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Dieser Fall bringt selbst Eve Dallas an ihre Grenzen …
Es ist nur eine normale Bar in Downtown New York, in der Feierabenddrinks, Meckereien über Chefs und kleine Flirts an der Tagesordnung sind. Alles scheint wie immer – doch dann bricht das totale Chaos aus, und am Ende gibt es achtzig Tote. Eve Dallas ermittelt, spricht mit Augenzeugen, die wirr von Monstern und Bienen reden. Sie findet heraus, dass den Gästen ein chemischer Drogencocktail serviert wurde, der kurzfristige Wahnvorstellungen auslöst. Aber warum sollte jemand so etwas geplant haben? Als klar wird, dass die Bar Eves Mann Roarke gehört, stellt sich die Frage: Ist auch er in Gefahr?
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Seitenzahl: 663
Buch
Es ist ein ganz normaler Abend in einer ganz normalen Bar in Downtown New York, in der Feierabendgetränke, Meckereien über Chefs und kleine Flirts an der Tagesordnung sind. Alles scheint wie immer – doch dann bricht von einer Minute auf die andere das totale Chaos aus. Zuerst liegt nur eine Art Spannung in der Luft, doch nach nur zwölf Minuten sind achtzig Menschen tot. Eve Dallas ermittelt, spricht mit Augenzeugen, die wirr von Monstern und Bienenschwärmen reden. Sie beschreiben plötzliche, überwältigende Gefühle von Angst und Zorn. Eve findet schließlich heraus, dass den Gästen ein chemischer Drogencocktail serviert wurde, der kurzfristige Wahnvorstellungen auslöst und auch zum Tod führen kann. Aber das erklärt nicht, warum jemand so etwas Schlimmes plante. Und dann wird klar: Die Bar gehört Eves Mann Roarke. Er ist sich sicher, dass dieser Anschlag nicht ihm galt, hier ist etwas Größeres im Gange. Doch trotzdem stellt sich die Frage: Ist auch er in Gefahr?
Autor
J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts, einer der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren erfolgreich Kriminalromane.
Liste lieferbarer Titel
Rendezvous mit einem Mörder · Tödliche Küsse · Eine mörderische Hochzeit · Bis in den Tod · Der Kuss des Killers · Mord ist ihre Leidenschaft · Liebesnacht mit einem Mörder · Der Tod ist mein · Ein feuriger Verehrer · Spiel mit dem Mörder · Sündige Rache · Symphonie des Todes · Das Lächeln des Killers · Einladung zum Mord · Tödliche Unschuld · Der Hauch des Bösen · Das Herz des Mörders · Im Tod vereint · Tanz mit dem Tod · In den Armen der Nacht · Stich ins Herz · Stirb, Schätzchen, stirb · In Liebe und Tod · Sanft kommt der Tod · Mörderische Sehnsucht · Ein sündiges Alibi · Im Namen des Todes · Tödliche Verehrung · Süßer Ruf des Todes · Sündiges Spiel · Mörderische Hingabe · Verrat aus Leidenschaft · In Rache entflammt · Tödlicher Ruhm
Mörderspiele. Drei Fälle für Eve Dallas
Nora Roberts ist J. D. Robb
Ein gefährliches Geschenk
J. D. Robb
Verführerische
Täuschung
Roman
Deutsch von Uta Hege
Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd Und der darauf saß, dessen Name war Tod, und die Totenwelt folgte ihm nach.
Die Bibel, Offenbarung
Mord rufen und des Krieges Hund’ entfesseln.
William Shakespeare, Julius Cäsar
1
Nach einem mörderischen Arbeitstag beruhigte nichts die strapazierten Nerven der in Manhattans Lower West Side arbeitenden Angestellten besser als die Happy Hour in der angesagten Kneipe On the Rocks. Bei Drinks zum halben Preis und Reisbällchen mit Käse lästerten sie über ihre Vorgesetzten oder fingen Flirts mit den Kolleginnen oder Kollegen an.
Auch hohe Tiere tauchten dort auf, um in der Nähe ihrer Arbeitsplätze schnell noch etwas zu trinken, ehe es zurück in schicke, in den Vororten New Yorks gelegene Häuser ging.
Zwischen halb fünf und sechs drängten sich kleine Angestellte, deren Vorgesetzte, Sekretärinnen und Assistenten an den niedrigen und hohen Tischen und der lang gezogenen Bar. Manche dieser Leute stürzten sich kopfüber in das Treiben, andere wurden wie Überlebende nach einem Schiffsunglück hereingespült, und wieder andere wollten einfach die Erinnerung an ihren Arbeitstag in Alkohol ertränken, nachdem sie sich einen kleinen Flecken Kneipe mühselig erobert hatten.
Ab fünf herrschte ein Treiben wie in einem Bienenschwarm, und die Theker und die Servicekräfte hatten mit den Gästen, die inzwischen ihren Arbeitstag beendet hatten, alle Hände voll zu tun. Zum Glück hellte der zweite Drink zum halben Preis die Stimmung der Besucher meistens auf, und das anfängliche Gemurre oder Schimpfen wurde durch Gelächter, fröhliche Gespräche, Augenzwinkern, Wimpernklappern und andere Rituale, die zur Paarung führen sollten, ersetzt.
Akten, Geschäftsbücher wurden verdrängt, und unbeantwortete Nachrichten gerieten in dem warmen goldenen Licht, über dem Klirren der Gläser und den Gratisnüssen in den kleinen Schälchen auf den Tischen in Vergessenheit.
Ab und zu wurde die Tür geöffnet, und das On the Rocks nahm einen weiteren Überlebenden des grausamen New Yorker Arbeitstages in Empfang. Zusammen mit dem Lärm der Straße wehte kühle Herbstluft in den Raum, doch kaum klappte die Tür zu, wurde es wieder warm und schummrig, und das Summen der zahllosen Stimmen setzte erneut ein.
Mitten in der Happy Hour, die hier statt einer Stunde anderthalb umfasste, brachen einige der Gäste schon wieder auf. Verpflichtungen, Familien oder irgendwelche heißen Dates zogen sie zur U-Bahn, einem Pendelflieger, Taxi oder Maxibus, wer blieb, nutzte die Gelegenheit zum Schwatz mit Freunden und Kollegen noch ein wenig aus, bevor es aus dem warmen goldenen zurück ins grelle Licht der Stadt oder ins abendliche Dunkel ging.
Macie Snyder hatte sich mit Travis, der seit einem guten Vierteljahr ihr Freund war, ihrer besten Freundin CiCi und mit Travis’ Kumpel Bren an einem Stehtisch aufgebaut. Sie wollte CiCi schon seit einer halben Ewigkeit mit Bren verkuppeln, denn dann könnten sie häufiger zusammen ausgehen und sich über ihre Freunde unterhalten, wenn sie bei der Arbeit waren. Sie waren eine gut gelaunte, ausgelassene Gruppe, wobei Macie die Fröhlichste von ihnen war.
CiCis und Brens Körpersprache und die Blicke, die sie miteinander tauschten, zeigten, dass sie eindeutig Gefallen aneinander hatten, und da CiCi ihr inzwischen ein paar kurze eindeutige Textnachrichten geschrieben hatte, wusste Macie, dass ihr Plan, zumindest was die Freundin anging, aufgegangen war.
Während sie eine zweite Runde kommen ließen, überlegten sie, im Anschluss an die Happy Hour noch zusammen in ein Restaurant zu gehen.
Auf ein schnelles Zeichen der Freundin schnappte Macie ihre Tasche und erklärte: »Wir sind sofort wieder da.«
Sie bahnte sich einen Weg vorbei an anderen Tischen, und als jemand an der Theke aufstand und ihr in die Quere kam, befahl sie fröhlich: »Aus dem Weg«, nahm CiCis Hand und zog sie über eine schmale Treppe bis zu der zum Glück nicht allzu langen Schlange vor dem Klo.
