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Eine schwerreiche isländische Familie trifft sich in einem abgelegenen Hotel in den Lavafeldern zu einem Familienfest. Zunächst sieht alles nach einer gelungenen Feier aus. Doch als plötzlich jemand verschwindet, wird klar, dass in dieser Familie längst nicht alles Gold ist, was glänzt, und jeder und jede ist plötzlich verdächtig. Der reiche und mächtige Snæberg-Clan trifft sich zu einem Familienfest in einem futuristischen Hotel inmitten der Lavafelder Westislands. Petra Snæberg, eine erfolgreiche Innenarchitektin, macht sich Sorgen um ihre Tochter Lea, deren Social-Media-Präsenz die falschen Follower angesprochen hat. Tryggvi, der Außenseiter der Familie, gibt sich große Mühe, dem Alkohol aus dem Weg zu gehen, weil er genau weiß, was sonst passieren kann. Die Hotelangestellte Irma ist aufgeregt, dass sie diese berühmte Familie im Hotel betreuen kann. Doch im Verlauf des Wochenendes verschlechtert sich das Wetter immer mehr, ein Schneesturm zieht auf, und der Alkohol fließt in Strömen. Plötzlich verschwindet einer der Gäste, und es verdichten sich die Anzeichen, dass sich draußen auf dem Hotelgelände jemand herumtreibt. Mit meisterhaft aufgebauter Spannung versetzt uns Eva Björg Ægisdóttir in eine abgelegene, eisige Welt, in der man niemandem trauen kann. Schicht um Schicht werden die dunklen Geheimnisse und die schmerzliche Vergangenheit der Familie Snæberg freigelegt, bis die schockierende Wahrheit ans Licht kommt. Alle Fälle der Krimi-Reihe »Mörderisches Island«: - Verschwiegen - Verlogen - Verborgen - Verlassen Die Bücher erzählen eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 449
Eva Björg Ægisdóttir
Ein Island-Krimi
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Titelseite
Über Eva Björg Ægisdóttir
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Eva Björg Ægisdóttir ist Jahrgang 1988 und lebt mit ihrem Partner und drei Kindern in Reykjavík. Sie ist in Akranes geboren und aufgewachsen, der Stadt, in der ihre Krimis spielen. Nach ihrem Abschluss in Soziologie zog sie nach Trondheim in Norwegen, wo sie einen Master in Globalisierung machte. Für ihren ersten Krimi wurde sie mit dem renommierten isländischen Blackbird-Award ausgezeichnet.
Freyja Melsted ist in Österreich und Island aufgewachsen. Sie übersetzt aus dem Englischen, Spanischen und Isländischen.
zur Kurzübersicht
Der reiche und mächtige Snæberg-Clan trifft sich zu einem Familienfest in einem futuristischen Hotel inmitten der Lavafelder Westislands. Petra Snæberg, eine erfolgreiche Innenarchitektin, macht sich Sorgen um ihre Tochter Lea, deren Social-Media-Präsenz die falschen Follower angesprochen hat. Tryggvi, der Außenseiter der Familie, gibt sich große Mühe, dem Alkohol aus dem Weg zu gehen, weil er genau weiß, was sonst passieren kann. Die Hotelangestellte Irma ist aufgeregt, dass sie diese berühmte Familie im Hotel betreuen kann. Doch im Verlauf des Wochenendes verschlechtert sich das Wetter immer mehr, ein Schneesturm zieht auf, und der Alkohol fließt in Strömen. Plötzlich verschwindet einer der Gäste, und es verdichten sich die Anzeichen, dass sich draußen auf dem Hotelgelände jemand herumtreibt.
Mit meisterhaft aufgebauter Spannung versetzt uns Eva Björg Ægisdóttir in eine abgelegene, eisige Welt, in der man niemandem trauen kann. Schicht um Schicht werden die dunklen Geheimnisse und die schmerzliche Vergangenheit der Familie Snæberg freigelegt, bis die schockierende Wahrheit ans Licht kommt.
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Karte
Widmung
Motto
Stammbaum der Familie Snæberg
In der Nacht auf Sonntag, den 5. November 2017
Zwei Tage vorher Freitag, 3. November 2017
Irma Hotelangestellte
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Zwei Tage vorher Freitag, 3. November 2017
Petra Snæberg
Tryggvi
Petra Snæberg
Lea Snæberg
Irma Hotelangestellte
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Zwei Tage vorher Freitag, 3. November 2017
Petra Snæberg
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Irma Hotelangestellte
Tryggvi
Petra Snæberg
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Zwei Tage vorher Freitag, 3. November 2017
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Irma Hotelangestellte
Tryggvi
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist aus Akranes
Zwei Tage vorher Freitag, 3. November 2017
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Zwei Tage vorher Freitag, 3. November 2017
Irma Hotelangestellte
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Irma Hotelangestellte
Petra Snæberg
Tryggvi
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Zwei Tage vorher Freitag, 3. November 2017
Tryggvi
Petra Snæberg
Lea Snæberg
Irma Hotelangestellte
Samstag, 4. November 2017
Petra Snæberg
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Am Tag davor Samstag, 4. November 2017
Tryggvi
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Irma Hotelangestellte
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Tryggvi
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Am Tag davor Samstag, 4. November 2017
Petra Snæberg
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Irma Hotelangestellte
Tryggvi
Lea Snæberg
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Am Tag davor Samstag, 4. November 2017
Petra Snæberg
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Tryggvi
Petra Snæberg
Irma Hotelangestellte
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Lea Snæberg
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar
Am Abend davor Samstag, 4. November 2017
Tryggvi
Petra Snæberg
Irma Hotelangestellte
Tryggvi
Irma Hotelangestellte
Tryggvi
Petra Snæberg
Irma Hotelangestellte
Lea Snæberg
Petra Snæberg
Lea Snæberg
Irma Hotelangestellte
Petra Snæberg
Tryggvi
Irma
Petra Snæberg
Tryggvi
Irma Hotelangestellte
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
In der Nacht auf Sonntag, den 5. November 2017
Petra Snæberg
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Irma Hotelangestellte
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
In der Nacht auf Sonntag, den 5. November 2017
Petra Snæberg
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
In der Nacht auf Sonntag, den 5. November 2017
Irma Hotelangestellte
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Jetzt Sonntag, 5. November 2017
Petra Snæberg
Sonntag, 5. November 2017
Tryggvi
Sonntag, 5. November 2017
Sævar Kriminalpolizist in Akranes
Dank
Dieses Buch ist für meine Familie.
Hoffentlich wird unser nächstes Familientreffen nicht so verkorkst wie das hier im Buch.
Pst, nehmt euch in Acht,
denn hier sind überall Gespenster,
ich höre schon die ganze Nacht,
Atemzüge an meinem Fenster.
Þórður Magnússon von Strjúguraus dem 16. Jahrhundert
Die Musik aus dem Hotel ist nicht mehr zu hören.
Die Kälte kriecht ihr bis in die Knochen. Es bringt nichts, die Jacke enger zu ziehen, der Wind bahnt sich trotzdem einen Weg hindurch.
Ihr gesamter Körper fleht sie an, sofort umzukehren. Nichts Gutes kann davon kommen, mitten in der Nacht in einer unbekannten Gegend herumzuirren. Sie denkt an ihre Familie, die sich immer noch im Hotel betrinkt. Für eine Weile wird niemandem auffallen, dass sie weg ist. Sollte etwas passieren, würde frühestens morgen jemand Hilfe rufen.
Trotzdem zieht sie nur den Kopf ein und geht weiter. Sie versucht, die Finger und Zehen zu bewegen, spürt sie aber kaum noch. Im Augenwinkel bemerkt sie eine Bewegung und dreht schnell den Kopf. Ihr Herz schlägt schneller, als sie die Umrisse einer Person erkennt, doch es ist nur eine Lavaformation. Das hätte sie ahnen können.
Sie geht langsam weiter und versucht, an etwas anderes zu denken. Es muss schon spät sein, aber sie hat keine Ahnung, wie lange sie bereits herumirrt. In der Finsternis und dem Schneesturm scheint es weder Zeit noch Raum zu geben.
