Vergissmeinnicht - Was die Welt zusammenhält - Kerstin Gier - E-Book

Vergissmeinnicht - Was die Welt zusammenhält E-Book

Kerstin Gier

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Beschreibung

Im großen Finale der Vergissmeinnicht-Trilogie werden alle Geheimnisse aufgedeckt.  Wenn Quinn nach seinen Abenteuern im Saum eines weiß, dann das: Matilda ist seine große Liebe, ganz egal, wie anstrengend ihre Familie ist. Eigentlich sollten sich die beiden gerade nur auf den großen Schulball freuen. Wenn da nicht dieses rätselhafte Sternentor-Ritual wäre, durch das Quinn als angeblicher Auserwählter die Welt retten soll. Und flüchtige Schwarzalben, die versteckt werden wollen, sowie ein ominöses Orakel, das im entscheidenden Moment immer wieder verschwindet. Mit anderen Worten: ein ganz normaler Dienstag. Dann gerät Matilda auch noch ins Visier mächtiger Feinde. Zusammen mit Quinn muss sie Geheimnisse entschlüsseln, die den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten … Der spannende und romantische dritte Band der Vergissmeinnicht-Trilogie - perfekt zum Einkuscheln und Mitfiebern in der Winterzeit. Mit Was-bisher-geschah-Kapitel für den schnellen Wiedereinstieg. Noch mehr magische Lesestunden mit den Büchern von Kerstin Gier: Wolkenschloss Die Vergissmeinnicht-Reihe: - Band 1: Was man bei Licht nicht sehen kann - Band 2: Was bisher verloren war - Band 3: Was die Welt zusammenhältDie Silber-Reihe: - Das erste Buch der Träume - Das zweite Buch der Träume - Das dritte Buch der Träume

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Seitenzahl: 594

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Kerstin Gier

Vergissmeinnicht

Was die Welt zusammenhält

 

 

Über dieses Buch

 

 

Wenn Quinn nach seinen Abenteuern im Saum eines weiß, dann das: Matilda ist seine große Liebe, ganz egal, wie anstrengend ihre Familie ist. Eigentlich sollten sich die beiden gerade nur auf den großen Schulball freuen. Wenn da nicht dieses rätselhafte Sternentor-Ritual wäre, durch das Quinn als angeblicher Auserwählter die Welt retten soll. Und flüchtige Schwarzalben, die versteckt werden wollen, sowie ein ominöses Orakel, das im entscheidenden Moment immer wieder verschwindet. Mit anderen Worten: ein ganz normaler Dienstag. Dann gerät Matilda auch noch ins Visier mächtiger Feinde. Zusammen mit Quinn muss sie Geheimnisse entschlüsseln, die den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten …

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kerstin Gier, Jahrgang 1966, hat 1995 ihr erstes Buch veröffentlicht und schreibt seither überaus erfolgreich für Jugendliche und Erwachsene. Ihre Edelstein-Trilogie und die »Silber«-Bücher wurden zu internationalen Bestsellern, mehrere Romane von ihr sind verfilmt worden. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.

 

Inhalt

[Widmung]

Was bisher geschah

Prolog

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Matilda

Quinn

Epilog

Personenverzeichnis

Erdencast

Saumcast

Glossar

Das Regelbuch der Träume

Papa von Arensburgs Sorgenkiller-Mocktail

Frau Harkners geheimes Zimtschneckenrezept

Für alle, die Matilda und Quinn bis hierher gefolgt sind.

Lasst uns die Welt zusammenhalten.

 

Schlippeuch.

Was bisher geschah

Ihr Lieben,

 

bevor wir uns gemeinsam ins Abenteuer stürzen, kommt hier noch mal ein kleiner Überblick für diejenigen unter euch, die nicht mehr jedes Detail der Geschichte in Erinnerung haben. Also für alle, muhahaha. Aber keine Sorge, dafür habt ihr ja mich, Baximilian Grimm, Erklärdämon der Extraklasse.

Für die Eiligen: Am Ende des Buches findet ihr ein Personenverzeichnis, da könnt ihr zwischendurch immer mal nachschauen, wer wer ist, außerdem gibt es eine Art Glossar als Gedächtnisstütze. Und jetzt kommt mir nicht mit »viel zu kompliziert, euer Saumkram«, weil – hallo? – schon mal Verwaltungsrechtsparagraphen, Baseballregeln oder Bedienungsanleitungen für Luftbefeuchter gelesen? DAS ist kompliziert, ihr Menschlein.

Aber zurück zur Geschichte: Natürlich wisst ihr noch, wer Quinn und Matilda sind, also Nachfahrenpopel und Lockenköpfchen, immer noch nervtötend frisch verliebt, auch wenn sie sich ab und an streiten wie ein altes Ehepaar.