»Ich habe es doch gleich gesagt!«
»Ich weiß, ich weiß. Du hast gesagt, er wär attraktiv, und hast mir auch ein Bild gezeigt, aber dass er so gut aussieht, hätte ich beim besten Willen nicht gedacht. Vor allem ist er wirklich witzig! Meistens sind Blind Dates todlangweilig, aber mit Bren ist es echt toll.«
»Ich sage dir, wie’s weitergeht. Wir werden ihn und Travis dazu überreden, dass wir noch ins Nino’s gehen. Von dort aus müssen Trav und ich nach dem Essen in die eine und du in die andere Richtung gehen. Dadurch bekommt Bren die Chance, dich heimzubringen, und du kannst ihn fragen, ob er noch kurz mit raufkommen und was trinken will.«
»Ich weiß nicht.« Zögerlich wie eh und je – weshalb sie auch im Gegensatz zu Macie nicht in festen Händen war – knabberte CiCi an der Unterlippe und schüttelte unsicher den Kopf. »Ich will nichts überstürzen.«
»Du brauchst ja nicht mit ihm ins Bett zu gehen, wenn du nicht willst.« Macie rollte ihre runden blauen Augen himmelwärts. »Frag ihn einfach, ob er nicht noch einen Kaffee bei dir trinken möchte, und dann könnt ihr ja ein bisschen knutschen oder so.«
Sie musste wirklich dringend pinkeln, doch bevor sie in die nächste offene Kabine stürzte, bat sie ihre Freundin noch: »Und wenn er passt, schreibst du mir auf der Stelle, wie’s gelaufen ist. Und zwar in allen Einzelheiten, ja?«
CiCi trat in die benachbarte Kabine und erleichterte sich dort aus Solidarität mit Macie ebenfalls. »Mal sehen. Lass uns erst gucken, wie das Abendessen läuft. Vielleicht hat er danach ja keine Lust mehr, mich heimzubringen.«
»Doch, die hat er ganz bestimmt. Er ist ein echter Schatz, ich würde dich schließlich nicht mit einem Arsch verkuppeln, der dich allein gehen lässt.« Macie trat ans Waschbecken, beschnupperte die Pfirsichflüssigseife und grinste die Freundin an. »Wir werden jede Menge Spaß zusammen haben, wenn es wie geplant läuft. Dann können wir in Zukunft öfter alle vier zusammen ausgehen. Wäre das nicht toll?«
»Okay, ich finde ihn echt nett. Nur macht es mich immer total nervös, wenn mir ein Typ sympathisch ist.«
»Er fährt total auf dich ab.«
»Bist du sicher?«
»Hundert Pro.« Macie bürstete ihr kurzes sonnenblondes Haar und warf einen Seitenblick auf CiCi, die sich den Lippenstift nachzog. Himmel, dachte sie und stellte plötzlich fest, dass sie ein bisschen sauer auf die Freundin war. Sie hatte einfach keine Lust mehr, CiCi ständig aufzubauen.
»Du bist hübsch, klug und amüsant«, erklärte sie und dachte: Schließlich hänge ich in meiner Freizeit sicher nicht mit irgendeiner dummen Tusse ab. »Weshalb also solltest du ihm nicht sympathisch sein? Meine Güte, CiCi, mach dich endlich locker, heul mir nicht die Ohren voll, und hör vor allem endlich auf, die nervöse Jungfrau rauszukehren.«
»Ich kehre nicht …«
»Willst du jetzt was mit ihm anfangen oder nicht?«, fuhr Macie CiCi derart unsanft an, dass der vor Schreck die Kinnlade herunterfiel. »Ich habe mich ganz sicher nicht derart ins Zeug gelegt, um dieses Date zu arrangieren, damit du plötzlich kneifst.«
»Ich …«
»Verdammt«, fiel Macie ihr ins Wort, während sie die Hände an die Schläfen hob. »Jetzt kriege ich vor lauter Ärger auch noch Kopfschmerzen.«
Die offensichtlich ziemlich heftig waren, denn normalerweise sprang sie nicht derart gemein mit ihrer Freundin um. Und, sagte sich CiCi, vielleicht stellte sie sich wirklich ein bisschen an.
»Bren hat ein nettes Lächeln«, sagte sie und blickte Macie in dem schmalen Spiegel an. »Falls er mich nach Hause bringt, werde ich ihn fragen, ob er noch was bei mir trinken will.«
Macie blickte in die leuchtend grünen Augen ihrer Freundin, die zu der karamellfarbenen Haut einfach fantastisch aussahen, und nickte zufrieden. »Genau.«
Auf dem Weg zurück nach oben fand Macie, dass der Lärm dort plötzlich unerträglich war. Durch die vielen Stimmen, das laute Klappern des Geschirrs und das Scharren der Stühle auf dem Boden wurde die Migräne, die sie plötzlich hatte, noch verstärkt.
Während sie sich selbst leicht verbittert davon abriet, noch etwas zu trinken, wurde ihr für einen kurzen Augenblick der Weg versperrt. Wütend schubste sie den blöden Kerl zur Seite, obwohl er sich schon bei ihr entschuldigte und weiter Richtung Ausgang ging.
»Arschloch«, murmelte sie wütend und bedachte ihn mit einem bösen Blick, als er noch einmal lächelnd über seine Schulter sah.
»Was ist denn los?«
»Nichts … nur hätte dieser Blödian mich beinah umgerannt.«
»Geht es dir gut? Ich habe sicher noch ein paar Tabletten in der Tasche, falls deine Kopfschmerzen schlimmer werden. Mir tut der Kopf inzwischen auch ein bisschen weh.«
»Immer geht es nur um dich«, murmelte Macie, atmete dann aber erst einmal tief durch. Schließlich waren sie gute Freundinnen, und sie waren hier, um sich zu amüsieren.
Als sie wieder Platz nahm, ergriff Travis wie so häufig ihre Hand und zwinkerte ihr zu.
»Wir wollen noch ins Nino’s gehen«, erklärte sie.
»Vielleicht gehen wir lieber ins Tortilla Flats. Im Nino’s kriegt man ohne Reservierung sicher keinen Tisch.«
»Wir wollen aber keinen Mist vom Mexikaner, sondern in ein anständiges Restaurant. Meine Güte, meinetwegen können wir die Rechnung teilen, wenn das Nino’s dir zu teuer ist.«
Wie immer, wenn sie etwas Dummes sagte, zeichnete sich zwischen Travis’ Brauen eine schmale Falte ab. Sie hasste es, wenn er auf diese Weise das Gesicht verzog.
»Das Nino’s ist zwölf Blocks von hier entfernt, während der Mexikaner praktisch um die Ecke ist.«
Zitternd vor Wut fuhr sie ihn an: »Verdammt noch mal, hast du es eilig oder was? Vielleicht könnte es zur Abwechslung ja mal nach mir gehen statt immer nur nach dir.«
»Du hast doch gesagt, du willst ins On the Rocks.«
Das Geschrei der beiden wurde von den durchdringenden Stimmen all der anderen Gäste untermalt, mit inzwischen ebenfalls dröhnendem Schädel wandte CiCi sich an Bren.
Er saß ihr gegenüber, starrte mit gebleckten Zähnen in sein Glas und murmelte grauenhafte Dinge vor sich hin.
Er war nicht einmal ansatzweise nett. Nein, genau wie Travis war er eindeutig ein böser Mensch. Er war hässlich und war nur hier, weil er sie ficken wollte. Und wenn sie nicht wollte, nähme er sie mit Gewalt. Sobald er die Gelegenheit bekäme, würde er sie erst zusammenschlagen und sich dann an ihr vergehen. Das war auch Macie klar. Sie wusste es und würde sich nach Kräften amüsieren, wenn es dazu kam.
»Zur Hölle mit euch beiden«, fauchte CiCi Bren und Macie an, warf einen Blick auf Travis und fügte hinzu: »Zur Hölle mit euch dreien.«
»Guck mich nicht so an, du Freak«, schrie Macie Travis an, er schlug krachend mit der Hand auf den Tisch.
»Halt dein verdammtes Maul.«
»Aufhören, habe ich gesagt.« Kreischend schnappte sie sich eine Gabel, rammte sie ihm in das linke Auge. Mit einem lauten Heulen, das CiCis Hirn durchbohrte, sprang Travis auf, stürzte sich auf ihre Freundin …
… und löste ein Blutbad in der Kneipe aus.
Lieutenant Eve Dallas stand im On the Rocks und sah sich das Gemetzel an. Es gab doch immer wieder etwas Neues, dachte sie. Immer wieder irgendetwas, das sogar noch ein bisschen grauenhafter als die schlimmsten Fantasien hartgesottener Polizisten war.
Bis zum Herbst 2060 war sie als erfahrene Mordermittlerin schon oft genug durch den stinkenden Morast New Yorks gewatet, aber so etwas wie hier hatte sie nie zuvor gesehen.
Leichen trieben in einem See aus Blut, Erbrochenem und Alkohol, kauerten wie Raubtiere kurz vor dem Sprung unter geborstenen Tischen oder hingen schlaff wie Lumpenpuppen über der mit Scherben übersäten langen Bar. Die Scherben auf dem Boden und auf dem, was von den Tischen und den Stühlen übrig war, funkelten wie todbringende Diamanten, was, da sie teilweise mit Blut und Eingeweiden verschmiert waren oder in den Leichen steckten, offenkundig auch zutraf.
Der Gestank, der in der Luft hing, ließ sie an die Aufnahmen von Schlachtfeldern aus alten Zeiten denken, ehe die Verletzten und die Toten der Gemetzel ohne eindeutigen Sieger eingesammelt worden waren.
Leere Augenhöhlen, aufgerissene Hälse, zerfetzte Gesichter, Knochenstückchen und die graue Masse, die aus eingeschlagenen Schädeln quoll, verstärkten noch den Eindruck, dass in diesem Etablissement ein Krieg vom Zaun gebrochen und verloren worden war. Einige der Opfer waren nackt oder zum Teil entblößt, und ihre Haut war wie die Haut von alten Kriegern sorgfältig mit Blut bemalt.
Sie hätte nicht gedacht, dass irgendetwas sie noch schockieren könnte, doch der Anblick, der sich ihr hier bot, brachte sie aus dem Gleichgewicht. Dann aber straffte sie die Schultern, spannte ihren hochgewachsenen, schlanken Körper an, wandte sich an den Kollegen, der als Erster vor Ort gewesen war, und sah ihn reglos aus ihren braunen Augen an.
»Was wissen Sie?«
Er holte zischend Luft, und sie ließ ihm ein wenig Zeit, damit er seine Stimme wiederfand.
