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»Wenn du herausfindest, wer mich verraten hat, sage ich dir, was an dem Tag passierte, als dein Sohn starb«, lautet die Nachricht eines Häftlings, der für einen Mord verurteilt wurde, den er angeblich nicht begangen hat. Er will, dass Reporter Henning Juul die Wahrheit herausfindet. Doch der Inhaftierte wird im Gefängnis umgebracht, ehe Henning mit ihm sprechen kann. Für den Reporter bricht die Welt zusammen. Hätte der Mann wirklich den Tod von Hennings Kind aufklären können? Oder gibt es noch weitere Zeugen?
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Seitenzahl: 513
Thomas Enger
Vergiftet
Ein Henning-Juul-Roman
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob und Maike Dörries
PROLOG
Jockes Harley steht bereits da.
Tore Pulli parkt und nimmt den Motorradhelm ab. Der Kies knirscht, als er den Fuß auf den Boden stellt. Die Fenster der stillgelegten Fabrik starren blind ins Dunkel. Die Stille ist dicht und unangenehm.
Pulli hängt den Helm an den Lenker und geht zur Tür. Die Scharniere kreischen, als er sie öffnet. Pulli geht hinein, zögert.
»Jocke?«
Seine Stimme wird von den Wänden zurückgeworfen. Die Sohlen seiner Stiefel klatschen laut auf den Boden. Langsam gewöhnen seine Augen sich an das Dunkel, aber vor sich sieht er nur nackten Boden und kahle Wände, Holzbalken und mit Spinnweben behangene Säulen. Der Oktoberwind pfeift durch die zerbrochenen Scheiben. Man sieht seinen Atem.
Fast wie in alten Tagen, denkt Pulli, geht weiter in den Raum hinein und spürt die Anspannung vor der Konfrontation. Das Adrenalin pumpt durch seinen Körper, ein Gefühl, das er nicht mag.
Sein Blick wird von etwas angezogen, das weiter hinten in den Schatten auf dem Boden liegt. Vorsichtig nähert er sich. Der stechende Geruch von Urin und Metall schlägt ihm entgegen. Er tritt auf etwas Glitschiges und muss einen Ausfallschritt zur Seite machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er holt das Handy heraus und leuchtet damit auf den Boden.
Dann sieht er, in was er getreten ist.
Vor ihm liegt ein Mensch. Der Rücken der blutigen Lederjacke ist übersät von Einstichen. Über dem Kragen der Jacke leuchtet das Weiß des kahl rasierten Schädels mit den Tätowierungen.
Er kennt diese Tätowierungen. Nur Joachim Brolenius hat sich Go to hell auf den Hinterkopf tätowieren lassen.
Sein Handy geht aus.
Pulli blickt sich rasch um, lauscht, hört aber nur die Stille. Die Fabrik wirkt verlassen, abgesehen von Jocke, dem Mann, den Pulli aus ganzem Herzen hasst, den er aber trotzdem um keinen Preis der Welt tot sehen wollte.
Jedenfalls noch nicht.
Er beugt sich nach unten, packt die Lederjacke und dreht den schweren Körper um. Das Gesicht ist verzerrt und blutverschmiert, der Mund steht offen. Pulli legt zwei Finger an die Halsschlagader, zieht die Hand jedoch sofort wieder zurück. Der Hals ist warm, aber weich und irgendwie locker, wie ein nasser, aufgeschnittener Schwamm.
Dann sieht er etwas am Boden liegen. Einen Schlagring.
Seinen eigenen Schlagring?
Wie zum Henker ist der hierhergekommen?
Eine grausame Erkenntnis kommt ihm. Das anberaumte Treffen war weithin bekannt, und viele haben ihn losfahren sehen. Sie alle wussten, dass sein Schlagring an der Wand in seinem Büro hing. Er blickt nach unten und sieht das Blut an seinen Händen, an Kleidern und Schuhen.
Jemand hat ihn in eine Falle gelockt, und er ist wie ein Trottel hineingetappt.
Pulli will den Schlagring aufheben und weglaufen, bleibt dann aber stehen. Du hast die Leiche berührt, denkt er. Deine Fingerabdrücke sind auf Jockes Lederjacke. Mach die Sache nicht noch schlimmer, als sie ohnehin schon ist.
Er holt wieder sein Handy hervor. Wählt mit blutigen Fingern die Nummer des Notrufs. Du kennst die Wahrheit, sagt er zu sich selbst. Sag die Wahrheit, dann geht alles gut.
Du hast nichts zu befürchten.
22 Monate später
Der Schrei ist immer derselbe.
Henning Juul tastet sich blinzelnd zum Lichtschalter vor. Das Laken unter ihm ist nass, die Luft flimmert vor Hitze. Mit feuchten Fingerkuppen fährt er über die Narben an Hals und Gesicht. In seinem Kopf dröhnt der Bass, der aus einem offenen Fenster in der Steenstrups gate kommt. Etwas entfernt fährt ein Motorrad brüllend davon, ehe es wieder still wird. Wie ein Crescendo vor einem plötzlichen Tod.
Henning holt tief Luft und versucht, den Traum abzuwürgen, der noch immer wie ein gestochen scharfer Film in ihm abläuft. Aber er lässt sich nicht verscheuchen.
Dabei hatte der Traum so harmonisch begonnen. Sie wollten einfach nur nach draußen zum Schlittenfahren. Jonas und er. Es hatte über Nacht geschneit, stark geschneit, sodass die Straßenbahnschienen sich wie zwei glänzende schnurgerade Silberstränge über den Hügel nach oben zogen. Die dicken Schneeflocken, die noch immer dicht an dicht durch die Luft tanzten, schmolzen auf Hennings Wangen, ehe sie sich festbeißen konnten.
Er zog Jonas auf seinem Schlitten über die Toftes gate nach unten zum Sofienbergpark, in dem sich die Kinder auf dem gegenüberliegenden Hang unterhalb der Kirche wie schwarze Striche abzeichneten. Jonas lenkte energisch hin und her, sodass Henning ganz außer Atem war, als sie endlich ankamen. Er wollte sich hinten auf den Schlitten setzen, aber Jonas hielt ihn zurück.
»Du nicht, Papa! Nur ich.«
»Okay, dann musst du den Schlitten anschließend aber auch allein nach Hause ziehen.«
»Mach ich.«
»Versprichst du das?«
»Jaaaaa!«
Henning wusste, dass die nassen Schneeflocken eine längere Lebensdauer hatten als das Versprechen, das Jonas ihm gerade gegeben hatte. Aber was machte das schon?
»Schiebst du mich an, damit ich richtig, richtig schnell bin?«
»Okay, aber halt dich fest. Auf drei!«
Dann zählten sie zusammen: »EINS, ZWEI! Uuuuund DRRRRREI!«
Henning gab Jonas einen kräftigen Stoß und hörte den Jungen vor Freude juchzen, als er losfuhr. Er registrierte auch die Blicke der anderen Kinder, ihnen gefiel der Anblick des kleinen Kerls mit der hellblauen Mütze, der auf die kleine Schanze zufuhr, die jemand am Hang gebaut hatte. Er traf sie wirklich, bekam etwas Höhe, landete aber gleich wieder und schrie fröhlich auf, während er das Lenkrad zur Seite drehte, um nicht mit einem Mädchen zusammenzustoßen, das ihm entgegenkam. Es drehte sich um und sah Jonas nach, der immer mehr nach links kurvte.
Genau auf einen Baum zu.
Auch Henning sah, welchen Weg der Junge eingeschlagen hatte, die kleinen Hände fest um das Lenkrad gelegt. Henning begann, über den Hang nach unten zu stürmen, aber seine Füße fanden keinen Halt, sodass er ausrutschte und sich ein paarmal um sich selbst drehte, ehe er sich wieder fing.
Die Schneeflocken, das Stimmengewirr und der Lärm um ihn herum verloren an Stärke, als Henning seine Lippen zu einem Ruf formte. Aber es kam kein Laut. Verzweifelt starrte er auf diverse Eltern, die wie erstarrt dastanden und einfach zusahen. Dann schloss er die Augen. Er wollte nicht sehen, was geschah. Wollte seinen Sohn nicht sterben sehen. Nicht noch einmal.
Dann war Jonas weg. Ebenso der Hang, der Schnee, die Bäume und die Menschen. Um ihn herum nichts als Dunkelheit. In seiner Nase hängt der unverkennbare Geruch von Rauch. Und obgleich er Jonas nicht sehen kann, hört er seine Rufe nur allzu deutlich. Panisch wedelt Henning mit den Armen durch die Luft, um ein Loch in die Dunkelheit zu schlagen, die vor ihm aufwirbelt, aber es nützt nichts. Unglaubliche Hitze schlägt ihm entgegen. Er kann kaum noch atmen und beginnt zu husten.
Durch den Rauch sieht er schließlich einen Streifen Licht. Henning kneift die Augen zusammen und fokussiert die immer größer werdende Öffnung. Etwas weiter hinten erkennt er eine Tür, eine Tür, die langsam, aber sicher ein Opfer der Flammen wird. Er hustet noch einmal. Dann wird der Streifen wieder schmaler, bis der Rauch sich erneut wie ein dichter Teppich vor ihn schiebt. Es ist glühend heiß. Um ihn herum ist alles schwarz. Dann hört er ihn. Wieder. Jonas’ Schrei.
