Vergib dir selbst - Anselm Grün - E-Book

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Anselm Grün

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Beschreibung

Viele Menschen empfinden ihre Schuld, aber auch die Wunden, die ihnen von anderen zugefügt wurden, als eine Fessel, die sie am Leben hindert. Anselm Grün beschreibt Schritte der Versöhnung, die wir in unserem Leben einüben können, um auf gelöstere Weise miteinander umzugehen.

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2014

ISBN 978-3-7365-0303-8

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024

ISBN 978-3-7365-0616-9

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher

Covergestaltung: Finken und Bumiller

Covermotiv: shutterstock

www.vier-tuerme-verlag.de

Anselm Grün

Vergib dir selbst

Edition Münsterschwarzach Band 3

Vier-Türme-Verlag

Inhalt
Einleitung
I. Die biblische Botschaft von Vergebung und Versöhnung
Der verzeihende Gott
Vergebung befreit
Vergebung ohne Grenzen
Lasst euch mit Gott versöhnen
Versöhnung beginnt in den Gedanken
Aussöhnung mit meinem inneren Gegner
Mit Fantasie und Liebe das Böse überwinden
Die Feindesliebe
II. Versöhnung und Vergebung im persönlichen Bereich
Versöhnung mit sich selbst
Versöhnung mit meiner Lebensgeschichte
Ja zu mir sagen
Die Versöhnung mit dem Nächsten
Schritte zur Versöhnung
»Vater, vergib ihnen, denn ...«
Zusage der Vergebung
III. Versöhnung in der Gemeinschaft
Neue Wege gehen
Ehe und Familie
Religiöse Gemeinschaften
Die Dorfgemeinschaft
Die Pfarrgemeinde
Versöhnung in unserer Gesellschaft
Versöhnung zwischen den Völkern
IV. Der Auftrag der Kirchen
Botschafter der Versöhnung
Versöhnende Sprache
Versöhnungsrituale
V. Das Sakrament der Versöhnung – Die Beichte
Geschichte der Beichte
Die Versöhnungsbeichte
Die Andachtsbeichte
Die Seelenführungsbeichte
Umgang mit der Schuld
Schuldgefühle und Schuld
Schuld als Chance
Das Böse
Weder be- noch entschuldigen
Das befreiende Gespräch
Gott meine Wahrheit hinhalten
Der Sinn der Beichte
Die trennende Mauer niederreißen
»Deine Sünden sind dir vergeben«
Die konkrete Gestaltung des Beichtrituals
Schluss
Literatur

Einleitung

Vergebung und Versöhnung sind zwei Themen, die viele Menschen heute beschäftigen. In der geistlichen Begleitung erlebe ich, dass viele immer wieder das Thema der Vergebung anschneiden. Die einen leiden unter ihrer strengen Erziehung, in der ihnen gesagt wurde, sie müssten jedem Menschen vergeben. Und dann erfahren sie, dass ihnen die Vergebung nicht gelingt, dass die schon lange zurückliegende Verletzung immer noch schmerzt. Für manche klingt die Forderung nach Vergebung so, dass sie ihre Gefühle von Ärger und Zorn gegen die Menschen, die sie verletzt haben, unterdrücken müssten und dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als ihnen möglichst schnell zu vergeben. Damit aber fühlen sie sich überfordert. Denn sie spüren in sich immer noch Groll und Gekränktsein. Sie fühlen sich gelähmt durch diese Gefühle. Wenn sie dem anderen vergeben, wäre das nur vom Kopf her gesteuert. Aber tief im Herzen und in ihrem Unbewussten sind ganz andere Gefühle, die die wirkliche Vergebung verhindern. Andere spüren, dass sie eigentlich vergangene Kränkungen vergeben sollten, weil die Vergangenheit immer noch wie eine Last auf sie drückt. Sie würden diese Last gerne loswerden, aber sie wissen nicht, wie ihnen das gelingen könnte. Manche können sich auch selbst nicht vergeben, wenn sie schuldig geworden sind. Sie wühlen immer wieder in der eigenen Schuld herum und werfen sich ständig vor, dass sie damals falsch gehandelt haben. Weil sie sich selbst nicht vergeben können, können sie auch nicht an die Vergebung Gottes glauben. Weil sie sich selbst für unannehmbar halten, meinen sie, auch Gott könne sie so nicht annehmen, wie sie sind.