»Mein Partner und ich waren gerade in der Pause in dem Diner gegenüber. Als ich wieder rauskam, fiel mir auf, dass eine Frau von vielleicht Ende zwanzig rückwärts aus der Tür der Kneipe kam. Sie hat geschrien wie am Spieß, als ich sie erreichte, hat sie immer noch geschrien.«
»Wann war das genau?«
»Wir sind um 17.45 Uhr in die Pause gegangen, und ich schätze, dass wir höchstens fünf Minuten in dem Diner waren, Ma’am.«
»Okay. Fahren Sie fort.«
»Die Frau war viel zu aufgeregt, um einen geraden Satz herauszubringen, also hat sie einfach auf die Tür gezeigt. Mein Partner hat versucht, sie zu beruhigen, während ich die Tür geöffnet habe, um zu sehen, weshalb die Frau so panisch war.« Er räusperte sich kurz und fuhr mit rauer Stimme fort: »Ich bin seit zweiundzwanzig Jahren bei der Truppe, Lieutenant, aber so was habe ich noch nie gesehen. Überall waren Leichen, einige der Menschen haben noch gelebt. Sie sind auf allen vieren durch den Raum gekrochen, haben geweint, geschluchzt, gestöhnt. Ich habe die Sache umgehend gemeldet und gesagt, dass man uns eine Reihe Krankenwagen schicken soll. Es war unmöglich, nichts am Tatort zu verändern, Ma’am. Die Leute waren dabei zu sterben, wir mussten etwas für sie tun.«
»Verstehe.«
»Acht bis zehn der Leute haben wir, das heißt die Sanitäter, rausgeholt. Tut mir leid, dass ich es nicht genauer sagen kann. Die Leute waren in einem ziemlich schlimmen Zustand, also haben die Sanis sie erst mal hier versorgt und danach ins Gesundheitszentrum Tribeca geschafft. Wir haben den Ort so gut gesichert, wie es ging, aber die Sanitäter waren überall, Lieutenant, weil es selbst in der Küche und auf den Toiletten noch Verletzte gab.«
»Hatten Sie Gelegenheit, die Überlebenden zu fragen, was hier vorgefallen ist?«
»Wir haben ein paar Namen. Die Aussagen der Opfer, die noch sprechen konnten, haben übereingestimmt. Sie alle haben ausgesagt, die anderen hätten sie ermorden wollen.«
»Welche anderen?«
»Alle anderen, die hier waren, Ma’am.«
»Okay. Jetzt müssen wir erst einmal verhindern, dass jemand den Raum betritt.«
Auf dem Weg zur Tür entdeckte Dallas ihre Partnerin. Sie hatte noch Papierkram durchgehen wollen, als Peabody vor weniger als einer Stunde aufgebrochen war, und war selbst auf dem Weg in die Garage des Reviers gewesen, um heimzufahren, als die Meldung von dem Vorfall in der Kneipe bei ihr eingegangen war.
Zumindest hatte sie zur Abwechslung einmal daran gedacht, Roarke eine kurze Textnachricht zu schicken, um zu sagen, dass es bei ihr – wieder einmal – später würde als gedacht.
Eilig trat sie in die Tür und fing Peabody dort ab.
Natürlich war ihr klar, dass Peabody trotz ihrer pinken Cowgirlstiefel, ihrer regenbogenfarbenen Sonnenbrille und des kurzen, sanft wippenden Pferdeschwanzes alles andere als zartbesaitet war. Doch die Dinge, die in diesem Raum geschehen waren, hatten auch sie selbst und einen Streifenpolizisten, der seit über zwanzig Jahren Dienst in seinen harten, schwarzen Schuhen tat, vorübergehend aus dem Gleichgewicht gebracht.
»Fast hätte ich’s geschafft«, erklärte Peabody. »Ich war auf dem Weg nach Hause noch im Supermarkt, denn ich wollte McNab mit einem selbst gekochten Abendessen überraschen.« Sie hielt eine kleine Einkaufstüte hoch. »Nur gut, dass ich nicht schon mit Kochen angefangen habe. Also, worum geht’s?«
»Es ist echt schlimm.«
Peabodys Lächeln schwand. »Wie schlimm genau?«
»Beten Sie zu Gott, dass Sie niemals was Schlimmeres zu sehen bekommen werden, und sprühen Sie erst mal Ihre Hände und die Stiefel ein.« Eve warf ihr eine Dose mit Versiegelungsspray zu. »Wir haben mehrere Leichen, die zerstückelt und zerhackt, denen die Schädel eingeschlagen und die Hälse durchgeschnitten worden sind. Am besten stellen Sie erst einmal Ihre Tüte weg, und falls Sie kotzen müssen, gehen Sie raus. Hier drinnen ist schon jede Menge Kotze, und ich will nicht, dass sich Ihr Erbrochenes damit vermischt. Der Tatort weist bereits genügend fremde Spuren auf. Das ließ sich nicht vermeiden, denn die Polizisten, die als Erste hier waren, und die Sanitäter mussten sich um die Verletzten kümmern und haben sie zum Teil noch hier vor Ort versorgt.«
»Es wird schon gehen.«
»Rekorder an.« Mit diesen Worten ging Eve wieder in die Bar und hörte das erstickte Keuchen ihrer Partnerin direkt hinter sich.
»Heilige Mutter Gottes. Himmel. Oh mein Gott.«
»Reißen Sie sich zusammen, Peabody.«
»Was in aller Welt ist hier passiert? Weshalb sind alle diese Leute tot?«
»Um das herauszufinden, sind wir da. Wir haben eine Zeugin, die draußen im Streifenwagen sitzt. Nehmen Sie ihre Aussage entgegen.«
»Keine Angst, ich komme hier schon klar, Dallas.«
»Auf jeden Fall«, stimmte sie tonlos zu. »Aber trotzdem nehmen Sie jetzt die Aussage der Frau entgegen und informieren Baxter, Trueheart, Jenkinson und Reineke. Wir brauchen hier mehr Hände und mehr Augen, denn wir haben es mit über achtzig Toten und zwei Handvoll Überlebender im Krankenhaus zu tun. Außerdem möchte ich Morris am Tatort haben«, fügte sie hinzu und fuhr entschlossen fort: »Halten Sie die Spurensicherung zurück, bis wir mit den Leichen fertig sind. Finden Sie den Eigentümer dieses Ladens sowie alle Angestellten, die heute nicht hier waren, lassen Sie die Anwohner befragen, und dann kommen Sie wieder rein und gehen mir hier zur Hand.«
»Wenn Sie mit der Zeugin sprechen würden, könnte ich die anderen Dinge übernehmen, und dann fangen wir zusammen hier drinnen an.« Unsicher, ob sie sich nicht womöglich doch noch übergeben müsste, sah sich Peabody vorsichtig in der Kneipe um. »Für Sie allein ist das zu viel.«
»Ich sehe mir die Leichen einfach nacheinander an. Also ziehen Sie los und fangen Sie mit der Arbeit an.«
Dann stand Eve wieder allein in dem schrecklich stillen Raum und verschloss ihre Nase vor dem eklig süßlichen Geruch der Eingeweide und des Bluts, der ihr entgegenschlug.
Sie war eine große Frau in ausgelatschten Boots und einer teuren Lederjacke, kurz geschnittenem Haar im selben Bernsteinton wie ihre Augen sowie vollen Lippen, die sie fest zusammenpresste, während sie das Mitleid und das Grauen unterdrückte, das in ihrem Innern aufgestiegen war.
Mit Mitleid und Entsetzen wäre all den Toten, über denen sie hier stand, ganz sicher nicht gedient.
»Lieutenant Eve Dallas«, sprach sie in das Aufnahmegerät. »Wir haben es mit geschätzten achtzig Opfern mit verschiedenen Verletzungen zu tun. Verschiedene Rassen und verschiedene Altersstufen, sowohl Männer als auch Frauen. Die Sanitäter, die die Überlebenden behandelt und geborgen haben, haben genauso Spuren am Tatort hinterlassen wie die Polizisten, die zuerst vor Ort gewesen sind. Sie haben die Toten und die Überlebenden circa 17.50 Uhr entdeckt. Opfer Nummer eins …« Sie hockte sich neben den ersten Toten und zog ihren Untersuchungsbeutel auf.
»Männlich, mehrere Gesichts- und Kopfverletzungen, Stichwunden in Hals, Händen, Armen, Bauch.« Sie presste seine Finger auf den Fingerabdruckleser und fuhr fort: »Es handelt sich um Joseph Cattery, einen gemischtrassigen Mann von achtunddreißig Jahren, verheiratet, ein Sohn und eine Tochter, gemeldet in Brooklyn, Vizeleiter Marketing bei Stevenson und Reede. Das Unternehmen ist zwei Blocks von hier entfernt. Dann hast du also noch auf einen Drink hier reingeschaut.« Der Lieutenant seufzte.
»Hautreste unter den Fingernägeln.« Sie nahm eine kleine Probe, tütete sie ein und fuhr mit kalter Stimme fort: »Er trägt einen goldenen Ehering und eine goldene Armbanduhr. Außer einer Brieftasche mit seinen Initialen, in der ein paar Kreditkarten, ein bisschen Bargeld und sein Ausweis stecken, Schlüsselkarten sowie einem Handy hat er nichts weiter dabei.«
Auch diese Gegenstände tütete sie ein, beschriftete die Beutel und sah sich den Toten noch einmal genauer an.