Ein rotes Blinken lässt Henning ausatmen. Seine Augen gleiten zu dem anderen Rauchmelder unter der Decke. Er wartet darauf, dass auch dieser sein zyklisches Blinken von sich gibt. Aber es vergeht Zeit, Sekunden, eine, zwei, mehrere, der Klumpen in seiner Brust schwillt wieder an, und seine Schultern und sein Nacken verkrampfen sich, bis es plötzlich da ist, das schnelle rote Blinken.
Er lässt sich in das Kissen sinken und atmet tief durch. Bleibt liegen und wartet darauf, dass sich das Untier in seiner Brust beruhigt. Bald bewegt es sich wieder ganz regelmäßig, und er betastet noch einmal die Narben an Hals und Gesicht. Sie brennen noch immer. Innen wie außen. Und sie werden nicht aufhören zu brennen, solange er nicht herausgefunden hat, wer bei ihm das Feuer gelegt hat. Wer hat dafür gesorgt, dass der tollste Junge der Welt nicht mehr lebt?
Henning dreht sich zum Nachtschränkchen. Es ist noch nicht einmal halb elf. Die Kopfschmerzen, mit denen er vor anderthalb Stunden ins Bett gegangen ist, pulsieren noch immer. Er massiert sich die Schläfen, während er in die Küche schlurft und die letzte Dose Cola aus dem Kühlschrank nimmt. Er räumt die Kleider und Zeitungen vom Sofa im Wohnzimmer, ehe er Platz nimmt und die Dose öffnet. Das Geräusch der Blasen, die an die Oberfläche steigen, lässt ihn schläfrig werden. Dann schließt er die Augen und wünscht sich einen Traum ohne Schneeflocken.
»Seid ihr bald fertig? Ich will nach Hause.«
Gunhild Dokken beugt sich über den Tresen und blickt in den Raum. Ein Song von Jokke & Valentinerne strömt aus den Lautsprechern. Auf einer Bank etwas weiter hinten liegt Geir Grønningen und stemmt stöhnend hundertfünfunddreißig Kilo. Vor dem Spiegel hinter ihm steht ein kleiner, gedrungener Mann und folgt den Bewegungen der Stange mit seinen Händen.
»Wir sind gleich so weit«, sagt Petter Holte, ohne seinen konzentrierten Blick zu heben.
Dokken dreht sich um und schaut auf die Uhr an der Wand. Es ist bald 22.45 Uhr.
»Es ist Freitag, Jungs. Freitagabend, und es ist bald elf. Habt ihr wirklich nichts Besseres vor?«
Keiner der beiden antwortet ihr.
»Komm schon«, sagt Per Ola Heggelund, der Mann, der mit verschränkten Armen vor der Bank steht. Grønningen ist dabei, die Stange nach oben zu drücken. Holte hebt vorsichtig mit an und hilft Grønningens zitternden Armen.
»Einen noch«, sagt er. »Einen schaffst du noch.«
Grønningen atmet tief durch, lässt die Stange auf seine Brust herab und presst sie mit all seiner Kraft wieder nach oben. Seine Muskeln vibrieren, Holte lässt ihn gewähren, Millimeter für Millimeter, bis Grønningen die Stange brüllend ins Stativ schiebt. Er schneidet eine Grimasse, spannt die Brustmuskeln an, kratzt sich seinen struppigen Bart und schüttelt sich eine Strähne der langen, dünnen Haare aus dem Gesicht.
»Gut gemacht«, sagt Heggelund und nickt beeindruckt.
Grønningen sieht zu ihm hinüber. »Gut? Das war scheiße, Mann, sonst schaffe ich viel mehr.«
Heggelund sieht Holte nervös an, erntet aber nur einen säuerlichen Blick.
Holte löst den Bauchriemen, während er sich selbst im Spiegel betrachtet. Der rasierte Schädel glänzt wie der Rest seines Körpers solariumbraun. Er zupft die schwarzen Handschuhe zurecht und studiert die Muskeln unter seinem eng sitzenden weißen Muskelshirt. Zufrieden spannt er sie an, begutachtet seinen Bizeps und justiert seine Better-Bodies-Shorts, ehe er zum Tresen geht, an dem Gunhild Dokken gelangweilt durch ein Magazin blättert. Ihre Haare hängen ihr in die Augen.
»Hast du anschließend schon was vor?«, fragt Holte und bleibt vor ihr stehen. Seine Stimme ist weich und erwartungsvoll.
»Ich will nach Hause«, antwortet sie, ohne den Kopf zu heben.
Holte nickt langsam und mustert sie. »Hast du Lust auf Gesellschaft?«
»Nein«, antwortet sie trocken.
Holtes Nasenlöcher weiten sich. »Oder kriegst du Besuch von jemand anderem?«
»Das geht dich nichts an.« Dokken schnaubt hörbar.
Nach einem kurzen Zögern dreht Holte sich um und geht zu Grønningen, der ihm aufmunternd zunickt.
»Es sind ja nur noch wir hier«, sagt Holte. »Ich kann gerne für dich abschließen, wenn du willst.«
Dokken klappt das Magazin mit einer raschen Handbewegung zu. »Hättest du das nicht eher sagen können? Als von dem Abend noch irgendetwas übrig war …«
»Schon, aber …« Ein Schatten huscht über Holtes Gesicht, als er den Kopf senkt.
»Okay«, seufzt sie verärgert. »Du weißt ja, wo die Schlüssel liegen.«
Sie geht zur Garderobe hinüber und nimmt sich eine dünne schwarze Jacke, steckt ihr Handy in die Tasche und hängt sie sich über die Schulter. »Powert euch aber nicht zu sehr aus.«
»Wir können erst am Sonntag wieder trainieren.«
»Wow«, sagt sie ironisch. »Einen Tag frei.«
Holte lächelt kurz und blickt ihr nach, als sie nach draußen marschiert. Eine Glocke läutet, ehe die Tür mit Schwung ins Schloss fällt. Dann ist sie in der Nacht verschwunden.
Holte schüttelt kaum sichtbar den Kopf, ehe er hinter den Tresen tritt, die Musik ausschaltet und die Metallica-CDAnd Justice For All aus dem Regal nimmt. Er wählt den achten Song »To Live Is To Die« und spult etwa bis zur Mitte des Liedes vor.
»Wieder keinen Erfolg gehabt«, sagt Heggelund und grinst, als Holte zurückkommt.
Holte sieht ihn wütend an, antwortet aber nicht. Stattdessen fragt er, wer jetzt an der Reihe ist.
»Heggi«, antwortet Grønningen und sieht zu Heggelund hinüber.
»Ja, richtig«, erwidert der, tritt an die Stange und nimmt auf beiden Seiten fünfzehn Kilo herunter. Dann setzt er sich hin und atmet ein paarmal tief durch, ehe er sich hinlegt und seine Lunge noch einmal mit Luft füllt. Hinter ihm ist Holte erneut in Position gegangen, während James Hetfields Stimme aus den Lautsprechern dröhnt: »When a man lies, he murders some part of the world.«
Heggelund nimmt die Stange klirrend aus dem Stativ, lässt sie auf seinen Brustkorb hinab und stemmt sie wieder nach oben. Der erste Durchgang geht gut, er versucht, einen ruhigen Rhythmus zu finden, und auch die nächste Wiederholung klappt. Zwei Durchgänge später klingt sein Grunzen bereits aggressiver.
Holte hält seinen Rücken gerade und sorgt für einen sicheren Stand, ehe er seine Hände unter die Stange legt, jederzeit bereit, ihm zur Seite zu stehen. Er sieht zu Grønningen, der nickt und einen Schritt näher kommt. Aus der Anlage hämmert jetzt der harte Anfangsriff von »Dyers Eve«.
Heggelund schließt die Augen und mobilisiert seine Kräfte für den nächsten Durchgang, aber die Stange bewegt sich nicht. Er öffnet die Augen.
Holtes Hände sind plötzlich nicht mehr unter, sondern über der Stange, und auch Grønningen steht mit einem Mal dicht neben der Bank und setzt sich dann schwer auf Heggelunds Bauch. Ein tiefes Stöhnen kommt aus dem Hals des Mannes. Holte drückt die Stange über Heggelunds Adamsapfel. Blanke Panik spricht aus seinen Augen.
»Was … was?«
»Wie lange bist du schon hier?«, fragt Grønningen. »Zwei Monate? Zweieinhalb, vielleicht?«
Heggelund versucht, etwas zu sagen, doch er braucht all seine Kräfte, um die Stange von seinem Hals fernzuhalten.
»Hältst du uns eigentlich für blöd?«, fragt Holte und starrt ihn kalt an. »Glaubst du wirklich, wir lassen jedes Arschloch mit uns trainieren, ohne vorher abzuchecken, was das für ein Kerl ist?«
Heggelund bringt nur noch ein Gurgeln über seine Lippen.
»Du hast uns verarscht«, sagt Holte durch zusammengebissene Zähne. »Hast versucht, uns zu verarschen. Glaubst du, wir wissen nicht, dass du im Herbst auf der Polizeischule anfangen willst?«
Heggelund reißt seine Augen noch weiter auf.
»Was hast du eigentlich vor? He?«, fragt Grønningen. »Du hast wohl zu viel ferngesehen? Wolltest du deine Karriere mit einem Undercover-Knaller starten?«
»Aber daraus wird nichts«, übernimmt Holte. »Das gelingt niemandem!«
»Bitte!«, fleht Heggelund mit zitternden Armen.
Holte drückt die Stange nach unten, bis sie Hautkontakt bekommt. Aus seinen Augen sprühen Funken.
»Du lässt dich hier nicht noch einmal blicken, verstanden?«, kommandiert Grønningen.