Mit der Vergebung hängt die Versöhnung eng zusammen. Viele sehnen sich danach, dass sie ausgesöhnt mit sich selbst und mit den Menschen ihrer Umgebung leben können. Aber sie fühlen sich unfähig, sich mit der eigenen Lebensgeschichte auszusöhnen und erfahren um sich herum im familiären Umfeld nur Streit und Zwietracht. Wenn sie in die Welt hinaus sehen, erleben sie gerade in den vielen Kriegs- und Krisengebieten unversöhnte Volksgruppen, die auch durch einen offiziellen Friedensschluss nicht zusammenfinden. Wir erleben heute, dass Versöhnung eine Frage des politischen Überlebens ist. Ohne Versöhnung wird es auf dieser Erde keine Zukunft geben. Ob eine Gesellschaft miteinander gedeihlich zusammenleben kann, hängt davon ab, ob die sich widerstreitenden Gruppen bereit sind, sich zu versöhnen. Und ob es für die Völker Afrikas oder für die Volksgruppen im ehemaligen Jugoslawien einmal dauerhaften Frieden geben wird, ob die vom Islam geprägten Völker und der christliche Westen in gegenseitiger Achtung zusammenleben können, das hängt von der Bereitschaft zur Versöhnung ab. Versöhnung ist daher nicht nur ein religiöses, sondern genauso auch ein politisches Postulat.

Mit Versöhnung wird in der Bibel das Handeln Gottes in Jesus Christus beschrieben. Die frühe Kirche sah es als ihre entscheidende Aufgabe an, Künderin und Vermittlerin der Versöhnung zu sein. Auch die heutige Kirche hat von Jesus Christus den Auftrag, in unserer Welt ein Ort der Versöhnung zu sein, ein Ort, wo exemplarisch Menschen verschiedener Rassen und Sprachen miteinander versöhnt leben können. Und es ist ihre Aufgabe, in dieser Welt zu einer Quelle der Versöhnung zu werden, immer wieder aufzurufen zur Aussöhnung der Völker und Rassen, immer wieder mahnend ihre Stimme zu erheben, wenn sie Feindschaft und Streit, Unversöhntsein und Ressentiments in dieser Welt wahrnimmt.

Vergebung und Versöhnung gehören zusammen. Und doch haben sie je verschiedene Bedeutungen. Mit dem deutschen Wort »Vergebung« wird das griechische Wort »aphesis« übersetzt, das aus dem Verb »aphiemi« abgeleitet wird und »wegschicken, wegwerfen, entlassen, loslassen, freilassen, freisprechen« bedeutet. Das lateinische Wort »dimittere« heißt ähnlich: »wegschicken, entlassen, nachlassen, loslassen«. Vergebung bezieht sich auf die Schuld und meint ein aktives Erlassen und Loslassen der Schuld, ein Sich-Freimachen von der Schuld, ein Wegnehmen der Schuld. Vergeben heißt also letztlich: weggeben.

Das deutsche Wort »versöhnen« kommt von »versüenen« und bedeutet: Frieden stiften, schlichten, still machen, beschwichtigen, küssen. Es meint also eine ganze Palette von Versuchen, einander näher zu kommen. Durch das Gespräch wächst Nähe zwischen zwei Partnern. Sie können ihren Streit schlichten und Frieden stiften. Die intensivste Nähe ist dann der Kuss, der das Einverstandensein mit dem anderen besiegelt. In der Versöhnung kommen sich aber nicht nur Menschen nahe, sondern auch Gott und Mensch. Und der Mensch kann sich mit sich selbst aussöhnen und sich selbst küssen. Das lateinische Wort für versöhnen »reconciliare« bedeutet: »wieder herstellen, wieder vereinigen, eine Zusammenkunft wieder ermöglichen«. Es zielt also vor allem auf die wieder hergestellte Gemeinschaft zwischen den Menschen und zwischen Gott und den Menschen. Es gibt keine Versöhnung ohne Vergebung. Und die Vergebung zielt letztlich auf ein neues versöhntes Miteinander.

