Die Kripo Akranes zählte nur drei Mitarbeiter, darum war Elma besonders dankbar für einen Kollegen wie ihn. Sie hatten sich vom ersten Tag an gut verstanden, und obwohl sie es mit sehr schwierigen Fällen zu tun hatten, machte die Arbeit mit ihm immer Spaß. Hörður, der Leiter der Kriminalabteilung, war deutlich ernster, aber Elma beklagte sich nicht. Er war ehrlich, gerecht, und sie fühlte sich in ihrem Job wohl.
Sævar wartete bereits in der Kälte auf sie, die Hände in den Taschen vergraben und die Schultern bis an die Ohren hochgezogen. Er trug eine hellgraue Jogginghose und eine dünne schwarze Jacke. Die dunklen Haare waren verwuschelt und standen im Nacken ab. Er kniff die Augen zusammen, als wäre das wenige Tageslicht schon zu viel des Guten.
»Ist bei dir Sommer?«, fragte Elma, als er einstieg.
»Ich friere nie«, sagte Sævar und strich mit seinen eiskalten Händen über Elmas Arm.
»Lass das, Sævar!« Elma zog den Arm weg und warf ihm einen wütenden Blick zu. Dann drehte sie die Heizung auf und schüttelte mit gequälter Miene den Kopf.
»Danke dir«, sagte Sævar. »Von innen sah es absolut nicht kalt aus. Nichts als Sonnenschein und blauer Himmel.«
»Ich dachte, alle Isländer hätten ihre Lektion in der Sache gelernt. Wenn man drinnen ist, sieht es immer nach gutem Wetter aus, aber innerhalb einer Stunde kann es völlig umschlagen, das ist das altbekannte isländische Fensterwetter.« Elma fuhr vom Parkplatz auf die Straße. »Weiß man, um wen es sich handelt?«
»Noch nicht, aber allzu viele kommen nicht infrage, oder?«
»Echt?«
»Erinnerst du dich noch an die Frau, die im Frühjahr verschollen ist?«
»Ja, klar, Maríanna. Denkst du, das könnte sie sein?«
Sævar zuckte mit den Schultern. »Sie hat in Borgarnes gelebt, und der Kollege, der als Erster vor Ort war, geht davon aus, dass es sich um eine Frau handelt. Sie hatte wohl immer noch eine Menge Haare.«
Elma wollte sich gar nicht vorstellen, wie die Leiche wohl aussah, wenn das tatsächlich Maríanna war. Sie war schon vor etwa sieben Monaten verschwunden. Am 4. Mai, einem Freitag, hatte sie eine Nachricht hinterlassen, in der sie ihre jugendliche Tochter um Verzeihung bat. Maríanna war an dem Abend verabredet, also rechnete ihre Tochter erst spät mit ihr. Daran war nichts ungewöhnlich, das Mädchen konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen. Als Maríanna am Samstagnachmittag aber immer noch nicht nach Hause gekommen war und auch nicht ans Telefon ging, rief das Mädchen ihre Pflegefamilie an, bei der sie jedes zweite Wochenende verbrachte. Die verständigten dann die Polizei. Es stellte sich heraus, dass Maríanna nie zu ihrer Verabredung gegangen war. Nach tagelanger Suche wurde ihr Auto bei einem Hotel in Bifröst gefunden, doch keine Spur von Maríanna. Die Nachricht an ihre Tochter legte die Vermutung nahe, dass sie Selbstmord begangen hatte. Da nie eine Leiche gefunden wurde, blieb der Fall offen. Doch seit ihrem Verschwinden war nichts Neues aufgekommen. Bis jetzt.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte Elma.
»Irgendwelche Leute, die da in der Gegend ein Sommerhaus haben«, antwortete Sævar.
»Wo lag sie genau?«
»Im Lavafeld bei Grábrók.«
»Grábrók?«, wiederholte Elma.
»Du weißt schon, der Krater. In der Nähe von Bifröst.«
»Ja, ich kenne Grábrók.« Elma nahm kurz den Blick von der Straße und sah Sævar an. »Aber war das nicht ein Selbstmord? Das haben wir doch damals angenommen, nicht wahr?«
»Kann natürlich sein. Mehr habe ich noch nicht erfahren, aber vermutlich muss ohnehin ein Rechtsmediziner kommen, um die Todesursache festzustellen. Die Leiche ist nach so langer Zeit sicherlich in keinem guten Zustand mehr. Der Parkplatz, wo ihr Auto entdeckt wurde, liegt nicht gerade direkt daneben, vielleicht ist sie selbst in diese Höhle gekrochen und wollte nie gefunden werden.«
»Komische Art, sich …«
»Sich umzubringen?«, sprach Sævar ihren Gedanken zu Ende.
»Genau«, sagte Elma, als sie aufs Gaspedal trat und so tat, als würde sie Sævars Blick auf ihr nicht bemerken. Nicht etwa, weil sie das Thema meiden wollte. Ganz und gar nicht. Aber immer, wenn es um Selbstmord ging, musste sie nun mal an Davíð denken.
Als Davíð und sie sich kennengelernt hatten, studierte Elma gerade im zweiten Jahr Psychologie und wusste aber bereits, dass es nicht ganz das Richtige für sie war. Er war mitten im BWL-Studium, hatte große Träume und viele Ideen, was er alles aufbauen könnte. Neun Jahre später war aus den Träumen und Ideen nichts geworden, und Elma fand das völlig in Ordnung. Sie hatten beide gute Jobs, eine eigene Wohnung, ein Auto und alles, was sie brauchten. Davíð war manchmal etwas bedrückt, aber sie machte sich darüber nicht allzu viele Gedanken. Sie ging davon aus, dass er nachts genauso schlief wie sie, und als sie an jenem Tag im September nach Hause kam, dachte sie, er würde sie dort erwarten. Aber dem war nicht so.
»Vielleicht ist sie es gar nicht«, sagte Elma nach einer kurzen Stille.
»Nein, vielleicht nicht«, antwortete Sævar.
Beim Abzweig nach Borgarnes bogen sie nach links ab. Akrafjall, der Hausberg von Akranes, sah aus der Nähe ganz anders aus. Das Auto vor ihnen wurde langsamer und fuhr auf einen Schotterweg ein, der zum Berg führte. Vermutlich Leute, die auf den Gipfel gehen wollten, solange die Sonne noch schien und der Himmel klar war. Elma sah Sævar an. Seine Augen waren rot, und seit er sich ins Auto gesetzt hatte, roch es aufdringlich nach Rasierwasser und Zahnpasta, was seine Alkoholfahne trotzdem nicht ganz überdecken konnte.
