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"Ich biete Ihnen hunderttausend Dollar für den Job." Wie bitte, hat Lydia sich verhört? Aber der Blick aus James Harris' dunklen Augen lügt nicht. Der texanische Millionär braucht dringend eine Nanny für seinen kleinen elternlosen Neffen! Und weil ihre Schwester James genau diese Summe schuldet, nimmt Lydia den verführerischen Deal an. Doch dazu muss sie zu James auf seine Ranch ziehen - und hat plötzlich ein Riesenproblem. Denn sie fühlt sich schwach vor sinnlicher Sehnsucht, wenn sie ihrem faszinierenden Boss nah ist …
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Seitenzahl: 200
IMPRESSUM
BACCARA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2018 by Harlequin Books S. A. Originaltitel: „The Rancher’s Bargain“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: DESIRE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARABand 2106 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Peter Müller
Abbildungen: [email protected] / Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 11/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733725464
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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„Man muss nicht jeden Unsinn akzeptieren.“
Lydia Walker murmelte es wie ein Mantra vor sich hin, während sie auf ihrem Handy die Überschrift eines Artikels las, der vor ein paar Tagen in der Lokalzeitung von Royal, Texas erschienen war. Zu einem Zeitpunkt, als sie nicht in der Stadt gewesen war.
Sensationsgebot bei Wohltätigkeitsauktion: Frau bietet hunderttausend Dollar für Date mit Junggesellen!
Lydia saß an ihrem winzigen Küchentisch. Die Tasse Kaffee vor ihr war schon längst kalt geworden. Sie scrollte sich durch den Artikel. Am liebsten hätte sie gar nicht weitergelesen, aber sie musste es, sie konnte nicht anders. Bei der Frau, auf die sich die Titelzeile bezog, handelte es sich nämlich um ihre verantwortungslose Schwester Gail. Die alles Mögliche hatte, aber ganz bestimmt keine hunderttausend Dollar. Welcher Teufel hatte die impulsive Gail da nur geritten?
Lydia zwang sich, den Artikel noch einmal von Anfang an zu lesen.
Große Überraschung bei der Junggesellenauktion für wohltätige Zwecke im Texas Cattleman’s Club: Gail Walker, eine junge Geschäftsfrau aus Royal, hat die atemberaubende Summe von hunderttausend Dollar für ein Date mit dem Rancher Lloyd Richardson geboten. Leider konnten wir Miss Walker nicht für eine Stellungnahme erreichen, da sie dem Vernehmen nach mit ihrem Hauptgewinn einen Kurzurlaub angetreten hat. James Harris, Vorsitzender des Texas Cattleman’s Club und damit Mitveranstalter der Auktion, sagte unserer Zeitung, er sei dankbar für diese großzügige Spende, die dem Forschungszentrum gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs zugutekommt. „Möglichst viel Geld zu sammeln für den guten Zweck, darum ging es ja bei diesem Event …“
Lydia schloss die Augen und legte das Handy mit dem Display nach unten auf den Tisch, um sich davon abzuhalten, den Artikel ein weiteres Mal zu lesen.
So etwas Verrücktes!
Lydia war gerade erst von ihrem Besuch bei ihrer Mutter in Arkansas zurückgekommen. Ein Besuch über Thanksgiving, zu dem sie sich verpflichtet gefühlt hatte, weil sie schon runde zwei Jahre nicht mehr zu Hause gewesen war. Ihre Mutter Fiona hatte die Gelegenheit genutzt, Lydia das Versprechen abzuringen, zur ihrer bevorstehenden Hochzeit zu kommen – ihrer vierten! Das hatte Lydia vollends die Stimmung verhagelt.
Eigentlich hatte sie gemeinsam mit ihrer Schwester die lange Fahrt zur Mutter antreten wollen, aber Gail hatte darauf bestanden, in Royal zu bleiben. Mit der Begründung, sie hätte keine Zeit, weil sie sich um ihren Lebensmittel-Lieferservice kümmern müsste, den sie erst vor Kurzem eröffnet hatte. Diese Entschuldigung hatte Lydia selbstverständlich akzeptiert; sie war ja froh, dass Gail zur Abwechslung mal etwas finanziell Verantwortungsvolles machte.