Quinn gilt als einer der Auserwählten, die dieses Mal das Sternentor öffnen sollen, das immer dann sichtbar wird, wenn der sogenannte Schicksalskomet vorbeigeflogen kommt. Was er, also der Komet, alle fünfhundertneunzig Jahre (und ein paar Gequetschte) tut, zuletzt im Mittelalter, als Jeanne d’Arc eine der Auserwählten war. An die berühmt-berüchtigte Nex und Feuerschleuder, die gerade unter dem Decknamen Johanna Bogen am Lessing-Gymnasium ihre verlorene Jugend nachholt, erinnert ihr euch noch, nicht wahr? Der Schulball, den sie gerade plant, wird so gigantisch, dass er nicht mehr in Band 2 gepasst hat.

Jedenfalls: In der Sternentorprophezeiung heißt es, dass der Schicksalskomet eines Tages das Ende der Welt bringen wird und dass dann nur der Auserwählte in der Lage sein wird, den Weltuntergang zu verhindern und den Saumwesen (unter anderem) die Macht der Erinnerung wiederzubringen.

Da der Schicksalskomet allerdings schon einige Male vorbeigeschlappt ist und der Weltuntergang bislang auf sich warten lässt, hat sich der Glaube an die Prophezeiung unter den Saumwesen im Laufe der Jahrtausende deutlich abgeschwächt. Tatsächlich ist es in all den Jahren keinem der Auserwählten gelungen, das Sternentor zu öffnen. Dieses Mal sind zumindest die Feen aber fest davon überzeugt, in Quinn den wahren Auserwählten vor sich zu haben, denn – haltet euch fest – Quinn besitzt tatsächlich die Macht der Erinnerung. Was er gemerkt hat, als sein Physiotherapeut Severin Zelenko das Zeitliche gesegnet hat und danach alle so »Hä? Severin wer? Nie gehört« meinten.

Von Quinns Macht der Erinnerung weiß aber außer den Feen bisher niemand von den Saumleuten. Nicht mal Cassian – Professor, Weihnachtsmannbart, wohnt mit Nietzsche in einer Bibliothek – ist in dieses Geheimnis eingeweiht. Dabei ist er doch einer von den Guten, zumindest gehört er im Hohen Rat zusammen mit Rektorin Themis einer gemäßigten Fraktion an, die sich wie die Feen für die Rechte aller Wesen einsetzt, Menschen, Dämonen und Schwarzalben eingeschlossen. Was man von anderen Ratsmitgliedern wie dem zwielichtigen Telepathen Frey, Jeanne d’Arcs miesepetrigem Papi Na’il und der noch viel böseren Magierin Morena (keine Sorge, die habt ihr nicht vergessen, die lernt ihr erst noch kennen) nicht behaupten kann. Die streben nämlich nach noch mehr Macht für die Arkadier und speziell für sich selber, und dafür ist ihnen jedes Mittel recht.

Aber jetzt kommt’s: Auch Matilda kann sich an den verstorbenen Severin erinnern! Und an eine Himäre namens Hasret, die sie angeblich mit meiner Hilfe bezwungen hat. Woran ich mich leider nicht erinnere, siehe oben. Keine Ahnung, was das für unsere Geschichte bedeutet, aber ich denke nicht, dass es ein Zufall ist, ihr vielleicht? Mein Lockenköpfchen ist sowieso immer für eine Überraschung gut.

Na ja, es hat eben Vorteile, mit einem schlauen und mächtigen Dämon befreundet zu sein. Also mir. So habe ich Matilda zum Beispiel das Traumwandeln beigebracht und ihr damit einen Weg in den Saum gezeigt. Wobei sie auch nur beinahe von Sphinxen getötet und von Hector, einem extrafiesen Nexschnüffler, erwischt worden wäre, aber hey, ein bisschen Nervenkitzel soll ja gut für den Kreislauf sein.

Es ist sicher nur eine Frage der Zeit, bis Matilda mich wieder bitten wird, sie an die Oberfläche zu bringen, doch im Augenblick begnügt sie sich erstaunlicherweise damit, in den Traumkorridoren im Untergrund herumzuwandern und ihren Freunden zu zeigen, wie das Traumwandeln funktioniert. Allen voran Julie, ihrer Cousine und besten Freundin. Glücklicherweise haben die beiden sich nach der ganzen Geheimniskrämerei ausgesprochen und sind nun wieder ein Herz und eine Seele. Auch die Leute von Pandinus Imperator – an die geheime Gruppe von Medizinstudenten, die mit einem Saumportal in einem Raum tief unter der Uniklinik experimentieren, erinnert ihr euch aber schon noch, oder? Die jedenfalls haben Julie sofort ins Herz geschlossen, und selbst ich habe eine kleine Schwäche für sie, obwohl sie sich immer noch heimlich kneift, wenn sie mich sieht.