»Du riechst, als wärst du immer noch betrunken. Oder in eine Wanne voller Schnaps gefallen. Hattest du Spaß gestern?«
Sævar steckte sich einen Kaugummi in den Mund. »Besser?«, fragte er und hauchte sie an.
»Ich sag lieber nichts.« Sie wollte ihn unbedingt ein wenig damit aufziehen, dass er zu tief ins Glas geschaut hatte. Er verschonte sie ja auch nie, wenn ihr das mal passierte. Im Sommer hatte Begga einmal alle von der Arbeit zu sich nach Hause eingeladen. Elma trank für gewöhnlich nicht übermäßig viel, aber an dem Abend hatte sie sich nicht ganz unter Kontrolle und endete mit dem Kopf über der Kloschüssel wie ein sturzbesoffener Teenager. Aus irgendeinem Grund hielt sie es für eine gute Idee, den Whiskey zu probieren, den jemand mitgebracht hatte. Aber vermutlich spielte die Flasche Rotwein auch eine gewisse Rolle. Sie erinnerte sich vage daran, die Herrschaft über die Playlist übernommen zu haben, was unter den Kollegen nur für sehr wenig Begeisterung sorgte, mit Ausnahme von Begga, die lautstark zu den Backstreet Boys mitsang.
Sævar öffnete das Fenster einen Spalt und sah Elma entschuldigend an. »Mir ist ein bisschen schwindlig. Ich brauche etwas frische Luft.«
»Soll ich anhalten?«
»Nein. Nein, geht schon.« Er machte das Fenster wieder zu. »Elma, wenn ich das nächste Mal auf die Idee komme, auf eines dieser Tanzfeste zu gehen, dann halte mich davon ab, okay?«
»Ich kann nichts versprechen.«
»Dafür bin ich einfach zu alt.«
»Ja, das bist du.«
Sævar runzelte die Stirn. »Du solltest sagen: ›Nein, zu alt bist du noch lange nicht, Sævar.‹«
Elma lächelte. »Fünfunddreißig ist nicht allzu schlimm. Du hast noch viel vor dir.«
»Sechsunddreißig.« Sævar seufzte. »Das Ende rückt immer näher.«
Elma lachte. »Sei nicht so dramatisch. Wenn du schon nach einem heiteren Abend gleich im Selbstmitleid versinkst, werde ich dich beim nächsten Mal rechtzeitig warnen. Oder zumindest darauf achten, dir am Tag danach aus dem Weg zu gehen.«
Sævar antwortete mit einem weiteren Seufzer.
Grábrók lag etwa eine Autostunde von Akranes entfernt. Auf dem Weg schlief Sævar ein. Sein Kopf kippte zur Seite, und er zuckte kurz, bevor er sich wieder aufrichtete. Elma machte die Musik leiser und drehte die Heizung ein wenig auf. Ihr war immer noch kalt vom Strandausflug. Bei dem Gedanken an Alexanders Worte musste sie lächeln. Wenn sie doch nur die Zeit anhalten und etwas länger genießen könnte, wie unschuldig und aufrichtig er in diesem Alter war. Die Jahre vergingen viel zu schnell. Es kam ihr vor, als hätte sie Alexander erst gestern auf der Geburtsstation zum ersten Mal im Arm gehalten, noch ganz verschrumpelt und rot, mit schneeweißen Haaren auf dem Kopf. Seit sie vor etwa einem Jahr zurück nach Akranes gezogen war, verbrachte sie aber wieder deutlich mehr Zeit mit ihren beiden Neffen Alexander und Jökull, der im September zwei wurde. Seitdem schienen sie zumindest nicht mehr ganz so schnell groß zu werden.
Nördlich von Borgarnes veränderte sich die Landschaft ein wenig, sie fuhren vorbei an verwelkten Wiesen und einzelnen Bauernhöfen. Kurz vor Bifröst führte der Weg durch ein großes Lavafeld. Vor den meisten Sommerhäusern standen Autos. Anscheinend wollten viele die letzten sonnigen Wochenenden des Jahres genießen, bevor der Winter begann.
Grábrók war vor etwa tausend Jahren zum letzten Mal ausgebrochen und gehörte zu den kleineren Vulkanen Islands, aber es handelte sich um einen schönen Berg mit einem großen Krater in der Mitte. Eigentlich waren es sogar drei Krater, denn an beiden Seiten des Hauptkraters lagen noch zwei kleinere. Die Hänge waren steil und von grauem und rotem Geröll aus Lavagestein bedeckt, auf dem vereinzelt etwas bräunliches Gras wuchs. Um den Krater herum lag ein großes moosbedecktes Lavafeld. Am Fuße des Vulkans sah Elma ein Polizeiauto stehen, und sie bog kurz vor dem Parkplatz, der normalerweise voller Touristen und Busse war, auf einen Schotterweg in Richtung der Kollegen ein.
Sie stupste Sævar kurz an, der ein paarmal blinzelte und gähnte.
»Geht’s dir etwas besser?«, fragte Elma, als sie aus dem Auto stieg.
Sævar antwortete mit einem Nicken, aber allem Anschein nach fühlte er sich immer noch nicht besonders gut. Eigentlich sah er jetzt sogar noch müder aus als vorher.
Beim Polizeiwagen stand ein Mann mittleren Alters, ein Polizist aus Borgarnes. Elma hatte ihn schon einmal wo gesehen. Er war vor ihnen angekommen und hatte bereits mit den Findern der Leiche gesprochen. Zwei Jungen, die mit den Eltern des einen das Wochenende in einem Sommerhaus in der Nähe des Vulkans verbrachten. Sie waren beim Versteckspielen auf die Leiche gestoßen. Der Polizist legte zum Schutz vor der blendenden Sonne die Hand an die Stirn. Es war beinahe windstill, aber dennoch kalt. Elma fror und zog sich den Schal enger um den Hals. Etwas amüsiert beobachtete sie, wie Sævar sich an seine dünne Jacke klammerte.