Sie klappte seine aufgeschnittene Oberlippe hoch. »Seine abgebrochenen Zähne deuten darauf hin, dass jemand ihm mit aller Kraft in das Gesicht geschlagen hat. Wahrscheinlich hat ihn die Verletzung seines Schädels umgebracht, wobei der Pathologe das bisher noch nicht bestätigt hat.« Sie zog ein anderes Messgerät hervor. »Der Todeszeitpunkt ist 17.45 Uhr, das heißt, dass er nur fünf Minuten vor dem Eintreffen der Polizei gestorben ist.«
Fünf Minuten? Fünf Minuten bevor der Kollege von der Streife in der Tür erschienen war. Das konnte doch kaum sein.
Sie brauchte nur den Kopf zu drehen, um sich die zweite Leiche anzusehen. »Opfer Nummer zwei«, setzte sie an und war beim fünften Toten angelangt, als Peabody erneut den Raum betrat.
»Die anderen sind unterwegs«, erklärte ihre Partnerin in ruhigem Ton. »Mit der Zeugin habe ich gesprochen. Sie hat ausgesagt, sie wäre mit zwei Freundinnen verabredet gewesen, wäre aber bei der Arbeit aufgehalten worden und deswegen später als die beiden anderen hier aufgetaucht. Sie sagt, dass sie mit einer dieser Freundinnen, einer Gwen Talbert, auf dem Weg hierher gesprochen hat. Gegen halb sechs, was mir die Überprüfung ihres Links bestätigt hat. Da war alles noch gut. Als sie dann gegen zehn vor sechs hier ankam, sah es schon so aus wie jetzt. Es passierte, während sie die Tür geöffnet hat. Sie ist panisch rückwärts auf den Bürgersteig getaumelt und hat so lange geschrien, bis die Officers Franks und Riley bei ihr waren.«
»Gwenneth Talbert, Opfer Nummer drei. Gebrochener Arm – auf dem anscheinend irgendwer herumgetrampelt ist – und durchgeschnittener Hals.«
»Wie konnte das alles in derart kurzer Zeit passieren? Wie kann es sein, dass innerhalb von nicht einmal zwanzig Minuten jemand alle diese Leute attackiert und abgeschlachtet hat?«
Eve stand wieder auf. »Sehen Sie sich den Tatort an. Ich habe bisher fünf Leichen untersucht und gehe davon aus, dass jeder dieser Menschen ganz spontan mit einer Waffe, die sich gerade anbot – einer Flasche, einem Küchenmesser oder auch mit bloßen Händen – angegriffen worden ist. Da drüben liegt ein Typ, in dessen Auge eine Gabel steckt, und eine tote Frau umklammert immer noch das Tischbein, mit dem sie anscheinend auf den Mann an ihrer Seite losgegangen ist.«
»Aber …«
Manchmal war die einfachste Erklärung vielleicht furchtbar, aber trotzdem wahr.
»Überall hier liegen Brief- und Aktentaschen, Schmuck und Geld herum, und im Regal hinter dem Tresen stehen noch ein paar Flaschen durchaus teuren Alkohols. Wenn hier eine Horde Junkies ausgerastet wäre, wären sie zum einen nicht bereits nach einer Viertelstunde wieder abgehauen und zum anderen hätten sie die Wertsachen nicht einfach liegen lassen, sondern mitgenommen, um damit die nächsten Pillen zu bezahlen. Und eine Gruppe Amokläufer auf der Suche nach dem großen Kick? Sie hätten die Tür verriegelt und wahrscheinlich eine Riesenparty steigen lassen, wenn sie mit den Leuten durch gewesen wären. Vor allem hätte man, um achtzig Leute abzuschlachten und zehn weitere schwer zu verletzen, eine Riesengang gebraucht. Außerdem ist niemand rausgekommen, niemand hat sich irgendwo versteckt, und niemand hat über sein Handy einen Notruf abgesetzt.«
Eve schüttelte den Kopf. »Vor allem bist du selbst, wenn du so viele Leute massakrierst, über und über mit Blut bedeckt. Franks hatte Blut an seiner Uniform, an seinen Schuhen und an seinen Händen, obwohl er lediglich den Sanitätern bei den Überlebenden zur Hand gegangen ist.«
Sie starrte in die trüben Augen ihrer Partnerin. »Diese Menschen haben sich gegenseitig umgebracht. Sie haben einen Krieg geführt, bei dem es nur Verlierer gab.«
»Aber … wie? Warum?«
»Keine Ahnung.« Doch sie fände es, verdammt noch mal, heraus. »Wir müssen alle Opfer auf Spuren von Drogen untersuchen. Müssen erfahren, ob sie etwas eingeworfen haben, das sie alle Hemmungen hat verlieren lassen. Die Spurensicherung soll das Lokal genau unter die Lupe nehmen, weil vielleicht etwas im Essen oder in den Getränken war. Vielleicht hat jemand absichtlich etwas hineingetan.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass jeder hier dieselben Speisen oder Drinks zu sich genommen hat.«
»Vielleicht haben ja genügend Gäste von demselben Zeug getrunken, oder vielleicht wurde auch mehr als ein Getränk mit irgendwas versetzt. Wir fangen erst mal mit den Opfern an – Namen, Todesursache und Todeszeitpunkt, die Beziehungen, die sie untereinander hatten, wo sie gewohnt haben und auch, wo sie gearbeitet haben. Dazu gehen wir alle Spuren hier am Tatort durch. Wir bringen alle Gläser, Flaschen, Teller, Kühlschränke, den Grill, die AutoChefs und was auch immer ins Labor, oder wir holen die Laboranten hierher. Außerdem müssen wir gucken, ob etwas im Wasser, in der Lüftung, in den Spülmitteln oder im Putzzeug war.«
»Dann ist dieses Zeug vielleicht noch hier gewesen, und Sie selber waren kurz nach Ende des Gemetzels hier.«
»Ja, auf den Gedanken bin ich auch schon gekommen, als ich mit den ersten beiden Leichen fertig war. Also habe ich die Klinik angerufen, doch die Sanitäter, die die Überlebenden behandelt haben, haben mir erklärt, es ginge ihnen gut. Was auch immer hier passiert ist, ist sehr schnell gegangen. Alle diese Leute sind in einem Zeitraum von knapp über einer Viertelstunde derart ausgerastet, aber ich bin jetzt bereits viel länger hier.«
»Am wahrscheinlichsten ist meiner Meinung nach, dass irgendwas in den Getränken war. Selbst wenn nur die Hälfte dieser Leute etwas davon abbekommen hätte, haben sie die anderen vielleicht einfach überrascht.« Eve schüttelte den Kopf, als sie das geronnene, inzwischen kalte Blut an ihren Händen sah. »Die Vorstellung gefällt mir ganz und gar nicht, aber möglich wäre es. Und jetzt sehen wir uns die nächsten Leichen an.«
Noch während sie dies sagte, trat Chefpathologe Morris durch die Tür.
Er war anscheinend nicht im Dienst, denn er trug Jeans zu einem kragenlosen, pflaumenblauen Seidenhemd und hatte sich das schwarze Haar zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden, der die interessanten Züge seines kantigen Gesichts besonders gut zur Geltung kommen ließ. Er sah sich um. Eve nahm erst den Schock und dann das Mitleid in den dunklen Augen wahr.
»Einen solchen Haufen Opfer haben Sie mir bisher noch nie beschert.«
»Das war jemand anderes. Ich …«, setzte sie an, brach aber wieder ab, als hinter Morris Roarke den Raum betrat.
Er trug immer noch den schwarzen Maßanzug, den er am Morgen angezogen hatte und der seinen langen, durchtrainierten Körper vorteilhaft betonte, während seine dichte schwarze Mähne leicht zerzaust, als hätte eine Windböe darin getanzt, auf seine Schultern fiel.
Während Morris’ Züge interessant und seltsam sexy waren, wirkten Roarkes Gesicht und seine leuchtend blauen Augen wie von Gotteshand gemeißelt.
Die beiden Männer standen nebeneinander, doch neben Schock und Mitgefühl verriet die Miene ihres Gatten todbringenden Zorn.
Dann blickte er sie an, und als er »Hallo, Lieutenant« sagte, hörte sie den melodiösen Klang von Irland, der in seiner Stimme lag.
Entschlossen trat sie auf ihn zu. Nicht, um ihn zu grüßen, und auch nicht, um ihm den Blick auf das Geschehene zu versperren, weil er schließlich bereits unzählige andere grauenhafte Dinge hatte sehen müssen, sondern weil sie hier das Sagen hatte und dies nicht der rechte Ort für Zivilisten oder Ehemänner war.
»Du hast hier nichts verloren.«
»Doch«, verbesserte er sie, »denn mir gehört dieses Lokal.«
Das hätte sie sich denken können, denn schließlich gab es auf der Welt und selbst im Universum kaum etwas, was er nicht besaß. Wortlos wandte sie sich ab und bedachte Peabody mit einem durchdringenden Blick.