Auf einmal hört sie Schritte, als wäre jemand hinter ihr. Sie blickt sich um. Erst kann sie im Schneegestöber nichts erkennen, doch dann wird das Gesicht des Mannes immer deutlicher. Sie erkennt ihn und atmet ein wenig auf. Doch als er näher kommt, bemerkt sie seine Augen. Schwarz wie die Nacht. Der Mann sieht nicht sie an, sondern etwas hinter ihr. Er wirkt außer sich vor Wut. Dann rennt er plötzlich los.
Erst jetzt bekommt sie richtig Angst.
Ich reiße die Augen auf und bin wie auf Knopfdruck wach. Ein schaler Kaffeegeruch dringt aus der Küche über meinem Zimmer und ich atme tief ein, drehe mich auf den Rücken und strecke mich.
Heute ist Freitag, meine Schicht beginnt um zwölf und geht bis Mitternacht, wie an allen anderen Freitagen auch. Es ist erst acht, also könnte ich noch liegen bleiben, etwas länger schlafen oder lesen. Doch dafür bin ich viel zu aufgeregt.
Ich fühle mich ein bisschen wie früher, als ich abends noch öfter ausgegangen bin. Dieses vorfreudige Kribbeln im Bauch, wenn etwas Spannendes bevorsteht.
Heute kommen sie, denke ich und freue mich wie ein Kind an Weihnachten.
Ich weiß, wie albern das wirkt. Für die meisten Menschen wäre es nichts Besonderes, aber am Wochenende findet im Hotel eine große Familienfeier statt, ein Geburtstagsfest, um genau zu sein. Bei der Buchung meinte die Frau am Telefon, ihr Großvater wäre am Sonntag hundert Jahre alt geworden, und aus diesem Anlass wollten seine Nachkommen ein gemeinsames Wochenende verbringen. Sie haben das ganze Hotel reserviert, auch wenn sie wohl kaum alle Zimmer brauchen werden.
Das mag an sich nicht aufregend klingen, aber die Snæbergs sind keine gewöhnliche Familie. Sie sind einer der reichsten und einflussreichsten Clans Islands. Ingólfur Snæberg, dessen Geburtstag gefeiert wird, hat die allseits bekannte Snæberg GmbH gegründet, ein riesiges Imperium mit Hunderten Mitarbeitern, das jedes Jahr einen Milliardenumsatz schreibt.
Was das Unternehmen eigentlich macht und wie es dazu kam, weiß ich gar nicht so genau. Aber die Familie ist jedenfalls sehr reich.
Ich richte mich auf und öffne die Jalousien. Draußen ist es immer noch ziemlich dunkel, die Sonne wird erst in etwa einer Stunde aufgehen, aber das moosbedeckte Lavafeld rund um das Hotel ist bereits zu erkennen. Seit ich hier arbeite, habe ich mich immer wieder gefragt, ob ich jemals wieder in der Stadt leben könnte. In meiner alten Wohnung, wo ich aus dem Fenster nur das Schlafzimmer des Nachbarn und die Mülltonnen im Innenhof gesehen habe.
Ich hole meinen Laptop vom Schreibtisch und lege mich wieder ins Bett. Im Internet sind jede Menge Bilder der Familienmitglieder zu finden, einige von ihnen sind wichtige Figuren in Wirtschaft und Politik und die jüngeren gehören der Partyszene an und können kaum einen Fuß vor die Tür setzen oder etwas online posten, ohne dass darüber berichtet wird.
Einer von ihnen ist Hákon Ingimar, für eine Weile war er mit einer isländischen Sängerin zusammen, bevor er sich ein portugiesisches Model geangelt hat.
Ich klicke auf eine aktuelle Meldung über ihn und sehe, dass die beiden gar kein Paar mehr sind. Auf dem Bild zum Artikel umarmen sie sich trotzdem noch innig. Er ist blond und braun gebrannt, hat blaue Augen und trägt ein Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, wie ein Filmstar oder ein Model aus einer Parfümwerbung. Sie sieht aus, wie die meisten Mädchen gerne aussehen würden, hat pralle Lippen und schlanke Beine.
Bei dem Anblick fällt es schwer, nicht neidisch auf die beiden und ihr glamouröses Leben zu werden. Sich nicht zu fragen, wie es wohl wäre, so reich und schön zu sein, dass die Welt einem zu Füßen liegt. Einfach mal spontan übers Wochenende nach Paris zu fliegen und sich alles zu kaufen, was das Herz begehrt. Ich kann kaum in den Supermarkt gehen, ohne an der Kasse Bauchschmerzen zu bekommen.
Hákon Ingimar könnte das bestimmt nicht nachvollziehen. Ein Blick auf sein Instagram-Profil reicht, um zu sehen, dass es ihm nicht an Geld fehlt. Auf den Bildern trägt er bekannte Luxuslabels, wenn er überhaupt etwas anhat, und trinkt mit Freunden und Fans Champagner in Fünfsternehotels. Hákon Ingimar war bestimmt noch nie einsam. Dafür ist er viel zu beliebt.
Ich war nie beliebt. Es fiel mir schon immer schwer, Freunde zu finden und zu halten, immer diejenige zu sein, die sich meldet. Manchmal wurde mir gesagt, dass ich zu aufdringlich sei, lästig sogar. Aber in Wahrheit ist man nur lästig, wenn die andere Person einen einfach nicht um sich haben will. Die meisten umgeben sich vermutlich lieber mit Menschen wie Hákon Ingimar.
Ich atme tief durch, solche Vergleiche bringen nichts. Und es ist nicht so, als wäre den Snæbergs alles in den Schoß gefallen, zumindest anfangs nicht. Hákons Urgroßvater Ingólfur hat mit siebzehn sein erstes Unternehmen gegründet, einen kleinen Fischereibetrieb auf Snæfellsnes. Er hat sein Leben lang hart gearbeitet, um ein Vermögen aufzubauen. Seine Nachkommen haben das Geld dann gut angelegt und mussten vielleicht nicht so viel dafür tun wie andere, die von vorne anfangen, aber ganz ohne Einsatz lässt sich derartiger Reichtum auch nicht aufrechterhalten.
Ich gehe zurück auf die Suchübersicht und entdecke einen Eintrag zu Petra, ebenfalls ein Urenkelkind von Ingólfur. Soweit ich weiß, hat sie sich als Innenarchitektin selbstständig gemacht, arbeitet also nicht für das Familienunternehmen, wobei sie natürlich trotzdem davon profitiert hat. In den sozialen Medien hat sie Tausende Follower und arbeitet mit vielen anderen Unternehmen zusammen. Die Zeitungen und Onlinemedien sind voll mit Anzeigen, in denen unter ihrem Gesicht steht: Hol dir Petra ins Haus und verwandle es in einen Wohlfühlort.
Den Begriff Wohlfühlort benutzt sie ständig, er taucht in fast allen Artikeln und Interviews auf: Das Zuhause ist in erster Linie ein Wohlfühlort. Eine Reflexion deines inneren Ichs.
Mir wäre es ziemlich unangenehm, wenn Leute von meiner Wohnung auf mein inneres Ich schließen würden. Über die Einrichtung habe ich mir jedenfalls nicht wirklich Gedanken gemacht, die Dinge stehen einfach da, wo sie Platz haben. Regale sind nur Regale, ein Aufbewahrungsort für Gegenstände. Es ist eine passable Wohnung, aber sicherlich kein Wohlfühlort.
Ich klicke auf Petras Facebook-Profil und sehe mir die Bilder an.
Ihr Mann heißt Gestur, und auf den ersten Blick ist nicht ganz nachvollziehbar, warum Petra mit jemandem wie ihm zusammen ist. Er muss jedenfalls eine tolle Persönlichkeit haben. Gestur arbeitet als Programmierer bei einem Pharmaunternehmen, aber wahrscheinlich wird er früher oder später in das Familien-Business einsteigen, wie fast alle, die in den Snæberg-Clan einheiraten. Eigentlich wundert es mich, dass er nicht schon längst gewechselt hat.
