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Gerichte nehmen mit ihren Urteilen großen Einfluss auf Verfassungsentwicklungen. Wie aber können diese Urteile Verfassungen erweitern, verdichten oder verändern? Und was heißt es überhaupt, rechtlich zu urteilen? Um verfassende Urteile über ihre Rechtsförmigkeit zu erklären, rekonstruiert Sabine Müller-Mall in ihrem scharfsinnigen Buch Verfahren juridischen Urteilens. Sie entwirft nicht nur eine grundlegende Perspektive auf den Zusammenhang von Recht und Konstitutionalisierung, sondern auch eine Theorie des Rechts, die das Urteilen zum Ausgangspunkt nimmt.
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Seitenzahl: 461
3Sabine Müller-Mall
Verfassende Urteile
Eine Theorie des Rechts
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2404
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-77600-1
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
I
. Konstitutionalisierung durch Urteile
1. Untersuchungsgegenstand: verfassende Urteile
2. Ausgangspunkte und Ausrichtungen
3. Problemstellungen
4. Ausblick auf den Gang der Untersuchung
II
. Verfassung und Verfassen
1. Verfassung
a. Ausdifferenzierung und Expansion
b. Globaler Konstitutionalismus
c. Verschiebung von Herrschaftskonstellationen
d. Entgrenzungsmomente
e. Drei Aspekte von Verfassung: Legitimation, Vorrang, Rechtsförmigkeit
2. Verfassung und Verfassen
3. Zwischenstand
III
. Juridizität rechtsförmiger Urteile
1. Die Angewiesenheit des Rechts auf das Urteil
a. Das Verhältnis von Recht und Urteil
b. Juridizität rechtlichen Urteilens
c. Die Ausblendung der Angewiesenheit aufs Urteil
2. Der Verlust der Juridizität
a. Herstellung und Darstellung
b. Sachverhalt und Norm
c. Norm und Anwendung
d. Urteilstenor und Urteilsbegründung
e. Verfahren und Entscheidung
f. Subjektiv und objektiv
3. Überbrückungen
IV
. Theoretische Rekonstruktion juridischen Urteilens
1. Vorbemerkungen
a. Urteilen und Urteil
b. Anknüpfungen einer theoretischen Rekonstruktion
c. Anordnungen der Rekonstruktion
2. Fällen
a. Der Fall ist nicht der Fall
b. Wie verfahren Gerichte mit Fällen?
c. Problematische und unproblematische Fälle
3. Finden
4. Deuten
a. Zum Verhältnis von Urteilen und Interpretation
b. Multiple Zentren
c. Oszillierende Interpretation
d. Passen
5. Reflektieren
a. Bestimmendes und Reflektierendes Urteilen
i. Unterscheidung
ii. Kooperation subsumierender und reflektierender Urteilskraft
iii. Juridisches Urteilen als Reflektierendes Urteilen.
b. Reflektierender Modus Juridischen Urteilens
i. Oszillierende Interpretation – Freies Spiel der Erkenntniskräfte
ii. Zur subjektiven Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils
iii. Zur subjektiven Allgemeingültigkeit des juridischen Urteils
6. Subsumieren
a. Subsumtion und Syllogismus
b. Subsumtion und Urteil
c. Wie also kooperieren Reflexion und Subsumtion im Verfahren juridischer Urteilsbildung miteinander?
d. Kooperierende und Nicht-Kooperierende Urteile
e. Rückwirkungen des Syllogismus
7. Zusammensehen
a. Ausrichtung des Urteilens auf ein Passen
b. Passen
c. Zusammensehen als
8. Zwischenstand: Zentrale Aspekte der Rekonstruktion
V
. Verfassende Urteile als juridische Urteile
1. Juridische Urteile
2. Verfassende Urteile
a. Vorrang
i. Der Rang des Besonderen
ii. Normativität und Rang
iii. Rangerzeugung und Legitimation
b. Legitimation
3. Verstrickungen von Verfassung und Recht
4. Zusammenfassung
Ausblick
Dank
Sachregister
Fußnoten
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Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Frage, wie verfassende Wirkungen rechtlicher Urteile erklärt werden können. Sie geht von der Beobachtung aus, dass viele der aktuell konstatierten Konstitutionalisierungsprozesse in Europa, in der transnationalen Sphäre oder im Völkerrecht von gerichtlichen (rechtlichen) Urteilen vorangetrieben werden. Vorgänge des Verfassens auf dem Boden des Konstituierten, so lassen sich Konstitutionalisierungsprozesse auch beschreiben, stehen also in einem Zusammenhang mit rechtlichen Urteilen. Das Problem, solche verfassenden Urteile zu beschreiben, zeigt sich damit sogleich als ein Problem, rechtliche Urteile überhaupt näher zu beschreiben: denn, so die hier angenommene Voraussetzung, die Form dieser Urteile als rechtliche ist von Relevanz für ihre verfassende Qualität. Damit rückt also die Frage, wie rechtliche Urteile genauer zu rekonstruieren sind, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Was heißt es, rechtsförmig zu urteilen, und wie lässt sich annehmen, dass rechtsförmige Urteile eine verfassende Dimension haben können?
Allerdings zwingt nicht nur diese verfassungstheoretische Überlegung dazu, sich näher mit Vorgängen rechtlicher Urteilsbildung zu beschäftigen, sondern auch eine merkwürdige Lücke in der Rechtstheorie: Zwar bestimmt rechtliches Urteilen nahezu jedes Rechtsgebiet und bildet in den meisten Rechtssystemen eine prominente Handlungsform. Und doch blendet die Rechtstheorie das Urteilen als Form des Rechts geradezu systematisch aus oder setzt es, was letztlich dasselbe bedeutet, ohne weiteres voraus – rechtstheoretische Untersuchungen oder Beschreibungen des Urteilens sind außerordentlich selten und werden noch seltener rezipiert,[1] von einigen Höhepunkten im ersten Viertel des 20.Jahrhunderts einmal abgesehen.[2] Obwohl also Urteile eine der zentralen Handlungsformen des Rechts darstellen, sind sie als Urteile, als Form, für das Recht kaum untersucht.
Ich gehe davon aus (und darin liegt ein Motiv, den vorliegenden 8Versuch zu unternehmen), dass diese Form des Rechts, das rechtliche Urteilen, einiges über das Recht und auch über die Verfassung lehren kann, es also produktiv sein dürfte, sich dieser Form deutlicher und entschiedener zu nähern, als es Rechts- und Verfassungstheorie bislang versucht haben: Wenn wir Urteile nicht nur als Ergebnisse von Auslegungsprozessen oder als Entscheidungen zwischen zwei Alternativen, sondern Urteilen als Verfahren betrachten, welches das Allgemeine des Rechts mit dem Besonderen einer normativ wie faktisch konstruierten Situation zusammenzubringen vermag, dann dürfte ein Blick aufs Recht zu gewinnen sein, der weder bloß funktionalistisch noch bloß interpretationsgeleitet und weder bloß dezisionistisch noch bloß institutionell orientiert ist. Möglicherweise erlaubt es dieser Blick, die spezifische Professionalität von Richtenden, das »Mindset der Jurist:innen«,[3] gerade dann, wenn das Recht auf dem Spiel steht, zu erkunden. Im Urteil erweist sich das Recht, oder anders gesagt: Im Urteil wird das Allgemeine der Rechtsregel vom Besonderen der Situation gleichzeitig unterschieden und dieser Unterschied überbrückt. In dieser Gleichzeitigkeit liegt nicht nur die spezifische Kompetenz des Juristischen verborgen, sondern auch der grundlegende Anspruch des Rechts. Das Urteilen in den Blick zu nehmen, bedeutet also, am Grund des Rechts zu forschen.
Nicht zuletzt dürfte das Urteilen schließlich erlauben, eine Perspektive auf den Zusammenhang von Recht und Konstitutionalisierung zu gewinnen, die aus den verfassungstheoretisch etablierten Pfaden ebenso wie aus der in gewissen Hinsichten etwas festgefahrenen Rechtstheorie auszubrechen vermag. Der vorliegende Versuch schreibt sich damit einerseits über den Gegenstand konstitutionalisierender Urteile in die aktuelle Debatte um die Verfassung in einer nicht mehr ausschließlich nationalstaatlich verfassten Welt ein und andererseits in die rechtstheoretische Grundlagendiskussion um die Frage »Wie kommt Recht in die Welt hinein?«. Darüber hinaus liefert er mit der spezifischen Perspektive juridischen Urteilens einen Beitrag zur gegenwärtig Fahrt aufnehmenden interdisziplinären Diskussion um das Urteilen als solches.
Der Blick aufs Urteilen verspricht zumindest eine neu akzentu9ierte Perspektive auf Recht und Verfassung – hinzu kommt, dass mit philosophischen Untersuchungen zum Urteilen in Ästhetik und Politik eine ganze Tradition von Überlegungen und Erkenntnissen darüber besteht, was es heißt, Allgemeines und Besonderes zusammenzudenken. Solche Untersuchungen können hier durchaus produktiv herangezogen werden. Man muss weder ein »Zeitalter des Urteilens« (Klinger) postulieren noch bereits eine »Revolution des Urteilens« (Menke) ausrufen, um anzunehmen, dass es rechtsphilosophisch fruchtbar sein dürfte, die Frage nach dem Urteilen zu stellen.