Heggelund kneift die Augen zusammen und versucht zu nicken. Auf seinem Gesicht mischen sich Tränen in den Schweiß.
»Und du erzählst niemandem davon!«, faucht Holte.
Wieder versucht Heggelund, den Kopf zu bewegen.
Grønningen mustert ihn ein paar Sekunden, ehe er von dessen Körper steigt und Holte zunickt.
Heggelund schafft es durchzuatmen, aber Holte nimmt die Stange noch nicht weg.
»Das reicht«, sagt Grønningen.
Holte antwortet nicht.
»Petter!«
Widerwillig hebt Holte die Stange an, unterstützt von Heggelunds letzten Kräften. Die Stange knallt metallisch auf das Stativ. Holte dreht sich um, schnappt sich das Handtuch und schnaubt verächtlich.
Grønningen nimmt ihn auf die Seite. »Mann, du hättest ihn fast umgebracht«, flüstert er.
Holte antwortet nicht, sondern starrt nur auf Heggelund, der keuchend Luft zu holen versucht. Tränen laufen über seine Wangen, und seine Augenlider wirken angeschwollen.
»Genug ist genug«, sagt Grønningen. »Hast du alles verlernt, was wir von Tore gelernt haben?«
Holte antwortet nicht, sondern tritt ein paar Schritte zurück.
Heggelund setzt sich langsam auf, während James Hetfields Stimme immer noch aus der Anlage dröhnt.
Grønningen dreht sich um, geht einen Schritt auf Heggelund zu, der seine Hände noch immer um seinen Hals gelegt hat. Grønningen wartet, bis er Augenkontakt hat, ehe er mit dem Kopf in Richtung Tür deutet.
Heggelund rappelt sich auf und taumelt zur Tür, von der ihm der Name des Studios in blutroten Buchstaben entgegenleuchtet: Kraft & Respekt.
Das grelle Licht lässt Henning blinzeln. Er reibt sich den Schlaf aus den Augen, es fühlt sich wie Sandpapier an, und er spürt die Schmerzen in seinem Rücken. Dann richtet er sich langsam auf. Die Cola auf dem Tisch ist warm geworden, er trinkt aber trotzdem einen Schluck, lässt sie im Mund schäumen und schmeckt den schwarzen Zucker auf der Zunge. Er sieht aus dem Fenster. Der Himmel lockt mit seinen zahllosen Schattierungen von Blau. Er lässt den warmen Sommerwind durch das Fenster in das Wohnzimmer strömen. Eine Schwalbe pfeift, bekommt aber keine Antwort. Über dem Haus auf der anderen Straßenseite rasiert ein gelber Baukran die Baumwipfel.
Henning stapft ins Schlafzimmer, nimmt zwei Tabletten aus der Dose, die auf dem Nachtschränkchen liegt, und schluckt sie ohne Wasser, bevor er weiter in die Küche geht und einen Blick auf den chaotischen Haufen von Zeitungen und Zetteln auf dem Küchentisch wirft. Als er sich an seinen Laptop setzt, stößt er mit dem Fuß gegen das Tischbein, sodass der kalte Kaffee fast aus der schmutzigen Tasse schwappt. Langsam klappt er den Bildschirm auf. Eine alte Version der Homepage von 123nyheter öffnet sich, die gleich darauf aktualisiert wird. Henning wirft einen Blick auf die Top-News, scrollt sich dann nach unten und registriert schnell, dass im Laufe der Nacht nichts Besonderes passiert ist. Hitzewelle über Europa. Russland geht davon aus, dass der Iran in Kürze über die Atombombe verfügt. Zwei Schwerverletzte bei einem Autounfall in der Hedmark. Eine Frau, die er schon einmal gesehen hat, wenn er auch nicht weiß, in welchem Zusammenhang, ist ihre Silikonbrüste leid.
Unwillig wirft Henning auch einen Blick auf die Webseiten der Konkurrenz, findet aber überall nur die gleichen Neuigkeiten. So beginnen seine Tage, und so war das auch schon vor Jonas’ Tod.
Dass das jetzt schon bald zwei Jahre her ist!, denkt Henning. Für die meisten sind zwei Jahre eine Ewigkeit, eine dichte Abfolge aus Augenblicken und Erinnerungen, doch für ihn sind diese zwei Jahre rein gar nichts. Eine ergebnislose Zeit, in der er nicht eine einzige Spur hat finden können. Wie viel leichter wäre es, wenn er sich nur an die Tage und Wochen vor dem Feuer erinnerte!
Von einem Papierstapel starrt ihn Mikael Vollan an, der Mann, der hundertdreiundfünfzig Millionen Spam-Mails über ein unter falschem Namen gegründetes Büro an Firmen und Privatpersonen verschickt hat. Vollan bewarb darin Pyramidenspiele und anderen falsche Träume, um den Menschen das Geld für etwas aus der Tasche zu ziehen, das es gar nicht gab. Henning war all die Spam-Mails so leid geworden, dass er sich entschlossen hatte, der Sache nachzugehen. Er wollte wissen, wer dahintersteckte und was er oder sie dadurch verdiente. Gemeinsam mit 6tiermes7, Hennings anonymer Quelle bei der Polizei, und seinem guten Freund, dem Hacker Atle Abelsen, war es ihm gelungen, Vollans Netzwerk zu entflechten. Als sie die wichtigsten Informationen beisammen hatten, überließ Henning die Ermittlungen der Lotterieaufsicht, dem Dezernat für Wirtschaftskriminalität und später sogar dem Kriminalamt Kripos. Als Gegenleistung erhielt er alle weiteren Informationen ein paar Stunden, bevor der lange Arm des Gesetzes zuschlug. Vollan wurde zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und musste darüber hinaus alle an ihn geleisteten Zahlungen erstatten.
Henning studiert die Ausdrucke noch einmal, bevor er sie zur Seite legt und seufzt. Vollan hat vor Gericht Reue gezeigt, ja irgendwie sogar erleichtert gewirkt, dass jemand seinem Wirken ein Ende bereitet hat. Ich war wie besessen, hat er selbst gesagt. Außerdem habe er gar nicht mehr die finanziellen Möglichkeiten gehabt, irgendjemanden auf Henning oder Jonas anzusetzen.
Missmutig fährt Henning sich mit den Händen über das Gesicht. Irgendwann wird etwas auftauchen, sagt er zu sich selbst. Es muss einfach so sein.
Tore Pulli pflegte sein Spiegelbild in der Regel mit einer gewissen Genugtuung zu betrachten. Seine ultrakurzen Haare und die glänzenden hellblauen Augen gefielen ihm. Die kräftige Nase und der dichte, wohlfrisierte Bart. Das spitze Kinn, das niemand traf, ohne das seine anschließend zerschmettert zu bekommen. Die Ketten an seinem Hals. Die eng sitzenden Klamotten. Er mochte die Wölbungen seiner Muskeln, das Anschwellen der Adern unter der tätowierten, sonnengebräunten Haut. Niemand sollte daran zweifeln, dass man sich mit Tore Pulli besser nicht anlegte.
All das sieht er jetzt nicht mehr. Seine Kleider sitzen längst nicht mehr so straff an seinem Körper. Und die allseits gefürchtete und verhasste komprimierte Energie und Explosivität, die ihn ausgemacht hat, ist inzwischen nur noch eine ferne Erinnerung.
Pulli dreht den Hahn auf und lässt das Wasser rinnen, bis es kalt ist. Dann beugt er sich vor und taucht sein Gesicht in die kalten, nassen Hände. Er reibt sich die Augen, fährt sich mit den Fingern über Wangen, Stirn, Schläfen und Schädel, ehe er sich mit einem weißen Handtuch abtrocknet. Bist du bereit?, fragt ihn das Gesicht im Spiegel. Willst du das wirklich tun?
Veronica erwidert seinen Blick von der Korkpinnwand aus. Wie immer sieht sie ihn mit ihrem jugendlichen, unglaublich schönen Lächeln direkt an. Und wie immer fragt er sich, wie sie das aushält.
Pulli setzt sich auf das schmale Kiefernbett, platziert die Ellbogen auf den Knien und legt die Hände unter das Kinn. Seine Augen wandern zu dem Eimer, der auf dem grauen Linoleumboden steht und vor Müll überquillt. Auf einem Brett vor ihm steht ein Aschenbecher, daneben liegen Feuerzeug und Fernbedienung. Seine besten Freunde. Und um ihn herum seine ärgsten Feinde.
Entschlossen steht er auf und tritt auf einen Flur, der beinahe so lang wie ein Handballfeld ist, nur enger. Rechts und links der dicken gelben Striche stehen Bänke und Tische. Er nickt der Person in dem Glaskäfig kurz zu, deutet auf das Telefon, erhält ein Nicken als Antwort und geht langsam auf den Tisch mit der roten Plastikdecke zu. Neben dem grauen Telefon stapeln sich Zettel und Formulare. Pulli sieht auf die Uhr an der Wand. Zwanzig Minuten, maximal.
Er nimmt den Hörer ab, legt aber gleich wieder auf. Hast du alles getan, was in deiner Macht steht?, fragt er sich. Kann dir sonst wirklich niemand helfen?
Nein, andere Möglichkeiten gibt es nicht.
Hennings Hemd klebt ihm am Rücken, als er an der Ecke vor dem Café Con Bar stehen bleibt. Auf der anderen Straßenseite liegt der Vaterlandspark wie ein Hohlraum, eine Kerbe zwischen dem Plaza Hotel und der stark pulsierenden Verkehrsader nach Oslo-Grønland. Neben ihm schiebt sich ein Menschenstrom über das holprige Pflaster. Die Autos dröhnen.