Pah, reingelegt!, schoss es Lydia durch den Kopf. Ganz offensichtlich hatte Gail nur in Royal bleiben wollen, damit sie bei der Wohltätigkeitsveranstaltung des Texas Cattleman’s Club auf einen sexy Junggesellen bieten konnte!
Ob es sich in der Stadt schon herumgesprochen hatte, dass Gail überhaupt nicht die Riesensumme von hunderttausend Dollar besaß? Lydia durchforstete die Internetseite der Lokalzeitung nach weiteren Geschichten über die Junggesellenauktion, fand aber nur noch Artikel über das einzige weibliche Wesen, das zur Auktion gestanden hatte: Tessa Noble. Gail und ihr Riesengebot fanden keine weitere Erwähnung.
Aber trotzdem …
Lydias Magen krampfte sich zusammen. Wie hatte Gail nur eine solche Dummheit begehen können? Und dann noch zum Schaden einer Wohltätigkeitsveranstaltung? Das Schlimme war: Lydia, die ja den gleichen Nachnamen wie Gail trug, fühlte sich in die Sache mit hineingezogen. Sie war ebenso wie Gail gerade dabei, sich ein eigenes kleines Unternehmen aufzubauen. Was würde es für einen Eindruck machen, wenn eine der Walker-Schwestern einfach ihre Schulden nicht beglich? Das konnte ihrem Ruf nicht förderlich sein!
Verärgert griff sie zu ihrem Handy und wählte die Nummer ihrer Schwester. Als Älteste von acht Geschwistern war Lydia Dramen und Katastrophen gewohnt. Wobei der Ärger meist nicht einmal von ihren Geschwistern kam, sondern von ihrer Mutter, die aus ihrem reichen Kindersegen und ihren Erziehungsversuchen Kapital geschlagen hatte, indem sie einen erfolgreichen Blog namens „House Rules“ betrieb. Die Leute liebten Fiona Walkers launige Geschichten und humorvolle Erziehungstipps, die ihrer Tochter Lydia allerdings leichtfertig und manchmal geradezu gefährlich vorkamen.
Eigentlich hatte Lydia gehofft, dass sie und ihre Schwester Gail hier in Royal ganz von vorne beginnen könnten, jetzt, da ihr jüngster Bruder alt genug war, seine Differenzen mit der Mutter selbst auszufechten.
Doch diese Hoffnung war dahin. Lydia musste einsehen, dass ihre jüngere Schwester in Sachen Verantwortungslosigkeit ganz nach der Mutter kam. Hunderttausend Dollar, um Himmels willen!
„Lydia!“, kreischte ihre Schwester ins Telefon, als sie das Gespräch annahm. „Du rätst nie, wo ich gerade bin!“
„Ich kann nur hoffen, dass du gerade im Forschungszentrum gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs bist“, sagte Lydia, „und den Leuten erklärst, wie du die Riesensumme von hunderttausend Dollar aus dem Hut zaubern willst. Gail, um Himmels willen, was ist nur in dich gefahren?“
Verärgert sprang sie vom Stuhl auf und tigerte durch die erst halbfertige Küche. Sie war immer noch dabei, das Haus zu renovieren, in dem sie einen privaten Kinderhort eröffnen wollte. Fast wäre sie über ein paar Bauwerkzeuge gestolpert, als sie durch die Glastür hinaus in den Hinterhof ging.