Auch wenn der Blick aufs Urteilen vieles verspricht, kann die vorliegend eingenommene Perspektive doch nicht alles einlösen. So viel sei einschränkend vorbemerkt: Sie ist wesentlich entlang des deutsch(sprachig)en Rechtsdenkens entwickelt – in der literarischen Rezeption zwar keineswegs auf die deutschsprachige Literatur beschränkt, aber in der Frage nach dem Vorbild an jenen Urteilsprozessen orientiert, wie sie in der deutschsprachigen Rechtstradition zu finden sind. Dies sollte gleich zu Beginn offengelegt werden, obwohl die zum Vorbild genommenen Urteilsprozesse nicht als derart spezifisch gedacht werden können, dass die Überlegungen nicht auch in allgemeiner Weise für ähnliche Rechtsbegriffe und -systeme gelten können. Daneben rekonstruiert die vorliegende Studie rechtliches Urteilen nicht als verfahrensspezifisch – sie geht also davon aus, dass bei allen Möglichkeiten der Differenzierung diverse rechtliche Verfahren, sofern sie auf Urteile hinauslaufen, etwas teilen, das unter dem Begriff des Urteilens zu fassen und zu finden ist.
Abschließend ist noch anzumerken, dass einige wenige Abschnitte der Untersuchung in wesentlichen Gedanken oder im Wortlaut bereits anderweitig publiziert sind – dies ist allerdings jeweils exakt gekennzeichnet.
Erweiterungen, Vertiefungen und Verdichtungen der verfassten Welt geschehen selten revolutionär,[1] manchmal im Wege der Änderung oder Reform von Verfassungsgesetzen und ziemlich häufig durch rechtsförmige Urteile.[2] Während allerdings Momente der Verfassunggebung und Verfahren der Verfassungsänderung in der rechts- und politikphilosophischen Literatur sowie rechtswissenschaftlich gut beschrieben sind, bleibt die verfassende Qualität von rechtsförmigen Urteilen in den entsprechenden Diskursen weitgehend ohne Berücksichtigung. Stattdessen wird die Rolle von Gerichten als Akteuren in Konstitutionalisierungsprozessen einhellig angenommen, eingehend untersucht und diskutiert.[3] In diesem (institutionellen) Zusammenhang werden auch regelmäßig Beobachtungen von Konstitutionalisierungsprozessen an rechtlichen 11Urteilen gemacht und beschrieben. Gerichte, so wird es vielfach gefasst, treiben solche Prozesse des Verfassens nicht allein, aber wesentlich an, sie haben unter anderem als »aktivistische Institutionen«, als activist courts, bereits eine gefestigte Kontur im Rahmen mancher konstitutionalistischer Modelle gewonnen.[4]
Die vorliegende Untersuchung schlägt hier einen anderen Weg ein, um Ausdifferenzierungen und die Expansion von Verfassung durch rechtsförmige Urteile zu erläutern: Sie knüpft nicht an den urteilenden Institutionen, sondern am Verfahren des Urteilens an. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Verbindung von Konstitutionalisierungsprozessen und rechtsförmigen Urteilen weder einen zufälligen noch einen belanglosen Zusammenhang beschreibt. Vielmehr, dies wird weiter zu erläutern sein, bildet sich darin ein in beiden Richtungen eng verstricktes Verhältnis von Verfassung und Recht ab. Es wird gerade dann nicht nur beobachtbar, sondern auch theoretisch wirksam, wenn wir Recht vom Urteilen ausgehend denken. Insofern führt die Ausgangsfrage danach, wie die verfassende Eigenschaft (mancher) rechtsförmiger Urteile zu erklären ist, schließlich zu einem Entwurf einer Theorie des Rechts, die Verfahren des Urteilens (und nicht etwa Rechtsnormen oder Rechtsregeln) in den Mittelpunkt rückt. Während die Studie also einen recht weiten Bogen spannen wird, konzentriert sich das vorliegende erste Kapitel zunächst auf ihren vergleichsweise schmalen Ausgangspunkt: die Beobachtung, dass Erweiterungen, Vertiefungen und Verdichtungen von Verfassung nicht nur manchmal, sondern regelmäßig im Wege rechtsförmiger Urteile entstehen. Solche Urteile nenne ich im Folgenden verfassende Urteile.
Die Möglichkeit, dass rechtliche Urteile Verfassungsprozesse auslösen und verändern, wird implizit von zahllosen Studien vorausgesetzt – von sämtlichen Ansätzen nämlich, die annehmen, dass Gerichtsurteile konstitutionalisieren können. Jede Beschreibung etwa des Europäischen Gerichtshofs als Akteur, der die Konstitutionali12sierung der Europäischen Union vorantreibt,[5] jede Untersuchung, die eine Konstitutionalisierung der Welthandelsorganisation durch deren Spruchkörper beobachtet,[6] jede These einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts, die sich (auch) auf gerichtliche Entscheidungen bezieht,[7] setzt – zunächst einmal auf ganz allgemeine Weise verstanden – voraus, dass es möglich ist, durch, in oder mithilfe von Urteilen zu verfassen. Gleiches gilt auch, und dies ist weniger trivial, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, für die These, dass Urteile von Verfassungsgerichten konstitutionalisieren, indem sie beispielsweise eine Ausstrahlung von Verfassungsnormen auf einfaches Recht normativ bestimmen.
Exemplarisch kann hier nach wie vor auf das Lüth-Urteil[8] des Bundesverfassungsgerichts verwiesen werden: Darin stellt das Gericht unter anderem fest, dass das Grundgesetz eine »objektive Wertordnung« errichte, die wiederum »selbstverständlich auch das Bürgerliche Recht« beeinflusse[9] – denn diese »objektive Wertordnung« entfalte ein ganzes Wertsystem, »Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse«.[10] Eine Verdichtung und Vertiefung der Verfassung geschieht hier also letztlich dadurch, dass der Modus des einfachen Rechts verändert wird: Es soll nicht nur als ein Allgemeines in Bezug auf ein Konkretes in einem jeweiligen Rechtsfall, für ein jeweiliges Rechtsurteil dienen, sondern es soll dabei eine ihm übergeordnete Allgemeinheit, eine objektive Wertordnung, vermitteln. »Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften«,[11] so fasst die Urteilsbegründung eine grundsätzliche verfassungstheoretische Entscheidung zusammen. Im Lüth-Urteil konstitutionalisiert das Gericht also nicht nur, indem es den Grundrechten eine objektivrechtliche Dimension zu13spricht und damit den Rahmen des »bisher« Verfassten erweitert, sondern auch, indem es das Grundrechtssystem in ein normatives Hierarchieverhältnis, in ein Vorrangverhältnis zum einfachen Recht setzt. Dieses zeigt sich in der neuen Funktion der Normen des Privatrechts als »Medium« des objektiven Gehalts der Grundrechte.