Klar, es stehen jede Menge offene Fragen, Geheimnisse und Rätsel im Raum, und das Sternentorritual und damit der potenzielle Weltuntergang rücken allmählich näher, aber Plustergur- … äh Quinn und Matilda sind glücklich verliebt, sie haben ein paar Abenteuer überlebt und dabei gute Freunde gewonnen, und sogar Jeanne d’Arc macht ausnahmsweise mal keinen Ärger – es könnte also gerade alles gut sein. Wenn nicht Ratsherr Frey, der bisher schon ein verdächtig großes Interesse an Quinn gezeigt hat, einen Typen namens Than, euch vielleicht noch besser unter dem Namen »Sturmhaube« bekannt, damit beauftragt hätte, Quinns Freundin zu entführen.

So, und damit seid ihr auf dem neusten Stand und könnt loslesen. Wir sehen uns auf der anderen Seite …

 

Euer Bax

 

PS: Eine Sache noch. Diese Geschichte ist nichts für schwache Nerven – viele Messer, viel Blut, Tod und Verderben, ihr wisst schon. Außerdem werdet ihr wieder auf ein paar rassistische und ableistische Arschgeigen treffen. Wenn ihr euch damit gerade nicht so gut fühlt, wartet vielleicht lieber auf einen Zeitpunkt, an dem es euch bessergeht, oder lest das Buch zusammen mit einem lieben Menschen.

Prolog

Than unterdrückte ein Ächzen. Er ärgerte sich, das Mietauto so weit weg geparkt zu haben – dieses Mädchen war eindeutig schwerer, als es aussah. Anstelle von Blut musste Blei durch ihre Adern fließen. Der blonde Lockenkopf lag an seiner Brust, ihre Beine baumelten über seinen Unterarm.

Es wäre einfacher gewesen, sie wie einen nassen Sack über seine Schulter zu werfen, aber dann hätte er sich auch gleich eine rote Flagge auf die Stirn tackern können, mit der Aufschrift »Achtung, Entführung!«.

Obwohl – die Leute in dieser Stadt schienen nicht besonders aufmerksam zu sein, niemand hatte ihnen jedenfalls bisher auch nur die geringste Beachtung geschenkt. Lediglich ein Mann, der einen plattnasigen Hund Gassi führte, schenkte Than im Vorbeigehen ein mitleidiges Lächeln.

Er schnaubte verächtlich. Es stimmte, was Frey immer sagte: Menschen besaßen einfach keinerlei gesunde Instinkte mehr. Man konnte völlig unbehelligt eine Leiche durch die Stadt schleppen.

Sein nasser Sack lebte allerdings noch.

»Leicht wie eine Feder«, nuschelte das Mädchen. Offenbar hatte er das mit dem Chloroformgemisch getränkte Tuch nicht lange genug auf ihr Gesicht gedrückt.

»Von wegen Feder«, knurrte er. »Du wiegst doppelt so viel wie das Reh, das ich neulich erlegt habe.« Er spannte seinen Bizeps an, aber sie gab kein Wort mehr von sich. Mit einem erleichterten Seufzer bog er in die Seitenstraße ein, in der er den Mietwagen geparkt hatte. Als er sie auf die Rückbank gleiten ließ, waren ihre Augen wieder geschlossen. Sie rührte sich auch nicht, als er ihre Fuß- und Handgelenke mit Tape fixierte.

Erst Minuten später, schon fast auf der Stadtautobahn, kam sie wieder zu sich. Than beobachtete im Rückspiegel, wie sie sich mühsam aufrichtete und verwundert zuerst ihre gefesselten Hände betrachtete, sich dann umsah und unvermittelt zu weinen begann. Und zu reden.

»Ich wusste schon in der Umkleidekabine, dass dieses Sommerkleid falsche Signale aussenden würde«, jammerte sie. »Aber meine Eitelkeit hat gesiegt, und ich habe es trotzdem gekauft. Oder vielmehr genau deswegen. Eitelkeit gehört nicht umsonst zu den sieben Todsünden, sie fällt unter Hochmut, Superbia. Leopold und ich haben mal ein Referat über Todsünden und Kardinaltugenden gehalten. Wir haben eine Eins plus dafür bekommen.« Sie schluchzte laut auf. »Andererseits gilt Hochmut nur als Todsünde, wenn man damit gleichzeitig gegen eins der Zehn Gebote verstößt, sofern ich das richtig in Erinnerung habe, und Gott wird mir verzeihen, Gott verzeiht sowieso alles, was man ehrlich bereut, das sollten Sie wissen, es ist nie zu spät, ganz gleich, was man getan hat …«

Than drehte sich zu ihr um. »Ich bereue nur, dir nicht den Mund zugeklebt zu haben. Halt die Klappe, sonst fahr ich rechts ran und hole das nach.« Befriedigt registrierte er ihre erschrocken aufgerissenen Augen, bevor er seinen Blick wieder auf die Fahrbahn lenkte.