Henning zieht seine verschlissene Jeansjacke aus und hält nach einem freien Tisch Ausschau. Hätte Erling Ophus nicht darauf bestanden, in die Stadt zu kommen und sich in der Nähe seines ehemaligen Arbeitsplatzes mit ihm zu treffen, wäre Henning nicht im Leben auf die Idee gekommen, an einen derart belebten Ort zu gehen.
Henning hat Ophus schon zigmal interviewt, ihn aber noch nie persönlich getroffen. Wenn dieser Mann an einem Tatort auftauchte, hatten die Flammen sich in der Regel längst gelegt und die Journalisten sich zum Schreiben zurückgezogen. Es hat Henning überrascht, dass Ophus einem Gespräch zustimmte, noch dazu an einem Samstag, statt sich dem gemächlichen Leben in Leirsund zu widmen.
Es dauert nicht lange, bis er Ophus auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckt. Der pensionierte Feuer-Sachverständige wartet vorbildlich, bis die Ampel grün wird, bevor er die Straße überquert. Henning erhebt sich, geht Ophus ein paar Schritte entgegen, streckt den Arm aus. Der hoch aufgeschossene Mann in dem weißen kurzärmeligen Hemd und der dunkelblauen Hose schlägt lächelnd ein.
»Hallo«, sagt Henning. »Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Ach was, ich muss Ihnen danken. Meine Frau hatte einen Gartentag auf allen vieren in den Rabatten geplant. Sie haben mir da eine gute Entschuldigung für einen Ausflug in die Stadt geliefert. Außerdem kann ich so hinterher auch noch einen Plausch mit alten Kollegen halten, vorausgesetzt, sie arbeiten.« Ophus lächelt und lässt Hennings Hand los. Er deutet auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tischs, und sie setzen sich.
Ophus sieht kerngesund aus, sonnengebräunt und frisch rasiert. Die Falten auf seiner Stirn sind wellenförmig und tief, und er hat einen auffälligen Leberfleck auf der linken Wange, aber ohne diese markanten Merkmale wäre sein Gesicht ärmer.
Ein Kellner mit Strubbelfrisur und dicken Ringen unter den Augen kommt an ihren Tisch.
»Wollen Sie etwas trinken?«, fragt Henning.
»Ja, ich nehme gerne einen Kaffee.«
»Zwei Kaffee«, sagt Henning zu dem Kellner, der sich wortlos umdreht. Henning hält sein neues Handy hoch. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufnehme?«
»Nein, nein. Völlig in Ordnung.«
Henning drückt auf die rote Taste auf dem aktiven Display und sieht, dass die Aufnahme startet. Dann räuspert er sich und sagt: »Wie ich bereits am Telefon erwähnte, bin ich gerade an einer Sache dran …«
»Ja, das habe ich verstanden.«
Henning will gerade seine erste Frage stellen, als das Handy klingelt.
»Tut mir leid, ich muss …«
»Macht nichts«, antwortet Ophus und winkt ab.
Henning schaut auf das Display. Unbekannt. Sicher nichts Wichtiges, denkt er und drückt den Anruf weg.
»Neuer Versuch«, sagt er mit einem Lächeln. »Sie haben als Feuer-Sachverständiger langjährige Erfahrung als Brandermittler?«
»Das stimmt«, sagt Ophus stolz. »Ich schätze, ich habe in Norwegen die meisten Fälle bearbeitet. Als ich in Pension gegangen bin, haben gleich mehrere Versicherungsunternehmen versucht, mich zu krallen, aber mein Beschluss aufzuhören galt für alle Bereiche. Inzwischen bereue ich das fast ein bisschen.«
»Zu viel Unkrautjäten?«
Ophus grinst, nickt und nimmt die klirrende Porzellantasse von dem verschlafenen Kellner entgegen.
»Was sind die üblichsten Ursachen für Feuer in Privatwohnungen?«
»Die Leute passen einfach nicht genug auf«, antwortet Ophus und schlürft gierig. »Etwa jeder vierte Brand wird durch offene Flammen, Zigaretten oder Kerzen ausgelöst. Außerdem gehen die Leute viel zu achtlos mit Asche um, die denken gar nicht darüber nach, dass sie noch lange nachglüht, bloß weil keine Flammen mehr zu sehen sind. Und dann natürlich Spielereien mit Feuerzeugen und Feuerwerkskörpern, solche Dinge eben.« Ophus fuchtelt mit den Händen. »Viele Brände entstehen aber auch, weil jemand einen Topf auf der heißen Herdplatte stehen lässt oder eine Elektroheizung abdeckt. Heutzutage läuft doch fast alles über Strom, und nicht alle Produkte sind von hoher Qualität. Etwa zwanzig Prozent aller Brände werden durch technische Fehler in elektrischen Geräten verursacht.«
Henning beugt sich über den Tisch. »Wie sieht es mit Brandstiftung aus?«
»Pi mal Daumen werden zehn Prozent aller Brände von Dritten verursacht. In etwa die doppelte Anzahl wird niemals aufgeklärt. Zum Schluss gibt es noch einige wenige Brände, die durch Blitzeinschlag entstehen oder weil jemand selbst Feuer legt.«
Henning macht sich eine kurze Notiz. »Ist es schwierig, in Brandfällen zu ermitteln?«
»Sehr. Oft sind die Spuren vernichtet. Ich kenne keinen Ermittler, der jemals ausgelernt hat.«
»Und die Polizei muss alle Brandfälle untersuchen, das stimmt doch, oder?«
»So ist es.«
Hennings Handy klingelt schon wieder. Und wieder erscheint Unbekannt auf dem Display. Er antwortet auch diesmal nicht.
»Wie läuft das ab?«
»Hm?«
»Wie ermittelt die Polizei in einem Brandfall?«
»Haben Sie schon mal was von der S-Regel gehört?«
»Nein, was ist das?«
Ophus lächelt und nimmt Anlauf. »Suchen, Sammeln, Spuren sichern, Sichtbarmachen der Zusammenhänge, Schuld oder Unschuld und so weiter …«
Henning lacht. »Wie lange haben Sie gebraucht, bis Sie diesen Satz auswendig konnten?«
»Wochen. Nein. Monate!« Ophus lächelt wieder. Stille senkt sich über den Tisch, als Ophus neuerlich an seinem Kaffee nippt.
Henning wirft einen Blick auf seine Notizen. »Zehn Prozent aller Brände werden also von anderen gelegt.«
»Rund zehn Prozent, ja.«
Henning nickt stumm, die Narben in seinem Gesicht brennen wie Feuer. Mit einer langsamen Bewegung hebt er den Blick und sieht Ophus an. »Vor ein paar Jahren hat es in meiner Wohnung gebrannt«, sagt Henning und lässt den Blick wieder sinken. »Dabei habe ich meinen Sohn verloren.«
»Oh, wie furchtbar.«
»Von da stammen die hier.« Henning zeigt auf seine Narben. »Ich musste durch einen Flammenwand laufen, um zu meinem Sohn zu gelangen, aber …«
Er schafft es nicht, den Satz zu Ende zu bringen. Wird es wohl niemals schaffen.
»Ich glaube, dass es Brandstiftung war.«
»Warum glauben Sie das?«, fragt Ophus nach einem ungenierten Schlürfer.
Henning wird sich der Lückenhaftigkeit seiner Argumentation peinlich bewusst. »Das kann ich nicht genau sagen. Es ist so ein Gefühl, ein Bauchgefühl oder wie auch immer man das nennen soll. Und die Tatsache …« Henning stockt, überlegt, dass es wenig Sinn hat, einem Mann wie Ophus von seinen Albträumen zu erzählen. Er schüttelt den Kopf. »Ich glaube es einfach.«
Ophus nickt stumm und führt die Tasse zum Mund. »Wann ist das passiert?«
»Am 11. September 2007.«
»Das ist nach meiner Zeit.«
Henning sieht ihn niedergeschlagen an, bevor er den Blick wieder senkt.
»Was sagt denn die Polizei dazu? Die haben doch ermittelt, oder?« Ophus schaut mit zusammengekniffenen Augen über den Tassenrand.
»Doch, ja«, sagt Henning. »Brandursache unbekannt, haben sie festgestellt.«
»Und Sie glauben, dass es Brandstiftung war.«
Henning versucht, sich aufzurichten, sackt aber innerlich in sich zusammen und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Ja. Ich weiß auch nicht, wie …«
Ophus stellt die Tasse mit einem Klirren auf die Untertasse. »Was stand in dem Bericht?«
»Den habe ich nie zu sehen bekommen. Aber ich habe mitbekommen, dass das Feuer im Flur ausgebrochen sein soll.«
»Waren Sie zu Hause, als es angefangen hat zu brennen?«
»Ja.«
»Gab es Anzeichen für einen Einbruch?«
»Nicht, soweit ich weiß.«
»Hatten Sie abgeschlossen?«
»Das weiß ich nicht mehr. Alles, was an diesen Tagen und in den Wochen davor geschehen ist, ist aus meinem Gedächtnis gelöscht. Aber ich glaube schon. Ich habe immer abgeschlossen, auch tagsüber. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, ob ich das an diesem Abend auch getan habe.«
»Hatten Sie keine Rauchmelder?«
Der Fluss der Fragen und Antworten gerät ins Stocken. Die Pflastersteine starren ihn anklagend an.
»Ich hatte einen, aber die Batterie war leer, und ich …«
Henning bemüht sich, den Blick zu heben, während er schwer schluckt.