Diese (gängige) Lesart des Urteils setzt nun, darum geht es mir hier, voraus, dass ein solches Urteil genau das überhaupt leisten kann: tiefgreifende verfassende Wirkungen erzeugen. Schließlich ist zwar unmittelbar einsichtig, dass ein gerichtliches, ein rechtsförmiges Urteil Aussagen über Gehalte und auch etwa den normativen Rang treffen kann, wenn es beispielsweise das Allgemeine bestimmt, um dieses dann mit einem spezifischen Problem, einem Sachverhalt, einem Besonderen im Urteil zu verknüpfen. Solche Aussagen allein können allerdings noch nicht das Verfassungsgefüge verändern oder erweitern, wenn Verfassung mehr oder ein anderes bedeutet als: Recht. Denn sie sind zunächst einmal – auch wenn sie von Verfassungsgerichten getroffen werden – auf einen Fall bezogen, sie können »nur den verfassungsrechtlichen Rahmen [bestimmen]«,[12] nicht aber diesen Rahmen erweitern, ausbauen oder verkleinern. Diese Kompetenz fällt auf der Ebene der Verfassung eigentlich allein dem pouvoir constituant zu. Damit deutet sich an, dass die Frage nach der Möglichkeit verfassender Wirkungen von rechtsförmigen Urteilen, die Frage nach Funktionsweise und Wirkmechanismen von verfassenden Urteilen verzwickter sein dürfte, als angesichts der vielfältigen Zuschreibungen konstitutionalisierender Wirkungen aus einer institutionellen Perspektive heraus anzunehmen ist. Unter welchen Umständen und Bedingungen lässt sich eine konstitutionalisierende Wirkung von Urteilen beobachten? Oder anders formuliert: Was heißt Konstitutionalisierung durch Urteile? Offenbar lassen sich verfassende Wirkungen nicht notwendig von normativen, institutionellen oder tatsächlichen Qualitäten ableiten – denn ein verfassendes Urteil muss nicht unbedingt auf Verfassungsnormen zurückgreifen, ein Gericht, das verfassende Urteile fällt, muss nicht notwendig ein Verfassungsgericht sein, und ein zu beurteilender Fall muss nicht einer bestimmten Materie zuzuordnen sein, um eine konstitutionalisierende Wirkung anzuneh14men oder auszuschließen. Aber auch der Begriff der Konstitutionalisierung beziehungsweise der konstitutionalisierenden Wirkung ist in diesem Zusammenhang nicht ganz unproblematisch, eben weil er ebenso häufig wie divers verwendet wird.[13] Konstitutionalisierung beschreibt sowohl die »Herausbildung von Verfassungsrecht in einer Rechtsordnung« als auch die »Ausbreitung des Konstitutionalismus als intellektuelle Strömung«,[14] die Ausbildung von Verfassungselementen im internationalen Recht[15] oder die »allmähliche […] institutionelle […] Verdichtung«[16] von Strukturen wie etwa im Rahmen der Europäisierung. Konstitutionalisierung wird entsprechend innerhalb nationalstaatlicher Rechtsordnungen genauso beobachtet wie im Völkerrecht und in der Europäischen Union,[17] in Teilordnungen des internationalen Rechts (zum Beispiel der Welthandelsorganisation)[18] und in Bezug auf Zivilverfassungen.[19] Ich verwende dagegen einen vom Begriff der Verfassunggebung beziehungsweise der Konstituierung zu unterscheidenden Begriff der Konstitutionalisierung. Wenn Konstituierung allein auf das gründende Moment einer umfänglichen Verfassunggebung bezogen ist, also auf die Einrichtung einer wie auch immer gearteten 15neuen Verfassungsordnung ohne wesentliche legitimatorische oder materielle Anknüpfungen und Bezugnahmen auf eine vorgängige Konstitution, dann beschreibt Konstitutionalisierung Prozesse, die gründende Momente in diesem Sinne beinhalten können, aber zumindest mittelbar an einer bestehenden Konstitution anknüpfen oder von ihr ausgehen. Dieses Verständnis von Konstitutionalisierung identifiziere ich im Folgenden mit dem Begriff des Verfassens. Zu verfassen in diesem Sinne bedeutet zunächst einmal nur, dass zu einer bereits verfassten Struktur etwas gefügt wird, das seinerseits dann als verfasst, als Erweiterung oder Verdichtung oder Vertiefung dieser verfassten Struktur gedacht werden kann. Insofern gilt auch hier, dass das »Konzept der Konstitutionalisierung […] vom Begriff der Verfassung nicht vollständig zu trennen [ist], […] von diesem aber deutlich unterschieden werden sollte«.[20] Im Unterschied zu Möllers wird der Begriff der Konstitutionalisierung hier allerdings nicht als »Komplementärbegriff zur Figur der verfassunggebenden Gewalt«[21] verstanden, wobei Letztere der verfassungsbegrifflichen Tradition der Herrschaftsbegründung zuzuordnen wäre und Ersterer jener der Herrschaftsbegrenzung.[22] Stattdessen werden Konstituierung und Konstitutionalisierung als zwei Ebenen des Verfassens gedeutet, die jeweils herrschaftsbegründende und herrschaftsbegrenzende Aspekte in unterschiedlicher Anordnung aufweisen können. Konstitutionalisierung setzt zwar regelmäßig (nicht immer)[23] – anders als Konstituierung – einen bereits konstituierten Rahmen voraus, kann aber gleichwohl expandierend in einem herrschaftsbegründenden Sinne und nicht allein als eine bestehende Herrschaft begrenzend wirken. Schließlich lassen sich Vorgänge der Konstitutionalisierung durch Urteile nicht vollumfänglich als herr16schaftsbegrenzende Momente beschreiben, wie es beispielsweise für die Entdeckung oder Entwicklung eines neuen Grundrechts im System des Grundgesetzes[24] naheliegt oder in Bezug auf inkrementelle Prozesse der Verrechtlichung.[25] Denn auch die Verdichtung oder Erweiterung eines bereits verfassten Gemeinwesens fügt dem Radius der Ausübung politischer Herrschaft Momente hinzu, die zuvor nicht (legitim) von ihr erfasst waren. Gerade einige Urteile, die zur Beschreibung des prominenten Beispiels europäischer Konstitutionalisierung herangezogen werden, lassen sich entsprechend durchaus auch als herrschaftsbegründend deuten: Wenn der EuGH beispielsweise in den Entscheidungen Van-Gend-en-Loos[26] und Costa/E.N.E.L.[27] zunächst die unmittelbare Anwendbarkeit europäischen Rechts und anschließend einen Anwendungsvorrang dieses Rechts vor mitgliedstaatlichem Recht etabliert, dann kann darin zwar einerseits eine Begrenzung mitgliedstaatlicher »Herrschaft« gesehen werden, vorwiegend aber entsteht dadurch eine neue Grundlage politischer Herrschaft für die europäischen Rechtssetzungsinstitutionen. Verfassende Urteile sind zusammenfassend also solche Urteile, die Erweiterungen, Vertiefungen oder Verdichtungen bereits (jedenfalls ansatzweise) verfasster Strukturen hervorrufen, ohne dass diese Veränderungen als solche schon qualifiziert (etwa als herrschaftsbegründend oder als herrschaftsbegrenzend) wären. Wie diese Urteile das tun, welche Arten von konkreten Normsetzungen sie vornehmen, welche Typen von Fallkonstellationen sie betreffen, welchen Spruchkörpern sie entstammen, alle diese Fragen wären dann unter dem Oberbegriff verfassender Urteile zu stellen – obwohl die vorliegende Untersuchung sich darauf beschränkt, diese Urteile als Form näher zu betrachten. So ist, diese Einschränkung erläuternd, noch ein zweiter Aspekt verfassender Urteile einer Vorbemerkung zu unterziehen. Auch wenn solche Urteile ganz unterschiedlichen Kontexten, Anlässen und Institutionen entstammen, eines ist ihnen allen gemein – und dabei mag es sich um eine möglicherweise zunächst trivial erscheinende, schließ17lich allerdings, das wird sich noch zeigen, anspruchsvolle gemeinsame Eigenschaft jener Urteile handeln, denen konstitutionalisierende Wirkungen zugeschrieben werden können: Es geht stets um rechtliche, genauer gesagt, rechtsförmige Urteile. In diesem Zusammenhang liegt keine Beiläufigkeit. Vielmehr gehe ich davon aus, und die vorliegende Untersuchung wird diese Annahme weiter erläutern, dass die Form dieser Gerichtsentscheidungen, die Begebenheit, dass es sich um rechtsförmige Urteile handelt, konstitutiv für deren konstitutionalisierende Leistungen, Wirkungen und Möglichkeiten ist. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass, um etwas über verfassende Urteile zu erfahren, ihre Rechtsförmigkeit erschlossen werden muss. Anders gesagt: Genauer zu bestimmen, was es heißt, verfassend zu urteilen, setzt voraus, zu beschreiben, was es heißt, rechtsförmig zu urteilen. Damit rückt aus Anlass einer vergleichsweise schmalen Beobachtung (der Beobachtung verfassender Urteile) ein wiederum grundlegendes Problem des Rechts ins Zentrum der Untersuchung: Was heißt es, rechtsförmig zu urteilen? Recht ist immer aufs Urteilen angewiesen, seine Theorie bleibt von dieser Angewiesenheit allerdings seltsam unberührt und konzentriert sich regelmäßig auf Rechtsnormen oder Regeln, um sich einen Begriff vom Recht zu machen.[28] Eine Antwort auf die Frage, was es heißt, rechtsförmig zu urteilen, wirkt deswegen notwendig auf den Begriff des Rechts zurück und bringt entsprechend Elemente einer Theorie des Rechts mit sich. Das vorliegende Unternehmen besteht insofern wesentlich darin, über eine Rekonstruktion rechtsförmigen Urteilens zu versuchen, Hinweise auf eine genauere Konturierung verfassender Urteile zu erhalten, jedenfalls aber mit einer Rekonstruktion rechtsförmigen Urteilens einen allgemeinen begrifflichen Rahmen zu erhalten, innerhalb dessen dann auch verfassende Urteile beschreibbar sein müssen. Inwiefern rechtsförmige Urteile gerade geeignet oder nicht geeignet sind, zu verfassen, oder wie erkennbar wird, warum manche Urteile verfassende Wirkungen haben und andere nicht, diese Fragen sind rechts- und verfassungstheoretisch bislang nicht geklärt und bilden, zusammenfassend, den Anlass und Ausgangspunkt für das hier zu unternehmende Unterfangen – nämlich der Frage nachzugehen, wie rechtsförmige Urteile als verfassend verstanden und entfaltet werden können.