Eine Sekunde lang blieb es still, dann sprach sie einfach weiter. »Aber es ist wahr! Gott liebt Sie. Auch wenn Sie gerade eine Sünde begehen. Ich frage mich allerdings, ob Ihre Motive Luxuria, also der Wollust, entspringen, oder Avaritia, der Habgier. Oder beidem. Und ob ich Sie überhaupt siezen sollte, Sie kommen mir für einen Entführer viel zu jung vor. Und viel zu hübsch und gepflegt für einen Triebtäter. Wobei ich mich damit natürlich nicht auskenne. Um Lösegelderpressung kann es aber auch nicht gehen, da hättest du wohl eher Lilly Goldhammer von Feinkost-Goldhammer entführt, ihre Eltern sind Millionäre.« Sie schniefte. »Wahrscheinlich arbeitest du also für einen Mädchenschmugglerring. Mit einer minderjährigen, blonden Jungfrau erzielt man bestimmt einen guten Preis, hab ich recht?«

Sie weinte zwar immer noch, aber Than hatte nicht den Eindruck, dass sie angemessen ängstlich wirkte. Vielleicht waren das die Nachwirkungen des Betäubungsmittels, die sie dazu brachten, all ihre Gedanken laut auszusprechen. Und irgendwie kroch dabei ein ungutes Gefühl in ihm hoch. Das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.

Sie legte ihren Kopf schief. »Deinem Akzent nach kommst du aus dem Ausland. Ich nehme an, dass du dir angewöhnt hast, deine Opfer nur als Ware zu betrachten, damit du diesen herzlosen Job überhaupt machen kannst«, plapperte sie, wobei sie im Rückspiegel seinen Blick suchte. »Aber ich bin sicher, unter dieser wunderschönen harten Schale steckt ein verletzlicher Junge, der wahrscheinlich aus purer Not in diese Situation geraten ist. Und an diesen verletzlichen Jungen appelliere ich jetzt. Schau mich an! Ich bin ein Mensch, keine Ware! Ein fühlendes Wesen! Ich heiße Luise Martin und werde nächstes Jahr mein Abitur machen.«

Than erstarrte.

»Und dann ein freiwilliges soziales Jahr«, fuhr sie fort. »Weil es mir immer schon ein großes Bedürfnis war, anderen Menschen zu helfen. Nächstenliebe liegt mir sozusagen im Blut. Ich habe Eltern, die mich vermissen werden, einen Zwillingsbruder, der ohne mich nicht klarkommt, und eine kleine Schwester, die mich dringend als Vorbild braucht! Ich tanze gern, und seit neustem gärtnere ich auch. Ich liebe die Natur. Und ich singe ziemlich gut. Weshalb auch ich damals das Engelsolo im Krippenspiel hätte singen sollen und nicht meine Cousine Matilda, auf die ich manchmal eifersüchtig bin.« Erneutes Schniefen. »Was aber bitte unter uns bleibt, ja? Wie bei Pfarrer Petersen im Beichtstuhl. Ich sage es dir nur, damit du erkennst, dass ich ein Mensch bin, mit Schwächen, genau wie du. Und ich sehe, dass meine Worte bei dir angekommen sind, ich sehe es in deinem Gesicht.«

In der Tat. So eine Scheiße. Wie dämlich konnte man denn sein? Er hatte das falsche Mädchen erwischt! Zornig schlug er mit der Faust auf das Lenkrad. Bei ihrem Zusammentreffen in der Schule vor einigen Wochen hatte er sich ausschließlich auf Quinn und die verfluchte Jeanne d’Arc konzentriert, das Menschenmädchen hatte ihn nicht weiter interessiert. Er hatte sie gerade lange genug angeschaut, um sie auf der Party wiederzuerkennen. Dass sie eine Doppelgängerinnen-Cousine besaß, hatte er ja nicht ahnen können. Jetzt war er heilfroh, ihr den Mund nicht zugeklebt zu haben. Denn wenn er mit dem falschen Mädchen bei Frey aufgekreuzt wäre, hätte er auf einen Schlag alle gesammelten Pluspunkte wieder verspielt. Aber noch war es nicht zu spät. So schnell gab sich ein Sohn des Nordens nicht geschlagen. Er straffte die Schultern, setzte den Blinker und wechselte auf die linke Spur. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als noch einmal zur Party zu fahren und seinen Fehler wiedergutzumachen.