»Und die Polizei hat weder Fuß- noch Fingerabdrücke gefunden, keine Situationsspuren, DNA …«
Henning schüttelt den Kopf.
»Und dennoch glauben Sie, dass jemand bei Ihnen zu Hause dieses Feuer gelegt hat?«
»Ja.«
Ophus lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, als das Handy ein drittes Mal klingelt. Henning schaut irritiert auf das Display. Unbekannt.
»Tut mir leid, ich …«
»Gehen Sie ruhig ran. Ich hab Zeit.«
»Ist das in Ordnung? Sind Sie sicher, dass …«
»Ja. Kein Problem.«
»Danke, ich werde auch …«
Henning führt eine wedelnde Bewegung mit der Hand aus, ohne genau zu wissen, was er damit sagen will.
Ophus nickt verständnisvoll.
Henning nimmt ab.
»Henning Juul?«
»Ja.«
»Der Journalist Henning Juul?«
»Das bin ich, ja. Mit wem spreche ich?«
»Tore Pulli.«
Henning setzt sich aufrecht hin und sagt Hallo.
»Erinnern Sie sich an mich?«
»Ich weiß, wer Sie sind. Wieso?«
Pulli antwortet nicht.
Henning befeuchtet seine Lippen. »Warum rufen Sie mich an?«
»Ich hätte Ihnen einen Vorschlag zu machen«, sagt Pulli.
»Aha? Was für einen Vorschlag?«
»Das kann ich nicht am Telefon sagen.«
»Okay. Ich unterhalte mich gern mit Ihnen, aber im Moment passt es nicht so gut. Rufen Sie mich doch später noch einmal an. Gerne während der Arbeitszeit.«
»Ich kann ni…«
»Gut«, fällt Henning ihm ins Wort. »Danke schön.«
Er legt auf und lächelt Ophus an, der damit beschäftigt ist, den zunehmenden Verkehr zu beobachten.
Henning atmet schwer. »Entschuldigung«, sagt er und bekommt als Antwort ein verständnisvolles Lächeln.
»Zurück zu dem, worüber wir gerade gesprochen haben«, sagt Ophus und nimmt Henning ins Visier. »Ich will Ihnen gegenüber ehrlich sein. Wenn die Ermittlungen in den letzten zwei Jahren nichts ergeben haben, ist nicht mehr viel zu erwarten. Frische Spuren sind da nicht mehr zu finden. Ich gehe davon aus, dass die Wohnung danach abgerissen oder renoviert wurde?«
»Ja. Es wohnt jetzt jemand anderes dort.«
»Dann sind definitiv alle Spuren dahin. Und es gibt unzählige Möglichkeiten, in einer Wohnung Feuer zu legen, die nicht unbedingt entdeckt werden. Leider.«
Henning nickt wortlos.
Sie sitzen da und sehen sich an, bis Henning mit dem Blick ausweicht. Er muss diejenigen finden, die Feuer in seiner Wohnung gelegt haben, und sie zu einem Geständnis zwingen. Das ist das Einzige, was hilft. Sein Blick schweift über die Ampelkreuzung.
»Sie glauben also, dass jemand Ihnen schaden wollte? Sie umbringen wollte?«
»Ja.«
»Aus welchem Grund?«
»Das ist die große Frage. Ich weiß es nicht. Ich habe wirklich keine Ahnung.«
»Und das geschah vor zwei Jahren?«
»Ungefähr.«
Ophus sieht Henning lange an. »Glauben Sie denn nicht, die hätten es noch einmal probiert, nachdem der erste Versuch fehlgeschlagen ist?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ist danach noch einmal ein Mordversuch auf Sie verübt worden?«
»Nicht dass es mir aufgefallen wäre.«
Ophus antwortet nicht, aber Henning kann auch so sehen, was er denkt. Wünschst du dir nicht nur, jemand anderes hätte das Feuer gelegt, damit du jemand anderem die Schuld in die Schuhe schieben kannst?
Sie sitzen da und hören dem Rauschen des Verkehrs zu.
»Ich glaube, ich kann Ihnen wirklich nicht helfen«, sagt Ophus schließlich.
»Das habe ich befürchtet«, antwortet Henning tonlos.
»Sie haben gesagt, dass Sie den Ermittlungsbericht selbst nicht gesehen haben. Möglicherweise steht da ja doch etwas Brauchbares drin? Ich könnte ihn für Sie besorgen, wenn Sie wollen.«
»Ich weiß nicht, ob das tatsächlich was bringt … Aber warum nicht?«
»Die sind mir im Präsidium noch den einen oder anderen Gefallen schuldig. Mal sehen, was ich machen kann.«
»Tausend Dank, damit täten Sie mir einen riesigen Gefallen.«
Ophus setzt sich etwas gerader hin, aber Henning spürt immer noch seinen Blick auf sich. Er ist nicht in der Lage, ihn zu erwidern. Darum sagt er, ohne aufzusehen: »Ich möchte Ihre Zeit nicht mehr als nötig beanspruchen. Danke, dass Sie bereit waren, sich mit mir zu treffen.«
»Es war mir ein Vergnügen. Melden Sie sich jederzeit bei mir, wenn Sie noch irgendetwas wissen wollen.«
Henning lächelt schwach und nickt. Sie reichen sich noch einmal die Hand, ehe Ophus aufsteht, auf die Ampelkreuzung zustrebt und dabei an einem Mann vorbeigeht, der an der kalkweißen Mauer lehnt und an einem kurzen Zigarettenstummel saugt. Die Glut ist fast verlöscht.
Ørjan Mjønes lehnt den Kopf gegen das United-Airlines-Fenster und schaut auf Oslo hinunter. Grüne Bäume verhüllen das Ekebergrestaurant am östlichen Hang oberhalb der Stadt. Näher am Zentrum tummeln sich die Leute auf den Rasenflächen der Fjordstadt. Das Dach der Oper strahlt wie eine glitzernde Eisscholle in der Sonne. Ein paar hundert Meter unter dem Flugzeugrumpf ragen die backsteinroten Rathaustürme wie zwei blutverschmierte Zähne auf.
Der Flieger gleitet still durch die Luft, als der Kapitän verkündet, dass es bis zum Landeanflug nur noch wenige Minuten sind. Mjønes schließt die Augen. Die Reise ist lang gewesen. Bogota hin und zurück. Auf beiden Strecken mit Zwischenlandung in Newark, wobei er an Bord kein Auge zugemacht hat. Mehr als ein halbstündiger Erschöpfungsschlaf auf einer Bank, während er auf den Anschlussflug nach Oslo wartete, war ihm nicht vergönnt. Fast fünfunddreißig Stunden in der Luft. Anstrengend. Aber es war die Anstrengung wert.
Angefangen hat das Ganze, als er vor fünf Tagen seinen fiktiven Usernamen im Titelfeld von finn.no las. Später hat er die Nummer aus der Anzeige angerufen und eine Stimme gehört, die er beinahe zwei Jahre nicht mehr gehört hatte. Ausgehend davon, wie aggressiv die Stimme bei ihrem letzten Gespräch geklungen hatte, hat Mjønes nicht damit gerechnet, jemals wieder etwas mit Goofy zu tun zu bekommen. Sie verabredeten sich auf dem unteren Deck des Parkhauses Oslo City. Mjønes ging so lange Richtung Westen, bis eine schneidende Stimme von der Rückseite einer Säule ihn aufforderte anzuhalten. Ein langer Schatten fiel über den Betonboden.
Mjønes blieb stehen und sah sich um. Weiter weg quietschten ein paar Reifen, aber es war kein Mensch zu sehen.
»Lange nicht gesehen«, sagte er, aber Goofy antwortete nicht. Stattdessen wurde ein C4-Umschlag über den Boden zu ihm geschoben. Zögernd bückte er sich und hob ihn auf. Er zog ein Foto heraus. Der Mann auf dem Bild hatte ein großes rotes Kreuz über dem Gesicht. Mjønes blieb stehen und starrte lange ungläubig auf das Bild.
»Du verarschst mich.«
»Nein.«
Mjønes sah das Bild noch einmal an, zog dann das Blatt heraus und überflog den Text. Er schüttelte den Kopf und sagte etwas, das ihm sonst selten über die Lippen kam: »Unmöglich.«
»Nichts ist unmöglich. Und hättest du beim letzten Mal deine Aufgabe ordentlich erledigt, bestände kein Bedarf an diesem Job.«
Mjønes wollte protestieren, wusste aber, dass Goofy recht hatte. Was beim letzten Mal geschehen war, quälte ihn. Schnitzer waren scheiße. Trotzdem sagte er: »Das ist zu riskant.«
Die Fortsetzung des Gesprächs verwunderte ihn.
»In meinem Büro liegt ein Umschlag, identisch mit dem, den du gerade in der Hand hältst. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass darin ein Foto von dir liegt.«
»Von mir?«
»Ja, von dir. Wenn du den Job nicht übernimmst, bist du der Nächste.«
Mjønes wollte um die Säule herumgehen, um Goofy zu konfrontieren, aber das Auftauchen eines Arms und einer Pistolenmündung hielt ihn davon ab.
»Wenn ich in fünfzehn Minuten nicht zurück im Büro bin, geht der Umschlag an den Nächsten auf der Liste. Aber ich will dich. Ich denke, das ist eine passende Gelegenheit, deinen Fehler vom letzten Mal wiedergutzumachen. Ganz davon abgesehen wirst du gut bezahlt.«
Mjønes versuchte, den ersten Schock abzuschütteln.