Verfassende Urteile bilden also nicht nur eine zentrale Form, in der Recht sich überhaupt zeigt, sondern tragen für viele prominente Entwicklungen der rechtlich verfassten Welt Mitverantwortung: Geradezu typische Beispiele wären die Europäisierung[29] und die Globalisierung des Konstitutionalismus[30] auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite auch diverse Formen von Konstitutionalisierung, die als »gesellschaftlicher« oder als »transformativer« Konstitutionalismus jeweils bestimmte Weisen bezeichnen, in denen sich Verfassung in bislang nicht verfasste Welten einschreibt[31] oder – im Falle des »transformativen« Konstitutionalismus – sozialen Wandel vorantreibt.[32] Rechts- und politikwissenschaftliche Untersuchungen widmen sich diesen Beispielen typischerweise entweder entlang rechtlicher Gehalte, Bestimmungen und Differenzierungen der Urteile, also entlang inhaltlicher Befunde. Oder sie untersuchen entsprechende Konstellationen institutionenorientiert, das heißt, Gerichte oder Spruchkörper werden als Agenten betrachtet, die die entsprechenden Entwicklungen vorantreiben.[33] Etwas weniger prominent finden sich gelegentlich auch Untersuchungen dieser Gegenstände, die an richterlichen Haltungen an19knüpfen.[34] Ein weiterer Strang vorwiegend politikwissenschaftlicher Analysen bezieht zur Untersuchung jener Transformationen durch gerichtliches Handeln insbesondere die jeweiligen politisch-historischen Kontexte von Entscheidungen ein.[35] Eines allerdings bleibt zumeist außerhalb des Blickfeldes: jene Rolle, die rechtliche Urteile für diese Entwicklungen als Form des gerichtlichen Handelns spielen. Dies ist aus rechtstheoretischer Perspektive einigermaßen überraschend, handelt es sich bei rechtsförmigen Urteilen doch nicht um eine beliebig auswechselbare, sondern um eine ausgesprochen ausdifferenzierte, professionell durchformte und durch umfassende rechtskulturelle Traditionen herausgebildete Handlungsform, die nicht nur über Legitimationsaspekte zu beschreiben ist, sondern gleichzeitig, als Form, ganz eigene Mechanismen entwickelt, um etwa normative und faktische Ebenen zusammenzudenken.[36] Es ist also zunächst einmal davon auszugehen, dass diese anspruchsvolle Form Einfluss auf die ihr zugeschriebenen verfassenden Wirkungen ausübt, und umgekehrt, dass mögliche Einsichten und Erkenntnisse über verfassende Urteile ganz wesentlich an dieser Urteilsform anknüpfen müssen.
Die vorliegende Untersuchung schlägt hier entsprechend einen anderen Weg ein als die vorhandene Literatur und nimmt sich vor, diese Lücke zu füllen: Ausgehend von der Annahme, dass die Form der justiziellen Welterzeugung, das Urteil, nicht ohne Einfluss auf ihre Inhalte, Funktionen und Leistungen ist, rückt sie das Urteil beziehungsweise (der Zusammenhang wird noch zu sehen sein)[37] das Urteilen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Wie können Urteile überhaupt als Form geeignet sein, Prozesse der Konstitutionalisierung oder der europäischen Integration oder des sozialen Wandels voranzutreiben? Und welche Leistung erbringen Verfahren der Urteilsbildung, die sie in besonderer Weise geeignet erscheinen lassen, um die rechtlich verfasste Welt zu erweitern? Was heißt es also, so lautet dann die zugrundeliegende Frage, von rechtsförmigen Urtei20len zu sprechen und nicht etwa von (politischen) Entscheidungen oder »bloßen Dezisionen«? Annäherungen an solche Fragen dürften, davon gehe ich im Folgenden aus, einen Beitrag zur Erklärung von Phänomenen, die sich (in einem weiten Sinne) als Erweiterungen der verfassten Welt durch Gerichte beschreiben lassen, leisten. Dieser Beitrag soll nicht in Konkurrenz zu institutionenanalytischen oder rechtlichen Analysen justizieller Welterzeugung stehen, sondern vielmehr in einem Ergänzungsverhältnis: Während der institutionelle Blick funktional oder interessenorientiert, jedenfalls aber politisch zentriert analysieren kann und der rechtliche Blick systemorientiert oder teleologisch, immer aber von der Sphäre des Politischen abgrenzend erschließt, beschreibt die Form des Urteils gerade eine spezifische Vermittlungsleistung, die es näher zu untersuchen gilt.
Verfassungstheoretisch wiederum muss sich diese Vermittlungsleistung im Fall verfassender Urteile in das Vokabular legitimatorischer Strukturen oder Akte übersetzen lassen, denn die Frage nach Legitimation beziehungsweise nach der »Instanz oder tragenden Kraft, welche der Verfassung ihre (demokratische) Legitimation und Legitimität verleiht«,[38] ist die grundsätzliche Frage von Verfassungstheorie überhaupt. Ich gehe entsprechend davon aus, dass die welterzeugenden Momente rechtsförmiger Urteile gerade jenes ausgreifende Momentum, das der Begriff der Konstitutionalisierung beschreibt, erfassen und für es Legitimationspotentiale aufrufen und herstellen können. Solche Urteile untersuche ich im Folgenden als verfassende Urteile. Dieser Zusammenhang lässt sich insbesondere ex negativo erläutern, wenn wir uns ansehen, wie die etablierte Betrachtung konstitutionalisierender Urteile ihn gerade nicht beschreiben kann. Beispielsweise werden typischerweise solche Urteile des Europäischen Gerichtshofs als Belege für die Konstitutionalisierung der Verträge beziehungsweise der Europäischen Union herangezogen, die das Verhältnis der Union zu ihren Mitgliedstaaten verändern: Weiler etwa beschreibt die Konstitutionalisierung in der Gründungsphase[39] über eine »Reihe von grundle21genden Entscheidungen«[40] des Europäischen Gerichtshofs, die vier »Leitlinien« etablierten, welche wiederum »das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und dem Recht der Mitgliedsstaaten festgelegt und dieses Verhältnis von analogen Rechtsverhältnissen in föderalen Verfassungsstaaten ununterscheidbar gemacht haben«.[41] Die Form dieser Entscheidungen als gerichtliche Urteile spielt für ihre Einordnung als konstitutionalisierend auch im Falle der »Transformation Europas«[42] kaum eine Rolle. Dies wäre jedenfalls dann nicht weiter verwunderlich, wenn dies bei den übrigen Formen des Verfassens ähnlich behandelt würde: wenn also die Verfassunggebung etwa allein über materielle Gehalte und nicht jedenfalls auch über prozedurale Erwägungen, Fragen der Autorität eines Verfassunggebers beispielsweise, erschlossen würde. Und außerdem wäre diese Einordnung gerade dann folgerichtig, wenn – andererseits – dem Begriff der Konstitutionalisierung, dem Begriff des Verfassens ein solcher Begriff von Verfassung unmittelbar zugrunde läge, der wiederum allein über materielle Kriterien zu erschließen wäre. Beide Aspekte lassen sich allerdings nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres und keineswegs angesichts der hier angenommenen Voraussetzungen bestätigen. Vielmehr dürfte es so verkürzend wie verlustreich sein, Konstitutionalisierung über einen Begriff der Verfassung zu beschreiben, der ohne jede formbildende Komponente auskommt. Mit anderen Worten: Der Begriff der Konstitutionalisierung wäre ohne weiteren Beschreibungs- und auch Erklärungswert, wenn er allein darauf verweisen könnte, dass ein rechtlicher oder politischer Akt Bezugnahmen auf typischerweise in Verfassungsgesetzen geregelte Materien oder mit dem modernen Konstitutionalismus verbundene normative Prinzipien enthielte. Jedes Verständnis von Konstitutionalisierung, das vorwiegend die Seite der Regulierung von Herrschaft unter bestimmten normativen Vorgaben fasst,[43] verliert die herrschaftsformierenden Aspekte von Verfasstheit 22aus dem Blick, die sich auch in der dynamischen und möglicherweise fortgesetzten Herstellung dieser Verfasstheit, der Konstitutionalisierung, abbilden müssen.[44] Erweiterungen, Vertiefungen und Verdichtungen der verfassten Welt, also Vorgänge der Konstitutionalisierung, müssen, so lautet umgekehrt die positive Version dieser Annahme, immer einen Bezug zum pouvoir constituant herstellen. Diese Bezugnahme erlaubt überhaupt erst, die Formierung von Herrschaft und die Ausübung öffentlicher Gewalt in einer Weise zu denken, welche sie mit der Anforderung einer Legitimation[45] konfrontiert und somit den Begriff der Verfassung nicht entleert. Zu konstitutionalisieren bedeutet also in diesem Sinne nicht allein, sämtliche Akte der Ausübung öffentlicher Gewalt konstitutionellen Normen zu unterwerfen, sondern auch, diese Unterwerfung selbst (und damit gleichzeitig die Formierung jener öffentlichen Gewalt) an jene zurückzubinden, die als Gesamtheit das kollektive Subjekt demokratischer Legitimation bilden.[46] Damit bleibt der Begriff der 23Konstitutionalisierung, das gilt es im Blick zu behalten, unterschieden von jenem der Konstituierung – der (revolutionären) Verfassunggebung ohne weitere Vorgängigkeit in legitimatorischer Hinsicht –, denn es handelt sich um eine konstitutionelle Expansion auf dem Boden eines pouvoir constitué oder (für die Europäische Union und auch für international-rechtliche Konstitutionalisierungsmomente) eines proto-pouvoir constitué.[47] Den verfassenden Momenten näher zu kommen bedeutet also, sie als Überschreitungsbewegungen zu verstehen, deren Überschreitungsmoment seinerseits Legitimationsbedarf auslöst – verfassende Urteile mögen Handlungen konstituierter Gewalten sein, sie bedürfen wegen ihres expansiven Momentums allerdings trotzdem (und gerade deswegen) der jeweiligen und jeweils neuen Rückbindung an einen pouvoir constituant. Das heißt, um zum Beispiel verfassender Urteile des Europäischen Gerichtshofs zurückzukommen, in verfassungstheoretischer Hinsicht bliebe vor diesem Hintergrund die Beobachtung als solche noch ohne größere Folgen, dass diese Urteile in der einen oder anderen auch umfassenden Weise das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und dem Recht der Mitgliedstaaten betreffen. Entscheidend wäre für das grundlegende verfassungstheoretische Problem – die Frage nach dem pouvoir constituant beziehungsweise nach der Legitimation[48] – dann, wie sich dieses »Betreffen« genauer konturieren lässt. Wenn die Beschreibung der Konstitutionalisierung der Europäischen Union durch den Europäischen Gerichtshof zutreffend ist – und sehr viel spricht dafür –, dann wäre nun in Anlehnung an Weilers berühmte Formulierung zu fragen, wie die Urteile denn das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und dem Recht der Mitgliedstaaten genau festlegen beziehungsweise in ein zu föderalen Verfassungsstaaten analoges Verhältnis umwandeln können.[49] Wie also können rechtsförmige Urteile, auf diese Frage läuft es nun hinaus, überhaupt gleichzeitig etwas (zum Beispiel ein 24Rechtsverhältnis) konstitutionellen Normen unterwerfen und dabei diese Unterwerfung auf ein Legitimationssubjekt rückbeziehen? Und wie vermögen rechtliche Urteile dies in einer Weise, die uns davon sprechen lässt, dass diese Urteile konstitutionalisieren, oder anders gesagt: verfassen?