»Es ist kein schöner Anblick«, sagte der Polizist, als sie ihn begrüßten. »Aber bei der Kripo habt ihr es natürlich öfter mal mit so etwas zu tun.«
Elma lächelte. Auf ihrem Schreibtisch landeten vor allem Verkehrsunfälle und Einbrüche. Zum Glück konnte sie die Fälle, bei denen sie eine Leiche zu Gesicht bekommen hatte, an den Fingern einer Hand abzählen. Obwohl sie und ihre Kollegen für den gesamten Westen Islands zuständig waren, hatte sie sich bei ihrem Wechsel zur Kriminalpolizei Vesturland auf einen ruhigen Alltag eingestellt. Doch schon in ihrer ersten Woche wurde eine Leiche beim alten Leuchtturm in Akranes gefunden. Ein Mordfall, der im ganzen Land Wellen schlug.
»Es sind schwierige Umstände«, fuhr der Mann fort. »Die Höhle ist tief und eng. Man muss sich bücken, um überhaupt hineinzukommen. Die armen Jungs dachten, sie hätten einen Schwarzelf gesehen, und haben sich sehr erschrocken.«
»Einen Schwarzelf?« Elma hob die Augenbrauen.
»Wenn du die Leiche siehst, wirst du verstehen, was ich meine.«
Es war alles andere als leicht, sich auf der schroffen Lava fortzubewegen. Elma musste höllisch aufpassen, nicht auf den hervorstehenden messerscharfen Steinspitzen hinzufallen. Mit gesenktem Blick konzentrierte sie sich darauf, bei jedem Schritt sicher aufzutreten. Zweimal gab das Moos unter ihren Füßen nach, sodass sie das Gleichgewicht verlor. Für einen Moment hielt sie inne und bewunderte die gewaltige Landschaft. Sie befanden sich auf der Südseite des Kraters und waren weder von der Hauptstraße noch vom Parkplatz östlich des Vulkans aus zu sehen.
Der Polizist hatte die Fundstelle der Leiche gekennzeichnet. Ansonsten wäre es schwierig geworden, sie wiederzufinden, denn jeder Stein glich dem nächsten. Selbst als sie stehen blieben, konnte Elma die Leiche nicht sofort sehen. Erst als der Polizist ihr die genaue Stelle zeigte, erkannte sie im Moos den Eingang zu einer schmalen Höhle. Wobei Höhle vielleicht nicht der richtige Ausdruck war, es wirkte eher wie ein Loch im Lavafeld. Die Öffnung führte schräg nach unten und sah nicht besonders spektakulär aus, aber als Elma sich nach unten beugte, erkannte sie, wie tief die Höhle eigentlich war. Außerdem wirkte sie deutlich breiter und geräumiger, als der schmale Eingang vermuten ließ. Eine erwachsene Person konnte beinahe aufrecht darin stehen.
Sævar nahm die Taschenlampe des Polizisten und warf einen Blick ins Dunkle. Der Lichtstrahl erhellte das schwarze Gestein, während Elma in die Höhle kletterte und sich vortastete. Drinnen angekommen schienen alle Geräusche auf einmal in weiter Ferne, und es kam ihr vor, als höre sie ein leises Rauschen. Vielleicht war es auch nur das Echo ihres eigenen Atems. Sie drehte sich zu Sævar um und fand es plötzlich unangenehm eng, riss sich aber zusammen und richtete den Blick wieder in die Höhle hinein. Als das Licht der Taschenlampe auf den Bereich vor ihr fiel, schnappte sie plötzlich nach Luft.
Jetzt verstand Elma auch, warum die Jungs dachten, sie hätten einen Schwarzelf gesehen. Die Leiche trug dunkle Kleidung, und der Kopf lag etwas höher als der restliche Körper. Der Schädel war hellgrau und braun, hier und da hingen ein paar Haarsträhnen daran. Vom Gesicht war nichts mehr übrig, keine Haut, nur zwei leere Augenhöhlen und darunter die Zähne.
Sævar leuchtete etwas weiter nach unten, und dunkle, zerfetzte Kleidung kam zum Vorschein; ein schwarzer Mantel, ein blaues Oberteil und Jeans. Elma drehte sich um und sah Sævars kreidebleiches Gesicht. Plötzlich erlosch das Licht der Lampe, und es war wieder stockdunkel. Sævar ging ein paar Schritte weg und beugte sich vor. Elma hörte Würgegeräusche, bevor er sich auf die Lavasteine übergab.
Sie meinten, das sei ganz normal. Das Gefühl werde mit der Zeit verschwinden. Wochenbettweinen nannte die Hebamme mit den lockigen Haaren es, als in den Tagen nach der Geburt bei mir die Tränen flossen. Das geht vielen Frauen so, fügte sie hinzu und sah mich mitleidig an. Ich wollte ihr die hässliche Drahtbrille am liebsten aus dem Gesicht reißen, sie auf den Boden werfen und darauf herumtreten. Das machte ich aber nicht, sondern wischte die Tränen weg und setzte ein Lächeln auf, wenn die Hebammen vorbeikamen. Tat so, als wäre alles in Ordnung, als wäre ich völlig verzückt von diesem Kind, das ich nie vorgehabt hatte zu bekommen.
Sie kauften es mir alle ab. Strichen über die dicken Backen meiner Tochter und umarmten mich zum Abschied. Das Lächeln verschwand sofort von meinen Lippen, als ich ihnen den Rücken zukehrte, aber das sahen sie nicht mehr. Auch nicht, wie im Auto die Tränen über meine Wangen strömten.
Als ich vom Krankenhaus nach Hause kam, wurde es in meinem Kopf immer dunkler, und ich hatte Angst, am Ende von der Finsternis verschluckt zu werden. Keine Spur von Freude oder Glück, nur Leere. Ich schlafe und wache. Die Tage vergehen alle gleich, und währenddessen liegt sie da. Dieses kleine dunkelhaarige Mädchen, das nach vielen qualvollen Stunden plötzlich da war. Ihr Geheul ist mittlerweile ein fernes Rauschen, das ich kaum beachte. In den ersten Wochen verspürte ich den Drang, sie zu schütteln, wenn sie weinte. Ich wollte nur, dass sie aufhörte zu weinen, damit ich wieder klare Gedanken fassen könnte. Wenn es richtig laut wurde, ging ich aus dem Zimmer, sonst hätte ich es sicher durchgezogen. Ich hätte sie geschüttelt wie eine Stoffpuppe.