»Wie gut?«
»Zwei Millionen Kronen. Fünfundzwanzig Prozent cash, hier und jetzt. Den Rest bekommst du, wenn alles erledigt ist und sämtliche Spuren beseitigt sind.«
Mjønes schwieg, er dachte über die Herausforderung nach und fragte sich, welche Möglichkeiten er hatte. Er kratzte sich am Hinterkopf und massierte die Nasenflügel zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann sagte er: »Ich mach es für drei.«
Einige Sekunden Stille. Dann sagte Goofy: »Gut.«
Ein intensiver Rausch durchströmte Mjønes Körper, aber er konnte ihn kaum genießen, denn im nächsten Augenblick wurde ihm ein Koffer zugeschoben.
»Es muss schnell und still vonstattengehen. Keine Spuren. Keine Fragen. Und kein Schnitzer dieses Mal.«
Mjønes nickte. Im Idealfall hatte er reichlich Zeit, sich vorzubereiten, andererseits war er aber auch für seine schnellen Lösungen bekannt. Und in seinem Kopf hatte er bereits eine Variante parat. Er kam nicht mehr dazu, Goofy weitere Fragen zu stellen, denn im nächsten Augenblick schlug ganz in der Nähe eine Tür zu. Als Mjønes die Säule umrundete, war Goofy weg.
Mjønes blieb einige Minuten stehen und dachte über den Auftrag nach, den auszuführen er gezwungen worden war. Möglicherweise bluffte Goofy nur, aber Mjønes hatte sich bereits entschieden, bevor die Drohung und das Geld ins Spiel gekommen waren. Dies war seine Chance, seine Schuld zu begleichen. Darüber hinaus noch großzügig bezahlt zu werden, war ein nicht zu verachtender Bonus. Es war geraume Zeit her, dass er einen Auftrag von dieser Größenordnung bekommen hatte. Er spürte bereits das Zittern. Alle Sinne schärften sich. Er fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr.
Die fünf Tage sind schnell vergangen, denkt Mjønes und bereitet sich innerlich auf die Landung vor. Und es ist viel geschehen. Gleichzeitig so wenig. Vielleicht konnte er deswegen nicht schlafen. Vielleicht findet sein Körper erst Ruhe, wenn alles vorbei ist. Zu Hause wird er auch nicht viel Zeit zum Ausruhen haben, denn schon in wenigen Stunden soll die Operation losgehen, und dann muss alles an seinem Platz sein.
Das Flugzeug landet, und eine halbe Stunde später sitzt Mjønes im Zug nach Oslo. Er denkt an die Schatulle in seinem Koffer und an den dreisten, teuflischen Plan, den er geschmiedet hat.
Ein genialer Plan, wenn alles funktioniert.
Henning starrt aus dem Fenster, während die Stille zwischen den Wänden hin und her wabert. Über die weiße Fassade auf der gegenüberliegenden Straßenseite ziehen sich braune senkrechte Schmutzstreifen. Sein Blick wandert weiter über Fensterrahmen und kunstvolle Dekorationen. Nicht nach unten schauen. Niemals nach unten schauen.
Hinter einem gardinenlosen Fenster geht eine Frau im Zimmer auf und ab. Sie telefoniert und gestikuliert dabei aufgeregt mit dem Arm. Henning muss an sein Gespräch mit Erling Ophus denken. Natürlich hat Ophus recht. Er bewegt sich auf dünnem Eis, wenn er glaubt, jemand habe das Feuer gelegt. Was ihm fehlt, sind handfeste Beweise. Aber woher soll er die nehmen?
Vielleicht stimmt es ja, dass er nur nach einer anderen Erklärung sucht, um sich der Wahrheit nicht stellen zu müssen. Und unabhängig davon, ob jemand das Feuer gelegt hat oder nicht, ändert dies nichts an der Tatsache, dass er Jonas hätte retten können, wenn seine Augen nicht vom Feuer verklebt gewesen wären und er nicht auf dem verfluchten glatten Geländer ausgerutscht wäre. Wenn er nicht so verdammt …
Das Vibrieren des Handys auf dem Küchentisch reißt ihn aus seinen Gedanken. Ihm ist überhaupt nicht danach, mit jemandem zu reden, aber die neun Buchstaben auf dem Display machen ihn neugierig. Er nimmt das Handy ans Ohr und antwortet.
»Passt es jetzt besser?«
Tore Pullis Stimme ist tiefer, als Henning sie in dem Verkehrslärm in Grønland wahrgenommen hat.
»Ähm, ja, aber …«
»11. September 2007.«
Henning stockt.
»Was haben Sie gesagt?«
»Ich weiß, was an dem Tag passiert ist.«
Hitze überfliegt Hennings Gesicht. Etwas Scharfes rumort in seinem Magen, und sein Hals schnürt sich zu. Er versucht zu schlucken.
»Sie haben Ihren Sohn verloren«, fährt Pulli fort.
»J… ja«, antwortet Henning mit trockener Stimme. »Das habe ich. Was wissen Sie darüber?«
»Hören Sie mir jetzt zu? Haben Sie jetzt Zeit für mich?«
»Ja, ich habe Zeit für Sie«, sagt er, nachdem er sich vom ersten Schock erholt hat. »Was wollen Sie? Warum reden Sie über meinen Sohn?«
»Ich habe etwas für Sie.«
»Das sagten Sie bereits. Was hat das mit meinem Sohn zu tun?«
Henning hat sich auf die Zehenspitzen gestellt, ohne es zu merken.
»Nichts. Nicht direkt.«
»Wie meinen Sie das? Und lassen Sie dieses nebulöse Gequatsche, Pulli, ich verliere allmählich die Ge…«
»Sie wissen, wer ich bin?«
»Ja, das habe ich doch bereits gesagt. Warum?«
»Dann verstehen Sie vielleicht, weshalb ich anrufe?«
Henning denkt nach. Er kann sich nicht erinnern, irgendetwas über Tore Pulli gelesen zu haben, seit er im Frühsommer wieder angefangen hat zu arbeiten. Vor Jonas’ Tod war der ehemalige Geldeintreiber ständig in den Zeitungen, häufig mit einem breiten Grinsen, gerne in Begleitung seiner Glamourmodel-Gattin.
»Nein«, sagt Henning.
Pulli lacht.
»Was ist so komisch?«
»Sorry, ich habe nur …« Er lässt die Fortsetzung unausgesprochen in der Luft hängen.
»Sie haben nur was?«
»Dann wissen Sie gar nicht, dass ich sitze?«
»Nein.«
»Okay, wahrscheinlich hatten Sie in den letzten Jahren anderes im Kopf. Ich rufe Sie an, weil Sie ein fähiger Journalist und ein guter Spürhund sind.«
»Wissen Sie etwas über den Brand in meiner Wohnung?«
Es wird still, lange. Dann antwortet Pulli: »Ja.«
Henning bleibt wie angewurzelt stehen. Pullis dunkle Stimme bohrt sich in sein Bewusstsein. Der Ernst und die Tiefe seiner Stimme. Er macht keine Witze.
»Sind Sie noch da, Juul?«
»Was wissen Sie über den Brand?«, fragt Henning und versucht gar nicht erst, die Aggression zu verbergen, die unter der Oberfläche lauert. »Haben Sie das Feuer gelegt?«
»Nein.«
»Wer war es dann?«
»Bevor ich darauf näher eingehe, müssen Sie etwas für mich tun.«
»Was?«
»Sie wissen offensichtlich nicht, warum ich sitze. Wenn Sie das rausgefunden haben, sprechen wir uns wieder.«
Henning marschiert aufgewühlt durch die Wohnung. »Sie können doch nicht anrufen und erwarten, dass ich …«
»Ich darf nicht mehr als zwanzig Minuten pro Woche telefonieren, Juul. Ich will auch noch was für Veronica übrig haben.«
»Was wissen Sie über den Brand?«, ruft Henning und bleibt vor seinem Klavier stehen. »Was wollen Sie von mir? Warum rufen Sie mich an?«
Es wird still. Henning hält die Luft an.
»Weil Sie für mich herausfinden sollen, wer mir diese Scheißfalle gestellt hat«, sagt Tore Pulli langsam. »Sie sollen herausfinden, wer hier eigentlich sitzen sollte. An meiner Stelle. Gelingt Ihnen das, sage ich Ihnen alles über den Brand in Ihrer Wohnung. Alles, was ich weiß.«
Henning legt das Telefon weg, fährt sich mit klammen Händen durchs Haar und läuft mit schnellen Schritten in seinem Wohnzimmer auf und ab. Wie zum Henker konnte ein Mann wie Tore Pulli etwas über den Brand bei ihm wissen? Was wusste er? Und warum hat er nicht schon längst etwas darüber gesagt?
Säße Pulli nicht im Gefängnis, würde Henning sofort zurückrufen, ihn bedrängen und nicht eher aufgeben, bis er ihm ein paar Antworten abgerungen hätte. Aber man kann nicht einfach zum Osloer Stadtgefängnis fahren und an die Tür klopfen. Erst muss Pulli ihn auf die Besuchsliste setzen, dann muss Henning einen Besuchsantrag stellen, und schließlich muss die Gefängnisverwaltung seine Personennummer noch mit dem Strafregister abgleichen. Obwohl er Journalist ist, kann es Tage, ja Wochen dauern, bis er eine Besuchserlaubnis erhält.
Gleichzeitig wird ihm bewusst, dass er auf eine Frage damit bereits eine Antwort erhalten hat, vielleicht sogar auf die wichtigste all seiner Fragen. Es gibt jemanden, der etwas weiß. Vielleicht hat wirklich jemand diesen Brand gelegt!