Gestur und Petra haben zwei Kinder, Ari und Sigrún Lea, die immer nur Lea genannt wird. Kurze niedliche Namen, die zu kleinen Kindern passen, aber nicht zu Erwachsenen. Auf alten Bildern sehen sie ziemlich süß aus: Ari in einem Trikot mit blonden Haaren, die in der Sommersonne beinahe weiß leuchten, Lea, die fröhlich in die Kamera lacht, sodass ihre riesigen Schneidezähne zu sehen sind. Ihre dunklen Haare reichen ihr bis zur Hüfte.
Lea ist älter als Ari, aber nicht viel, vielleicht zwei oder drei Jahre. Ich klicke auf ihren Namen, aber auf Facebook ist kaum etwas über sie zu finden. Auf Instagram ist sie dafür umso aktiver. Dort verzieht das kleine Mädchen mit den großen Schneidezähnen mittlerweile den Mund zu einem Duckface und zeigt ihren Bauchnabel. Sie sieht abgemagert aus und trägt die langen Haare in einem Pferdeschwanz, nur zwei Strähnen umrahmen das Gesicht. Irgendwie erinnert sie mich an eine Sängerin, deren Namen ich mir nie merken kann, die aber genauso zierlich ist und die gleichen langen Haare und braunen Augen hat.
Ich sehe mir den Hintergrund auf Leas Bildern an, um eine Vorstellung von ihrem Zimmer und ihrem Leben zu bekommen, aber mir fällt nichts Besonderes auf. Nichts, was mir sagt, wer sie ist und was sie macht. Viele der Bilder auf ihrem Profil sind im Ausland aufgenommen. Auf einem posiert sie im Bikini am Strand, auf einem anderen steht sie mit einer Einkaufstüte von Sephora am Times Square und auf dem nächsten mit einer Tüte von Gucci vor dem London Eye. Sie ist erst sechzehn und schon viel mehr herumgekommen als ich. Wie oft sie wohl ins Ausland fährt? In welchen Hotels übernachtet sie dann?
Ich schiebe den Laptop beiseite und sage laut, dass ich damit aufhören muss. Ich bin kein neidischer Mensch, aber obwohl ich mir einrede, dass die Snæbergs bestimmt genauso viele Probleme haben wie alle anderen auch, stelle ich mir andauernd vor, wie es wohl wäre, so zu sein wie sie.
Und gleich kommen sie alle hierher ins Hotel, und ich werde mit eigenen Augen sehen können, ob sie so perfekt sind, wie sie aussehen. Wahrscheinlich freue ich mich vor allem darauf, bei genauem Hinsehen die vielen kleinen Risse in der scheinbar perfekten Fassade zu sehen. Denn natürlich sind sie nicht perfekt.
Nichts ist perfekt.
Im Felsen war eine große Kluft, als hätte ihn jemand mit einem riesigen Messer gespalten. Sævar ließ den Blick nach oben zur Kante wandern, die viele Meter über ihm lag, und bekam weiche Knie. Einen Fall aus dieser Höhe würde vermutlich niemand überleben, den Beweis dafür hatten sie vor sich.
»Ziemlich hoch«, sagte Hörður, obwohl es eigentlich offensichtlich war.
»Ja.« Sævars Stimme klang etwas belegt, und er räusperte sich. Dann senkte er den Blick wieder, konzentrierte sich auf seine Schuhe und blinzelte ein paarmal. Seit er als kleiner Junge einmal miterlebt hatte, wie sein Freund vom ersten Stock eines Mehrfamilienhauses gefallen war, litt er unter schrecklicher Höhenangst. Sie waren auf dem Balkongeländer herumgeklettert, hatten einander herausgefordert, sich baumeln zu lassen. Als sein Freund den Halt verlor und in den Johannisbeerstrauch unter ihnen fiel, dachte Sævar erst, er wäre tot. Zum Glück hatte er nur einen gebrochenen Arm und ein paar Kratzer, mit denen er wochenlang prahlte.
Noch lange danach bekam Sævar aber immer wieder Albträume, in denen die Luft um ihn herumwirbelte, als fiele er selbst vom Balkon und nicht sein Freund. Manchmal wachte er auf dem Boden seines Schlafzimmers auf, aber meist lag er verschwitzt mit rasendem Herzen im Bett und klammerte sich an seine Decke. Nach all den Jahren mochte er immer noch keine Höhen, schon bei dem Gedanken daran wurde ihm mulmig zumute.
Also konzentrierte er sich auf die Leiche, die vor ihnen lag. Auf den ersten Blick fügte sie sich nahtlos in das Umfeld ein, die graue Jacke sah aus wie die Steine, die rundherum aus dem Schnee hervorragten. Bei genauerem Hinsehen war aber ein Körper in seltsamer Position zu erkennen, bedeckt von einer dünnen Schneeschicht.
Sævar sah, wie Hörður sich nach unten beugte und den Kopf neigte, bevor er eine Kamera hervorholte. Das laute Klicken des Auslösers zerriss die friedliche Stille.
Er kannte Hörður gut genug, um zu wissen, dass sie noch eine Weile hier sein würden. Hörður arbeitete für gewöhnlich langsam und äußerst sorgfältig. Sie hatten seit einigen Jahren immer wieder miteinander zu tun gehabt, und als Sævar vor zwei Jahren von der Streifenpolizei in die Kriminalabteilung gewechselt hatte, war Hörður sein direkter Vorgesetzter geworden. Seitdem arbeiteten sie täglich eng zusammen, als Teil eines dreiköpfigen Teams, das für ganz Westisland zuständig war.
Sævar sah sich um. Die Berge leuchteten weiß und in der Ferne waren die schneebedeckten Hänge des Gletschers Snæfellsjökull zu erkennen. Weit über seinem Kopf schwebten ein paar Vögel und vom Meer her hörte er Möwen kreischen. Auf der nahe gelegenen Straße herrschte kaum Verkehr, nur vereinzelt kamen Autos vorbei und verschwanden aus ihrem Blickfeld, sobald sie den Hang hinunterfuhren.
Ein paar wenige Schneewehen erinnerten noch an das Unwetter, das letzte Nacht über das Land gezogen war. Ansonsten war es friedlich und still. Die Ruhe nach dem Sturm, dachte Sævar. Oder sprach man eher von der Ruhe vor dem Sturm? Er war nicht ganz sicher.
Bevor er sich weiter umblicken konnte, winkte Hörður ihn zu sich.
»Siehst du das?«
Sævar trat näher. Wieder überkam ihn ein mulmiges Gefühl und er schluckte den Speichel, der sich in seinem Mund gesammelt hatte. Obwohl er eigentlich wusste, dass er nicht in Gefahr war, empfand er den hohen Felsen über sich als bedrohlich.
»Was meinst du? Was sollte ich sehen?«
»Da.« Hörður zeigte auf die Hand der Leiche.
Sævar brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Hörður meinte. Doch dann sah er es. Die Finger umklammerten eine dunkle Haarsträhne.
Den ganzen Morgen laufe ich schon wie ein kopfloses Huhn durchs Haus. Warum ist es nur so verdammt groß? Ganze dreihundertfünfundsechzig Quadratmeter, zwei Stockwerke, ein Keller und eine Doppelgarage. Natürlich bin ich froh, dass die Kinderzimmer auf einer anderen Etage liegen als das Schlafzimmer von Gestur und mir, aber es ist ein reiner Albtraum, das Haus sauber zu halten, wenn die Haushaltshilfe nicht da ist – geschweige denn nach etwas zu suchen. So wie jetzt, denn offenbar haben sich alle unsere Ladegeräte in Luft aufgelöst, obwohl wir eigentlich mehr als genug davon besitzen. Wahrscheinlich liegen sie bei Ari und Lea unter irgendwelchen Kleiderhaufen, aber die beiden bestreiten felsenfest, welche zu haben, und es käme natürlich nicht gut an, wenn ich ungebeten in ihre Zimmer gehen würde, um selbst zu suchen. Ich traue mich zu wetten, dass sie gar nicht erst nachgesehen haben.