Es klingt schrecklich, aber so empfand ich. Ich war wütend. Vor allem auf sie, weil sie so viel von mir verlangte, aber auch auf die Welt, der alles egal war. Ich stellte mir vor, wie sie mir versehentlich runterfiel oder ich ein Kissen auf ihr Gesicht drückte und dann alles vorbei wäre. Ich würde ihr damit einen Gefallen tun. Die Welt ist ein hässlicher Ort voller schrecklicher Menschen. Diese Vorstellungen und Gedanken kamen mir nachts, wenn ich tagelang nicht geschlafen hatte und mich weder tot noch lebendig fühlte, sondern irgendwo dazwischen. Als wäre ich nicht mehr ich selbst. Als wäre von mir nichts mehr übrig.
Und um die ganze Wahrheit zu sagen – wenn das überhaupt möglich ist –, ich fand sie auch nicht schön. Sie war es einfach nicht. Ihr Gesicht passte nicht zu einem Baby. Die Miene war ausdrucksstark, die Nase groß und die Augen aufmerksam, daher war ich mir sicher, dass in diesem Kind ein erwachsener Mensch steckte. Jemand, der mich ständig beobachtete und nur auf einen Fehler von mir wartete. Das konnte nicht meine Tochter sein. Das Kind, das ich neun Monate in mir getragen hatte. Während der Schwangerschaft redete ich mir ein, dass es das wert sein würde, wenn sie einmal auf der Welt war, aber noch ist es nicht so. Ich spüre es einfach nicht.
Deshalb weiche ich ihren Blicken aus. Ich habe schnell abgestillt und ihr danach die Flasche gegeben. Mochte das Gefühl nicht, dass sie sich von meinem Körper ernährte. Fand es unangenehm, sie so nah bei mir zu haben, sah, wie sie die kleinen grauen Augen öffnete und mich beim Trinken anstarrte. Wenn sie weinte, legte ich sie in den Kinderwagen und schob ihn vor und zurück, bis sie aufhörte. Manchmal dauerte es nur ein paar Minuten. Manchmal Stunden. Aber früher oder später verstummte sie immer.
Dann legte ich mich ins Bett und weinte mich in den Schlaf.
Als wenig später die Spurensicherung ankam, ging es Sævar, der sich ins Auto gesetzt hatte, schon wieder viel besser. Elma hatte ein paar Minuten neben ihm gewartet, war dann aber wieder an die frische Luft gegangen, denn in Sævars Nähe roch es wie in einem Klub um fünf Uhr morgens. Sie lehnte sich an den Wagen und blickte über das Lavafeld. Plötzlich zog sich der eben noch klare Himmel zu und wurde dunkel und grau. Eine dicke Wolke schob sich vor die Sonne, und ein kalter Wind wehte über die Landschaft.
Elma vergrub die Nase im Schal und versuchte, die Kälte zu ignorieren. Kurz darauf kam ihr Chef Hörður in einem Jeep an. Die Nachricht vom Leichenfund hatte ihn in seinem Sommerhaus in Skorradalur erreicht, wo er das Wochenende mit seiner Familie verbrachte. Er begrüßte sie schnell, setzte seine Fellmütze auf und ging zu den Mitarbeitern der Spurensicherung. Zu Elmas Überraschung schritt er trittsicher wie ein erfahrener Wanderer über das Lavafeld. Als er zurückkam, öffnete er den Kofferraum seines Wagens.
»Gígja wollte, dass ich euch was mitbringe«, sagte er und holte eine Thermoskanne und ein paar Pappbecher hervor.
»Das ist aber lieb von ihr, sag ihr Danke von uns.« Elma nahm erleichtert den Becher entgegen. Hörður und seine Frau konnten unterschiedlicher nicht sein. Er wirkte immer sehr förmlich, sie war viel ungezwungener und hatte Elma von ihrem ersten Treffen an wie eine alte Bekannte behandelt.
Hörður schenkte ihr Kaffee ein und nickte in Richtung des Autos. »Was ist mit ihm los?«
»Er ist ein bisschen schlapp.«
»Schlapp?«
»Ja …« Elma lächelte breit. »Er hat gestern etwas zu tief ins Glas geschaut.«
Hörður schüttelte den Kopf. »Ist er für solche Dummheiten nicht eigentlich schon zu alt?«
»Das habe ich ihm auch gesagt«, seufzte Elma und trank vorsichtig einen Schluck Kaffee. Er war immer noch brennend heiß.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte Hörður nach kurzem Schweigen. Er blickte über das Lavafeld, wo die Spurensicherung sich in blauen Overalls bereit machte und Leuchten aufstellte. Noch war es hell draußen, aber die Höhle musste ausgeleuchtet werden.
»Nein, die Leiche sieht aus … ja, als liege sie schon mehrere Monate da.«
»Kann es sein, dass die Person gestürzt ist?«
»Nein, das denke ich nicht«, sagte Elma. »Von der Lage der Höhle passt das nicht. Und sie ist gar nicht tief genug. Vermutlich ist sie eher hineingekrochen, um nicht gefunden zu werden. Wäre sie wahrscheinlich auch nie, wenn die Jungs die Höhle nicht für ein ideales Versteck gehalten hätten.«
»Also ist sie vielleicht hineingekrochen, um dort zu sterben.«
»Genau. Womöglich wollte sie nicht gefunden werden. Wollte nicht tot aufgefunden werden.«
»Sind wir sicher, dass es sich um eine Frau handelt?«
»Ja, relativ sicher«, sagte Elma. Auf dem Schädel hingen noch ein paar lange Haare, und sie schien einen Mantel zu tragen. Außerdem waren die Turnschuhe sehr klein, kaum größer als sechsunddreißig. Selbst Elma hätte sich trotz ihrer kleinen Füße nicht hineinzwängen können. »Aber ob es Maríanna ist, weiß ich nicht sicher. Auch wenn es sehr wahrscheinlich ist. Die Liste der verschwundenen Frauen in den letzten Monaten und Jahren ist schließlich nicht sonderlich lang.«
»Nein, und Maríanna ist die Einzige, die nie gefunden wurde.« Hörður warf den Becher in einen Mülleimer neben einer Bank. Er rückte seine Mütze zurecht und rieb die Hände aneinander.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie aus der Ferne gerufen wurden und aufblickten. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung winkte sie zu sich. Hörður eilte los, doch Elma klopfte erst noch an Sævars Fensterscheibe. Bei seinem Anblick erschrak sie beinahe. Sein Gesicht war immer noch bleich, aber mittlerweile eher gräulich. Die Augen waren geschwollen, und er schien zu zittern. Trotzdem stieg er aus und lächelte gequält.
»Willst du meinen Schal?«, fragte sie, obwohl ihr selbst eiskalt war.