„Ich erlebe ein paar schöne Tage mit dem Mann meiner Träume“, sagte ihre Schwester leichthin. „Und deinen vorwurfsvollen Tonfall kann ich dabei schon mal gar nicht leiden. Ist es denn wirklich zu viel verlangt, wenn ich mir wünsche, dass du dich einmal für mich freust? Nur ein einziges Mal?“
Lydia kniff die Augen zusammen. Etwas ganz Ähnliches hatte ihre Mutter gerade erst neulich zu ihr gesagt – oder, um genau zu sein, vergangene Woche, als Lydia sich geweigert hatte, an ihrer vierten Hochzeit teilzunehmen. „Schwesterchen, ich freue mich ja, dass du dich amüsierst“, erwiderte sie gequält. „Aber ich mache mir große Sorgen, wie du das viele Geld für den Auktionsgewinn aufbringen willst. Hast du schon mit dem Forschungsinstitut gesprochen?“
„Ach so, das könnte der Grund dafür sein, dass meine Kreditkarte gestern im Spa nicht funktioniert hat“, sinnierte Gail. Im Hintergrund hörte man Musik wie von einer Mariachi-Band. „Ich hatte das mit der Zahlung an die Wohltätigkeitsauktion ganz vergessen.“
„Du tust so, alswäre das eine Kleinigkeit“, schimpfte Lydia. „Dabei hast du das Geld doch gar nicht!“
„Darüber kann ich mir immer noch Gedanken machen, wenn ich aus dem Urlaub zurück bin“, rief ihre Schwester ins Telefon, um die Musik zu übertönen. „Jetzt verdirb mir doch nicht meinen Spaß. Ach so, und nur damit du es weißt, Anrufe von Leuten, die ich nicht kenne, nehme ich diese Woche gar nicht erst an.“
„Wer hat dich denn angerufen?“, fragte Lydia panisch. „Die Leute vom Forschungszentrum?“
„Nein, irgend so ein Typ vom Texas Cattleman’s Club. Ein Jordan oder James oder so ähnlich.“ Gail seufzte. „Und jetzt zerbrich dir bitte nicht meinen Kopf, okay? Ich muss mich wieder meiner Margarita widmen, bevor sie warm wird.“
„Gail, Moment mal …“
Doch schon zeigte Lydias Handy an: Gespräch beendet. Und sie kannte ihre Schwester. Sie konnte sich die Finger wund wählen, Gail würde keinen Anruf mehr von ihr entgegennehmen.
Man muss nicht jeden Unsinn akzeptieren.
Diese Worte hatten Lydia durch ihre Teenagerjahre geholfen. Aber irgendwie halfen sie ihr jetzt nicht dabei, ihrer Verzweiflung Herr zu werden. Sie musste an all die armen Leute denken, die so viel Arbeit in die Wohltätigkeitsauktion gesteckt hatten. Zweifellos waren sie hochbeglückt über die Riesensumme gewesen – und jetzt würden sie bitter enttäuscht werden. Der Texas Cattleman’s Club hatte das Event ausgerichtet, und seine Mitglieder gehörten zu den wichtigsten und einflussreichsten Menschen in und um Royal. Lydia wollte sich hier in Royal endgültig niederlassen. Sie hatte ja schon das renovierungsbedürftige Haus gekauft, in dem sie ihre Kindertagesstätte unterbringen wollte. Dass jetzt ihr Familienname wegen der Eskapaden ihrer Schwester einen schlechten Ruf bekam, konnte sie nicht gebrauchen.
Vielleicht konnte sie die Situation wenigstens mit einem der Verantwortlichen klären, bevor die Sache mit Gails fehlender Zahlung öffentlich wurde.
Sie scrollte zurück zum Text und fand den Namen, den sie suchte. James Harris. Mit ziemlicher Sicherheit war er es, der versucht hatte, Gail zu kontaktieren. Jetzt entdeckte sie auch ein kleines Foto des Mannes, das sie zuerst übersehen hatte, weil sie so auf den Text konzentriert gewesen war. Das war also der derzeitige Präsident des Texas Cattleman’s Club!
Er sah wirklich gut aus, das konnte man nicht anders sagen.
Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte. Es ging ja nicht um einen Flirt oder dergleichen. Für so etwas war Lydia ohnehin nicht besonders leicht zu haben. Sie hatte ja über lange Zeit hautnah das ewige Hin und Her im Liebesleben ihrer Mutter mitbekommen, und das genügte ihr. Immer wenn ein neuer Mann in Fionas Leben trat – und das passierte nun wirklich nicht gerade selten! – hatte sie sich förmlich in einen anderen Menschen verwandelt und keinerlei Rücksicht darauf genommen, welche Folgen das für ihre Familie hatte. Die Liebe hatte mitunter geradezu gespenstische Auswirkungen auf die Persönlichkeit der Betroffenen. Nein, Lydia war nicht nach Flirten zumute. Schon gar nicht mit jemandem, dem ihre Schwester so viel Ärger bereitet hatte!
Sicher, sie würde die Situation wohl kaum komplett bereinigen können – wie sollte das auch gehen? –, aber vielleicht konnte sie bei Mr. Harris ein wenig Verständnis für ihre Schwester wecken. Vielleicht konnte sie ja etwas aushandeln, eine Art Kompromiss oder so, sodass ihre Schwester es zumindest ein wenig leichter hatte, wenn sie zurückkam. Auch wenn das gewiss nicht einfach werden würde, nachdem Gail alle Menschen in der Stadt derart vor den Kopf gestoßen hatte.