Aufgeregt setzt Henning sich an seinen Computer und googelt Pullis Namen. Er erinnert sich nicht daran, wann sein Herz zuletzt derart gehämmert hat. Schon eine Sekunde später hat die Suchmaschine Tausende von mehr oder minder relevanten Antworten gefunden. Henning sieht ein Bild von Pullis Festnahme, ein Foto vor dem Gericht und eines während des Verfahrens, als er sich mit Menschen unterhält, die der Kamera den Rücken zugewandt haben.
Pulli ist eine imposante Erscheinung. Stiernacken, breite Schultern, ein gewaltiger Brustkorb und Oberarme, so dick wie normale Oberschenkel. Der Körper passt zu seiner Stimme. Tief, kräftig, beängstigend. Auf einigen der älteren Fotos hat er auch noch Piercings über den Augen. Wie die Ringe in seinen Ohren verstärken diese sein Schlägerimage, einen Look, den er ablegte, als er in der Immobilienbranche begann.
Henning klickt einen Artikel bei Dagbladet.no an.
PULLI LACHTE, ALS ER DAS URTEIL HÖRTE:
VIERZEHN JAHRE
Tore Pulli wurde am Freitag zu vierzehn Jahren Haft wegen des Mordes an Joachim »Jocke« Brolenius verurteilt.
Joachim Brolenius, sagt Henning zu sich selbst und versucht, den Namen einzuordnen. Nie gehört, denkt er schließlich und liest weiter.
Der profilierte Immobilienspekulant Tore Pulli lächelte und schüttelte den Kopf, als er am Freitagvormittag vom Tinggericht in Oslo zu vierzehn Jahren Haft wegen des Mordes an Jocke Brolenius verurteilt wurde. Sein Verteidiger Frode Olsvik sagte zu Dagbladet.no, dass sein Klient das Urteil mit Fassung aufnehme, aber weiterhin seine Unschuld beteuere.
»Mein Klient hat sich bereits entschlossen, Berufung einzulegen«, so Olsvik, womit dieser Fall wohl noch einmal vor Gericht landen wird. Wann das Verfahren aber wieder aufgenommen wird, ist vorläufig noch unklar.
Jocke Brolenius wurde am 26. Oktober 2007 tot in einem stillgelegten Fabrikgebäude am Sandakerveien aufgefunden. Der schwedische Geldeintreiber war übel zugerichtet worden; allem Anschein nach wurde er zuerst mit einem Schlagring verprügelt und dann mit einer Axt ermordet. Pullis Fingerabdrücke wurden auf dem Schlagring gefunden, und als er festgenommen wurde, klebte an seiner Kleidung Jockes Blut.
Das Gericht hat sich nicht mit der Tatsache beschäftigt, dass die Tatwaffe nie gefunden wurde. Ebenso wenig ging es auf Pullis Behauptung ein, dass Jockes Blut bei dem Versuch, ihm zu helfen, an seine Kleidung gelangt sei. Pulli stritt das ganze Verfahren über ab, auch nur das Geringste mit diesem Mord zu tun zu haben, hingegen räumte er ein, sich mit Brolenius verabredet zu haben.
Das Gericht legte unter anderem großes Gewicht auf Pullis kriminelle Vergangenheit, insbesondere auf die Tatsache, dass Brolenius’ Kiefer gebrochen war – eine Verletzung, für die Pulli in seiner Zeit als Geldeintreiber bekannt gewesen war. Im Ullevål-Krankenhaus wird diese Art von Verletzung als »Pulli-Bruch« bezeichnet, und das Rechtsmedizinische Institut (RMI) bestätigte, dass es sich bei dem Kieferbruch um exakt eine solche Verletzung gehandelt habe.
Neben der vierzehnjährigen Haftstrafe wurde Pulli zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 256 821 Kronen an die Eltern des Toten verurteilt.
Henning liest den Artikel noch einmal. Wer war Joachim Brolenius? In welcher Beziehung stand er zu Tore Pulli, und warum wollten sie sich treffen?
Brolenius wurde am 26. Oktober ermordet, anderthalb Monate, bloß anderthalb Monate nach Jonas’ Tod. Zu der Zeit hat Henning noch im Haukeland-Krankenhaus gelegen, er kann sich aber nicht daran erinnern, ob er in dieser Zeit überhaupt etwas anderes getan hat, als die Wand anzustarren. Zeitungen hat er jedenfalls nicht an sich herangelassen. Und Menschen auch nicht, wenn sich dies vermeiden ließ.
Henning scrollt nach oben zur Linkliste und klickt den obersten an.
PULLI UNTER MORDVERDACHT
Prominenter Tore Pulli festgenommen! Verdacht auf Mord an einem schwedischen Kriminellen!
Henning liest weiter.
Am Freitagabend gegen 23.30 Uhr ging in der Kriminalwache des Polizeidistrikts Oslo die Nachricht ein, dass ein Toter gefunden worden sei. Die Polizei rückte zu einer stillgelegten Fabrik vor, in der sie den Leichnam des schwedischen Kriminellen Joachim »Jocke« Brolenius fanden. Der Prominente Tore Pulli, der selbst eine Vergangenheit im Geldeintreiber-Milieu hat und für seine harten Fäuste bekannt ist, hatte den Leichenfund gemeldet, wurde dann aber selbst als Tatverdächtiger festgenommen.
Das Motiv für den Mord ist noch unbekannt. Die Polizei hält sich bislang auch noch mit weiteren Informationen zurück, TV2 hat jedoch erfahren, dass am Tatort eindeutige Spuren gefunden worden sein sollen. Der Experte des Senders, Johnny Brenna, der früher als Fahnder für die Polizei gearbeitet hat, meinte, es handele sich mit größter Wahrscheinlichkeit um einen Racheakt. Auf die Frage, auf welchen Hintergründen die Tat basiere, wollte er jedoch keine Spekulationen abgeben.
Henning findet auch einen Wikipedia-Artikel über Pulli.
Tore Jørn Pulli (geb. 19. Juni 1967 in Tønsberg) ist ein bekannter norwegischer Exschläger mit einer Vergangenheit im Motorradbandenmilieu, der 2008 für den Mord an dem schwedischen Kriminellen Joachim Brolenius verurteilt wurde. Pulli trat durch seine Beziehung zu dem norwegischen Glamourmodel Veronica Nansen ins Rampenlicht der norwegischen Presse. Sie heirateten 2006 und bekamen eine Tochter. Pulli gab sein Schauspieldebüt in einer Folge von Nytt på nytt.
In einem seiner seltenen Interviews in der Zeitschrift Dagens Næringsliv erzählte er im Frühjahr 2007, dass er im Laufe seiner Tätigkeit als Geldeintreiber für seine Kunden 75 Millionen Kronen gesichert habe, und das »nur mit ein paar gebrochenen Kiefern«. Er selbst hat sich nie als kriminell betrachtet, sondern seine Rolle eher wie die eines Vermittlers gesehen. Ehe er wegen Mordes verurteilt wurde, war er in der Immobilienbranche tätig und machte mit An- und Verkäufen besonders im Østlandet hohe Gewinne.
Henning hebt seinen Blick. »Nur mit ein paar gebrochenen Kiefern«, wiederholt er für sich selbst. Würde ein Geldeintreiber, der bekannt dafür ist, seine Probleme mit den Fäusten zu regeln, jemanden mit einer Axt umbringen?
Henning sucht nach weiteren Artikeln über Tore Pulli, findet eine Meldung mit dem Titel »Pulli setzt Millionenbelohnung aus« und beginnt zu lesen.
Der des Mordes Verurteilte Tore Pulli hat eine Belohnung in Höhe von einer Million Kronen ausgesetzt für Hinweise, die zu seiner Freilassung führen.
»Wow«, sagt Henning laut. Er klickt noch weitere Artikel über das gleiche Thema an, stößt aber nirgends auf die zu erwarten gewesene Flut von Hinweisen. Was hat das zu bedeuten?, fragt er sich. Weiß denn wirklich niemand etwas?
Sie sollen herausfinden, wer hier eigentlich sitzen sollte. An meiner Stelle.
Tja, das wird nicht einfach werden, wenn nicht einmal eine Million Kronen irgendwelche Informationen ans Tageslicht locken konnte. Und die Anklage scheint wirklich gute Karten gehabt zu haben. Es war allgemein bekannt, dass Pulli Joachim Brolenius zu einem Gespräch an einem Ort eingeladen hatte, an dem sie in Ruhe zu zweit reden konnten. Pullis Fingerabdrücke waren auf dem Schlagring, an seinen Knien klebte Blut, und auch die Art, wie auf Brolenius eingeschlagen worden war, sprach für Pulli als Täter. Vier Argumente, die nur schwer zu entkräften waren.
Was also ist da geschehen?
Henning greift zum Telefon und wählt die Nummer von Bjarne Brogeland. Der Polizist nimmt das Gespräch beinahe sofort entgegen.
»Hallo, Bjarne, hier ist Henning Juul.«
»He, hallo!«, antwortet Brogeland mit einer Stimme, die eine durchzechte Nacht vermuten lässt.
»Hast du gerade viel zu tun?«
»Ganz normal, wie immer am Samstag. Wir sind auf dem Weg in die Paradiesbucht. Warst du da schon mal?«
»Äh, nein.«
»Ein Superstrand und tolles Wasser. Und du, was läuft bei dir so?«
Henning legt Daumen und Zeigefinger an die Mundwinkel und lässt sie dann langsam nach unten zum Kinn gleiten. Seit dem Fall Henriette Hagerup, dem Mädchen, das im Frühling oben am Ekeberg in einem Zelt zu Tode gesteinigt wurde, hat er nicht mehr mit Brogeland gesprochen. In Anbetracht der Tatsache, wie dieser Fall damals abgelaufen ist, sollte er im Präsidium noch den einen oder anderen Gefallen guthaben.