»Tut mir leid. Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu erzählen, dass ich bei der Suche nach dem Eigentümer dieser Bar auf Roarke gestoßen bin.«
»Ich werde mit dir reden müssen, aber erst einmal muss ich mit Morris sprechen. Warte also bitte draußen, ja?«
»Ich werde ganz bestimmt nicht draußen warten«, gab er kalt zurück.
Sie wünschte sich, sie könnte ihn nicht derart gut verstehen. In den zweieinhalb Jahren, seit sie sich kannten, hatte sie gelernt, ihn besser zu verstehen, als für sie als Polizistin gut und richtig war. Sie unterdrückte das Verlangen, ihn, obwohl sie momentan im Dienst war, zu berühren, und murmelte: »Hör zu, hier herrscht im Augenblick totales Chaos.«
»Ach.«
»Halt dich also bitte erst mal etwas abseits.«
»Wenn es das ist, was du willst.« Anscheinend war er nicht der Ansicht, dass eine Berührung sich nur außerhalb des Diensts gehörte, denn obwohl sie sich dagegen sträubte, drückte er ihr kurz die blutverschmierte Hand. »Trotzdem werde ich bestimmt nicht draußen warten, während du durch einen Albtraum watest, der sich in einem Lokal, das mir gehört, ereignet hat.«
»Warte«, bat sie ihn und wandte sich dem Pathologen zu. »Ich … habe die Toten, die wir identifiziert und untersucht haben, nummeriert. Wenn Sie schon mal mit dem Ersten anfangen, komme ich sofort dazu.«
»Okay.«
»Es müssten jeden Augenblick noch zusätzliche Leute kommen, um sich einerseits den Tatort und zum anderen die Opfer anzusehen.«
»Dann fange ich am besten schon mal an.«
»Geh du bitte zu Peabody«, wandte sich Eve erneut an Roarke. »Die elektronischen Ermittler sind zwar noch nicht da, aber vielleicht kannst du ihr schon mal zeigen, wie die Bar gesichert war.«
»Es gibt hier drinnen keine Kameras. Wenn die Leute herkommen, um was zu trinken, haben sie keine Lust, dass man sie dabei filmt.«
Sie wollten sich entspannen und vielleicht einen privaten Augenblick mit einem anderen Menschen teilen, ohne dass sie dabei aufgenommen wurden. Damit, dass sie jemand über ihrem Feierabendbier ermorden würde, rechneten sie nicht.
»Natürlich haben wir eine Kamera am Eingang«, fuhr er fort. »Und dann noch ein paar andere Kameras für draußen, wenn die Bar geschlossen ist. Aber Aufnahmen aus dem Lokal, die dir zeigen könnten, was genau passiert ist, gibt es leider nicht.«
Da sie keine Kameras im Inneren der Bar entdeckt hatte, war sie bereits davon ausgegangen, dass es keine Bilder gäbe, jetzt rieb sie sich die Augen, um zumindest selber wieder klar zu sehen. »Wir brauchen eine Liste aller Angestellten und den Schichtplan.«
»Beides habe ich dabei. Nach Peabodys Anruf habe ich die Unterlagen rausgesucht.« In dem Bemühen zu verstehen, was unvorstellbar war, und zu akzeptieren, was nie hätte passieren sollen, sah er sich noch einmal um.
»Ich habe das Lokal vor ein paar Monaten gekauft und alles so gelassen, wie es war. Soweit ich weiß, lief er bisher sehr gut. Aber natürlich werde ich ergründen, ob es vielleicht doch Probleme gab.«
»In Ordnung. Gib die Unterlagen Peabody, okay? Ich muss zu Morris.«
»Eve.« Noch einmal nahm er ihre Hand und verzog unglücklich das Gesicht. »Um Gottes willen, gib mir etwas zu tun. Sag mir, was ich machen soll. Ich weiß von diesen Leuten, selbst von meinen eigenen Angestellten, nicht mehr als du, aber trotzdem kann ich jetzt nicht einfach Däumchen drehen.«
»Dann hilf Peabody«, schlug sie ihm vor. »Am besten fangt ihr mit den Handys unserer Opfer an und guckt, ob einer von den Leuten noch jemanden angerufen hat, nachdem es losgegangen ist. Wir wissen relativ genau, wie lange es gedauert hat. Guck, ob es in dieser guten Viertelstunde irgendwelche Video- oder Audioaufnahmen von hier gibt.«
»Eine Viertelstunde? Alle diese Leute wurden innerhalb von einer Viertelstunde massakriert?«
»Vielleicht ging es sogar noch schneller. Bisher wissen wir nur sicher, dass es nicht länger gedauert haben kann. Wenn die elektronischen Ermittler kommen, schickst du Peabody wieder zu mir und bietest ihnen deine Hilfe an, okay? Und jetzt muss ich allmählich wirklich weitermachen.«
Während sie sich zum Gehen wandte, kamen Jenkinson und Reineke herein, sie wandte sich den beiden zu, erklärte ihnen, was geschehen war, und wiederholte dieses Vorgehen, als Baxter mit dem jungen Trueheart kam.
Bis sie endlich bei Morris war, sah er sich schon das dritte Opfer an.
»Ich muss sie mitnehmen, Dallas. Es gibt Abwehrwunden, Angriffswunden, manchmal beides, und die Todesursachen sind immer unterschiedlich, auch wenn alle diese Leute, wie es aussieht, innerhalb von wenigen Minuten umgekommen sind.«
»Es ist alles furchtbar schnell gegangen. Innerhalb von einer Viertelstunde. Eins der Opfer hatte eine Freundin angerufen, die zu spät zu ihrem Treffen kam, da war noch alles gut. Als die Freundin eine Viertelstunde später durch die Tür trat, war es schon vorbei.«
»Sie haben sich gegenseitig umgebracht. Nach allem, was ich bisher sehe, haben sie sich gegenseitig attackiert und umgebracht.«
»So sehe ich das auch. Vielleicht war es ein Gift, ein Halluzinogen, eine verdammte neue Droge, die im Essen, in den Drinks oder vielleicht in der Lüftung war. Wir haben über achtzig Tote, Morris, und nur eine Handvoll Überlebender, die in der Klinik sind.«
»Sie sind mit allem, was sie gerade greifen konnten – Gläsern, Flaschen, Gabeln, Messern, Stühlen, Tischen – zur Not mit bloßen Händen aufeinander losgegangen.«
»Unten, dort, wo die Toiletten sind, und hinten in der Küche liegen noch mehr Leichen, also hat das Gift nicht nur in diesem Raum gewirkt. Doch bisher gibt’s keinen Hinweis darauf, dass jemand die Bar verlassen und sich die Gewalt nach draußen ausgebreitet hat.«
»Was wenigstens ein kleiner Segen ist. Ich werde die Toten abholen lassen, um sie mir genauer anzusehen, und dafür sorgen, dass die Untersuchung ihres Bluts noch heute Nacht erfolgt.«
»Ich fahre selber wieder aufs Revier, wenn ich hier fertig bin und mit den Überlebenden gesprochen habe.«
»Also steht uns eine lange Nacht bevor.«
»Und natürlich werden sich die Journalisten wie die Geier auf uns stürzen, wenn von dieser Sache was nach außen dringt. Ich werde den Commander darum bitten, dass er erst mal eine Nachrichtensperre in der Angelegenheit verhängt, aber ich bin mir sicher, dass trotzdem etwas an die Medien durchsickern wird. Also sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich ein paar Antworten bekommen, die ich diesen Typen geben kann.«
Sie stand entschlossen wieder auf.
Zu viele Menschen, dachte sie. Zu viele Tote und zu viele Cops an einem Ort. Natürlich konnte sie den Leuten, die sie einbestellt hatte, vertrauen, aber trotzdem war es bei so vielen Beteiligten wahrscheinlich, dass dem einen oder anderen ein Fehler unterlief.
Sie sah das drahtige, karottenrote Haar von Feeney, ihrem Expartner und Chef der elektronischen Ermittler, der mit Roarke zusammensaß. Wenn es etwas herauszufinden gäbe, fänden diese beiden es heraus.
Als sie in die untere Etage zu den Waschräumen gehen wollte, tauchte Ian McNab, Computerass und große Liebe ihrer Partnerin, am Fuß der Treppe auf. Seine leuchtend blaue Hose mit den Silbernieten auf den Taschen stand in schmerzlichem Kontrast zu all dem Grauen, das sie hier umgab. Doch obwohl er seine Ohren mit Tausenden von hell schimmernden Ringen schmückte, waren seine attraktiven Züge hart und die von einem Cop.