»Lea und Ari!«, rufe ich noch einmal nach unten. »In zehn Minuten ist Abfahrt, bringt eure Sachen, damit Papa alles ins Auto laden kann.«
Ich warte kurz auf eine Antwort, aber die bleibt natürlich aus.
Wie sie meinen. Ich streiche meine Haare glatt und schaue, was noch gemacht werden muss. Das Geschirr vom Frühstück gehört noch weggeräumt, auf dem Küchentisch stehen immer noch Schüsseln mit etwas Milch und aufgeweichten Cheerios, die ich nicht einfach übers Wochenende stehen lassen kann.
Während ich sauber mache, gehe ich ein letztes Mal die Checkliste durch und überlege, was ich vergessen habe. Nicht nur die Küche sieht unmöglich aus. Gestern Abend kam Gestur erst spät nach Hause und wir haben uns gestritten, also habe ich mich schlafen gelegt, ohne zu erledigen, was ich mir eigentlich für den Abend vorgenommen hatte.
Normalerweise bin ich nicht so unorganisiert und warte mit dem Packen bis zum Abend vor der Abfahrt. Eigentlich habe ich immer alles unter Kontrolle, egal ob Geburtstage, Dinnerpartys oder sonstige Feiern. Ich gehöre zu den Menschen, die sich To-do-Listen schreiben. Es gibt für mich kaum ein besseres Gefühl, als erledigte Punkte abzuhaken. Auf meinem Laptop habe ich lauter Checklisten für Strandurlaub, Städtetrips oder Ausflüge aufs Land. Nichts wird dem Zufall überlassen. Ohne meine Ordnung hätte ich es nie geschafft, meine eigene Firma aufzubauen und gleichzeitig die Familie zusammenzuhalten.
Viele denken, aufgrund meiner familiären Beziehungen hätte ich es leicht gehabt, aber das war keineswegs der Fall. Ich habe mich auf Innenarchitektur und Beratung spezialisiert und das Unternehmen Innlit ganz allein aufgebaut, es hat Jahre gedauert, bis ich damit einen nennenswerten Umsatz gemacht habe.
Gestur hat BWL und Informatik studiert, also konnte er mir in vielem helfen, zum Beispiel bei der Arbeits- und Finanzplanung. Aber um alles andere habe ich mich anfangs selbst gekümmert; Kundenakquise, den Auftritt in sozialen Medien und die eigentliche Innenarchitektur. Doch mittlerweile habe ich einige Angestellte und betreue fast nur noch die neuen Kunden, höre mir ihre Ideen an, damit ich einen besseren Eindruck von ihren Vorstellungen bekomme. Das ist schwerer, als es klingt, denn meist haben die Menschen keine Ahnung, was sie eigentlich wollen.
Am Anfang waren die meisten Kunden Privatpersonen, aber in den letzten Jahren habe ich alles von Wohnungen bis hin zu Büros eingerichtet. Mittlerweile besteht mein Team aus fünfzehn Personen, darunter sieben Innenarchitekten, mit mir sind wir also zu acht, und bald werde ich noch weitere einstellen müssen. Ständig flattern neue Aufträge herein, und ich komme kaum hinterher. Letztes Jahr konnte ich meinen Eltern alles zurückzahlen, was sie über die Jahre in die Firma investiert haben.
Es verletzt mich, wenn Leute sagen, mir wäre alles zugeflogen, denn das ist eine Geringschätzung meiner harten Arbeit in den letzten zehn Jahren. Meine Eltern haben zwar in die Firma investiert und mir in der Anfangsphase geholfen, aber die Arbeit habe ich ganz allein gemacht. Ich habe die Marke aufgebaut, mich um das Marketing gekümmert, Kunden akquiriert und Mitarbeiter eingestellt. In letzter Zeit lief es ziemlich gut, hervorragend sogar. Eigentlich sollte ich überglücklich sein.
Ich schalte die Spülmaschine ein, obwohl sie noch nicht ganz voll ist. Dann lehne ich mich an den Küchentisch und lausche dem rhythmischen Geräusch.
Von gestern steht immer noch eine Flasche Wein auf dem Tisch, ich kann sie riechen und plötzlich greife ich schnell danach und stopfe sie in die Mülltonne, bis nichts mehr von ihr zu sehen ist. Als Gestur gestern Abend weg war, habe ich sie beim Fernsehen beinahe ausgetrunken. Ich musste irgendwie meine Nerven beruhigen. Seit Wochen zählt eine leise Stimme in meinem Kopf die Tage bis zu dem Familientreffen hinunter: drei, zwei, eins …
Ich lächle Ari zu, der endlich nach oben kommt, aber das Lächeln vergeht mir, als er eine saubere Schüssel und die Packung Cheerios hervorholt, die ich gerade weggeräumt habe.
»Was machst du da?«, frage ich.
»Frühstücken«, antwortet Ari in dem typisch unbekümmerten Tonfall eines Teenagers.
»Ich habe gerade eben alles weggeräumt, wir fahren gleich los.« Es klingt, als würde ich ihn anflehen.
Ari murmelt etwas zur Antwort und gießt Milch in die Schüssel.
Eine Weile beobachte ich ihn, ohne etwas zu sagen. Er hat schöne blonde Haare, die mal wieder geschnitten gehören, ihm aber ziemlich gut stehen. Als er klein war, hatte er weiße Löckchen, die mittlerweile zu Wellen geworden sind. Beim Anblick seiner glatten Haut würden Visagisten weit und breit vor Neid erblassen, aber durch den markanten Kiefer wirkt sein Gesicht nicht mehr so zierlich wie früher.
Ari hat mich schon immer um den Finger gewickelt, ich konnte ihm noch nie etwas verwehren und lasse ihm alles durchgehen. Schon als Kind hat er mich immer zum Lächeln gebracht, allein bei dem Gedanken an ihn wird mir warm ums Herz. Ich kann gar nicht sauer auf ihn werden.
»Was ist mit deiner Hand passiert?«, fragt er.
»Nichts«, sage ich und verstecke die abgekauten Fingernägel. Die Nagelhaut sieht schlimm aus, und ohne die nötige Selbstdisziplin würde ich mir wahrscheinlich die Finger abknabbern. In den letzten Jahren war es eigentlich besser geworden, im Erwachsenenalter konnte ich mich meist zusammenreißen, aber wahrscheinlich habe ich es diesmal im Schlaf gemacht. Als ich aufgewacht bin, war mein Kissen blutverschmiert und ich hatte diesen Eisengeschmack im Mund. Auf die Fingerkuppen habe ich Kinderpflaster geklebt, weil ich keine anderen gefunden habe.
Ari zieht die Augenbrauen hoch, die deutlich dunkler sind als seine blonden Haare. Als Kind hatte er riesige Augen. Und seine dunklen Wimpern waren so lang wie die einer Puppe.
Gestur betritt die Küche, begleitet von einem kalten Luftzug. Er muss die Haustür offen gelassen haben, und im Augenwinkel sehe ich die Büsche im Vorgarten. Der Wind wirbelt die verwelkten Blätter auf dem Gehsteig auf. Plötzlich höre ich laut, wie sie wieder auf dem Asphalt landen, als hätte jemand den Klang verstärkt und alles andere leiser gemacht. Drei, zwei, eins …
»Das Auto ist vollgetankt«, sagt Gestur.
»Sehr gut.« Ich lächle breit und verschränke die Arme. »Dann können wir los.«
In der Facebook-Gruppe, die für die Organisation des Familientreffens erstellt wurde, ging es bis vor drei Tagen vor allem ums Wetter. Laut der Vorhersage sollte es für November nämlich ungewöhnlich schön werden, sonnig und windstill, relativ warm und kaum Regen. In der Gruppe waren einige zum Scherzen aufgelegt und fragten, ob man nicht in Sonnencreme investieren sollte. Am Dienstag aber schlugen die Vorhersagen um, und plötzlich sah es nach heftigen Niederschlägen und Sturm aus, für Samstag wurde das erste Wintertief erwartet und es sollte ungewöhnlich kalt werden, das behauptete zumindest der Meteorologe im Fernsehen gestern, als er von allen unnötigen Reisen abriet. Ich würde ja gerne an die Sonnencremewitze erinnern, aber das käme wahrscheinlich nicht gut an. Zum Glück soll das Unwetter erst am Nachmittag beginnen, dann kann die für Vormittag geplante Bootsfahrt auf dem Breiðafjörður vermutlich noch stattfinden.