Gegen Mittag stand noch ein Termin mit dem Handwerker an, der ihre Küche renovieren sollte. Aber gleich anschließend würde sie zum Texas Cattleman’s Club fahren.
Und dann konnte sie nur hoffen, dass dieser James Harris ein Mann mit Herz war. Ein Mann, der Verständnis für Menschen in verfahrenen Situationen hatte.
„Lydia Walker möchte sie gerne sprechen“, erklang die weibliche Stimme aus der Telefonanlage im Büro von James Harris.
Er hatte gerade Mittagspause und die freie Zeit in seinem Büro genutzt, um an seinem Golfschlag zu arbeiten. Eigentlich spielte er nur höchst selten Golf, und die Sportart interessierte ihn auch nicht besonders, aber demnächst gab es in der Stadt ein Golfturnier, zu dem auch er eingeladen war, und er war ehrgeizig genug, dort gut abschneiden zu wollen. Doch nicht nur deshalb übte er in der Mittagspause; er hoffte, die sportliche Betätigung würde ihn auch etwas entspannen. Er hätte nie gedacht, dass der Posten des Präsidenten des Texas Cattleman’s Club so viel Arbeit mit sich bringen würde! Zusätzliche Arbeit, denn sein Hauptjob war es ja immer noch, seine Ranch zu führen. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, musste er sich jetzt auch noch um ein Kleinkind kümmern. Seinen Neffen.
Erst vor drei Monaten war sein Bruder Parker zusammen mit seiner Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Nach dem tragischen Verlust war James am Boden zerstört. Die beiden Verstorbenen hinterließen einen Sohn, den kleinen Teddy. Und in seinem Testament hatte Parker den Wunsch geäußert, sein Bruder möge sich des Kindes annehmen. Selbstverständlich hatte James dem Wunsch Folge geleistet; er fühlte sich dazu verpflichtet. Doch die Last dieser Verantwortung zwang ihn fast in die Knie. Er durfte gar nicht länger darüber nachdenken, sonst wurde ihm ganz anders.
„Haben sie Walker gesagt?“, fragte James nach. Diesen Namen hörte er gar nicht gern. Er stellte den Golfschläger beiseite und ging zu seiner Telefonanlage. „Walker, so, wie die Frau, die sich aus dem Staub gemacht hat, ohne ihr Gebot bei der Junggesellenauktion zu bezahlen?“
Wie hatte diese Person nur so viel Geld bieten können, ohne es zu besitzen? Oder vielleicht besaß sie es sogar, hatte aber plötzlich keine Lust mehr, die hunderttausend Dollar herauszurücken. Obwohl die Summe doch einem guten Zweck zugutekäme, der Erforschung von Bauchspeicheldrüsenkrebs. Um einen Skandal und schlechte Presse zu vermeiden, hatte James, der sich als Präsident des Texas Cattleman’s Club mitverantwortlich für die Panne fühlte, den Betrag erst einmal ausgelegt.
Was selbstverständlich nicht bedeutete, dass die Angelegenheit damit erledigt war.
„Nein, die Frau, die abgehauen ist, heißt Gail Walker“, flüsterte die Sekretärin. „Aber vielleicht ist diese Lydia ja eine Verwandte.“
„Gut, schicken Sie sie rein.“ Mit einem Fußtritt ließ James zwei Golfbälle unter der Couch beim Fenster verschwinden. In letzter Zeit verbrachte er sehr viel Zeit hier in seinem Büro im Clubhaus. Was daran lag, dass der Texas Cattleman’s Club über einen Kinderhort verfügte, und das schien der einzige Ort zu sein, an dem sein kleiner Neffe sich wohlfühlte und einigermaßen brav war. Zu Hause auf der Ranch war Teddy nämlich ein richtiger Wirbelwind. Ach was, ein ausgewachsener Orkan!