In diesem Buch möchte ich das Phänomen der Vergebung und Versöhnung von der Bibel her in unsere Zeit übersetzen. Dabei will ich sowohl die persönliche als auch die gesellschaftliche und politische Dimension betrachten. Die Kirche kennt ein Sakrament der Versöhnung. Da es heute immer weniger verstanden wird, werde ich es von seiner ursprünglichen Intention her beschreiben. Vergebung hat immer auch mit Schuld zu tun. Wir sehen heute Schuld und Sünde anders als noch vor dreißig Jahren. Daher will ich auch auf dieses Thema eingehen.

I. Die biblische Botschaft von Vergebung und Versöhnung

Der verzeihende Gott

Schon der Gott des Alten Testaments ist wesentlich ein verzeihender Gott. Der Mensch fällt immer wieder in die Sünde. Er übertritt Gottes Gebot und verirrt sich in seinen eigenen Leidenschaften. Das griechische Wort für sündigen »hamartanein« heißt eigentlich: das Ziel verfehlen. Wer sündigt, der verfehlt nicht nur das Ziel, das Gott ihm gesteckt hat, sondern er verfehlt sich selbst. Er entfremdet sich von sich selbst. Mit eigener Kraft kommt er aus seiner Schuldverstrickung und Selbstentfremdung nicht heraus. Er projiziert die Schuld entweder auf andere, oder er zerfleischt sich selbst mit Schuldvorwürfen. Er ist auf Gottes Vergebung angewiesen, um wieder frei zu werden von seiner Schuld, die ihn lähmt und blockiert, um die Selbstentfremdung und die Entfremdung von seinem ursprünglichen Sein zu überwinden und wieder mit sich selbst und mit dem ihn tragenden Grund in Berührung zu kommen. Vergebung meint, dass Gott die Sünde hinter sich geworfen hat (Jesaja 38,17), dass er die Schuld erlässt, dass er die Sünde gar nicht mehr sieht, dass er den Menschen von seiner Schuld befreit. Die deutsche Sprache verwendet für die verschiedenen hebräischen Ausdrücke die beiden Wörter »vergeben« und »verzeihen«. Vergeben könnte man auf zweifache Weise deuten. Einmal meint es: weggeben, erlassen; zum anderen: austeilen, verschenken, unrichtig austeilen, falsch geben. Hinter dem Wort »vergeben« steckt die Vorstellung, dass man dem anderen etwas gibt, was man eigentlich von ihm zu erwarten hätte. Das Wort »verzeihen« kommt von »zeihen«, das heißt beschuldigen, anschuldigen, anzeigen. Verzeihen bedeutet dann: Verschuldetes nicht anrechnen, einen Anspruch aufgeben. Die deutsche Sprache hat also zwei wichtige Aspekte aus der Bibel entnommen. Einmal den Geschenkcharakter der Vergebung. Gott schenkt uns in der Vergebung seine barmherzige und liebende Zuwendung, die wir uns durch unsere Abwendung eigentlich verwirkt haben. Und dann ist da der Aspekt der Schuld, die uns nicht angerechnet wird, die nicht geltend gemacht wird, die erlassen wird.

Die Juden haben in ihrer Geschichte immer wieder erfahren, dass sie von Gott abfallen und sich Götzen zuwenden. In den Psalmen wird die Geschichte Israels als eine Geschichte permanenten Abfallens und Untreuwerdens beschrieben. Kaum hat Gott für das Volk in der Wüste gesorgt, rebelliert es schon wieder wie ein kleines trotziges Kind, das noch mehr will, und wendet sich von Gott ab. Mose erkennt, dass das Volk ein störrisches und halsstarriges Volk ist. Aber er richtet sein Gebet immer wieder vertrauensvoll an Gott, der sich ihm als der vergebende Gott geoffenbart hat:

Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue. Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg.