Cousine Plappermaul hatte indes nicht eine Sekunde zu reden aufgehört. »Du musst keine Angst haben! Ich habe zwar dein Gesicht gesehen, dieses unvergesslich schöne, kantige Gesicht, aber ich verspreche dir, dass ich niemandem von dir erzählen werde, wenn du mich freilässt«, versicherte sie eifrig. »Und da kannst du jeden fragen: Luise Martin hält ihre Versprechen … Oh! Du fährst zurück? Das ging ja … schneller, als ich dachte.« Sie strahlte ihn im Rückspiegel an. »Es freut mich, dass meine Worte dich berühren konnten. Ich habe das mal in einer True-Crime-Doku gehört, ich dachte nicht, dass es funktionieren würde, aber ich wusste, dass du ein gutes Herz hast, weil … hach, ich wusste es einfach!« Sie war wie so ein nerviges Lied im Radio, das man nicht ausstellen konnte. »Du wirst es nicht bereuen! Ich kann dir helfen! Meine Familie und ich, wir haben viel Übung darin, Gutes zu tun. Und jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Auch du. Gerade du. Weißt du, ich könnte der Engel sein, den Gott dir geschickt hat, um …«

»Schnauze!«, sagte er in exakt dem Tonfall, den er auch ungehorsamen Blutwolfwelpen gegenüber anschlug, und der war so einschüchternd, dass Plappermaul tatsächlich verstummte. Aber vermutlich hielt das nicht lange. Fürs Erste würde er sie knebeln und im Kofferraum verstauen müssen. Wenn er dann das richtige Mädchen bei Frey abgeliefert hatte, konnte er sich immer noch überlegen, was er mit der Doppelgängerin machen sollte. Quinns Freundin hätte er kein Haar krümmen dürfen, doch niemand hatte etwas über die Cousine gesagt. Die nun Zeugin seines Versagens war. Allein das war ein Grund, sie mit einem Stein um den Hals im Stadtweiher zu versenken, vom nervtötenden Gequatsche mal abgesehen.

Sein Handy klingelte. Das Display zeigte ein Foto seines Waffenbruders Kjell-Sigge, wie er mit angekokeltem Haar und Rußflecken im Gesicht verdutzt in die Kamera schaute. Than hatte es gegen das ursprüngliche Profilbild ausgetauscht, auf dem sich der Aguaner mit im Wind wehender Wallemähne beim Baden in einem Eisloch präsentiert hatte.

»Was gibt es?«, fragte er ungehalten auf Norwegisch. Das fehlte noch, dass jemand merkte, was für einen Mist er hier gerade gebaut hatte. »Ich bin …«

»Ich weiß«, fiel Kjell-Sigge ihm ins Wort. »Aber du musst die Mission abbrechen und herkommen. Sofort. Es gab einen Schwarzalbenüberfall auf zwei Portale in Schattenstadt.«

»Was?« Than kam gar nicht dazu, sich über den Abbruch seiner gescheiterten Mission zu freuen. Er runzelte die Stirn. »Gleich zwei Portale?« Es kam immer wieder vor, dass Schwarzalben versuchten, sich durch Portale zu schmuggeln, um aus dem Saum auf die Erde zu gelangen, manchmal auch mit Gewalt. Was sie dann meistens mit ihrem Leben bezahlten. Aber etwas in Kjell-Sigges Stimme sagte Than, dass es dieses Mal anders war.

»Es waren viele. Die Aktion ist offensichtlich von langer Hand geplant worden, mit Hilfe von Insiderinformationen. Das Portal nach Paris haben sie förmlich überrannt, und es ist die Rede von einem versuchten Anschlag in der Sternwarte, der zeitgleich stattgefunden hat. Aber das alles war nur ein großes Ablenkungsmanöver, um durch ein geheimes Portal nach Skjalden durchzubrechen.«

»Nach Skjalden?«, wiederholte Than ungläubig. Der kleine Ort lag nicht weit von Freys Festung Nordavind entfernt, dem einzigen Zuhause, das Than kannte. Von einem Portal in Skjalden, egal, ob offiziell oder geheim, war ihm bisher nichts bekannt gewesen. Aber er hörte Freys Stimme in seiner Erinnerung sagen: »Im Licht des Schicksalskometen, wenn der Wandel der Welten bevorsteht, erwachen uralte Instinkte, und niedere Wesen versuchen ein letztes Aufbäumen gegen die wahre Macht. Die Schwarzalben werden nie aufhören zu glauben, dass die Berge des Nordens allein ihnen gehören – und es ist unsere Aufgabe, das Land gegen sie zu verteidigen und ihnen den ihnen zustehenden Platz zuzuweisen.«

War es jetzt schon so weit?