»Nein, ich …«
»Komm schon.« Sie wickelte ihren Schal um Sævar und tat so, als würde ihr der kalte Wind auf ihrem nackten Hals nichts ausmachen. »Der steht dir sogar ganz gut.«
»Danke.« Er versuchte ein Lächeln, aber es sah nicht ehrlich aus.
»Bald kannst du wieder zurück ins Bett«, sagte sie und stupste ihn, als sie losgingen.
»Ehrlich?«
»Nein, eigentlich nicht.« Elma lachte. »Wir müssen sicher erst noch zur Station. Aber ich kann dir auf dem Weg dorthin etwas Frittiertes besorgen.«
»Uff, sag das nicht.«
»Ist es wirklich so schlimm?« Für gewöhnlich sagte Sævar nie Nein zu frittiertem Essen. Elma hatte ihm einmal dabei zugesehen, wie er zwei frittierte Würstchen mit Käse und Pommes verdrückte, sich zum Nachtisch Chips gönnte und danach immer noch nicht satt war.
»Ich saufe nie wieder«, stöhnte Sævar.
»Sie haben einen Ausweis gefunden«, sagte Hörður, als sie zu ihm aufgeholt hatten. Der Mitarbeiter der Spurensicherung reichte ihnen eine durchsichtige Tüte mit Ausweispapieren, die in der feuchten Höhle offensichtlich nass geworden waren. Die schwarzen Buchstaben sahen verblasst aus, aber der Name war deutlich erkennbar: Maríanna Þórsdóttir.
»Wie lange ist es her, dass sie verschwunden ist?«, fragte er.
»Das war Anfang Mai. Also etwa sieben Monate«, antwortete Hörður.
»Die Leiche scheint jedenfalls größtenteils ganz gut erhalten zu sein«, sagte der Mann. »Vor allem die von Kleidung bedeckten Bereiche, also eigentlich alles außer dem Schädel und den Händen. An einigen Stellen ist auch noch Weichgewebe vorhanden, etwa im Nacken und am Hals. Wir haben schon etwas genauer geschaut und sind relativ sicher, dass der Schädel gebrochen ist, also sollte auch ein Gerichtsmediziner kommen. Die Leiche wird obduziert, nicht wahr?«
»Ja, natürlich«, sagte Hörður. »Könnte der Schädelbruch von einem Sturz stammen?«
Der Mann verzog ein wenig das Gesicht. »Das halte ich für unwahrscheinlich. Du siehst, wie die Höhle liegt. Man muss hineinkriechen, um zur Leiche zu kommen. Da würde ich eher von einer anderen Ursache ausgehen.«
Hörður schien nachzudenken. »Ja, stimmt«, sagte er dann. »Wir holen den Gerichtsmediziner.«
Elma sah die Enttäuschung in Sævars Gesicht. Auf einen Arzt aus Reykjavík zu warten, bedeutete mindestens zwei weitere Stunden in dieser Kälte.
Die Dunkelheit kam von Osten und legte sich langsam über den Himmel. Sie hatten den ganzen Tag der Spurensicherung bei der Arbeit zugesehen, und als der Gerichtsmediziner endlich ankam, war es schon dämmrig. Er brauchte aber nicht länger als etwa eine Stunde, um sich ein Bild von der Lage zu machen und ein paar Proben zu entnehmen, bevor die Leiche nach Reykjavík gebracht wurde, wo man am nächsten Tag mit der Obduktion beginnen würde.
Der Gerichtsmediziner und die Spurensicherung waren sich einig, dass die Verletzungen an Maríannas Schädel nicht von einem Sturz stammen konnten. Auf ihrem Oberteil war ein großer dunkler Fleck – möglicherweise Blut. Die Leiche war in keinem guten Zustand, was die Untersuchung erschwerte, aber einiges deutete auf eine kriminelle Absicht hin. Obwohl es verwunderlich war, dass Maríannas sterbliche Überreste nicht in einen Sack gepackt oder zumindest eine Decke über sie gelegt worden war. Da lagen auch keine Steine, um ihren Körper zu bedecken. Wer auch immer sie in die Höhle gebracht hatte, war davon ausgegangen, dass niemand sie dort finden würde.
Nach dem langen Arbeitstag fuhren Hörður, Elma und Sævar zur Polizeistation nach Akranes, um die nächsten Schritte zu besprechen. Elma saß bereits beim vierten Kaffee im Besprechungsraum und hatte beinahe die ganze Kekspackung verdrückt, die eben noch ungeöffnet auf dem Tisch gelegen hatte. Sævar saß ihr gegenüber und gähnte, als er den Laptop von sich wegschob. Sein Gesicht war nicht mehr ganz so bleich, aber er hatte den ganzen Tag über nur Softdrinks getrunken. Er sah auf seine Armbanduhr und danach Elma an. Sie spürte seinen Blick auf ihr und hob den Kopf.
»Was?« Das gelbe Licht der Deckenlampe machte auch sie müde, und sie hielt sich beim Gähnen die Hand vor den Mund.
»Sollten wir nicht Maríannas Tochter anrufen?«
»Ich übernehme das«, sagte Elma. Die Tochter hieß Hekla. Sie lebte bei einem Ehepaar namens Sæunn und Fannar, die sie nach dem Verschwinden der Mutter zu sich genommen hatten. Als Kind hatten sie Hekla für eine Weile als Pflegeeltern aufgenommen, und auch danach verbrachte sie jedes zweite Wochenende bei ihnen, wie bei einer Art unterstützenden Pflegefamilie. Warum sie ursprünglich zu ihnen gekommen war, wusste Elma nicht genau, aber Maríannas soziale Umstände waren bekanntlich nicht die besten gewesen. Sæunn und Fannar hatten viel geholfen, als im letzten Frühjahr nach Maríanna gesucht wurde, und sich sofort bereit erklärt, Hekla wieder dauerhaft bei sich aufzunehmen.
»Sollten wir sonst noch jemanden kontaktieren?«, fragte Sævar.