Alle diese Einschreibungsweisen in die verfasste Welt, die ich verfassend nenne, eint, dass sie nicht nur, aber doch ganz wesentlich von gerichtlichen Entscheidungen bestimmt und getragen werden, was allerdings letztlich nur deswegen bemerkenswert ist, weil es eine Abweichung von dem markiert, was man den »Normalmodus« von verfassten Rechtssystemen konstitutionalisierten Typs nennen könnte. Jener »Normalmodus« ließe sich zum einen auf eine funktionale wie legitimatorische Differenzierung von verfassunggebender Gewalt und verfasster Gewalt zurückführen[50] und zum anderen über rechtsstaatliche Prinzipien fassen, die die Rechtsförmigkeit von gerichtlichen Entscheidungen sichern sollen: die Gesetzesbindung der Gerichte etwa oder die Unabhängigkeit der Richter:innen. Die hier in den Blick genommenen Einschreibungsweisen von Verfassung in verfasste Welten unterscheiden sich nun von diesem »Normalmodus« gerade darin, dass ihnen das genannte ausgreifende[51] Element zu eigen ist – sie weiten den »Rahmen« der Verfassung aus, indem sie diese von der nationalen Sphäre lösen (Europäisie25rung und Globalisierung), von legitimatorischen Rückkopplungen wie der Bindung an ein verfasstes Legitimationssubjekt befreien (gesellschaftlicher Konstitutionalismus) oder indem sie die Ebene der Verfassung nicht allein als Instrument politischer Ordnungsbildung begreifen, sondern vielmehr als eines, um sozialen Wandel durchzusetzen (transformativer Konstitutionalismus). Zwar ist die Folie dieser Beschreibung, der »Normalmodus« verfasster Rechtssysteme, derart umfassend rechts- und verfassungstheoretisch kritisiert worden, dass es weder notwendig noch möglich ist, diese Kritiken hier noch einmal aufzurufen. Aber gleichzeitig wird genau dieser als Konzept letztlich zu verwerfende »Normalmodus« immer wieder herangezogen, um jene in Bezug auf Verfassung expansiven Momente juristischer Entscheidungen zu kritisieren. Am prominentesten dürfte darunter die Strategie sein, für solche Entscheidungen Legitimationsdefizite zu beklagen[52] oder umgekehrt legitimatorische Ansprüche zu erheben,[53] immer daran anknüpfend, dass Gerichte letztlich die Aufgabe haben, »zu sagen, was das Recht ist«.[54] Sofern man nicht die gesamte Kritik an jenem »Normalmodus« pauschal zurückweisen kann, liegt in einer solchen argumentativen Strategie ein Widerspruch, denn der »Normalmodus« wird gleichzeitig zurückgewiesen und in Anspruch genommen, um die Legitimationsprobleme nachweisen zu können. Dieser Widerspruch kann auch nicht dadurch aufgelöst werden, dass man hier eine Ebenenunterscheidung zwischen normativer und deskriptiver Ebene einzieht, denn sowohl die zu beschreibenden expansiven Momente als auch der »Normalmodus als Argument« sind normativ strukturiert, so dass jedenfalls von einem normativen Widerspruch ausgegangen werden kann. Bei dieser widersprüchlichen Konstellation handelt es sich um keinen formalistischen Nebenschauplatz, sondern um ein triftiges Problem der wissenschaftlichen und 26außerwissenschaftlichen Beurteilung und Behandlung expansiver gerichtlicher Entscheidungen: Eine grundsätzlich falsch (im Sinne von: widersprüchlich) angelegte Kritik dieser Entscheidungen muss notwendig ins Leere laufen. Nebenbei bemerkt: Genau aus diesem Grunde lassen sich gleichzeitig eine Konjunktur in konstitutioneller Hinsicht expansiver gerichtlicher Entscheidungen und eine Konjunktur des Einklagens von Legitimationsdefiziten beobachten, ohne dass die eine die andere in irgendeiner Hinsicht beeinflussen würde.[55] Das Problem, die Expansion der Konstitutionalisierung über den »Normalmodus« zu erklären, reicht aber noch weiter als ein normativer Widerspruch, oder anders gesagt: Es beginnt nicht erst mit einer Strategie, expansive gerichtliche Entscheidungen zu kritisieren, sondern schon mit der fragwürdigen Annahme, dass gerichtliche Entscheidungen überhaupt anders als expansiv ausfallen können, so dass eben nur für Letztere besonderer Legitimationsbedarf aufgrund dieser Abweichung entsteht. Es ist nämlich durchaus anzunehmen, dass jedes rechtsförmige Urteil in einer gewissen Weise expansiv ist – dies indizieren rechtstheoretische Formulierungen rechtsförmiger Urteile als konkrete Normsetzung[56] genauso wie im »konstitutionellen Mindset im Einsatz« (Koskenniemi) die stetige Konstitutionalisierung durch »gerichtliche Entscheidung zwischen Regeln und Regelsystemen«,[57] obwohl die Regeln gerade die Anwendung bestimmen sollen: »[A]uch wenn die rechtlichen Materialien ausgehen, wird die juristische Argumentation weiter funktionieren. Es ist immer möglich, einen Fall zu entscheiden, wie unlösbar, neu oder komplex er auch erscheinen mag.«[58]
Meine im Folgenden weiter zu untersuchende Vermutung lautet also: Es führt nicht nur ins Leere, expansive gerichtliche Urteile als solche, als expansiv, zu kritisieren, sondern es ist gar nicht ohne weiteres möglich, expansive gerichtliche Urteile von nicht-expansiven gerichtlichen Urteilen zu unterscheiden, weil jene Form der 27Expansion rechtsförmigen Urteilen gerade typischerweise zu eigen ist.[59] Danach sind – so die vorläufig unterlegte Annahme – jene gerichtlichen Entscheidungen, die Europäisierung oder globale Konstitutionalisierung vorantreiben oder den transformativen Konstitutionalismus tragen, zwar möglicherweise besonders schillernde Versionen rechtlicher Urteile, aber nicht fundamental von anderen, weniger schillernden Urteilen in jener Hinsicht zu unterscheiden, dass Erstere expansiv und Letztere lediglich Applikationen von bereits etablierten normativen Strukturen wären. Mit diesen Überlegungen verbindet sich nun gerade eine weitere, die die Ausrichtung der vorliegenden Untersuchung wesentlich bestimmt: Wenn nämlich jedes rechtsförmige Urteil in einem weiten Sinne als expandierend gedacht werden muss, weil es normsetzend in rechtlich nicht bereits erschlossene Gebiete auf gleichwohl rechtsförmige Weise eindringt und den Raum des Rechts dadurch erweitert, und wenn wir gleichzeitig Konstitutionalisierung als eine Expansionsbewegung im Besonderen verstehen müssen, dann muss eine allgemeine Rekonstruktion rechtsförmigen Urteilens Erkenntnisgewinne für die Grundlegung einer Theorie verfassender Urteile erlauben. Nebenbei dürfte ein derartiges Vorgehen dann auch dem Problem der Kritisierbarkeit expansiver Gerichtsentscheidungen begegnen: Indem eine Rekonstruktion rechtsförmigen Urteilens offenlegen könnte, was (zumindest im Ansatz) rechtliche Entscheidungen als Urteile ausmacht und was sie von rechtlichen Entscheidungen anderer Form unterscheidet, dürfte sie auch eine Kritik konstitutionalisierender Urteile entlang ihrer expansiven Wirkungen mit Kriterien versorgen. In jedem Fall führt die Frage, wie Urteile im beschriebenen Sinne expandieren können, aufgrund der Rechtsförmigkeit verfassender Urteile, wie gerade angezeigt, zunächst zurück auf ein rechtstheoretisches Problem. – Dieses lässt sich präzise fassen: Was heißt es, rechtsförmig zu urteilen? Die rechtstheoretische Entwicklung dieses Problems als eines der Konstitutionalisierung durch Urteile ist einigermaßen anspruchsvoll. Weil sie allerdings an Grundprobleme der Rechtstheorie heranreicht und damit die Relevanz der hier angelegten Perspektive noch einmal in anderer Wei28se verdeutlicht, möchte ich den Gang dieser Problementwicklung jedenfalls in aller Kürze darlegen, um von dort aus dasselbe Problem noch einmal verfassungstheoretisch zu entfalten. Diese Entfaltung wird ebenso grundlegend, aber durchaus unterschiedlich in der Argumentationsrichtung angelegt sein und vermag damit eine doppelte Perspektive auf Recht und Verfassung erst zu entwickeln.