»Wir wissen nicht, wie viele hindurchgekommen sind«, fuhr Kjell-Sigge fort. »Sie haben den Supermarkt geplündert und sind in den Bergen verschwunden. Frey hat die Blutwolfschar auf Spurensuche losgeschickt, aber bisher keine Verstärkung durch Nex angefordert.«

»Die brauchen wir auch nicht.« Than fühlte Stolz in sich aufwallen. Während alle dreiunddreißig Nexstaffeln damit beschäftigt waren, das Chaos überall sonst unter Kontrolle zu bringen und die Hohen Ratsmitglieder und ihre Familien zu beschützen, würden die Söhne des Nordens nicht nur den Schwarzalben demonstrieren, dass man sich besser nicht mit ihnen anlegte. Getreu ihrem Motto: »Keine Überlebenden.«

»Frey sagt, dass er den feigen Schwarzalben keinen direkten Angriff auf Nordavind zutraut, aber vielleicht kennen diese Buddelteufel Wege in die Festung, mit denen wir nicht rechnen …« Kjell-Sigges Stimme klang ein bisschen zittrig, und Than schnaubte verächtlich. Kjell-Sigge war und blieb in seinem Innersten ein Aguaner, und die waren nun mal alle Weicheier.

»Ich kann in zwanzig Minuten bei euch sein. In fünfzehn, wenn ich …« Than warf einen Weg in den Rückspiegel, von wo aus Cousine Plappermaul mit offenem Mund lauschte. »Wenn ich mich beeile.« Er legte das Handy beiseite.

»War das Lettisch?«, fragte das Mädchen. »Fremdsprachenkenntnisse sind auf jeden Fall gut bei der Jobsuche. Denn als Erstes müssen wir dir natürlich eine anständige Tätigkeit suchen, damit du auf dem rechten Weg bleibst.«

»Hold kjeft!« Er musste nachdenken. Das nächste brauchbare Portal befand sich in einem Einkaufszentrum ganz in der Nähe. Das Auto hatte er unter falschem Namen gemietet, deshalb konnte er es einfach auf dem Parkplatz vor dem Einkaufscenter stehen lassen. Vorher musste er allerdings noch Plappermaul loswerden. Am besten sofort. Er bremste am Rand einer Grünfläche auf dem Seitenstreifen ab und nahm einen Waffengurt aus dem Handschuhfach, bevor er ausstieg und die hintere Tür öffnete.

»Heilige Mutter Gottes«, sagte Plappermaul, als er sie ohne Umschweife aus dem Auto zerrte, im Gras neben einigen weggeworfenen Plastikflaschen abstellte und sein Jagdmesser zog.

Mit zwei energischen Schnitten durchtrennte er ihre Fesseln. »Du kannst gehen!«

Aber sie machte keinerlei Anstalten, sich zu bewegen.

»Du bist frei, also hau ab«, versuchte er es noch einmal.

»Oh.« Sie blickte um sich. »Kannst du mich bitte woanders freilassen? Es ist dunkel, ich habe keine Ahnung, wo wir sind, und um diese Uhrzeit ist es nicht ratsam, als junges Mädchen allein unterwegs zu sein, weißt du?«

Ernsthaft? Was zum gehörnten Moostroll stimmte denn nicht mit ihr? »Du wirst garantiert heute niemandem mehr begegnen, der gefährlicher ist als ich.« Oder überhaupt jemals wieder in ihrem Leben. Er war Than Halvorsen, verdammt nochmal, der jüngste Blutrunenträger seiner Schar. Spürte sie denn nicht, wie nahe sie daran gewesen war, mit durchgeschnittener Kehle zu enden? Sah er wirklich so harmlos aus? Verärgert ging er um den Wagen herum und setzte sich zurück hinters Lenkrad.

»Aber … ich weiß gar nicht, wie du heißt, und überhaupt wollte ich dir doch helfen«, sagte Plappermaul flehentlich. »Wenn du mir deine Handynummer gibst, werde ich sie selbstverständlich vertraulich behandeln … kann ich mein Handy also bitte zurückhaben?«

Sie war ein hoffnungsloser Fall. Er machte sich nicht die Mühe, ihr noch einmal zu antworten, sondern schlug einfach die Autotür zu und gab Gas. Das geflüsterte »Wann sehen wir uns denn wieder?« bekam er gar nicht mehr mit.

Quinn: Hey. Sehen wir uns heute?

14.14 ✓✓

Matilda: Ich habe meinen E.U.L.E.-Nachmittag und muss danach dringend für Bio lernen.