»Ich habe was für Sie.« Er reichte ihr ein Handy, während er in seiner anderen Hand verschiedene Tüten voll mit anderen Handys hielt. »Das Opfer war anscheinend gerade auf dem Klo. Trueheart hat sie identifiziert. Wendy McMahon, dreiundzwanzig Jahre alt.«
»Sie hat in dem Moment telefoniert?«
»Ja. Um 17.32 Uhr hat sie ihre Schwester angerufen, um ihr was von einem Typen zu erzählen, den sie oben in der Bar getroffen hat … einem gewissen Chip. Anfangs war sie aufgeregt und glücklich, aber plötzlich meinte sie, sie würde Kopfschmerzen bekommen, und ein paar Sekunden später schnauzt sie ihre Schwester an und sagt, dass sie eine verdammte Hure ist. Obwohl die Schwester auflegt, tobt sie weiter. Redet lauter wirres Zeug, und als eine andere Frau hereinkommt und sie grundlos anschreit, kann man hören, wie sie aufeinander losgehen, und sehen, wie sie miteinander kämpfen, bevor sie ihr Handy fallen lässt. Die zweite Frau war nicht zu sehen, also hat sie Wendy umgebracht und wurde selbst später oben in der Bar erwischt, oder sie ist eine der Verletzten, die gerettet worden sind. Nachdem dreißig Sekunden niemand mehr gesprochen hatte, hat das Handy sich von selber ausgestellt – das ist normal.«
Zwölf Minuten, dachte Eve. Nur zwölf Minuten, bis das Opfer nach dem ersten Anzeichen des einsetzenden Wahnsinns tot gewesen war.
»Bringen Sie das Handy sowie alle anderen Handys, die uns vielleicht weiterhelfen können, aufs Revier.«
»Ich habe bisher noch zwei andere Aufnahmen und werde sie für Sie zu einer Datei zusammenstellen, die man sich auf dem Computer anhören kann. Das geht ganz schnell, und wenn Sie nicht extra die Handys brauchen, sparen Sie Zeit. Aber vorher gehe ich noch die anderen Geräte durch.«
»Graben Sie weiter«, meinte Eve und stieg über die Leiche, die am Fuß der Treppe lag. Trueheart hatte sie, wie Ian schon berichtet hatte, identifiziert und wie die anderen Leichen nummeriert und setzte seine Arbeit unten fort. Wahrscheinlich hatte Baxter seinen jungen Partner extra mit dieser Aufgabe betraut, damit er von dem Grauen oben möglichst wenig mitbekam.
Sie selbst ging in die Bar zurück und wandte sich an Roarke. »Bleib bei den elektronischen Ermittlern, ja?«
»Wir haben ein paar Sachen auf verschiedenen Handys ausfindig gemacht.«
»Das hat McNab mir schon erzählt. Ich rede zuerst mit den Überlebenden, dann fahre ich aufs Revier. Meine Leute setzen hier die Arbeit fort und machen dein Lokal dann erst mal dicht.«
»Verstehe.« Während er noch nickte, wandte sie sich schon zum Gehen.
»Peabody, Sie kommen mit. Die anderen bleiben hier, identifizieren und nummerieren die Leichname und tüten alle Handys, alle Waffen sowie alles andere, was die Toten bei sich haben, ein. Baxter, sorgen Sie dafür, dass eine Liste mit den Namen aller Opfer schnellstmöglich auf meinem Schreibtisch liegt. Wir werden die Angehörigen noch heute Abend informieren. Außerdem will ich die Aufnahmen der Kamera über der Eingangstür. Jenkinson, Sie weiten die Befragung auf vier Häuserblocks aus. Morris, schicken Sie die Kleider aller Opfer ins Labor, und setzen Sie Harpo auf die Untersuchung an. Außerdem müssen auch alle Speisen und Getränke als mögliches Gift markiert werden und wie die Kleidungsstücke ins Labor.«
Sie legte eine kurze Pause ein und sah sich um. Ja, sie konnte jedem Einzelnen von ihnen trauen. Sie sah auf ihre Uhr und rechnete kurz nach. »Um 22.30 Uhr halte ich auf dem Revier ein Briefing für die ganze Truppe ab. Von diesem Fall darf erst einmal nichts nach außen dringen, also hütet eure Zungen, ja? Ihr alle arbeitet an diesem Fall, bis ihr etwas anderes von mir hört.«
Mit einem letzten Blick auf ihren Angetrauten trat sie in die kühle Abendluft und in den wunderbaren Großstadtlärm hinaus.
»Wir fahren jetzt in die Klinik«, sagte sie zu ihrer Partnerin. »Wollen wir doch mal sehen, ob einer der Verletzten uns was sagen kann. Sie fahren.«
Sie schwang sich auf den Beifahrersitz, zerrte ihr Handy aus der Tasche, atmete tief durch und rief bei ihrem Vorgesetzten an.
2
Sie hatte Krankenhäuser immer schon gehasst. Auch wenn sie inzwischen wusste, dass ihr ausgeprägter Widerwille daher rührte, dass man sie als kleines Mädchen schwer misshandelt, vergewaltigt und gebrochen in ein Krankenhaus in Dallas eingeliefert hatte, blieb er weiterhin bestehen. Für sie verströmten Krankenhäuser, Kliniken, Gesundheitszentren und selbst Krankenwagen den Geruch von Schmerz und Angst.
Trotzdem musste sie mit diesem Widerwillen und vor allem damit leben, dass sie wegen ihrer Arbeit häufig als Patientin oder als Besucherin an diesen Orten anzutreffen war.
Wahrscheinlich waren die Notaufnahmen großstädtischer Krankenhäuser niemals angenehme Orte, aber heute Abend war es sicher noch ein bisschen schlimmer als gewöhnlich, nachdem zehn teilweise schwer verletzte Menschen gleichzeitig dort eingeliefert worden waren.
Sie bahnte sich den Weg vorbei an qualvollem Stöhnen, trüben, abgrundtief erschöpften Augen und dem süßlichen Gestank von Fieberschweiß und von Erbrochenem, bis sie eine Schwester fand. Die fröhlichen Smileys auf dem Oberteil der Uniform standen in deutlichem Kontrast zum grimmigen Gesicht der Trägerin.
»Sie müssen sitzen bleiben. Wir werden so schnell es geht nach Ihnen sehen.«
Eve zückte ihre Marke und verfolgte aus dem Augenwinkel, wie ein klapperdürrer Mann, der offensichtlich auf Entzug war, zitternd von einem der Plastikstühle glitt und sich verstohlen Richtung Ausgang schob.
»Vor nicht ganz zwei Stunden haben Sie zehn Verletzte reingekriegt. Die muss ich sehen.«
»Warten Sie«, befahl die Schwester, und als sie davonmarschierte, wurde Eve von Dutzenden aufgekratzter Smileys auf ihrem Rücken angegrinst.
Einen Moment später kam ein Mann den Gang herauf, der nicht viel kräftiger als der kurz zuvor verschwundene Junkie war. Er hatte einen weißen Kittel an und wirkte vollkommen erschöpft.
»Ich bin Dr. Tribido«, stellte er sich vor, und seine melodiöse Stimme konnte nicht verbergen, dass er kurz vor dem Zusammenbrechen war.
»Lieutenant Dallas, Detective Peabody. Ich muss die Opfer sehen.«
»Von den zehn Personen, die wir reinbekommen haben, ist eine schon auf dem Transport verstorben, zwei andere sind ihren Verletzungen hier erlegen, noch bevor ich dazu kam, sie mir genauer anzusehen. Drei werden augenblicklich operiert, eine weitere ist auf dem Weg in den OP, und eine liegt im Koma.«
»Wo sind die beiden anderen?«
»In den Untersuchungsräumen drei und vier.«
»Dann fange ich mit ihnen an.«
»Bitte kommen Sie mit. Die Patientin in der Drei hat ein gebrochenes Schlüsselbein, drei gebrochene Finger, eine Gehirnerschütterung, Gesichtsverletzungen und mehrere Stichwunden, die noch vor Ort von unseren Sanitätern behandelt worden sind. Wobei die meisten Stichverletzungen eher oberflächlich waren. Sie hat wirklich Glück gehabt.«
»Haben Sie auch einen Namen?«
»CiCi Way. Sie ist relativ klar und konnte uns ihren Namen, ihre Adresse und das Datum nennen, hat aber keine Ahnung, wie es zu diesen Verletzungen gekommen ist. Wir haben bisher noch keine Einzelheiten, Lieutenant. Was zum Teufel ist in dem Lokal passiert?«
»Um das herauszufinden, bin ich hier.«
Sie folgte ihm durch eine Schwingtür zu dem Untersuchungstisch, an dem eine Schwester kontrollierte, ob die Flüssigkeit aus einem der diversen Tropfe so in CiCis Körper lief, wie es vom Arzt angeordnet worden war.
Die Frau lag mit geschlossenen Augen auf dem Tisch. Das linke hätte sie wahrscheinlich sowieso nicht öffnen können, weil es kräftig angeschwollen war. Die Ärzte hatten ihr Gesicht so dick mit Gel und Nu Skin eingerieben, dass es wie eine geölte Maske glänzte, ihren rechten Arm und die Hand bis zu den Fingern eingegipst, und oberhalb ihres geblümten Kittels und entlang des nicht gebrochenen Armes konnte Eve zahlreiche leuchtend rote Kratzer sowie frisch versorgte Wunden sehen.