»Also, Maríannas Vater lebt in Reykjavík«, erinnerte sich Elma. »Aber ich weiß noch, dass sowohl ihr Bruder als auch die Mutter bereits verstorben sind. Ansonsten hatte sie keine näheren Verwandten.«
Sie beugte sich nach unten und streichelte Birta, die zu ihren Füßen Platz genommen hatte. Sævars Hündin wollte meist lieber bei ihr sitzen als bei ihrem Herrchen, wenn er sie zur Arbeit mitbrachte. Was oft vorkam, seitdem Sævar sich nach siebenjähriger Beziehung von seiner Freundin getrennt hatte. Er brachte es nicht übers Herz, sie allein zu Hause zu lassen, deshalb gehörte sie in der Polizeistation mittlerweile fast zum Inventar. Seine Ex hatte bereits einen Neuen und erwartete ein Kind. Sævar freute sich erklärtermaßen für sie, aber Elma fragte sich, ob er das wirklich so meinte. Über Birtas Entscheidung, sich immer zu Elma zu legen, schien er auch nicht sonderlich erfreut, aber darüber machte er immerhin Witze. Elma hatte beobachtet, dass er Birta konzentriert anstarrte, wenn sie bei ihr lag, wie um ihr telepathisch mitzuteilen, lieber zu ihm zu kommen. Birta reagierte nicht auf ihn, aber das tat sie auch sonst nicht, wenn Elma in der Nähe war. Dann gehorchte sie ihm ohnehin nicht mehr, sondern sah Elma nur fragend an und wartete auf Anweisungen von ihr.
»Ich rufe ihren Vater an«, sagte Sævar, ohne den Blick von Birta abzuwenden.
»Wie du willst«, antwortete Elma und erhob sich. Birta sprang auf und folgte ihr gehorsam ins Büro, wo sie sich wieder zu ihren Füßen legte.
Die Pflegeeltern Sæunn und Fannar sahen auf dem Papier nahezu perfekt aus. Sie war Zahnärztin, er Ingenieur, und sie lebten im Neubauviertel des Ortes in einem Einfamilienhaus – einer dunkelgrauen Box mit Terrasse aus Beton. Neben Hekla hatten sie einen Sohn, einen Jungen, den sie erst zur Pflege aufgenommen und dann adoptiert hatten. Er hieß Bergur und ging seit einigen Monaten in die erste Klasse der Grundschule. Bei ihrer Begegnung im Frühjahr hatte Sæunn Elma ohne Hemmungen erzählt, dass sie den Entschluss zu adoptieren nach zahlreichen Fehlgeburten getroffen hatten. Nicht für alle Eltern kam infrage, Kinder zur Pflege aufzunehmen oder zu adoptieren, die nicht ihre leiblichen Nachkommen waren, aber Sæunn und Fannar schienen Bergur und Hekla nicht weniger zu lieben als andere Eltern ihre Kinder. Sie empfingen Elma und Sævar in ihrem Haus mit vielen Fotos und abstrakten Bildern an den Wänden, signiert von Hekla und Bergur in unterschiedlich großen Buchstaben.
Hekla saß über ausgebreiteten Schulbüchern am Küchentisch. Sie trug einen viel zu großen schwarzen Kapuzenpulli, und die dunklen Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Als sie eintraten, blickte sie auf und nahm aus einem Ohr den Bluetooth-Kopfhörer.
Elma lächelte ihr zu, Hekla erwiderte das Lächeln zögerlich.
»Wollen wir uns nicht ins Wohnzimmer setzen?«, fragte Sæunn und deutete nach rechts. Sie ließ Elma und Sævar vorgehen, wartete auf Hekla und legte die Hand auf ihre Schulter. Sæunn überragte ihren Mann um ein paar Zentimeter und war deutlich größer als Hekla, die für ihr Alter eher klein wirkte. Sie reichte Elma gerade einmal bis zur Schulter, und Elma war auch keine Riesin, sondern ziemlich durchschnittliche eins achtundsechzig groß.
»Heute Morgen …«, begann Elma, als sie sich gesetzt hatten. Sie erzählte vom Leichenfund und sah, wie sich die Gesichtsausdrücke ihrer Gesprächspartner veränderten. Zu sehr ins Detail wollte sie nicht gehen, sie sprach deutlich und fasste sich kurz. Selbst versuchte sie, nicht an die Überreste zu denken, die schon lange nicht mehr an den Menschen erinnerten, den sie einmal gebildet hatten.
»Im Lavafeld bei Grábrók?«, wiederholte Fannar. Er war bis an die Sofakante vorgerückt. Irgendwo im Haus erklangen schrille Stimmen von Zeichentrickfiguren aus einem Fernseher. »Ich verstehe nicht. Warum ausgerechnet dort? Ist sie selbst dort hingefahren?«
»Wir werden unser Bestes geben, das herauszufinden«, sagte Elma. »Maríannas Überreste werden zu einem Rechtsmediziner gebracht, der sie morgen genau untersuchen wird und hoffentlich die Todesursache feststellen kann.«
»Todesursache? Ihr habt doch gesagt, dass sie …«, Sæunn sah Hekla neben ihr fragend an und senkte die Stimme, »dass sie sich wahrscheinlich selbst das Leben genommen hat?«
Die Worte schienen auf Hekla keinen Eindruck zu machen, vermutlich kannte sie alle Spekulationen über das Verschwinden ihrer Mutter bereits und ging sie immer und immer wieder im Kopf durch. Ihre momentanen Gedanken waren unmöglich zu erkennen. Sie sah sie mit starrer Miene und großen Augen an, die Mundwinkel zeigten dabei leicht nach unten.
»Ja, das dachten wir«, sagte Sævar. »Ohne die Leiche konnten wir aber nichts bestätigen. Das war nur eine unserer Vermutungen.«
Sæunn legte den Arm um Hekla, die sich mit dem Kopf an ihre Schulter lehnte. Den Blick wandte sie von ihnen ab und starrte auf eine Glasschale auf dem Wohnzimmertisch.
»Sobald wir mehr wissen, melden wir uns«, sagte Elma.
»Wir werden die Ermittlungen natürlich wieder aufnehmen«, fügte Sævar hinzu. »Darum wollten wir fragen, ob ihr euch noch an etwas erinnert, das relevant sein könnte. Informationen, die im Frühjahr nicht aufgekommen sind? Egal was.«
»Ich … ich weiß nicht.« Sæunn sah ihren Mann an. »Fällt dir noch etwas ein, Fannar?«
Fannar schüttelte langsam den Kopf.