EXODUS 34,6f

Der Grund, warum Gott den Menschen immer wieder vergibt, liegt in seiner Barmherzigkeit. Gott hat kein Gefallen am Tod des Sünders. Das Herz Gottes ist nicht das Herz eines Menschen, seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Daher preist der Psalmist Gott mit den Worten:

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir all deine Schuld vergibt und all deine Gebrechen heilt

PSALM 103,2f

Der alttestamentliche Beter weiß, dass er immer wieder in Schuld fällt. Aber wenn er seine Schuld vor Gott bekennt, ist Gott bereit, ihm zu verzeihen, seine Schuld abzuwaschen und ihm einen neuen, beständigen Geist zu schenken (vgl. Psalm 51,12).

Jesus hat die Vergebung Gottes nicht nur verkündet, sondern er hat den Menschen auch in der Kraft Gottes die Vergebung zugesprochen. Das war für die Zuhörer eine unerhörte Tat. Für die Pharisäer war es ein Zeichen, dass er Gott lästert:

Wie kann dieser Mensch so reden? Er lästert Gott. Wer kann Sünden vergeben außer dem einen Gott.

MARKUS 2,6f

Aber Jesus bestätigt seine Vollmacht, Sünden zu vergeben, indem er den Gelähmten heilt. Vergebung der Sünden und Heilung der Krankheiten gehören zusammen. Matthäus sieht die Krankheit oft von der Schuld verursacht. Daher genügt es nicht, wenn nur das Symptom der Krankheit geheilt wird, es muss auch die zugrundeliegende Schuld vergeben werden, damit der Kranke wirklich gesund wird und ein neues Leben beginnen kann, wie es dem Willen Gottes entspricht. Jesus will den ganzen Menschen wiederherstellen. Die Vergebung dient der Heilung. Während Matthäus Krankheit und Sünde zusammen sieht, wehrt sich Johannes gegen diese Sicht. Beide Sichtweisen haben etwas für sich. Man darf nicht bei jeder Krankheit nach der Schuld fragen. Denn sonst würde ich jedem Kranken zu seiner Krankheit auch noch ein schlechtes Gewissen vermitteln. Aber manchmal heilen unsere Wunden nicht, weil wir uns selbst oder dem »Verwunder« nicht vergeben können. Jesus wendet sich gerade den Sündern zu und isst mit ihnen. Den Kritikern hält er entgegen:

Lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.

MATTHÄUS 9,13

Die Vergebung, die Jesus den Menschen zuspricht, kommt in seinem Tod am Kreuz zu ihrer Erfüllung. Da vergibt er selbst denen noch, die ihn ans Kreuz geschlagen haben. Wenn Jesus selbst seinen Mördern noch vergibt, dann dürfen wir darauf vertrauen, dass er auch uns jede noch so große Schuld vergibt, wenn wir ihn darum bitten. Es ist nicht so, dass Gott uns nur vergibt, weil Jesus für uns gestorben ist. Das wäre ja ein grausamer Gott, der das Opfer seines Sohnes braucht, um vergeben zu können. Gott ist immer der Vergebende. Aber die Frage ist, wie wir an die Vergebung Gottes glauben können. Das Kreuz ist die deutlichste Zusage der Vergebung. Es will uns tief in unserem Herzen vermitteln, dass Gott der vergebende Gott ist und dass es keine Sünde gibt, die er nicht vergeben kann und will.