Eine Erklärung der Beobachtung, dass rechtliche Urteile verfassen können, muss also rechtstheoretisch in das Problem übersetzt werden, wie rechtliche Urteile überhaupt als expandierend begriffen werden können. Es handelt sich dabei, das sei zunächst bemerkt, durchaus um eine spezifische Fragestellung. Das heißt, sie kann nicht dadurch beantwortet werden, dass eine Lösung für eine allgemeine Form des Urteils überhaupt gefunden wird, die dann für eine besondere unter anderen, eben die Rechtsform, zu konkretisieren wäre. Weil Urteile nicht als allgemeine Form, sondern nur als logische oder ästhetische, als politische oder rechtliche gedacht werden können, handelt es sich beim Problem expandierender rechtlicher Urteile um eines, das allein aus der besonderen Perspektive des rechtlichen Urteils beantwortet werden muss. Für Recht bildet nun schon die Idee der Expansion als Bewegung, die mit der Urteilsform einhergeht, ein internes Problem: und zwar, weil es aus der Perspektive des Rechts anspruchsvoll ist, Urteile anders als abschließend zu denken. Dies wiederum hängt mit dem Modell der Rechtsanwendung zusammen, das jedenfalls die meisten Rechtssysteme prägt. Nach jener Vorstellung bedeutet Rechtsanwendung, dass wie auch immer in die Welt gekommene Rechtsnormen im Wege des Urteilens auf konkrete Tatsachenkonstellationen angewendet werden, ohne dass diese Anwendung Rückwirkungen auf die jeweiligen Rechtsnormen selbst hätte. Die Anwendung einer Rechtsnorm wäre danach immer als dieselbe affirmierend zu verstehen, ein rechtliches Urteil könnte allein feststellen, dass diese Rechtsnorm auf eine bestimmte Tatsachenkonstellation anwendbar ist und angewendet wird. Die Frage wäre dann, wie das zu beschreibende expansive Moment des Urteilens mit dieser Anwendungsvorstellung verbunden werden könnte. Oder die Sache verhält sich ganz anders (auf diese Annahme wird es im Folgenden hinauslaufen): jenes Modell der Rechtsanwendung eignet sich schlicht nicht zur Beschreibung der rechtlichen Urteilssituation. Es muss nämlich, dies sei 29hier nur angedeutet, selbst zu einem Widerspruch führen, wenn es zur Erläuterung (rechtsförmiger) verfassender Urteile herangezogen wird. Schließlich müsste es, ausgehend von der Anwendungsvorstellung, erklären können, wie mit der bloßen Anwendung einer Rechtsnorm auf eine Tatsachenkonstellation gleichzeitig ein konstitutioneller Überschuss erzeugt werden kann, der diese konkrete Rechtsanwendung einerseits auf einen pouvoir constituant rückbezieht und sie andererseits sich selbst überschreiten lässt, weil sie in diesem konstitutionellen Überschuss ein materielles Gebiet des jeweiligen Rechtsraumes[60] konstitutionell neu erschließt.
Verfassende Urteile könnten also, wenn man zu ihrer Erklärung und Beschreibung auf ein Modell der Rechtsanwendung zurückgreift, nur an einem wesentlich erweiterten Begriff der Anwendung anknüpfen. Dieser Begriff müsste seine eigene Überschreitung aufnehmen können. Zwar ist es denkbar, Anwendung nicht als »bloße« Anwendung, sondern als immer auch neu »erzeugende« Anwendung zu denken, die insofern expandierende rechtliche Urteile beschreiben kann; das Modell der Rechtsanwendung, nach dem Anwendung als schließende Heranziehung einer Rechtsnorm verstanden wird, ohne dass dieser Vorgang dieselbe in irgendeiner Hinsicht verändern würde, ein solches Modell der Rechtsanwendung wäre mit jenem erweiterten Begriff der Rechtsanwendung nicht kompatibel. Insofern ist es rechtstheoretisch ergiebiger und eleganter, weil es dieses brüchigen Umwegs nicht bedarf, rechtliches Urteilen nicht auf ein Modell der Rechtsanwendung zu stützen, sondern auf ein Modell der Rechtserzeugung. Als Prototyp kann hier Kelsens Fassung eines solchen Modells dienen: danach sind rechtliche Urteile Akte der Rechtserzeugung im Sinne konkreter Normsetzung.[61] Für meine hier anzulegende Perspektive bevorzuge ich allerdings ein performatives Modell der Rechtserzeugung, das insbesondere den Zusammenhang von Rück- und Selbstbezüglichkeit des erzeugenden Aktes betont, der einen bestehenden (etablierten) rechtsnormativen Zusammenhang mit einer neuen Konstellation verknüpft, also gleichzeitig vorgängig und selbstbezüglich zu denken ist.[62] 30Dieses Modell ist gerade kein dezisionistisches. Vielmehr verhandelt es jedes expansive Moment von Rechtserzeugung als unmittelbar mit vorgängiger Rechtsnormativität verknüpft. Der Blick aufs rechtliche Urteilen und insbesondere seine expansive Funktion fokussiert in Anknüpfung an ein Modell performativer Rechtserzeugung dann, so meine Überlegung im Hinblick auf die hier zu betrachtende Frage nach verfassenden Urteilen, eine Mikroperspektive auf performative Rechtserzeugungsakte: Genau diese Frage der Verknüpfung von (allgemeiner) Rechtsnorm und (besonderer) Tatsachenkonstellation muss, um die expansive Dimension des Urteilens zu erklären, im Spannungsverhältnis von Vorgängigkeit und Selbstbezüglichkeit dieser Verknüpfung entfaltet werden. Die anschließende und vorliegend zentrale Frage wäre dann, wie solche Rechtserzeugung in und durch Urteile(n) vollzogen wird.
Inwiefern also können wir Urteile als Vorgänge der Rechtserzeugung beschreiben und erläutern? So lautet die rechtstheoretische Formulierung des vorliegend zu behandelnden Problems, dessen Lösung einen entscheidenden Fortschritt hin zu der Frage nach dem Verfassen durch Urteile verspricht. Mit diesem Problem hängen zwei weitere (Teil-)Fragen unmittelbar zusammen. Einerseits wäre die Frage anzuschließen, unter welchen Bedingungen solche Urteile gelingen oder misslingen können, und andererseits, damit wiederum eng verbunden, stellt sich die Frage, ob wir korrekte erzeugende (expandierende) Urteile von inkorrekten unterscheiden können. Beide Teilaspekte betreffen letztlich die Möglichkeit, die Unterscheidung von Recht und Unrecht über die Form des Urteils fassen zu können. Diese Möglichkeit wiederum bildet die Voraussetzung dafür, dass es in einem weiteren Schritt denkbar wird, entsprechende Urteile als Urteile zu kritisieren und nicht allein aufgrund einzelner Gehalte. Deswegen gilt es, beide Teilfragen für das vorliegende Unternehmen im Blick zu behalten.