Der Arzt bedeutete der Schwester, sie allein zu lassen, während er an den Behandlungstisch trat. »CiCi? Ich bin es, Dr. Tribido. Erinnern Sie sich noch an mich?«
»Ich …« Sie schlug das rechte Auge auf und sah nervös unter dem violett verfärbten Lid hervor. »Ja. Ich glaube. Krankenhaus. Ich bin im Krankenhaus.«
»Das stimmt. Sie machen Ihre Sache wirklich gut.«
»Macie? Ist Macie auch hier?«
»Ich werde mich erkundigen, okay?« Trotz der Erschöpfung hatte seine Stimme plötzlich einen sanften, mitfühlenden Klang. »Hier ist eine Polizistin, die mit Ihnen sprechen möchte. Wäre das für Sie okay?«
»Eine Polizistin? Jemand von der Polizei? Wegen meines Unfalls? Die Polizei war doch schon hier. Aber vielleicht habe ich das ja auch nur geträumt. Es war ein Polizist. Er hat zu mir gesagt, es würde alles gut.«
»Das stimmt. Sie werden wieder ganz gesund. Ich bin draußen vor der Tür, falls Sie mich brauchen.«
»Macie …« Ihre Stimme wurde schrill. »Wird Macie auch wieder gesund? Und, und Travis. Und … ich kann mich nicht erinnern, wie er hieß.«
»Schon gut. Am besten gehen Sie es langsam an.« Mit leiser Stimme wandte sich der Arzt an Eve: »Immer wenn sie zu sich kommt, fragt sie nach dieser Macie. Und auch diesen Travis und jemanden namens Bren hat sie schon des Öfteren erwähnt. Ein paarmal hat sie laut geschrien. Wir haben ihr ein leichtes Schmerzmittel verabreicht und versuchen, sie so gut wie möglich zu beruhigen, wenn sie diese Fragen stellt. Wie gesagt, sie ist vollkommen klar, aber sie kann sich nur undeutlich daran erinnern, was in der Bar geschehen ist. Wahrscheinlich würde sie sich besser fühlen, wenn wir diese Macie fänden.«
Nein, sagte sich Eve, sie würde sich bestimmt nicht besser fühlen, wenn sie wüsste, dass die Freundin auf dem Weg ins Leichenschauhaus war, deshalb erwiderte sie nur: »Wir gehen es behutsam an«, und trat neben den Tisch.
»Ich bin Lieutenant Dallas, und das hier ist meine Partnerin, Detective Peabody. Was ist passiert, CiCi?«
»Ich wurde verletzt.«
»Ich weiß. Von wem?«
Das offene Auge zuckte ängstlich hin und her. »Das weiß ich nicht. Sie müssen Macie finden.«
»Sie ist Ihre Freundin«, meinte Peabody auf die ihr eigene ruhige Art.
»Ja. Wir arbeiten zusammen bei Stuben-Barnes. Und wir hängen auch in unserer Freizeit oft zusammen ab.«
»Sie und Macie waren im On the Rocks. Nach der Arbeit?«
»Uhh.« Sie lenkte ihren Blick wieder auf Eve. »Ja. Genau. Wir arbeiten zusammen, und wir hängen oft zusammen ab. Ich und Macie. Sie und Travis sind zusammen. Sie sind wirklich dicke, und sie denkt, dass sie vielleicht bald bei ihm einziehen wird.«
»Sie und Macie waren also nach der Arbeit noch auf einen Drink im On the Rocks. Sie haben dort zusammen abgehangen.«
»Ja, wahrscheinlich. Ja. Ich und Macie waren dort auf einen Drink. Es ist eine schöne Kneipe, und die Happy Hour dort ist wirklich toll. Ich mag vor allem die Nachos, die sie servieren. Man muss sie mit einer Gabel essen, weil sie …«
Ihre Stimme wurde unsicher, etwas wie Entsetzen blitzte in ihrem gesunden Auge auf. »Die Kneipe liegt nicht weit von unserem Büro entfernt. Geht’s Macie gut?«
»Es ist schön, eine Freundin zu haben, mit der man zusammen abhängen kann«, bemerkte Peabody.
»Sie ist wirklich witzig. Macie. Manchmal gehen wir an unserem freien Tag zusammen shoppen.«
»Aber heute Abend waren Sie auf einen Drink im On the Rocks«, rief Eve ihr in Erinnerung.
»Wir haben uns dort mit Travis und mit seinem Freund getroffen. Für mich war es so was wie ein Blind Date.«
»Können Sie uns die Nachnamen von Macie und von Travis sagen?«
»Oh. Oh. Daran habe ich gar nicht gedacht. Sie brauchen schließlich auch die Nachnamen, wenn Sie sie finden sollen. Macie Snyder und Travis Greenspan. Ich habe Fotos von den beiden auf meinem Handy! Ich kann Ihnen Fotos zeigen, wenn Sie wollen, aber ich weiß nicht, wo mein Handy ist.«
»Das ist im Augenblick auch gar nicht wichtig. Dann haben Sie vier also dort abgehangen und etwas getrunken.«
»Wir hatten gerade die zweite Runde bestellt, und Bren war wirklich süß. Bren!« Sie riss das Auge auf, kniff es dann zu, und eine vereinzelte Träne kullerte ihr über das Gesicht. »Jetzt fällt’s mir wieder ein. Brendon Wang. Er ist ein Kollege von Travis, und Travis und Macie wollten uns verkuppeln. Aber ich kann sein Gesicht gar nicht mehr deutlich sehen.« Sie bedachte Eve mit einem müden, unglücklichen Blick. »Es tut mir leid. Ich habe Kopfschmerzen und mir ist schlecht.« Abermals kniff sie das Auge zu.
Eve beugte sich leicht über sie und bat mit eindringlicher Stimme: »CiCi, sehen Sie mich an. Sehen Sie mir ins Gesicht. Wovor haben Sie solche Angst?«
»Ich weiß nicht. Mir tut alles weh.«
»Wer hat Ihnen wehgetan?«
»Das weiß ich nicht! Sind wir noch ins Restaurant gegangen?« Ihre Finger griffen nach dem Laken und zerknüllten es. »Wir wollten noch zusammen essen gehen. Macie hat gesagt, dass sie ins Nino’s will, aber … waren wir noch im Restaurant?«
»Nein. Sie waren in der Bar.«
»Ich will dort nicht mehr sein. Ich will nach Hause.«
»Was ist in der Bar passiert?«
»Es ergibt nicht den geringsten Sinn.«
»Das ist auch nicht nötig«, mischte Peabody sich abermals mit ihrer ruhigen Stimme ein und drückte CiCis unverletzte Hand. »Es wird uns bereits weiterbringen, wenn Sie uns erzählen, was Ihrer Meinung nach passiert ist. Wir sind hierhergekommen, weil wir Ihnen helfen wollen.«
»Sie ist ein Monster. Sie hat spitze Zähne, und ich sehe all das Blut, das aus ihren Augen läuft.«
»Wer?«
»Das Monster sieht wie Macie aus, nur dass sie kein Monster ist. In meinem Kopf geht alles durcheinander.«
»Was hat das Monster, das wie Macie ausgesehen hat, getan?«
»Es hat Travis eine Gabel ins Gesicht gerammt. Es hat Macies Gabel in die Hand genommen und ihm dann ein Auge ausgestochen – Gott, oh Gott. Es hat geschrien, und dann ist das totale Chaos ausgebrochen. Ich hatte eine spitze Scherbe in der Hand und habe immer wieder auf sie eingestochen, und sie hat geschrien, während sie mit beiden Fäusten auf mich losgegangen ist. Es tut so weh! Ich muss ihr, der anderen und allen anderen wehtun, aber dann liege ich auf dem Boden und mein Arm … Alle schreien, und überall ist Blut. Dann bin ich aufgewacht, jemand hat mich mitgenommen und hierhergebracht. In einem Krankenwagen oder so. Ich weiß es nicht.«
Tränen strömten über ihr Gesicht. »Ich weiß es einfach nicht. Ich glaube, ich habe jemanden getötet, aber das ergibt ganz einfach keinen Sinn. Bitte«, flehte sie. »Sie müssen Macie finden. Sie ist wirklich klug. Sie wird wissen, was geschehen ist.«
»Lassen Sie es uns mal so probieren. Was haben Sie in dem Augenblick getan, bevor plötzlich das Monster kam?«
»Es gibt gar keine Monster, nicht in Wirklichkeit. Nicht wahr?«
Da irrst du dich gewaltig, dachte Eve. Es gibt mehr Monster, als du zählen und als du beim Namen nennen kannst.