Ich finde es irgendwie witzig, dass in der Gruppe niemand über die neue Vorhersage spricht. In den letzten Tagen hat Oddný jedes Mal den Raum verlassen, wenn nach den Nachrichten das Wetter kam. Wahrscheinlich will sie die Prophezeiung nicht akzeptieren und hat einfach beschlossen, sie zu ignorieren.
Möglicherweise denkt sie auch, dass schlechte Vorhersagen für ihre Familie nicht gelten. Der Snæberg-Clan scheint manchmal zu glauben, über den Naturgesetzen zu stehen.
Ich sehe Oddný an, die auf dem Beifahrersitz neben mir sitzt. Sie hat sich zurechtgemacht, ein bisschen geschminkt und die Haare geföhnt. Ihre Kleidung ist aber leger; eine schwarze Hose und eine hellbraune Fleecejacke. Schick, aber nicht zu übertrieben. Oddný hatte schon immer ein Gespür dafür, was angemessen ist.
Sie ist gut gelaunt und macht das Radio lauter, wo Bon Jovis Livin’ on a Prayer läuft. Im Augenwinkel sehe ich, dass sie mit den Fingern den Rhythmus mittrommelt.
»Wir sollten bei Vegamót anhalten«, schlägt sie vor. »Eine Kleinigkeit essen.«
»Können wir machen.«
»Ich habe heute Morgen nicht gefrühstückt. Und die Muschelsuppe war beim letzten Mal ziemlich gut.«
Wir waren schon einmal zusammen auf Snæfellsnes und haben in einem Sommerhaus von Oddnýs Familie übernachtet. Die Hütte ist in keinem guten Zustand und müsste dringend renoviert werden. Während unseres Aufenthalts wollte ich mich einbringen, habe die Terrasse gestrichen und da und dort was hergerichtet, aber es scheint niemandem aufgefallen zu sein, zumindest hat niemand etwas gesagt.
»Deine Schwester haben wir schon eine Weile nicht gesehen«, sage ich. »Wann war das noch mal? Bei der Konfirmation im Frühling?«
»Ja, wahrscheinlich«, sagt Odnný. »Erschrick nicht, sie sieht mittlerweile etwas anders aus.«
»Was meinst du? Wie anders?«
Oddný lacht leise. »Sie hat sich das Gesicht machen lassen, du weißt schon, wenn man die Haut nach hinten zieht, um die Falten zu glätten. Die gute Ester war schon immer etwas eitel. Ingvar meinte, sie sehe aus, als hätte sie zu lange im Wind gestanden.«
»Wirklich?«
»Ja.« Oddný klappt die Sonnenblende herunter, sieht sich in dem kleinen Spiegel an und streicht über ihre Augenbrauen. »Aber sie wird es bestimmt nicht zugeben. Wie damals, als sie sich die Augenlider hat straffen lassen und so getan hat, als wäre nichts gewesen. Ich bin sicher, dass Halli sie dazu gedrängt hat.«
»Halli?«, frage ich. »Denkst du wirklich, dass er so etwas tun würde?« Haraldur kann etwas befehlshaberisch sein, aber wirkt nicht wie jemand, der seine Frau zu einer Schönheitsoperation zwingt.
»Du weißt doch, wie er ist«, sagt Oddný und klappt die Sonnenblende wieder nach oben. Sie lächelt mich an und fügt hinzu: »Im Gegensatz zu meiner Schwester hab ich es ziemlich gut getroffen.«
»Ich würde nichts an deinem Aussehen ändern wollen«, sage ich und das meine ich auch so.
Ich bin derjenige, der sich glücklich schätzen kann, mit jemandem wie Oddný zusammen zu sein, in Wahrheit ist sie viel zu gut für mich. Ihre Familie sieht das auch so. Sie verstehen nicht, was sie an einem einfachen Tischler, einem armen Schlucker wie mir überhaupt findet. Eigentlich kann ich es selbst kaum nachvollziehen. Ich bin erst seit Kurzem Teil der Familie und würde auch nicht behaupten, dass ich wirklich dazugehöre. Oddný und ich kommen aus unterschiedlichen Welten, wir haben äußerst wenig gemeinsam.
In der Raststätte Vegamót bestellen wir Muschelsuppe und ein Sandwich, setzen uns an einen Tisch am Fenster und beobachten schweigend die vorbeifahrenden Autos. Ich habe gerade erst die Hälfte meines Sandwiches gegessen, als jemand Oddnýs Namen ruft.
Ihr Gesicht leuchtet auf, als sie ihren Bruder Ingvar und seine Frau Elín sieht. Sie stellt das Wasserglas ab und steht auf, um sie zu begrüßen.
»Ihr hier?« Oddnýs Stimme ist so schrill und laut, dass alle im Restaurant aufblicken.
Ich stehe ebenfalls auf, wir umarmen uns, küssen uns auf die Wangen und tauschen Neuigkeiten aus.
»Wie schön, dass wir uns hier schon treffen, darauf sollten wir doch anstoßen«, sagt Elín und geht mit Oddný zurück zum Tresen.
Ingvar fragt nach unserem Spanienurlaub letzten Monat.
»War es nicht schön, ins Warme zu fahren?«
»Doch, sehr schön«, sage ich, denn das ist die Antwort, die erwartet wird. Eigentlich finde ich warmes Klima überbewertet, ich liege nicht gerne den ganzen Tag lang in der Hitze faul am Beckenrand. Meist kann ich mich erst wieder entspannen, wenn ich wieder zu Hause bin und mir der erfrischende kalte Nordwind ins Gesicht weht.
Die Frauen kommen mit zwei kleinen Weißweinflaschen und zwei Dosen Bier wieder.
»Ach, so sieht’s also aus«, sagt Ingvar und die beiden Schwägerinnen kichern wie Kleinkinder.
Niemand verliert ein Wort darüber, dass wir noch ein Stück fahren müssen, auch wenn es nicht mehr weit ist. Aber ich trinke nicht, und das weiß Oddný auch. Als sie ausgetrunken hat, schiebe ich mein Glas unauffällig zu ihr hinüber.
»Kommt Hákon Ingimar nicht?«, fragt Ingvar.
»Doch, nur etwas später«, sagt Oddný und lächelt liebevoll, wie immer, wenn es um ihren Sohn geht. »Er hat so viel zu tun.«
»Ja, sieht ganz danach aus«, sagt Ingvar und bezieht sich vermutlich auf die vielen Partybilder, die von Hákon Ingimar im Internet herumgeistern und ihn ständig mit neuen Mädchen zeigen.
»Er spielt jetzt in einer Werbung mit«, sagt Oddný stolz. »Auf dem Gletscher.«
»Welchem Gletscher?«
»Das hat er nicht erzählt«, sagt Oddný. »Aber es ist ein Werbespot für Outdoor-Bekleidung.«
»Ach was, werben sie auf dem Gletscher also nicht mehr nur für Badeanzüge?«, fragt Ingvar.
Wir lachen, und ich erinnere mich vage daran, dass ich tatsächlich schon einmal ein Bild von Hákon mit Badehose in einer Winterlandschaft gesehen habe. Dann wechseln wir das Thema und sprechen über das Wochenende, wer kommt und wer nicht, und was die Kinder mittlerweile alle so machen.
Oddný hat zwei Geschwister, Ingvar und Ester, die beide Partner, Kinder und sogar ein Stiefkind haben. Erst konnte ich mir lange nicht merken, wer zu wem gehört und wie sie alle heißen, aber mittlerweile weiß ich es ungefähr, das hoffe ich zumindest. Und dann ist da natürlich noch Hákon senior, ihr Vater, der am Samstagabend zur Feier dazustoßen wird. Er ist achtzig, und vor ein paar Jahren wurde bei ihm eine degenerative Erkrankung festgestellt, seitdem wird sein Zustand immer schlechter.