James ging zur Tür. Er würde seinen Gast freundlich begrüßen, aber er konnte nur hoffen, dass die Frau einen dicken, fetten Scheck mitbrachte. Er hatte zwar bereitwillig die hunderttausend Dollar aus seinem Privatvermögen für den guten Zweck gegeben, trotzdem war er mächtig sauer auf die Bieterin, die das Geld erst versprochen und dann nicht bezahlt hatte. So etwas tat man einfach nicht, so etwas gehörte sich nicht. Das war wie der Bruch eines Ehrenworts.
Er öffnete die Bürotür, sah seinen Gast – und erstarrte.
Verdammt, war das eine schöne Frau! Schlank und hochgewachsen, mit einem bezaubernden und etwas schüchternen Lächeln.
Er ließ seinen Blick einen Moment zu lange auf ihren ebenmäßigen Gesichtszügen ruhen, riss sich dann endlich zusammen und reichte ihr die Hand. „Lydia Walker? Ich bin James Harris.“
„Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“ Ihr Händedruck war fest. „Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, mich zu empfangen, Mr. Harris.“
„Nennen Sie mich doch James.“ Mit einer einladenden Geste bat er sie herein und schaute noch einmal aus seiner Bürotür. Von hier aus konnte man den Eingang zum Kinderhort sehen. Im Stillen befürchtete er, dass sich gleich die Schwungtür öffnete, weil die Kinderbetreuerin vor seinem wilden Neffen die Flucht ergriff. Doch zum Glück geschah nichts dergleichen. Er wandte sich wieder seiner Besucherin zu. „Bitte, setzen Sie sich doch.“
Er wies auf einen der Ledersessel, die nah bei den Fenstern standen, durch die man den Garten und den Swimmingpool der Clubanlage sah. Sein Präsidentenbüro war zusammen mit dem übrigen historischen Gebäude erst vor kurzem renoviert worden. Die Fenster waren jetzt größer und ließen mehr Licht herein, auch waren die neuen Tapeten freundlicher und heller, doch der dunkle Holzfußboden und die ledernen Sitzmöbel vermittelten immer noch den Eindruck eines traditionellen Herrenclubs, eines Relikts aus einer längst vergangenen Zeit. An den Wänden hingen zahlreiche Holzstiche und Fotografien, die von der langen Tradition des Clubs zeugten.
James mochte sein Büro, machte nur allzu gern die Tür hinter sich zu und vergaß die Außenwelt. Manchmal schloss er dann die Augen und bekam das Gefühl, sein Leben wäre wieder einigermaßen normal. Doch das war es natürlich nicht. Urplötzlich und ohne Vorwarnung war er Ersatzvater geworden, Ersatzvater für einen anderthalbjährigen Jungen, der mit Sicherheit den Verlust seiner Eltern spürte, aber noch zu jung war, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Doch jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. James musste sich seiner Besucherin widmen. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Miss Walker? Kaffee oder Tee? Oder ein Wasser?“
„Nein, vielen Dank. Und bitte sagen Sie doch Lydia zu mir.“ Sie stellte ihre Lederhandtasche auf dem Fußboden ab und setzte sich. „Ich möchte Ihnen auch gar nicht viel von ihrer kostbaren Zeit stehlen. Ich bin nur gekommen, um zu fragen, ob ich irgendetwas tun kann, was die Schulden meiner Schwester angeht. Ich war auf Reisen und habe erst jetzt nach meiner Rückkehr von der ganzen misslichen Geschichte erfahren.“
Er ließ sich in den Sessel neben ihrem sinken. „Aha, verstehe.“ Die junge Frau redete nicht lange um den heißen Brei herum. Das imponierte ihm. „Ihre Bereitwilligkeit ehrt Sie, Lydia, aber ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob es mir zusteht, die Geldangelegenheiten Ihrer Schwester mit Ihnen zu erörtern.“
Er war zwar kein Fachmann in Rechtsangelegenheiten, aber er hatte seine Zweifel, ob es rechtlich zulässig wäre, solche Details mit der Schwester der Schuldnerin zu besprechen. Sie war zwar mit ihr verwandt, aber sie war ja nicht ihre Bevollmächtigte.