Vergebung befreit

Der Evangelist Lukas sieht die Beziehung zwischen der Vergebung und dem Kreuz Christi anders. Das Kreuz ist nicht die Vermittlung der Vergebung, sondern am Kreuz gibt Jesus selbst das eindrücklichste Beispiel für die Vergebung. Am Kreuz betet er für die, die ihn kreuzigen:

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

LUKAS 23,24

Jesus hat uns damit ein Vermächtnis seiner vergebenden Liebe hinterlassen, damit auch wir genauso handeln wie er. Sein Tun hat Vorbildcharakter. Denn Jesus ist für Lukas der Anführer unseres Glaubens, der uns mit seinem Verhalten vorausgeht, damit wir ihm darin folgen. Die Bitte zeigt uns, wie auch wir den Menschen vergeben sollen und können, ohne dass uns die Vergebung überfordert. In dieser Bitte liegt ein Schlüssel dafür, dass auch uns die Vergebung gelingt. Wenn wir beten: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«, dann erfüllen wir keine Forderung, die über unseren Willen hinausgeht. Die Bitte ist vielmehr ein Weg, uns an den Vater zu wenden und in ihm unseren wahren Grund zu finden.

Und zugleich befreit uns die Bitte von der Macht der Menschen. Sie schafft uns Distanz zu den Menschen und zugleich Verständnis für ihr Verhalten. Auch wenn Menschen uns verletzen, wissen sie oft nicht, was sie tun. Sie verletzen uns, weil sie selbst verletzt sind, weil sie sich minderwertig fühlen und ihre Macht nur zeigen können, indem sie uns schaden. Aber in Wirklichkeit schaden sie sich selbst. Wenn ich wie Jesus am Kreuz bete »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«, dann muss ich meine Wut nicht überspringen, sondern ich kann vergeben, weil ich den anderen nicht mehr als meinen Feind ansehe, sondern als einen verletzten Menschen. Ich vergebe nicht aus Schwäche und Anpassung, sondern aus Stärke und Freiheit. Wenn ich nicht vergebe, hat der andere immer noch Macht über mich. Er bestimmt mein Denken und Fühlen. Die Vergebung befreit mich von der Macht des anderen. Er ist nicht mehr mein Gegner, sondern ein verletzter und verblendeter Mensch, der nicht anders kann. Aber selbst wenn er mich tötet, hat er trotzdem keine Macht über mich. So hat es Jesus am Kreuz erfahren. Er bleibt der dem Vater Ergebene. Nach außen hin können die Menschen ihre Bosheit an ihm auslassen. Aber sie erreichen ihn nicht, weil er für sie betet und im Gebet ihre Verblendung und Unwissenheit durchschaut.

Lukas hat in der Apostelgeschichte beschrieben, wie die Jünger sich genauso verhalten wie Jesus. So stirbt der Diakon Stephanus mit den gleichen Worten wie Jesus. Als die Juden ihn steinigen, betet er:

»Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!« Dann sank er in die Knie und schrie laut: »Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!« Nach diesen Worten starb er.

APOSTELGESCHICHTE 7,59f

Matthäus hat die Vergebung als die zentrale Grundhaltung für die christliche Gemeinde beschrieben. Das wird zum Beispiel in seiner Formulierung des Vaterunsers sichtbar. Darin macht er die Echtheit unseres Betens abhängig von unserer Bereitschaft, einander zu vergeben.

Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben ... Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

MATTHÄUS 6,12.14f

Wir können nicht so beten, wie Jesus es uns gelehrt hat, wenn wir nicht bereit sind, einander unsere täglichen Sünden zu verzeihen. Das macht Matthäus auch zur Grundlage seiner Gemeindeordnung. Ihm war es ein Anliegen, wie die christliche Gemeinde im Geiste Jesu zusammen leben kann. Im 18. Kapitel setzt er einzelne Worte Jesu zu einer eigenen Rede zusammen, die sich mit dem Leben in der christlichen Gemeinde befasst. Da meint Petrus, er habe Jesus gut verstanden, wenn er, statt wie seine jüdischen Brüder zwei bis dreimal zu vergeben, sogar bereit ist, siebenmal Vergebung zu gewähren. Doch Jesus setzt der Vergebung keine Grenze. »Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal« (Matthäus 18,22) sollen wir einander vergeben.

Die Zahl Siebenundsiebzig (oder, wie andere Exegeten meinen, siebzig mal Sieben) bedeutet eine unendliche Zahl. Der Christ soll bereit sein, immer wieder von neuem zu vergeben, weil Gott ihm auch täglich neu vergibt.

Vergebung ohne Grenzen