14:15 ✓✓

Quinn: Ich könnte mit dir lernen.

14:16 ✓✓

Matilda: So wie neulich für Erdkunde?

14:16 ✓✓

Quinn: Es steht nirgendwo, dass man beim Lernen alle seine Klamotten anhaben muss.

14:17 ✓✓

Matilda: Doch! Im unveröffentlichten Handbuch meiner Eltern zur Aufzucht keuscher katholischer Töchter. Aber wir könnten uns später treffen. Im Traum.

14:18 ✓✓

Quinn: Matilda! Du hast mir hoch und heilig versprochen, nachts nicht mehr mit Dämonen abzuhängen.

14:18 ✓✓

Matilda: Das tue ich ja auch gar nicht, ich träume völlig dämonenfrei. Frag Bax! Ihn treffe ich momentan nur noch in real life.

14:19 ✓✓

Quinn: Es ist trotzdem gefährlich.

14:19 ✓✓

Matilda: Ist es nicht. Aber da kannst du gar nicht mitreden, solange du nicht mal einen Fuß in den Traumkorridor gesetzt hast.

14:20 ✓✓

Quinn: Ich habe es ja versucht. Was kann ich dafür, wenn es in meinen Träumen keine Traumtüren gibt, durch die ich gehen kann? Das ganze Konzept ist irgendwie zu kompliziert für mich.

14:21 ✓✓

Matilda: So kompliziert kann es ja gar nicht sein, wenn selbst Faris es kapiert hat. Es ist außerdem der perfekte Ort, um in Ruhe das Imaginieren zu üben. Ich schaffe es jetzt schon, zwei Minuten am Stück unsichtbar zu bleiben. Und Faris kann sich in einen perfekten Berglöwen verwandeln.

14:23 ✓✓

Quinn: Der nervt selbst in seinen Träumen.

14:23 ✓✓

Matilda: Zugegeben, es ist ein bisschen tricky, überhaupt zu kapieren, dass man träumt, aber wenn man seine Traumtür erst einmal gefunden hat, wird es immer leichter. Ich könnte es dir ganz einfach zeigen, wenn du mir nur erlauben würdest, dich in deinem Traum zu besuchen. Sobald du dann weißt, dass du träumst, können wir zusammen … einfach alles tun. Wir müssten nicht mal in den Korridor hinaus, falls du dich vor den Sphinxen fürchtest.

14:25 ✓✓

Quinn: Ich würde sehr gern mit dir … einfach alles tun. Aber erstens: Woher willst du denn sicher wissen, dass die Tür, die du für meine hältst, auch wirklich mir gehört? Nicht dass du am Ende bei jemand ganz anderem landest. Und zweitens: Weißt du eigentlich, wie peinlich meine Träume manchmal sind?

14:27 ✓✓

Matilda: Erstens: Ich bin ganz sicher, dass das deine Tür ist. Wenn du sie siehst, weißt du, warum. Zweitens: Das ist doch bei jedem so. Drittens: Bist du eigentlich sicher, dass du in deinen peinlichen Träumen immer ganz allein bist?

14:28 ✓✓

Quinn:

14:28 ✓✓

Quinn

»Stopp!« Auf Jeannes Handzeichen hin blieben wir stehen. »Mögliche Zivilstreife auf zwei Uhr. Verhaltet euch unauffällig.«

Wir taten so, als würden wir uns das »Gleiches Recht für alle«-Graffiti an einer Hausfassade anschauen. Besonders unauffällig waren wir dabei allerdings schon deshalb nicht, weil Faris den Saum wie immer mit nacktem Oberkörper betreten hatte, damit alle Welt seine gestählten Brust- und Bauchmuskeln bewundern konnte.

»Du kannst dich in einen Berglöwen verwandeln, bist aber nicht in der Lage, dir ein T-Shirt zu imaginieren?«, fragte ich genervt.

»Welche Farbe hättest du denn gern?«, fragte Faris zurück, wobei er in Sekundenbruchteilen mehrfach das Oberteil wechselte, einfach nur, um anzugeben. Seit er sich von der Sache mit der Himäre erholt hatte, war er wieder ganz der alte Großkotz.

Ich verdrehte die Augen. Wenn er nachher nicht aufpasste, würde ich ihm wieder ein paar flauschige Hasenöhrchen imaginieren, das konnte ich nämlich gut. Neulich war Faris eine halbe Stunde damit herumgelaufen, bis er es gemerkt hatte. Nur schade, dass das in der »echten« Welt nicht funktionierte.