Als wir uns kennenlernten, hatte Oddný bereits zwei Kinder: Hákon Ingimar und Stefanía, oder Steffý, wie sie immer genannt wird. Hákon Ingimar, oder Hákon junior, wie ihn manche nennen, tanzt ein wenig aus der Reihe, wenn man so will. Oddný tut immer so, als wäre er viel beschäftigt, aber soweit ich weiß, hält er nur den lieben langen Tag sein Gesicht in Kameras, vor allem die auf seinem Handy, das er nie aus der Hand gibt. Aber eigentlich geht mich das auch nichts an, ich bin in einer ganz anderen Zeit groß geworden und vermutlich auch in einer anderen Welt.
Stefanía habe ich erst ein paarmal getroffen, denn sie lebt in Dänemark und arbeitet für einen Kosmetikhersteller. Sie ist hochgebildet, hat irgendwas mit Ingenieurwesen studiert, was genau, weiß ich nicht mehr.
Ich wurde mit etwa dreißig Vater, als ich eine Frau kennengelernt habe, die einen kleinen Dreijährigen in die Beziehung mitgebracht hat, den ich aufgezogen habe wie einen eigenen Sohn. Er ist immer noch ein wichtiger Teil meines Lebens, obwohl Nanna und ich schon lange nicht mehr zusammen sind. Der Junge hatte keinen Vater, zumindest keinen, der präsent war, und mir war es eine Ehre, diese Rolle in seinem Leben einzunehmen. Ich hatte keine Ahnung, wie schwer, aber zugleich erfüllend es sein würde, die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. All die großen und kleinen Momente; ich habe ihn am ersten Schultag begleitet, ihm lesen beigebracht, bin mit ihm zu Schwimmtrainings gegangen und hatte bei seinem Schulabschluss Tränen in den Augen. Vater zu sein war das Beste, was mir je passiert ist, nichts konnte es seitdem damit aufnehmen.
»Also gut, wir sollten langsam los«, sagt Oddný und trinkt mein Glas leer.
Beim Aufstehen fällt ihre Handtasche auf den Boden und die Frauen lachen laut. Oddnýs Wangen sind bereits rot, wie immer, wenn sie Alkohol trinkt. Ich bekomme ein mulmiges Gefühl, ignoriere es aber. Es wird schon nicht so schlimm werden.
Wir sind seit etwa einem Jahr zusammen, und ich habe schnell gemerkt, dass Oddnýs Familie nicht wie andere ist. Die Snæbergs waren mir natürlich davor schon ein Begriff, aber die Details kannte ich nicht, denn ich las weder Wirtschaftsmagazine noch Klatschblätter. Wenn ich das getan hätte, wäre ich vielleicht besser vorbereitet gewesen.
In der Familie gibt es viele starke Persönlichkeiten, die ganz schön zickig werden können. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie eine kleine Bemerkung einen großen Streit auslösen kann, wenn jemandem etwas herausrutscht und die andere Person wütend aus dem Raum stürmt. Um die Familie zu verstehen, muss man sich eine Herde Flusspferde vorstellen, die in einem viel zu kleinen Wasserloch badet; alle rempeln sich gegenseitig an. Wenn so viele Egos aufeinanderprallen, kann jede Kleinigkeit das Fass zum Überlaufen bringen.
»Sagt Cheese!« Ich mache ein Selfie von uns allen im Auto. Die Teenies auf der Rückbank lächeln halbherzig, und ich muss daran zurückdenken, wie sie früher von einem Ohr zum anderen in die Kamera gelacht haben. Jetzt sitzen sie mit ihren Kopfhörern da und verziehen keine Miene. Viel hat sich verändert, seit lange Autofahrten durchgeplant werden mussten, mit regelmäßigen Pausen und Kinderliedern oder Hörspielen in voller Lautstärke, während man die Daumen gedrückt hat, dass sie so lange wie möglich friedlich bleiben. Jetzt herrscht auf der Rückbank nur noch Schweigen, und wenn ich ehrlich bin, vermisse ich den Lärm sogar ein wenig. Vermisse die Zeit, in der das größte Problem meiner Kinder war, wer das nächste Lied aussuchen durfte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt Gestur, so leise, dass die Kinder nichts mitbekommen.
»Ja, natürlich«, sage ich aufgesetzt fröhlich.
Gestur kennt mich, ihm kann ich nichts vormachen. »Du hast heute Nacht schlecht geträumt. Ich dachte, die Albträume hätten aufgehört.«
»Ach, hab ich das?«
Gestur antwortet nicht. Er weiß, dass ich lüge; ich erinnere mich noch gut an den Traum letzte Nacht. Diesen Albtraum hatte ich schon als Jugendliche und seitdem holt er mich immer wieder ein. Darin stehe ich mitten auf der Straße, nicht weit von Akrafjall, ganz allein. Um mich herum ist es stockdunkel und kurz darauf beginnt es zu schneien. Alles ist friedlich und still. Doch dann werde ich plötzlich von einem grellen Licht geblendet. In dem Moment wache ich auf, schrecke auf, als wäre etwas Schlimmes passiert.
Als ich wegen meiner Albträume monatelang nicht richtig schlafen konnte, hat meine Mutter mich zu einem Arzt geschickt. Wie so oft wollten meine Eltern einen Experten zu Hilfe holen. Als ich in der fünften Klasse Schwierigkeiten in Mathe hatte, stellten sie sofort einen Nachhilfelehrer ein, und später auf dem Gymnasium in Akranes auch. Als ich mich beim Geigespielen etwas ungeschickt angestellt habe, wurde sofort ein Psychologe gerufen. Immer sollten Außenstehende das Problem lösen, statt dass meine Eltern sich zu mir gesetzt und mit mir gesprochen hätten. Ich weiß, dass sie es gut meinten, aber manchmal wundere ich mich, warum sie nicht einfach gefragt haben, was los ist.
Ich hätte ihnen trotzdem nicht erzählt, dass ich ganz genau weiß, was diese Albträume bedeuten.
»Und das Nagelproblem«, fügt Gestur ruhig hinzu.
Damit meint er meine Angewohnheit, an den Fingernägeln zu kauen.
»Das ist nichts«, sage ich und verstecke die Finger unwillkürlich in meinem Schoß.
Die Stille umhüllt uns erneut. Im Gegensatz zu mir hat Gestur kein Problem mit ausgedehntem Schweigen, es stört ihn nicht weiter.
Ich konzentriere mich auf die Landschaft. Das Wetter ist schön und im Radio erklingt ein altes Lied, bei dem ich sofort an früher denken muss.
Ich will, dass dieses Wochenende gut wird. Die Familie ist schon lange nicht zusammengekommen. Als ich noch klein war und in Akranes gelebt habe, standen wir uns alle sehr nahe. Meine Großeltern haben nebenan gewohnt und die Geschwister meiner Mutter auch, also bin ich in ihren Häusern ein und aus gegangen, wie es mir gepasst hat. Meine besten Freunde waren mein Cousin Viktor und meine Cousine Stefanía. Steffý und ich sind gleich alt und fast wie Schwestern aufgewachsen, wir waren unzertrennlich. Wie siamesische Zwillinge, hat Papa immer gesagt.
Ich muss oft an Steffý denken. Ihr Gesicht taucht plötzlich vor meinem inneren Auge auf, wenn ich es am wenigsten erwarte, wenn ich mich abends schlafen lege, wenn ich meine Tochter beobachte oder wenn ich lautes Kinderlachen höre. Eine Mischung aus Wehmut und Sehnsucht, und der Vorstellung, was hätte sein können.
Es ist seltsam, wie diese Jahre der Kindheit und Jugend immer ein großer Teil von uns bleiben, auch wenn es insgesamt gesehen nur eine relativ kurze Zeit ist.
Wir fahren am Fuße des Hafnarfjall entlang, wo überall Zwergbirken wachsen, die um diese Jahreszeit völlig kahl sind. Auf der anderen Seite des Fjords kommt schon Borgarnes.
»Mama«, sagt Ari, und ich drehe die Musik leiser. »Können wir bei Hyrnan stehen bleiben? Ich habe Durst.«
»Ich auch.« Lea nimmt den Kopfhörer aus einem Ohr. »Und ich muss aufs Klo.«
»Dann halten wir an«, sagt Gestur und lächelt ihr im Rückspiegel zu.