Das rechtstheoretische Problem des Urteilens (was heißt rechtsförmig – und gelingend – urteilen?) findet seine verfassungstheoretische Entsprechung wiederum im Problem, durch das jeweilige Urteil Legitimation herzustellen. Das expansive Moment rechtlicher, verfassender Urteile bedarf der Legitimation, wobei dieser Anforderung angesichts der rechtstheoretischen Annahmen nur in spezifischer Weise entsprochen werden kann: Insbesondere kann das rechtsförmige Urteil nicht schon aus dem Allgemeinen, der 31Rechtsnorm, die im Urteil mit einer Tatsachenkonstellation oder einem normativen Problem, einem Besonderen verknüpft wird, Legitimation gewinnen. Denn Legitimation aus dem im Urteil aufgerufenen Allgemeinen, aus einer bloß angewendeten Rechtsnorm abzuleiten wäre nur denkbar, wenn dieses Urteil gerade keine expansive Dimension enthielte und wenn es einem simplen Modell der Rechtsanwendung folgte. Nur unter diesen beiden Umständen würde die Legitimation der herangezogenen Rechtsnorm auch für das Urteil eine unmittelbare Wirkung entfalten. Beides wird hier nicht angenommen. Deswegen muss, so die nun abzuleitende These, ein verfassendes Urteil Legitimation aus dem Urteilsakt selbst oder, noch weiter gefasst, aus dem Verfahren des Urteilens gewinnen. Bei dieser Überlegung handelt es sich um keine erstaunliche Neubetrachtung, sondern vielmehr um eine Grundlage etablierter Ansätze beispielsweise zur demokratischen Legitimation justizieller Gewalt.[63] Sie ist allerdings, nebenbei bemerkt, abzugrenzen von jenem Strang rechtswissenschaftlicher Forschung, der intensiv die Frage der demokratischen Legitimation des judicial review, also der gerichtlichen Überprüfung von Legislativakten, untersucht.[64] Vorliegend geht es nicht spezifisch um das Verhältnis der Gewalten zueinander, sondern um eine bestimmte Handlungsform, das rechtsförmige Urteil, das lediglich typischerweise, aber nicht notwendig[65] von Institutionen der Judikative gefällt wird. Gleichwohl sind die Legitimationsstrategien in Bezug auf gerichtliche (rechtliche) Urteile relevant, weil sie in jedem Fall zu dieser Handlungsform zu zählen sind. Dass solche gerichtlichen Urteile ihre demokratische Legitimation nicht aus den jeweils aufgerufenen Rechtsnormen gewinnen können, habe ich bereits angezeigt. Das heißt, ein Begriff substantieller Legitimation allein kann nicht genügen, um zu erklären, wie verfassende Urteile Legitimation herstellen oder 32vermitteln können. Aber auch prozedurale Legitimationsvorstellungen, die Legitimation an der Formierung und Einhaltung bestimmter Verfahren(sregeln) erkennen wollen,[66] können in Bezug auf diese expansiven Urteile nicht weiterführen, weil sie, und hier rückt langsam das tiefer liegende verfassungstheoretische Problem ins Blickfeld, nur im Rahmen des pouvoir constitué gedacht werden können, also gerade nicht in der Lage sind, den pouvoir constituant mit aufzurufen, wie es Urteile, die als Urteile verfassen, nach der hier vorgenommenen Begriffsbildung leisten müssen.[67]
Wenn Urteile eine Form des Verfassens sind, dann kann keine konstituierte Institution und keine konstitutionelle Norm allein für ein Urteil Legitimation stiften oder vermitteln, sondern das Urteil muss seine Legitimation im Vorgang des Urteilens und als Urteil selbst vermitteln. Denn, so der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung, wenn es sich bei verfassenden Urteilen nicht allein um Affirmationen bestehender Konstitution handelt, sondern auch um konstitutionalisierende, also die verfasste Welt erweiternde Vorgänge, dann können sie ihre Legitimation nicht vermittelt, sondern nur durch einen unmittelbaren Aufruf eines (wie auch immer gefassten) pouvoir constituant gewinnen. Zu verfassen bedeutet schließlich gerade, aus dem konstituierten Raum herauszutreten – und diese Überschreitung kann nicht selbst durch bereits konstituierte Legitimationswege kanalisiert werden, sonst wäre es kein Austritt, kein Verfassen.
Wenn die Ausgangsbeobachtung der vorliegenden Untersuchung also richtig ist, wenn es also rechtliche Urteile gibt, die als Urteile konstitutionalisieren können, dann stellt sich rechtstheoretisch zunächst das grundlegende Problem, was es heißt, rechtlich zu urteilen. Und verfassungstheoretisch muss gleichzeitig erklärt werden, wie aus rechtlichen Urteilen beziehungsweise aus Vorgängen rechtlichen Urteilens Legitimation zu gewinnen oder zu vermitteln ist. 33Ich gehe davon aus, dass beide Probleme miteinander verknüpft sind: Und zwar so, dass eine rechtstheoretische Rekonstruktion dessen, was es heißt, rechtsförmig zu urteilen, Einsichten für die verfassungstheoretische Suche nach der Legitimationsvermittlung durch Urteile verspricht. Entsprechend will ich im Folgenden die Frage nach den verfassenden Urteilen über Annäherungen an diese beiden Probleme untersuchen. Ausgehend von der Vermutung, dass eine Rekonstruktion rechtlichen Urteilens möglicherweise Blicke auf potentielle Anknüpfungen von Legitimation bietet und es umgekehrt schwierig sein dürfte, ohne eine Rekonstruktion rechtlichen Urteilens dessen Legitimation zu untersuchen, werde ich also zunächst und vor allem versuchen, eine Rekonstruktion rechtlichen Urteilens zu unternehmen. Von dort aus wird dann spezifischer auf verfassende Urteile und deren Legitimation zu blicken sein. Um die Perspektive nicht unnötig und von vornherein zu verengen, gilt es, rechtliches Urteilen auf eine allgemeine Weise zu rekonstruieren (Kapitel IV) und eine möglicherweise zu gewinnende Rekonstruktion erst in einem zweiten Schritt auf den Aspekt des Verfassens zu verengen (Kapitel V). Um die Blickachse der Untersuchung noch präziser zu fassen, werde ich allerdings zunächst präliminär zwei begrifflichen Zusammenhängen nachgehen, bevor ich dann die eigentliche Rekonstruktion rechtlichen Urteilens vornehme. Dabei handelt es sich zum einen (den Begriff der Konstitutionalisierung genauer erschließend) um den begrifflichen Zusammenhang von Verfassung und Verfassen (Kapitel II) und zum anderen um das Problem der Juridizität rechtlicher Urteile (Kapitel III), also die Frage, welche Eigenschaften rechtliche Urteile eigentlich zu einer spezifischen Form erheben.
Wenn zu verfassen also bedeutet, den Raum des bereits Konstituierten zu überschreiten, und wenn verfassende Urteile einen (durchaus zentralen) Modus dieser Überschreitung beschreiben können, dann setzt die weitere Untersuchung dieser Variante des Verfassens auch voraus, jedenfalls Konturen des zugrunde gelegten Begriffs der Verfassung zu zeichnen. Denn Verfassung kann dann nicht (allein) als statische Idee der Rahmung oder Fundierung einer im Wesentlichen unveränderlichen Ordnung gedacht werden, oder anders gesagt: der Begriff der Verfassung muss dynamische Momente aufnehmen können. Spuren solcher dynamischen Momente in gegenwärtigen Verfassungsentwicklungen gilt es nun zu verfolgen, um davon ausgehend begriffliche Aspekte von Verfassung herauszuschälen, die gleichermaßen an begriffsgeschichtliche Gehalte anknüpfen[1] und das Verhältnis von Verfassung und Verfassen aufschließen können. Dazu werde ich mit den folgenden Überlegungen zunächst exemplarisch einige zentrale Verfassungsentwicklungen der Gegenwart aufgreifen und aufzeigen, inwiefern sie die Statik des modernen Verfassungsbegriffs (beziehungsweise der modernen Verfassungsbegriffe)[2] herausfordern, um davon ausgehend Konturen eines Begriffs von Verfassung freizulegen, die ich im weiteren Verlauf dann der Untersuchung zugrunde legen kann (Sektion Verfassung).
Das Vorhaben dieses Kapitels liegt allerdings in einem doppelten Ansatz: einerseits zu erläutern, wie der Begriff der Verfassung so gedacht werden kann, dass er ermöglicht, gegenwärtig zu beobachtende Entwicklungen von Verfassung produktiv zu erfassen, und 35andererseits den Zusammenhang von Verfassung und Verfassen zu exponieren. Im Vordergrund steht dabei nicht etwa grundlegende Begriffsarbeit und auch keine anschauungslose Begriffsentwicklung. Es geht mir vielmehr darum, Beobachtungen dynamischer Veränderungen des Einsatzes von Verfassung begrifflich zu spiegeln und zu erläutern. Der Horizont dieser Erläuterungen wird ein Verständnis von Verfassung sein, so viel sei vorweggenommen, das sich über drei Kriterien aufschließt: Verfassung beansprucht und etabliert einen normativen Vorrang gegenüber jeder Form von politischer Herrschaftsausübung, um politische Herrschaft gleichzeitig zu begründen und zu begrenzen; dies geschieht rechtsförmig; schließlich bedarf diese Weise der Formation politischer Herrschaft der Legitimation, die wiederum durch Verfassung herstellbar und abbildbar ist. Bei diesem zu erläuternden Begriff der Verfassung handelt es sich um eine spezifische Konturierung, deren Plausibilität sich im Folgenden erweisen und deren Zusammenhang mit Vorgängen des Verfassens sich entsprechend zeigen muss (Sektion Verfassung und Verfassen).