»Ich arbeite an einem alten Fall.«
»Ja, kann ich mir denken, das machst du ja immer. Aber Mann, he, es ist Samstag! Hast du denn nie frei?«
»Für mich fühlt sich das nicht wie ein Samstag an«, sagt Henning, unsicher, wann er zuletzt den Unterschied zwischen dem einen oder anderen Wochentag gespürt hat.
»Draußen scheint die Sonne, Henning. Geh ein bisschen raus! Kauf dir ein Eis.«
»Hm, sag mal, hattest du damals vielleicht etwas mit dem Tore-Pulli-Fall zu tun?«
Fröhliches Kindergeschrei drängt sich aus dem Hintergrund bis in den Hörer. Henning versucht, die Geräusche auszublenden.
»Nein, ich war damals noch im Dezernat für Organisierte Kriminalität. Wieso?«
Henning wartet einen Augenblick, er ist sich nicht sicher, was er fragen darf und kann.
»Ach, ich bin bloß neugierig.«
»Du bist nie bloß neugierig«, erwidert Brogeland. »Wo schnüffelst du denn jetzt wieder rum? Hat das was mit seiner Berufung zu tun?«
»Was für eine Berufung?«, fragt Henning und runzelt die Stirn.
»Wenn ich mich nicht irre, soll der Fall in ein paar Wochen noch einmal verhandelt werden.«
»Wirklich? Nein, damit hat es nichts zu tun. Glaube ich.« Henning hält für einen Moment die Luft an.
»Der Kerl ist so schuldig, wie man nur schuldig sein kann«, sagt Brogeland.
»Wieso?«
»Weißt du, wer Jocke Brolenius war?«
»Nur ansatzweise.«
»Du weißt aber doch wohl, dass er Vidar Fjell auf dem Gewissen hat?«
Vidar Fjell, denkt Henning und lässt den Namen in seinem Kopf kreisen. Irgendwie kommt ihm dieser Name bekannt vor.
»Nein?«
»Ich dachte, du hättest ein fotografisches Gedächtnis?«, zieht Brogeland ihn auf.
»Meine Kamera ist kaputt.«
Brogeland lacht. »Ein freches Mundwerk hat du auf jeden Fall. Aber wie auch immer: Vidar Fjell war der Geschäftsführer des Studios Kraft & Respekt in Vålerenga. Er wurde ein paar Monate vor Brolenius umgebracht. Wenn das nicht noch länger her war. Pulli hat da trainiert, er war ein guter Freund von Vidar Fjell.«
Henning spürt, dass seine Wangen glühend heiß werden. »Warum wurde Fjell getötet?«
»Daran erinnere ich mich nicht.«
»Dann war der Schwede so etwas wie ein Auftragsmörder? Verstehe ich das richtig?«
»Genau. Die Schwedenliga war damals ziemlich dominant in Oslo, aber das weißt du ja sicher. Alisha, geh da nicht rauf! Das ist lebensgefährlich, wenn du da runterfällst!«
Brogelands Stimme verschwindet für einen Moment. Henning erinnert sich jetzt an den Fall. Fjell wurde kurz vor Jonas’ Tod ermordet. Henning hat anfänglich an dem Fall gearbeitet, er weiß aber nicht mehr, wann er damit aufgehört hat.
»Aber wenn das Rache für Fjell war, wer hat dann Brolenius gerächt?«
»Tja, es heißt, jemand hätte Fjells Grabstein umgestoßen, aber mehr war da nicht. Es hatte wohl keinen Sinn, Rache zu üben, nachdem Pulli verhaftet worden war. Warum arbeitest du jetzt an dem Fall?«
»Ich weiß noch nicht, ob ich daran arbeite.«
»Hallo? Du rufst mich an einem Samstag an.«
»Ja, ich … tut mir leid.«
»Übrigens, Tore Pulli hatte eine Wahnsinnsfrau, das weiß ich noch … verdammt, Mann.«
»Hm?«
»Warum ist es eigentlich immer so, dass die größten Arschlöcher die besten Frauen abkriegen?«
Henning antwortet nicht.
»Wie dem auch sei: Du solltest mit Pia Nøkleby reden«, fährt Brogeland fort. »Sie hat den Fall unter sich und kennt sich wirklich aus.«
»Gute Idee.«
»Warte aber bis Montag«, beeilt Brogeland sich hinzuzufügen. Henning brummt nur als Antwort und legt auf.
Das wird nicht leicht, denkt er. Mord und Rachemord in einem Milieu, in das man kaum vordringen kann und ganz sicher nicht als Journalist. Aber wenn Pulli unschuldig ist, musste es jemandem gelungen sein, einen Mann wie Jocke Brolenius auf eine Weise zu töten, die zweifelsohne auf Tore Pulli verwies, was in sich beinahe schon so etwas wie ein Ding der Unmöglichkeit war. Jemand muss verdammt gerissen und extrem skrupellos vorgegangen sein. Diesem Menschen gefällt es ganz sicher nicht, wenn ich jetzt versuche, den Staub wieder aufzuwirbeln.
Der Fall ist nicht bloß schwierig, denkt er, sondern auch verflucht gefährlich.
Die Fernlichter eines schnell fahrenden Autos schneiden sich durch die Bäume und legen einen weißen Schleier über den beginnenden Herbst. Ørjan Mjønes hat die Finger fest ums Lenkrad gelegt, wirft einen Blick in den Spiegel und vergewissert sich, dass er nicht verfolgt wird. So schnell, wie ich fahre, würde dazu auch schon einiges gehören, denkt er.
Sein Bordcomputer zeigt 02.15 Uhr, und schon vor einer ganzen Weile hat er die nächstliegende Hauptstraße verlassen. Ein heftiges, lautes Dröhnen unter den Rädern verrät ihm, dass er gerade über einen Weiderost gefahren ist, bevor das Profil wieder die kleinen Schottersteinchen an den Straßenrand fegt.
Mjønes weiß, dass die anderen bereits da sind. Es ist eine Weile her, dass sie zuletzt zusammengearbeitet haben, aber er ist sich sicher, dass sie genau wie er bereit sind, zur Tat zu schreiten. Als sich sein Plan zum ersten Mal richtig herauskristallisiert hatte, gab es für ihn keinen Zweifel mehr, wen er brauchte: Flurim Ahmetaj, ein Computergenie, das sich mit Überwachungstechnik auskennt und Zugriff auf das nötige Material hat. Durim Redzepi, der sich wie kein anderer Zutritt zu allen nur erdenklichen Gebäuden verschaffen kann, und Jeton Pocoli, einen Meister der menschlichen Bewegungen. Außerdem hat er mit seinem Schlafzimmerblick und dem etwas verwegenen Aussehen immer einen Schlag bei den norwegischen Frauen. Die ersten Berichte, die er abgeliefert hat, deuten an, dass gerade diese Eigenschaft noch von Bedeutung sein könnte.
Für sie war es noch nie genug, sich an einen gedeckten Tisch zu setzen und einen vorgegebenen Plan einfach auszuführen und bezahlt zu bekommen. Speziell Mjønes hat ein solches Vorgehen noch nie gemocht. Er lebt für das Handwerk und liebt die Vorarbeit, das Zusammentragen all der kleinen notwendigen Informationen, die wie bei einem Puzzle zu einem großen Ganzen zusammengesetzt werden müssen, und er vergisst auch nie, das Unvorhersehbare einzuplanen. In diesen Momenten fühlt er sich lebendig. Und wenn alles nach Plan läuft, nach seinem Plan, erfüllt ihn das durch und durch mit einem Gefühl des Glücks. Das Beste aber ist, über sich selbst in der Zeitung zu lesen und gleichzeitig zu wissen, dass die Polizei nie in der Lage sein wird, ihn zu fassen.
Mjønes bremst den Wagen ab und biegt in einen schmalen Weg ein, an dem einige Hundert Meter später eine rote Hütte auftaucht. Er hält neben zwei Motorrädern und einem dunkelblauen BMW-Kombi an. Mjønes schüttelt lächelnd den Kopf und mustert den teuren Wagen lange, ehe er auf dem provisorischen Parkplatz aus seinem Auto steigt. Er blickt zur Hütte, in der noch Licht brennt. Satzfetzen dringen durch die Stille der Nacht zu ihm.
Mjønes nimmt den Käfig und den Rucksack aus dem Kofferraum, geht zur Hütte und tritt, ohne anzuklopfen, ein. Der Arm eines kleinwüchsigen, dünnen Mannes zuckt zu der auf dem Tisch liegenden Pistole. Sofort ist der Hahn gespannt und die Waffe auf Mjønes gerichtet.
Das zweite Mal innerhalb nur einer Woche, das scheint langsam zur Gewohnheit zu werden, denkt er.
»Immer mit der Ruhe, Durim, ich bin’s.«
Durim Redzepi sieht Mjønes ein paar Sekunden lang an, ehe er die Pistole senkt. Mjønes tritt an den ovalen Tisch, auf dem Karten und Jetons liegen. Zigarettenrauch hängt wie blaue Spinnweben in der Luft.
»Wer gewinnt?«, fragt er und stellt den Käfig ab, in dem sich eine Katze mit rostrotem Fell zusammengerollt hat und vor sich hindöst. Dann nimmt er den Rucksack ab.