Leas Verhältnis zu ihrem Vater ist ganz anders als das zu mir. Sie gehen gemeinsam joggen und hin und wieder morgens vor der Schule und der Arbeit noch ins Schwimmbad. Manchmal sitzt sie mit Gestur im Wohnzimmer und sieht fern, wenn ich nach Hause komme, aber sobald ich da bin, verlässt sie kaum ihr Zimmer. Wenn ich mich mit ihr unterhalten will, scheint sie zu denken, dass ich irgendwelche Absichten habe, dass ich sie manipulieren will oder nur einen Grund suche, sie zurechtzuweisen.
Wir parken vor der Raststätte, und die Kinder laufen hinein. Ich überlasse es Gestur, ihnen ihre Wünsche zu erfüllen, und kaufe Mineralwasser und eine Zahnbürste.
Beim Bezahlen finde ich eine Schmerztablette in meiner Tasche und schlucke sie schnell. Gestur meint, dass ich es mit den Schmerzmitteln übertreibe, also nehme ich sie heimlich, als hätte ich etwas zu verbergen. Aber nach der Flasche Wein gestern Abend dröhnt mir der Schädel.
Ich krame gerade nach meiner Sonnenbrille, als ich meinen Namen höre.
»Petra?« Vor mir steht Viktor und breitet die Arme aus. »Du hier?«
Ich lächle und falle ihm in die Arme. Er war schon als Jugendlicher sehr herzlich und das hat sich nicht geändert. Die Umarmung ist fest und innig. Sein Gesicht ist so nah an meinem, dass ich jede einzelne Pore und Falte sehen kann, obwohl seine Haut natürlich noch jung ist. Eigentlich ist er mit dem Alter nur schöner geworden. Seine Gesichtszüge sind markanter und das Lächeln wärmer.
»Wie geht’s dir?« Viktor hält mich immer noch an den Schultern fest und sieht mir in die Augen. »Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen.«
»Ja«, sage ich. »Das ist Monate her.«
Früher haben wir uns regelmäßig getroffen. Er kam oft abends vorbei, vor allem, wenn Gestur Chorprobe hatte, und brachte Wein und etwas Süßes mit, Schokolade oder ein kleines Dessert. Aber im Laufe der Jahre wurde es immer schwieriger, den Kontakt zu halten, und irgendwann fühlte es sich an wie eine Verpflichtung. Ich habe angefangen, die Treffen zu verschieben, und dazwischen verging immer mehr Zeit.
Am Ende muss Viktor gemerkt haben, dass der Wille, den Kontakt aufrechtzuerhalten, einseitig war. Immer war er derjenige, der ihn initiiert hat, und ich habe so getan, als wäre ich zu beschäftigt.
»Schon so lange? Das ist inakzeptabel, Petra. Völlig inakzeptabel. Wir müssen uns mehr Mühe geben.« Viktor schüttelt den Kopf. »Was machst du so in letzter Zeit?«
»Ach, dasselbe wie immer. Ein Unternehmen und eine Familie am Laufen halten. Ansonsten ist alles ruhig.«
»Das hast du doch noch nie gemocht, wenn es zu ruhig ist«, sagt Viktor, und mir fällt wieder ein, wie gut er mich kennt. Er weiß, dass ich nicht lange still sitzen kann und immer etwas zu tun brauche.
Ich will gerade darauf hinweisen, dass er auch nicht viel besser ist, als ein junges Mädchen auf uns zukommt und ihm einen Hotdog reicht.
»Scharfen Senf gab es nicht«, sagt sie.
»Mist«, sagt Viktor und fügt dann hinzu: »Ach ja, das ist Maja, meine Freundin. Maja, das ist Petra, von der ich dir erzählt habe.«
»Ja, natürlich. Freut mich, dich kennenzulernen, Petra.« Maja reicht mir ihre zierliche Hand und lächelt. Ich bin überrascht, wie jung sie ist, sicher zehn Jahre jünger als Viktor. Vom Alter näher an Lea als an mir. Sie hat schwarze Haare und dunkle Haut, ähnlich wie Viktor, der ursprünglich aus Indonesien stammt. Mein Onkel Ingvar und seine Frau Elín haben ihn 1984 adoptiert, und ich meine manchmal, mich an unsere erste Begegnung zu erinnern, er sah so anders aus als alle anderen. Aber ich war damals erst zwei, also bilde ich mir das wahrscheinlich ein.
»Gleichfalls«, sage ich und schüttle Majas Hand. »Ich war nicht sicher, ob du kommst, Viktor.«
»Das würde ich mir doch um nichts in der Welt entgehen lassen«, sagt er, und ich frage mich, ob es ironisch gemeint ist. »Aber ganz im Ernst, ich habe mich sehr darauf gefreut, dich wiederzusehen.«
»Weißt du, ob Steffý kommt?«, frage ich. Meine Mutter war nicht ganz sicher, ob sie sich blicken lassen würde. Ich glaube, nicht einmal Steffýs Mutter wusste es genau.
»Ja, sie kommt«, sagt Viktor. »Ich habe gestern mit ihr gesprochen.«
»Oh, wie schön«, sage ich, und höre selbst, wie aufgesetzt meine Stimme klingt.
»Das wird genau wie früher.« Viktor lacht.
»Ja, stimmt«, sage ich und knibble an meinen Fingernägeln.
Als er aufgegessen hat, wirft Viktor seine Serviette weg und sie verabschieden sich. Ich blicke ihnen hinterher. Er legt den Arm um Majas Schulter, und sie lächelt ihn an.
Viktor hat sich sehr verändert, er ist ausgeglichener und selbstsicherer als früher. Mittlerweile strahlt er eine Menge Gelassenheit aus, und ich fühle mich in seiner Gegenwart verunsichert, als wäre ich eine verklemmte Frau mittleren Alters. Er wirkt wie ein Fremder, obwohl wir uns doch eigentlich so gut kennen.
Ich denke darüber nach, wie seltsam es ist, nur noch losen Kontakt zu haben, nachdem man sich einmal sehr nahestand. Viktor war dabei, als ich meine erste Regel bekam und als ich zum ersten Mal betrunken war. In der Zeit, als ich mich jeden Abend in den Schlaf geweint habe, hat er mich nächtelang im Arm gehalten. Jetzt haben die Jahre eine Distanz zwischen uns gebracht, und wir sehen uns nur noch selten. Aber allein die Tatsache, dass Viktor genau weiß, wann und mit wem ich zum ersten Mal Sex hatte, gibt dem ganzen Small Talk einen seltsamen Beigeschmack.
»Wer war das?«, fragt Gestur, als er endlich fertig ist und mit Süßigkeiten und Getränken beladen aus dem Shop kommt.
»Viktor.«
»Oh, ich wusste gar nicht, dass er kommt.«
Ich nicke.
»War er allein?«
»Nein, tatsächlich nicht«, sage ich. »Er hat seine Freundin mitgebracht.«
»Ich wusste nicht, dass er eine Freundin hat.«
»Ich auch nicht.«
»Schön für ihn«, sagt Gestur, aber es klingt nicht so, als würde er sich ehrlich freuen.
Die beiden konnten sich noch nie leiden. Ein paarmal haben wir Viktor zum Essen eingeladen, aber die Gespräche fühlten sich immer gezwungen an. Viktor hält Gestur für steif und verklemmt, und Gestur findet, dass Viktor sich aufführt, als wäre er immer noch zwanzig.
Manchmal hatte ich das Gefühl, Gestur wäre neidisch auf Viktor. Er ist mein Cousin und wir kennen uns schon ewig. Es ist ganz normal, dass wir viel reden und alles übereinander wissen, oder zumindest einmal wussten. Das versteht Gestur auch, aber vielleicht liegt es einfach in der Natur des Mannes, nicht zu wollen, dass die eigene Frau einem anderen Mann nahesteht, selbst wenn es sich um einen Verwandten handelt.