»Hekla«, sagte Elma. »Du hast deine Mutter zum letzten Mal am Donnerstagabend, dem 3. Mai, gesehen, richtig? Weißt du noch, ob an dem Tag etwas anders war als sonst?«
Hekla schüttelte den Kopf. »Sie war einfach wie immer.«
»Und die Tage davor? Hat sich deine Mutter irgendwie ungewöhnlich verhalten?«
»Ich weiß nicht.« Hekla blickte hinunter auf ihre schwarzen Fingernägel und knibbelte an dem Lack. »Also, sie hatte einfach gute Laune. Ich glaube, sie hat sich auf diesen … auf das Treffen mit diesem Typen gefreut. Hing die ganze Zeit am Handy.«
Genau das hatte Hekla im Frühjahr auch gesagt. Bei der Untersuchung von Maríannas Laptop hatten sie viele Nachrichten zwischen Maríanna und dem Mann, den sie treffen wollte, gefunden. Die meisten Unterhaltungen hatten über ihre Social Media Accounts stattgefunden, zu denen die Polizei Zugang bekommen hatte.
Elma beobachtete Hekla. Sie war schwer zu lesen, zeigte kaum Emotionen und sagte von sich aus nicht viel. Das Gefühl hatte sie schon zu Beginn der Ermittlungen im Frühjahr gehabt. Sie ließ einen nicht an sich heran, es war schwer, mehr aus ihr herauszubekommen als direkte Antworten auf konkrete Fragen. Sie hatte weder geweint noch sonst irgendeine innere Unruhe gezeigt. Natürlich waren Kinder alle unterschiedlich, und es gab mehr als einen Weg, mit einem Vorfall wie diesem umzugehen. Hekla trug ihre Gefühle jedenfalls nicht nach außen. Die Umstände von Maríannas Verschwinden waren aber auch etwas speziell. Lange Zeit wusste niemand, ob sie wiederkommen würde. Vermisstenfälle wie dieser konnten für die Angehörigen schwieriger sein, als wenn jemand tot gefunden wurde. Die Ungewissheit machte den Trauerprozess komplizierter, und oft blieben Freunde und Verwandte in einer Art Vakuum zurück, aus dem sie keinen Ausweg sahen.
»Und was jetzt?«, fragte Sæunn.
»Wie Sævar schon sagte, werden wir die Ermittlungen wieder aufnehmen. Wir melden uns, wenn wir Neues erfahren, und auch, falls wir noch mehr Informationen von euch brauchen«, sagte Elma.
Sie verabschiedeten sich, und Sæunn begleitete sie zur Tür.
»Ich denke, Hekla würde irgendeine Form von Traumatherapie guttun«, sagte sie und warf einen Blick zurück ins Wohnzimmer, wie um sich zu versichern, dass Hekla sie nicht hörte. »Die Sache nimmt sie sehr mit.«
»Natürlich«, sagte Elma. »Ich werde das veranlassen. Das ist kein Problem.«
Sæunn nickte.
»Und wie lief es ansonsten bei euch?«, fragte Elma.
»Wie es lief?«
»In den letzten Monaten, meine ich. Hat sie sich gut an die neuen Umstände gewöhnt?«
»Ja, sehr gut«, sagte Sæunn. »Sie weiß aber nicht so recht, wie sie mit all dem umgehen soll, und sie kommt mir etwas verloren vor. Deshalb denke ich, dass ihr etwas Unterstützung guttäte. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war nicht wie bei den meisten Kindern. Am Ende der Wochenenden bei uns wollte Hekla oft nicht zurück nach Hause, und wir mussten sie überreden, wieder zu ihr zu gehen.«
»Verstehe.«
»Ja«, fuhr Sæunn fort. »Also hatte es auf eine gewisse Weise auch etwas Gutes für Hekla. Damit will ich nicht sagen, dass an Maríannas Tod etwas gut war, auf keinen Fall. Aber Heklas Situation hat sich zum Besseren gewandelt, und ich weiß, wie froh sie ist, endlich bei uns leben zu können.«
Elma lächelte, auch wenn sie die Aussage seltsam fand. Offensichtlich waren Sæunn und Fannar besser bei Kasse als Maríanna. Ihr Haus war größer, das Auto schicker. Maríanna brauchte etwas Unterstützung, aber es wirkte nicht so, als hätte das Hekla geschadet.
»Wann kam sie zum ersten Mal zu euch?«
Sæunn lächelte. »Als sie drei Jahre alt war, noch ganz winzig. Sie war so ein wundervolles Kind, und ich hätte sie am liebsten fest umarmt und nie wieder losgelassen.«
Ich war nicht immer so leer. Als Kind war ich voller Emotionen – Wut, Hass, Liebe und Kummer. Vielleicht habe ich damals zu viel gefühlt, und jetzt ist nichts mehr übrig. Diese Taubheit in meinem Körper, in meiner Seele, lässt mich Dinge tun, die andere schlimm finden, aber das ist mir egal. Es scheint nichts mehr da zu sein, außer der feuerroten kochenden Wut, die ich nicht unter Kontrolle habe. So wie schon damals als Kind, wenn meine Finger zitterten und mir ganz heiß im Gesicht wurde. Ich fühlte mich wie ein Luftballon, der immer größer wurde, bis er mit einem lauten Knall platzte. Manchmal ließ ich die Wut an meinen Eltern aus. Manchmal an einer Puppe namens Matthildur. Sie hatte eine Glatze, und ihre Augen klappten zu, wenn man sie hinlegte. Ich hatte keine Lust, wie meine Freundinnen mit ihr in einem Puppenwagen herumzuspazieren. Und schon gar nicht, ihr Kleider anzuziehen und ein Fläschchen zu geben, mit etwas, das aussah wie Milch.
Einmal wurde ich richtig wütend. Ich weiß nicht mehr, warum genau, vermutlich wegen etwas, das meine Eltern getan oder eben nicht getan hatten. Aber egal. Ich weiß nur noch, dass ich die Zimmertür zugeschlagen habe und mit aller Kraft versuchte, die Tränen der Wut zurückzuhalten, ohne Erfolg. Ich stand mitten im Zimmer und musste an Matthildur denken, die in ihrem hübschen Kleid auf meinem Bett lag. Die Augen starr in die Luft gerichtet und mit diesem dämlichen Grinsen im Gesicht, als wäre sie immer fröhlich. Ich nahm sie hoch, und ohne lang nachzudenken, schlug ich ihren Kopf gegen die Wand. Immer und immer wieder, bis mir die Hände wehtaten und ich ganz außer Atem war vor lauter Anstrengung. Am Ende habe ich sie losgelassen, und sie fiel auf den Boden. Dann hielt ich inne und spürte, wie sich ein taubes Gefühl in mir ausbreitete. Ich wusste nicht, ob es mir gut ging oder schlecht. Wütend war ich nicht mehr, aber als ich die Puppe mit einem rosa Farbfleck auf der Stirn auf dem Boden liegen sah, kam es mir vor, als hätte ich etwas falsch gemacht. Ich hob sie auf, hielt sie eng an meinen Körper und wiegte sie, während ich vor mich hinmurmelte: Verzeih mir, verzeih mir.