Während die Ursprünge des modernen Konstitutionalismus, die revolutionären Verfassunggebungen um 1800, bis in die Gegenwart hinein wirkmächtige Verfassungsbegriffe prägen, bleiben jüngere Entwicklungen empirischer wie theoretischer Art merkwürdig wirkungslos, wenn es darum geht, ein Verständnis von Verfassung abzubilden. Spätestens mit dem (vorläufigen) Ende des Ost-West-Konflikts, in einigen Hinsichten bereits mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und ansatzweise schon im Frühkonstitutionalismus des 19.Jahrhunderts zeigen sich für Verfassungen jedenfalls zwei dynamische Momente: ihre Ausdifferenzierung und ihre Expansion. Beide Bewegungen betreffen sowohl den empirischen (politischen und rechtlichen) Einsatz von Verfassungen als auch wesentliche Elemente des Verfassungsbegriffs. Einerseits vervielfältigen sich normative Funktionen, die Verfassungen einnehmen können: Sie gründen etwa (nach wie vor) politische Gemeinwesen, sie formie36ren die Ausübung politischer Herrschaft rechtlich, sie vermitteln gesellschaftliche Transformation oder sie geben einem Gemeinwesen (nach innen oder außen) ein bestimmtes – nämlich verfasstes – Antlitz. Legale, politische oder nominale Funktionen von Verfassung können sich gleichzeitig und ebenbürtig zeigen oder auch mit eindeutigen Schwerpunkten versehen – zum Beispiel als vorwiegend legale (etwa: das Grundgesetz) oder als nahezu nominal funktionierende Verfassung (etwa: Nordkoreas Verfassung), die kaum eine politische oder rechtliche Funktion im Sinne der normativen Formierung einer Ordnung erkennen lässt. Andererseits sind Verfassungsverständnisse der Gegenwart nicht (wie um 1800) allein um westliche Modelle zentriert, nicht allein auf Staaten bezogen und sie behandeln Gemeinwesen auf einer Skala, die von spezifischen Gesellschaftsbereichen bis zur planetaren Dimension reicht. Es gibt in der Gegenwart also deutlich mehr[3] Verfassungen, die sich auf vielfältige Formen von Gemeinwesen beziehen und ganz unterschiedliche normative Funktionen haben können – im Vergleich zu den revolutionären Ursprüngen des modernen Konstitutionalismus um 1800. Gleichzeitig nehmen auch einzelne Verfassungen Entwicklungen in der Zeit: Das Grundgesetz des Jahres 1949 weist trotz wesentlicher textlicher Ähnlichkeit große Divergenzen zum Grundgesetz des Jahres 2023 auf – eine Verfassung verändert sich in siebzig Jahren verfassungsgerichtlicher Bearbeitung. Verfassungen differenzieren sich also aus und expandieren gleichzeitig. Wenn der Begriff der Verfassung für so diverse Formierungen von Gemeinwesen und deren Entwicklungen aussagekräftig bleiben soll, kann er sich weder allein von seinen modernen Ursprüngen her bestimmen lassen (er ließe sich kaum noch an der Gegenwart von Verfassungen abgleichen), noch kann er selbst derart ausdifferenziert werden (er würde zu kleinteilig) oder als Begriff eine analoge Expansion erfahren (er würde gehaltlos). Er kann nicht allein deskriptiv oder allein normativ verstanden werden, wie es noch viele Entfaltungen des Verfassungsbegriffs nahelegen, die den Begriff von den revolutionären Verfassunggebungen in der frühen westlichen Moderne um 1800 ausgehend denken.[4] Denn normative Funktionen einer Verfassung, die in ganz unterschiedlichen Anordnungen und gradueller Ausprägung zu beobachten sind, lassen sich nicht allein aus verfassten Normen ablesen, sondern beziehen empirische Feststellungen mit ein. Der Begriff der Verfassung behandelt zunächst einmal, ganz allgemein bestimmt, Konstellationen von Politik und Recht – das gilt seit dem Beginn der Moderne wohl für alle Verfassungen. Diese Konstellationen können beispielsweise genauer entlang von Verhältnisbildungen erfasst werden: Normativität und Wirklichkeit, Stabilisierung und Transformation, Begründung und Begrenzung von Herrschaft, Verrechtlichung und Politisierung beschreiben etwa solche Verhältnisse. Verfassung kann vor diesem Hintergrund sicherlich jeweils dafür ein Begriff sein – bezogen auf bestimmte normative Funktionen, Einsätze oder Perspektiven. Soll er aber darüber hinausgehend bestimmende Leistungen erbringen, muss er die dynamischen Momente von Verfassungen, ihre Differenzierungs- und Expansionsbewegungen aufnehmen: Verfassung beschreibt dann gleichermaßen einen Zustand und seine Herstellung, wie es der substantivierte Name des Begriffs bereits illustriert. Auf dem Weg dahin, zentrale Aspekte eines solchen Verfassungsbegriffs herauszukristallisieren, will ich nun entlang eines wirkmächtigen begrifflichen Versuchs in der Verfassungstheorie der Gegenwart erläutern, wie schwierig es ist, solche dynamischen Momente auf den Begriff zu bringen: es geht mir um den Begriff eines globalen Konstitutionalismus. Dieser Begriff reagiert auf Verfassungsentwicklungen, die gegenwärtig am prominentesten den expandierenden und sich dabei gleichzeitig ausdifferenzierenden Einsatz von Verfassungen zeigen: um Konstitutionalisierung in der transnationalen Konstellation. Unter denkbar vielen möglichen Beispielen, an denen sich dynamische Momente des Verfassungsbegriffs entwickeln, illustrieren und erläutern lassen, wähle ich für mein Vorhaben in diesem Kapitel das Ausgreifen der Verfassung in Konstellationen, die sich nicht (allein) auf den Bezugsrahmen des Nationalstaats festlegen lassen. Gerade hier zeigt sich nämlich besonders deutlich, welche Aspekte eines Begriffs von Verfassung 38sowohl dynamische Bewegungen mit erfassen können als auch ohne im modernen Konstitutionalismus etablierte Bezugspunkte (Nationalstaat oder Territorium etwa) aussagekräftig bleiben. In der transnationalen Konstellation zeigt sich also erst, was vom Begriff der Verfassung übrig bleibt, wenn er von seinen materiellen Gehalten und aus seinem nicht mehr ganz passgenauen Bezugsrahmen gelöst wird.
In der jüngeren Vergangenheit, spätestens in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, begann der Begriff der Verfassung in Sphären aufzutauchen, die mit dem Konzept des Nationalstaats nur mittelbar verbunden sind: Internationale Organisationen wie die WTO etwa wurden als verfasst betrachtet,[5] die Gründungsdokumente der Europäischen Union[6] beziehungsweise Urteile des EuGH[7] als »Verfassung«[8] gelesen und Konstitutionalisierungsmomente im Völkerrecht[9] beobachtet.[10] Die Debatte um mögliche Verfassungsaspekte, die sich jenseits des Staates herausbilden oder zeigen, hat sich innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit enorm intensiviert[11] – und spielt sich wesentlich entlang von Begriffen wie 39Globaler Konstitutionalismus oder auch Weltverfassung ab. Mittlerweile zeigen sich solche Begriffe derart geläufig in (internationalen) rechtswissenschaftlichen Debatten, dass man durchaus meinen könnte, es mit einer einhelligen, kohärenten Entwicklung globaler Ordnung zu tun zu haben. Dieser Eindruck ist natürlich falsch, und eine lineare, eindimensionale Entstehung globaler Ordnung soll auch in den seltensten Fällen von den genannten Begriffen beschrieben werden. Von einer kohärenten Ordnungsbildung, die absehbar auf eine Art (demokratisch verfassten) Weltstaat hinauslaufen sollte, sind wir recht weit entfernt, das zeigen nicht nur die gegenwärtigen Kriege und Krisen (ein Beispiel sind die nahezu handlungsunfähigen Vereinten Nationen als ein prominenter Akteur des vermeintlichen globalen Konstitutionalismus), sondern auch politische Diffusionsprozesse, wie sie beispielsweise die Europäische Union gerade durchläuft.
Gleichwohl stellen Begriffspaare wie Globalität und Verfassung in den verfassungstheoretischen Debatten der Gegenwart einen Zusammenhang her, der zum einen durchaus bemerkenswerte Anknüpfungspunkte in den empirischen Rechtsräumen dieser Welt hat, der aber zum anderen als begrifflicher Zusammenhang in verfassungs- und rechtstheoretischer Hinsicht zunächst einmal erstaunlich und teilweise auch recht problematisch ist: Das Globale, die Welt, wird mit dem Begriff der Verfassung, dem Konstitutionellen,[12] verbunden. Erstaunlich erscheint die Verknüpfung, weil sie mit dem Verfassungsbegriff die Beschreibung einer normativen Verdichtung (der Verfassung) auf einen Begriff bezieht, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass er auf Strukturierungen und Verdichtungen, Konkretisierungen und Ordnungsaspekte verzichtet: 40das Globale als Begriff, der nicht auf eine Rahmung, nicht auf eine Umgebung, nicht auf eine Ordnung bezogen ist. Kann Verfassung überhaupt global sein? Oder muss nicht umgekehrt jede verfasste Entität von der Globalität zu unterscheiden sein, weil sie sich gerade von der Strukturlosigkeit des Globalen absetzt? Anders gefragt: Braucht Verfassung immer ein Außen