»Wenn er dabei ist, wirkst du nicht wie du selbst«, hat Gestur am Anfang unserer Beziehung einmal gesagt. Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe, aber ich erinnere mich, dass es mir genau umgekehrt vorkam, mit Viktor fühlte ich mich wie ich selbst und mit ihm wie eine andere.
»Ach, Petra«, sagt Gestur plötzlich und verzieht das Gesicht.
»Was?«, frage ichund ziehe die Hand vom Mund weg. Als ich mit der Zunge über meine Lippen fahre, schmecke ich Blut.
Im Handschuhfach sind noch ein paar Pflaster und ich ersetze die Kinderpflaster. Ich bin kein bisschen besser als Lea, denke ich, die eine Zeit lang an ihren Nägeln gekaut hat, bis es blutete, oder meine Mutter, die sich früher abends immer ihre Wimpern ausgezupft hat. Mir läuft es immer noch kalt den Rücken hinunter, wenn ich an die einzelnen Wimpern auf dem Couchtisch denke, und die kleinen Klumpen Mascara, die auf ihre Wangen fielen.
Als wir am Wasserfall Bjarnafoss vorbeifahren, unternehme ich einen Versuch, die Stimmung im Auto ein wenig aufzulockern.
»Wusstet ihr, dass in dem Wasserfall eine Frau zu sehen ist?«
»Was?« Ari nimmt die Kopfhörer aus den Ohren, aber Lea tippt etwas in ihr Handy und blickt nicht einmal auf. Ihre Wangen sind leicht errötet, und sie lächelt immer wieder. Ich vermute, sie hat einen Freund, oder schreibt zumindest mit einem Jungen, aber immer wenn ich nachfrage, schnaubt sie nur und verdreht die Augen.
»Manche behaupten, in der Mitte des Wasserfalls würde eine Frau sitzen und sich die Haare kämmen«, erzähle ich.
Ari sieht aus dem Fenster. »Cool«, sagt er und setzt die Kopfhörer wieder auf.
Ich lächle ihm zu und lasse den Blick unauffällig zu Lea hinüberschweifen. Ihre dunkelbraunen Haare, die sie in einem hohen Pferdeschwanz trägt, sehen in diesem Licht heller aus als sonst.
In letzter Zeit war Lea ungewöhnlich still. Ich bin sicher, dass sie etwas beschäftigt, aber weiß nicht, was es ist. Mit sechzehn hatte ich es auch nicht leicht, aber das würde mir Lea nicht glauben. Sie denkt, dass niemand auf der Welt das Gleiche durchmacht wie sie. Erst recht nicht ich. In gewisser Hinsicht hat sie recht; die Realität eines Teenagers ist heutzutage anders als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Aber ich erinnere mich auch noch gut daran, wie es war, sich darüber zu definieren, was andere von einem denken. Wie schwer es war, gleichzeitig zu einer Gruppe dazugehören und herausstechen zu wollen. Normal zu sein, aber trotzdem etwas Besonderes.
Auf Ari wirkt sich die Pubertät anders aus, er bleibt sich selbst immer treu und alles scheint ihm leichtzufallen. Gestern Morgen hat er mich gefragt, wo wir übernachten werden, und ich habe ihm Bilder gezeigt.
Das Hotel ist nagelneu, es steht mitten in einem Lavafeld am Fuße des Snæfellsjökull, kurz bevor man nach Arnarstapi kommt. Auf dem Grundstück war früher ein Bauernhof, in dem der Gemeindevorsteher mit seiner Familie lebte. Auf der Website des Hotels kann man nachlesen, dass der Hof 1921 abgebrannt ist und danach nicht mehr bewohnt wurde, die Ruinen aber noch zu sehen sind. Außerdem heißt es dort, dass die Frau und die beiden jüngsten Kinder des Gemeindevorstehers bei dem Brand ums Leben kamen. Ich habe das Browserfenster schnell geschlossen, bevor Ari so weit lesen konnte.
Beim Bau des Hotels wurde auf Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit geachtet. Die Mauern sind aus Beton, was gut zu der Umgebung passt. Für die Innen- und Außenbeleuchtung wurde ein Architekt engagiert, der sich damit besonders gut auskennt. Draußen werden die Wände vom Boden aus beleuchtet. Die Strahler drehen sich ganz langsam, was den Eindruck erwecken soll, als würde das Haus selbst sich bewegen. Ein Lichtspiel, um die Wände lebendig erscheinen zu lassen. Der Architekt meinte, er habe sich von der Geschichte des Ortes inspirieren lassen, wo der Glaube an Übernatürliches seit Jahrhunderten Teil des Alltags war, und es auch heute noch ist.
Von außen sieht das Hotel ziemlich kühl und roh aus, schließlich soll es in die Landschaft passen, zum Gletscher, dem Lavafeld und den Bergen. Innen wirkt es aber dennoch sehr warm und einladend, mit schlichten Möbeln und Betten der Marke Jensen. Außerdem ist das Hotel mit der neuesten Technik ausgestattet, was Ari sofort fasziniert hat. Alles wird über eine App gesteuert; die Zimmerbeleuchtung, die Temperatur, die Türschlösser und sogar der Wasserdruck in der Dusche. Jedes noch so kleine Detail also.
Die Landschaft, durch die wir fahren, kommt mir immer bekannter vor. Ich kenne die Strecke gut, schon als Kind bin ich oft hier entlanggefahren. Jeder Stein, jeder Hügel und jeder Berg haben ihre Geschichte. Die Felsen verwandeln sich in alle möglichen Kreaturen, in großen Steinen und Höhlen leben Elfen und das versteckte Volk Huldufólk, in den Bergen hausen Trolle und das Meer ist voller Wasserwesen.
Natürlich weiß ich, dass diese Geschichten alle erfunden sind, ein Überbleibsel aus einer Zeit, als man noch nicht so aufgeklärt war wie heute, aber ein Teil von mir glaubt dennoch, dass die Menschen damals vielleicht sogar mehr wussten, offener waren und schärfere Sinne hatten.
Immer wenn ich nach Snæfellsnes fahre und den Gletscher, die Berge und die Schären im Meer vor mir sehe, werde ich das Gefühl nicht los, dass hier nicht nur Menschen und Tiere leben.
Mama dreht sich um und weist uns auf einen Wasserfall hin. Ari tut interessiert, aber ich habe keine Lust, ihr zu sagen, dass sie uns die Geschichte schon tausendmal erzählt hat und ich längst weiß, wo die Frau sitzt und sich kämmt.
Ich schaue auf mein Handy. Birgir hat geschrieben: Bist du schon da?
Nein, bin noch unterwegs, antworte ich. Ich sag dir Bescheid, wenn ich ankomme.
Ich warte kurz, aber er schreibt nicht weiter, also überlege ich, ob meine Antwort doof war. Vielleicht interessiert es ihn gar nicht, wann ich ankomme.
Ich sehe mir seine Bilder an. Birgir postet nicht viel online, aber er schickt mir manchmal Fotos, die ich dann auf meinem Handy speichere. Er ist ein Jahr älter als ich, und wir haben uns vor zwei Monaten kennengelernt. Begegnet sind wir uns aber noch nie, er ist als Fünfjähriger mit seiner Familie nach Schweden gezogen und kommt nur selten nach Island. Weihnachten wollen sie aber hier verbringen, und dann werden wir uns endlich treffen.
Obwohl wir uns noch nie in echt gesehen haben, weiß ich viel über Birgir und er viel über mich, vielleicht sogar mehr als die meisten. Ich weiß, dass er Basketball spielt und sein Hund Captain immer neben seinem Bett schläft. Ich weiß auch, dass er später einmal mit Kindern arbeiten will, entweder als Grundschullehrer oder als Trainer in einem Sportverein. Aber ich habe noch nie seine Stimme gehört oder ihn gerochen und ich weiß auch nicht, wie es sich anfühlen wird, wenn wir uns nach allem, was wir uns erzählt haben, endlich begegnen.
Seit wir uns kennengelernt haben, schreiben wir jeden Tag, und nicht nur über Unwichtigkeiten, sondern über wirklich tiefe Themen, was wir mit unserem Leben machen wollen zum