„Nein, verstehen Sie mich nicht falsch, sie sollen mir ja auch keine Interna verraten.“ Lydia beugte sich vor und sah ihn ernst an. „Ich weiß ohnehin, dass Gail nicht in der Lage sein wird, ihr Gebot von hunderttausend Dollar zu bezahlen. Jedenfalls nicht sofort und auf einmal. Ich bin mir sicher, dass sie sich an Sie wenden wird, sobald sie von ihrem Ferientrip zurück ist. Aber ich dachte, bis es so weit ist, könnten wir vielleicht eine Art Einigung aushandeln.“
„Was denn für eine Einigung?“ Das gefiel ihm nicht. „Fakt ist, ihre Schwester hat ein Gebot von hunderttausend Dollar gemacht, hat den Zuschlag erhalten, hat aber nicht gezahlt. Die Summe wird nicht neu verhandelt. Und ich habe auch kein Interesse daran, dass sie ihre Schulden in Raten von zehn Dollar abstottert.“
Lydia sah ihn mit großen Augen an. Sie wirkte etwas erschrocken. „Das verstehe ich durchaus, Mr. Harris – James. Mir tut die ganze Geschichte auch entsetzlich leid, obwohl ich nichts dafür kann. Aber fest steht: Meine Schwester hat keine hunderttausend Dollar, die sie Ihnen sofort geben könnte. Deshalb hatte ich gehofft, sie könnte vielleicht eine Art Gegenleistung erbringen. Freiwillige Arbeitsstunden für den guten Zweck oder so.“
„Verstehe, verstehe.“ Er nickte. Es beeindruckte ihn, wie sehr sich diese junge Frau für ihre Schwester einsetzte, an deren Fehlverhalten sie keine Schuld trug. Sie konnte ja nicht wissen, dass er die hunderttausend Dollar bereits aus eigener Tasche bezahlt hatte, und er war nicht sicher, ob er es ihr verraten sollte. Stattdessen fragte er: „Dürfte ich wissen, warum Sie sich so um diese Angelegenheit kümmern? Sie sind doch nicht für Ihre Schwester verantwortlich. Sie ist ein erwachsener Mensch.“
Lydia zog eine Augenbraue in die Höhe. „Haben sie Geschwister, James?“
Die Frage traf ihn bis ins Herz. Er schluckte. „Bis vor einem Vierteljahr hatte ich einen Bruder. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“
Lydia wurde blass. „Um Himmels willen, das tut mir leid. Das ist mir entsetzlich peinlich. Ich wusste ja nicht …“
„Nein, das konnten Sie ja auch nicht wissen.“ James erhob sich, weil er plötzlich den Drang verspürte, sich zu bewegen. Er ging zur Minibar hinüber und nahm zwei kleine Flaschen Mineralwasser heraus, mehr um sich abzulenken, nicht, weil er Durst hatte. Eine Flasche übergab er Lydia, dann öffnete er die andere. Er nahm einen Schluck. „Wie gesagt, es war ein Autounfall. Außer meinem Bruder ist auch seine Frau ums Leben gekommen. Parker wohnte zwar am anderen Ende von Texas, aber wir standen uns trotzdem sehr nahe.“
Er hatte jetzt keine lebenden Verwandten mehr, von seinem kleinen Neffen abgesehen. Seine Mutter war an Brustkrebs gestorben, als er noch sehr jung gewesen war, und sein Vater war vor zwei Jahren einem Herzinfarkt erlegen. Der Tod hatte ihm fast alle geliebten Menschen genommen.
Jetzt war nur noch Teddy da. Und James würde alles in seiner Macht Stehende tun, damit es dem kleinen Wildfang gut ging. Unter Umständen würde das bedeuten, dass er den Jungen in die Obhut seiner Großeltern mütterlicherseits geben musste. Es würde ihm schwerfallen, aber er hatte bereits mit diesem Gedanken gespielt, denn er hatte so viele andere Verpflichtungen, dass er befürchten musste, seiner Vaterrolle nicht gerecht zu werden.
„Es muss ein entsetzlicher Verlust für Sie gewesen sein“, sagte Lydia mitfühlend. „Die meisten meiner Brüder und Schwestern wohnen immer noch daheim in Arkansas, aber ich habe viel Kontakt zu ihnen. Gail ist mit mir zusammen nach Texas gezogen; wir wollten hier beide neu durchstarten. Deshalb fühle ich mich in gewisser Weise verantwortlich für sie.“
Er fragte sich, warum das so war. Gerne hätte er mehr über diese wunderschöne Frau erfahren, aber plötzlich hörte er draußen Stimmen. Gedämpfte, aber dennoch erregte Stimmen. Was mochte dort los sein? Er schaute zur Tür hinaus und sah, wie die Verwaltungsassistentin des Clubs erregt mit einer der Kindergärtnerinnen sprach.