»Keine Angst. Versuchen Sie einfach, sich dran zu erinnern, wie es vorher war. Sie, Macie, Travis und Bren hatten einen Tisch neben der Bar?«
»Einen Tisch. Oh ja. Wir hatten einen Tisch. Er stand dicht neben der Bar. Ich meine, neben der Theke in der Bar.«
»In Ordnung, das ist gut. Und Sie haben alle etwas getrunken? Schließlich war dort gerade Happy Hour. Was für Drinks haben Sie bestellt?«
»Also, ich hatte den weißen Wein des Hauses. Er hat wirklich gut geschmeckt. Macie hatte einen Pink Passion, und die beiden Männer hatten Bier. Dazu hatten wir noch eine Riesenportion Nachos, nur habe ich nicht gewagt, etwas davon zu essen, weil man sich dann meistens etwas von der Soße auf die Sachen kleckert und ich möglichst gut aussehen wollte wegen des Blind Dates.«
»Okay. Sie haben sich also amüsiert und nach der Arbeit mit den anderen relaxt. Sie haben alle etwas getrunken, hatten eine Portion Nachos auf dem Tisch und dann?«
»Hm. Oh. Okay. Wir haben uns unterhalten, wollten eine zweite Runde Drinks bestellen, und dann bin ich mit Macie kurz aufs Klo. Die Schlange dort war ziemlich kurz, wir hatten also Glück. Während wir gewartet haben, sprachen wir darüber, dass wir noch etwas essen gehen wollten und dass ich Bren bitten sollte, noch mit raufzukommen, wenn er mich nach Hause bringt.«
Sie knetete das Laken immer schneller, ihr Atem griff den Takt der Finger auf. »Ich wusste nicht, ob ich das wirklich machen sollte, aber Macie war sich sicher, und sie hat mich, nun, sie hat mich deshalb angefahren. Das hat sie bis dahin noch nie gemacht. Aber sie meinte, dass sie Kopfweh kriegen würde, und ich dachte, dass es vielleicht daran lag. Dann sind wir wieder rauf, und offenbar hat ihr Kopf tatsächlich furchtbar wehgetan, denn sie hat einen Typen aus dem Weg geschubst. Ich glaube wenigstens, dass es ein Mann gewesen ist. Er hatte sie vorher aus Versehen angerempelt, als wir auf dem Weg in Richtung der Toiletten waren.«
»Derselbe Mann?«
»Ich glaube, ja, aber ich weiß es nicht genau. Ich habe mich erschreckt, als sie ihn weggestoßen hat. In der Bar war es entsetzlich laut und furchtbar hell, und sie war so gemein. Dann haben wir uns wieder an den Tisch gesetzt, und ich dachte, dass ich gucken sollte, ob ich Schmerztabletten in der Tasche hätte, aber dann haben sie und Travis sich mit einem Mal entsetzlich angeschrien. Sie streiten sich sonst nie, vor allem schreien sie niemals so herum, und mir kam es so vor, als ob mir langsam selbst der Schädel platzt. Sie haben furchtbar rumgebrüllt, ich hatte schlimme Kopfschmerzen, und Bren sah plötzlich hundsgemein und schrecklich böse aus. Ich weiß nicht, wie das kam, dann brach urplötzlich die Hölle los.«
Eve versuchte es mit ein paar zusätzlichen Fragen und hakte bei CiCi nach, ob vor dem Auftauchen des »Monsters« jemand in die Bar gekommen oder rausgegangen war.
Doch die Erinnerung der jungen Frau drehte sich nur um Monster und um Blut. Als sie anfing, laut zu schluchzen, überließen sie sie abermals der Krankenschwester und suchten den zweiten ansprechbaren Überlebenden des grässlichen Massakers auf.
James L. Brewster, Buchhalter bei einer großen Firma, blieb beinah gespenstisch ruhig. Er hatte diverse Stichwunden und mehrere gebrochene Rippen, unterhalb des linken Auges verlief eine wild gezackte Wunde bis zu seinem Kinn, auf seiner breiten Stirn prangte eine riesengroße Beule, und die aufgerissenen Knöchel seiner Hände, die zu beiden Seiten seines Körpers lagen, waren unter einer dicken Gelschicht kaum zu sehen.
Mit leiser Stimme fing er an: »Ich bin dort mindestens einmal die Woche, meist wenn ich mich nach der Arbeit noch mit einem Kunden treffe. Ich bin in der Buchhaltung bei Strongfield und Klein. Offiziell wird das natürlich nicht gebilligt, aber trotzdem habe ich wie praktisch alle anderen Kollegen auch noch Kunden außerhalb. Wobei die meisten kleine Fische sind. Ich hatte einen Termin mit einer neuen Kundin und kam extra eine halbe Stunde früher, um die Infos, die sie mir bereits gegeben hatte, noch einmal durchzugehen. Brauchen Sie die auch?«
»Name und Adresse wären nicht schlecht.«
»Natürlich. MaryEllyn – in einem Wort, aber mit großem E und mit zwei Y – Geraldi. Ich fürchte, die Adresse habe ich nicht mehr im Kopf, aber sie steht in meinen Unterlagen. Wobei ich nicht weiß, wo die geblieben sind.«
»Kein Problem, Mr. Brewster«, mischte Peabody sich ein.
»Ich war gegen halb sechs, vielleicht auch schon ein paar Minuten früher in der Bar. Sie kennen mich im On the Rocks, und nachdem ich angerufen hatte, um zu sagen, dass ich eine Kundin treffen wollte, hat Katrina – die Bedienung – extra den gewohnten Tisch für zwei Personen in der Ecke für mich reserviert.«
Er war erschreckend bleich und klappte kurz die blauen, blutunterlaufenen Augen zu.
»Es war alles ganz normal. Aber das ist es jetzt nicht mehr. Ich bestellte eine Soja-Latte und ging meine Unterlagen durch. Ich habe bei Terminen gerne die Hauptinfos im Kopf. Es war relativ voll. Wissen Sie, die Bar ist nicht besonders groß, aber das Personal ist freundlich, und sie wird sehr gut geführt. Deshalb treffe ich mich gerne dort mit Kunden und sitze bei diesen Treffen vorzugsweise an dem kleinen Zweiertisch, der in der Ecke steht. Katrina brachte meine Latte, ich hätte sie noch um ein Glas Wasser für meine Tablette bitten wollen, weil ich plötzlich Kopfweh hatte, aber dann waren die Bienen da.«
»Bienen?«, wiederholte Eve.
»Oder eher Wespen, sie waren riesengroß.« Er atmete erschaudernd ein. »Sie waren unglaublich groß. Ich wurde als Junge mal gestochen, auf der Farm von meinem Großvater in Pennsylvania. Sie kamen in einem riesengroßen Schwarm. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sie summend auf mich eingestochen haben, während ich davongelaufen bin. Seither habe ich eine Todesangst vor diesen Biestern. Das klingt sicher dämlich, aber …«
»Nein, das tut es nicht«, fiel ihm Peabody ins Wort.
Obwohl er dankbar lächelte, holte er weiter hektisch Luft. »Ich glaube, ich bin aufgesprungen, denn der Anblick dieser Viecher hat mich unglaublich erschreckt. Ich habe auf sie eingeschlagen, als sie dann auf Katrina losgegangen sind, habe ich auch sie geschlagen, um die Biester zu verscheuchen, und mit einem Mal … meine Phobie hat offensichtlich Halluzinationen bei mir ausgelöst, denn plötzlich hat Katrina ihren Mund geöffnet, und die Bienen sind aus ihr herausgeschwärmt. Das war total verrückt. Ich muss in vollkommene Panik ausgebrochen sein. Sie kamen aus ihr heraus, und ihre Augen und ihr Körper haben sich total verändert. Mir ist klar, das klingt vollkommen irre, aber plötzlich sah das arme Ding wie eine riesengroße Biene aus. Wie in einem Horrorfilm. Was Sie bestimmt nicht weiterbringt.«
»Uns hilft alles, was Sie uns erzählen können, ganz egal wie abgefahren es auch klingt.«
»Hübsche Serviererinnen werden nicht einfach zu riesengroßen Bienen, aber es wirkte erschreckend echt. Überall um mich herum hörte ich Summen und Geschrei, dann brach in der Bar die Hölle los. Ich glaube … ich bin mir nicht sicher, aber offenbar habe ich meinen Stuhl gepackt und bin damit auf Katrina losgegangen. Ich habe in meinem ganzen Leben niemals irgendjemandem auch nur ein Haar gekrümmt, aber ich habe Katrina mit dem Stuhl geschlagen und versucht davonzulaufen, doch die Bienen haben mich gestochen, eins der Biester hat mir seinen Stachel quer durch das Gesicht gezogen, es hat sich angefühlt, als gingen diese Bestien mit Messern auf mich los. Dann bin ich gestürzt, und die verdammten Viecher waren überall, bevor ich ohnmächtig geworden bin. Als ich wieder zu mir kam, sah ich jede Menge Leute auf dem Boden liegen, überall war Blut, und etwas – jemand – lag auf meinem Bauch. Ich schob ihn von mir herunter und erkannte, dass er tot war. So wie all die anderen Leute auch. Kurz darauf erschien die Polizei, und ich wurde ins Krankenhaus gebracht.« Er schluckte erschüttert.
»Ich weiß nicht, ob Katrina noch am Leben ist. Sie ist so jung und träumt davon, zum Film zu gehen.«
Eve trat wieder in den Flur, blieb dort kurz stehen und wog ihre Möglichkeiten ab. »Versuchen Sie, auch noch mit anderen Überlebenden zu sprechen«, bat sie ihre Partnerin. »Falls Ihnen das gelingt, erwarte ich so schnell es geht einen ausführlichen Bericht. Ich muss wissen, wie genau es zeitlich abgelaufen ist. Ich selber fahre erst einmal ins Leichenschauhaus, um zu hören, ob Morris uns bereits etwas sagen kann.«
»Ich habe keine Bienen, weder groß noch klein, und keine Monster in der Bar gesehen. Was könnte der Grund für diese kurzfristigen, ausgeprägten Halluzinationen unserer beiden Überlebenden gewesen sein?«
»Das finden wir am besten schnellstmöglich heraus. Denken Sie an den Bericht, und schreiben Sie dort alles, was wir bisher herausgefunden haben, sowie alles, was Sie hier vielleicht noch in Erfahrung bringen, rein«, meinte Eve und fügte nachdenklich hinzu: »Er wurde gerade erst bedient.«
»Wer? Brewster?«