Es ist ein komisches Gefühl, so klein zu sein und sich zu fühlen wie ein schwarzer Fleck auf einem weißen Laken. Als würde sich die Welt in einem Höllentempo vorwärtsbewegen, als müsste man sich irgendwo festhalten, um nicht hinzufallen. Ich wollte das Böse in mir immer verstecken, aber ich wusste, dass es da war – klein und schwarz mit Hörnern und einem Schwänzchen. Es saß auf meiner Schulter, flüsterte Befehle und stupste mich mit den spitzen Hörnern an. Ich verstand nicht genau, warum, doch es machte mich glücklich. Glücklicher als alles andere. Das war mir nicht erst als Jugendliche oder Erwachsene klar geworden. Nein, das wusste ich schon, als ich noch im Kindergarten war und die kleine Villa gekniffen habe. Villa war ein nerviges, hässliches Mädchen, das nach Pisse stank. Sie war ein Jahr jünger als ich und redete immer in einem weinerlichen Tonfall. Ganz egal, was sie sagte, sogar wenn sie eigentlich fröhlich war. Wenn ich an sie denke, habe ich immer den Schnodder vor Augen, der aus ihrer Nase triefte. Diese kleine Zunge, die schnell über die Oberlippe leckte, als wäre der Rotz ein Leckerbissen. Immer wenn die Erzieherin den Raum verließ, schlich ich zu ihr hin und kniff sie von hinten in den Arm, sodass sie erschrak und aufheulte. Das gehörte zu den wenigen Dingen, die mir zu der Zeit Freude bereiteten. Ich muss um die fünf gewesen sein.
Das war natürlich, bevor meine Taten ein Nachspiel hatten. Kinder können nämlich nicht für ihre Vergehen verantwortlich gemacht werden, Jugendliche aber schon. Auch wenn sie eigentlich gar nicht wissen, was sie tun, und immer noch Kinder sind, auch wenn ihre Körper sich verändern und die Welt größer wird. Das habe ich zu spüren bekommen, als ich mit dreizehn in der Umkleide des Schwimmbads ein Bild von diesem fetten Mädchen gemacht habe, deren Namen ich nicht mehr weiß. Wir nannten sie immer nur Klopsi, was sich, glaube ich, auf ihren Namen reimte. In der Pause habe ich den anderen in meiner Klasse das Bild gezeigt. Sie lachten und machten Würgegeräusche, und das Mädchen sah aus der Ferne zu. Ihre molligen Wangen waren so rot wie der Pulli, den sie jeden Tag trug, das ganze Jahr über. Als alles herauskam, musste ich mich bei ihr entschuldigen. Mit meinen Eltern zu einem Treffen mit ihren Eltern gehen, die mich ansahen, als wäre ich Dreck, der in ihrem Abfluss festhing, während der Schulleiter über Mobbing und seine Folgen schwafelte.
Danach war ich schlau genug, mich nicht mehr erwischen zu lassen. Meistens jedenfalls. Natürlich wurde ich mit der Zeit reifer und verstand, dass man sich gut präsentieren muss, wenn man in dieser Welt etwas erreichen will. Niemandem seine wahren Gedanken preisgeben darf, auch wenn einem klar ist, dass alle dieselben schrecklichen Gedanken haben, die nur keiner laut auszusprechen wagt. Ich habe also relativ schnell gelernt, den Mund zu halten und zu lächeln. Süß zu sein. Ja zu sagen.
In den Augen der meisten war ich ein ganz normales Mädchen. Vielleicht etwas hitzköpfig, wie meine Großmutter gesagt hätte. In letzter Zeit habe ich aber das Gefühl, mich selbst nicht unter Kontrolle zu haben. Ich stelle mir vor, dass meine Seele die Farbe wechselt; manchmal ist sie gelb, hie und da blau und gelegentlich auch knallrot.
»Elma, mein Schatz, versuch doch bitte, nett zu deiner Schwester zu sein. Ein bisschen Höflichkeit kostet nichts.«
»Was meinst du? Ich bin immer nett.« Elma sah ihrer Mutter dabei zu, wie sie versuchte, eine Lichterkette zu entwirren, die sie schnell noch auf einen Strauch vor dem Haus hängen wollte, obwohl es bereits gegen neun Uhr abends war. Elma hatte lange gearbeitet und das Abendessen verpasst. Als sie endlich Feierabend machen konnte, warteten bei ihren Eltern die Reste der Lammkeule mit Kartoffelgratin auf sie, die sie in der Mikrowelle erwärmte. Elma schlang das Essen in Rekordzeit hinunter, während ihre Mutter sie zu dem Leichenfund löcherte. Aðalheiðurs Neugier kannte keine Grenzen, und obwohl Elma immer wieder betonte, dass es nicht viel zu erzählen gebe, hörte sie nicht auf zu fragen.
»Na gut.« Ihre Mutter schien es gelassen zu nehmen.
Elma zog die Jacke enger um sich. Ihr war immer noch kalt vom Tag, und sie freute sich schon auf das warme Bett, während ihre Mutter damit kämpfte, die Lichterkette an dem Strauch festzumachen.
»Lass mich dir helfen«, sagte Elma und griff nach dem einen Ende der Kette. Als sie die Weihnachtsbeleuchtung an den Zweigen befestigt hatten, sah sie ihre Mutter noch einmal an und wiederholte: »Ich bin immer nett zu ihr, sie ist diejenige, die …«
Ein Seufzen ihrer Mutter ließ sie verstummen. »Ach, Elma, warum müsst ihr euch immer so anstellen? Schon seit ihr ganz klein wart, ständig diese Streitereien.«
»Aber, Mama …« Elma verschlug es beinahe die Sprache. »Du weißt doch, wie das damals für mich war. Sie war diejenige, die nichts mit mir zu tun haben wollte. Wenn sie sich nur ein kleines bisschen für mich interessiert hätte, und sei es nur ein einziges Mal …« Elma merkte, dass sie lauter wurde, und riss sich zusammen, um nichts zu sagen, was sie später bereuen würde. »Du erinnerst dich einfach nicht mehr daran.«