Er bekam ein ungutes Gefühl. Es konnte sich nicht um Teddys Nussallergie handeln, sonst hätte man ihm direkt Bescheid gesagt. Aber was war, wenn Teddy die Betreuungskräfte im Kinderhort überforderte? Bisher hatte keine Nanny es länger als zwei Wochen mit dem Jungen ausgehalten. Er hatte enorme Stimmungsschwankungen; manchmal war er schüchtern und in sich gekehrt, dann wieder bekam er heftige Wutausbrüche. Wenn die Angestellten des TCC-Kinderhorts sich weigerten, den Jungen weiter zu betreuen, wenigstens stundenweise, hatte James ein Riesenproblem. Denn einen Plan B für solche Notfälle hatte er nicht. Teddys Großeltern mütterlicherseits wohnten fünf Autostunden entfernt – die konnten nicht mal eben kurz einspringen.
„Lydia, was die hunderttausend Dollar angeht, brauchen Sie sich keine Gedanken mehr zu machen“, sagte er. Nur zu gerne hätte er mit der unerwarteten Besucherin weiter geplaudert, aber er musste das Gespräch jetzt beenden, um nachzusehen, was mit dem Jungen los war. „Ich habe die Sache mit dem Geld schon in die Hand genommen. Alles Weitere bespreche ich dann mit Ihrer Schwester, wenn sie nach Royal zurückkommt.“
Er hoffte, Lydia würde sich mit dieser Antwort zufriedengeben und sich jetzt verabschieden. Es war schon schlimm genug, dass er sich so zu ihr hingezogen fühlte. Aber er hatte im Moment zu viel Kummer und Stress, um jetzt auch noch gemeinsam mit ihr zu überlegen, wie ihre Schwester Schulden abarbeiten sollte, die er schon längst beglichen hatte.
„Sie haben die Sache in die Hand genommen?“, fragte Lydia argwöhnisch. „Was heißt das konkret?“
Nervös fuhr James sich durchs Haar. Nie hätte er gedacht, dass die Sorgen um ein einziges kleines Kind einen Menschen Tag und Nacht beschäftigen konnten. Jetzt erlebte er es aus erster Hand. Rund um die Uhr sorgte er sich um den Kleinen, hatte ständig Angst, seiner Aufgabe als Erziehungsberechtigter nicht gewachsen zu sein und dem Kind zu schaden, auf das sein Bruder immer so stolz gewesen war.
„Ich habe die ausstehenden hunderttausend Dollar bezahlt“, sagte James. Erschrocken sah er, wie die Kindergärtnerin die Verwaltungsangestellte einfach stehen ließ und wütend auf sein Büro zustürmte.
Verdammt!
„Sie können da nicht so einfach reingehen!“, rief die Sekretärin, doch sie konnte die Kindergärtnerin nicht aufhalten.
„Sie haben die hunderttausend Dollar bezahlt?“, fragte Lydia ungläubig.
Noch mal verdammt!
Er ging auf Lydia zu. Es tat ihm leid, dass er ihr die Antwort einfach so entgegengeschleudert hatte, ohne ausführliche Erklärung. Aber er musste jetzt Krisenmanagement betreiben, was seinen Neffen betraf.
„Lydia, diese Information ist streng vertraulich. Die Sache muss unter uns bleiben. Ich habe es Ihnen nur verraten, damit Sie sich wegen Ihrer Schwester keine Sorgen machen.“
Lydia erhob sich aus dem Sessel und blickte ihn mit großen Augen an. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Jetzt mache ich mir noch viel mehr Sorgen. Wie sollen wir Ihnen das denn je zurückzahlen?“
Bevor er antworten konnte, hörte man Kindergeschrei.
Sein Neffe, der kleine Teddy Harris, kam auf ihn zugestürmt, Tränen in den Augen. Verzweifelt klammerte er sich an James’ Bein. James war erstaunt, wie viel Kraft in diesen kleinen Händen steckte. Und dann stieß der Junge einen herzzerreißenden Klagelaut aus, der vermutlich in ganz Royal zu hören war.