»Falscher Alarm«, sagte Jeanne, die sich wie immer ungefragt zur Anführerin ernannt hatte. »Los, weiter. Und du, trauriges Studentengespenst, hör auf, uns hinterherzuschleichen. Mit dir im Schlepptau erregen wir nur unnötig Aufmerksamkeit.«

Der schwarz-weiße Geist im OP-Kittel, der uns vom Portal hierher gefolgt war, ließ seine Schultern hängen. »Ich dachte, ich könnte mich irgendwie nützlich machen.«

»Du könntest vor dem Portal Wache schieben, Daniel«, schlug ich vor, weil die Enttäuschung in seiner Stimme schwer auszuhalten war. Daniel war bereits 1974 gestorben, aber das hatte er irgendwie noch nicht so richtig verinnerlicht.

»Ja, damit wärst du uns wirklich eine große Hilfe, Kollege«, stimmte Faris mit ein. »Ohne dich wären wir vorhin voll in diese neue Chaosnebelpfütze gelatscht.« An Jeanne gewandt setzte er leise hinzu: »Siehst du – und schon ist er weniger traurig. Er möchte sich doch nur als nützliches Mitglied von Pandinus Imperator fühlen. Du musst netter zu ihm sein.«

»Niedlich, wie ihr die Gefühle von Geistern schonen wollt«, sagte Jeanne. »Aber Spoiler-Alarm: Die sind alle traurig. Weil sie nun mal tot sind. Und damit das absolute Gegenteil von nützlich.«

Zum Glück konnte Geister-Daniel das nicht mehr hören, er war bereits auf dem Rückweg zum Portal.

Auf der Straße war weniger los als noch vor ein paar Wochen. Seit dem Schwarzalbenaufstand hielten sich die meisten Bewohner von Schattenstadt in ihren Häusern auf. Diejenigen, die ihren Alltagsgeschäften draußen nachgehen mussten, wirkten vorsichtiger und schauten sich öfter um. Besonders wenn sie stehen blieben, um miteinander zu reden. Gruppen von mehr als zwei Personen galten neuerdings als Versammlung, und Versammlungen waren seit dem Aufstand verboten.

Ich warf einen Blick in den blauen Himmel über uns. Angeblich ließen die Nex zur Überwachung auch Sirin über Schattenstadt kreisen, aber Jeanne meinte, das sei ein Gerücht und diene der Einschüchterung. Ich hoffte, dass sie mit ihrer Einschätzung richtiglag, Sirin waren nämlich gruselige Viecher, mordlustige Rieseneulen mit Menschengesichtern, denen ich auf keinen Fall noch einmal begegnen wollte.

»Weiter vorrücken«, kommandierte Jeanne. Ich konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, sie in die Seite zu boxen.

»Du kannst eine Menge von Jeanne d’Arc lernen – sie ist die beste Kämpferin, die ich kenne«, hörte ich Hyazinths beruhigende Stimme in meinem Inneren sagen. Die Feen, die inzwischen über Pandinus Imperator, unser Portal nach Schattenstadt und Jeannes Schmuggelgeschäfte Bescheid wussten, begrüßten meinen Umgang mit der kriminellen Ex-Nex ausdrücklich.

»Sie ist die Einzige, die dir aus erster Hand etwas über die Sternentorprüfungen erzählen kann.« Hyazinths Freund Emilian hatte mich erst letztens wieder darauf hingewiesen, dass Jeanne d’Arc ebenfalls mal eine der Auserwählten gewesen war – und die Einzige, die noch lebte. »Mit etwas Glück verrät sie dir mehr als die paar Sätze, die man 1430 darüber niedergeschrieben hat. Schon deshalb könnte sich deine Freundschaft mit ihr lohnen.«

Freundschaft – das Wort ging mir hier eindeutig zu weit. Nur weil Jeanne und ich uns nicht mehr gegenseitig an die Gurgel gingen und wir so etwas wie einen unausgesprochenen Friedenspakt geschlossen hatten, hieß das noch lange nicht, dass ich ihr jetzt über den Weg traute. Sie war und blieb die hinterlistige alte Feuerschleuder, als die ich sie kennengelernt hatte, und ich hasste, hasste, hasste es, wenn sie mir Befehle erteilte. Keine Ahnung, warum ich mich immer wieder überreden ließ, ihr »einen kleinen Gefallen« zu tun.

»Lass dich nur nie, wirklich niemals, von Jeanne in ihre Machenschaften reinziehen«, hatte Hyazinth mir überflüssigerweise mehr als einmal eingeschärft. »Egal, wofür sie dich auch einspannen will und wie schlau sie es dir verkauft: Am Ende geht es ihr immer nur um ihren eigenen Vorteil, und du bist im Zweifel der Gearschte.«

Ich war froh, dass er uns jetzt nicht sehen konnte.

»Straße mit Zielobjekt auf elf Uhr. Scharf links in zwanzig Metern.« Jeanne hörte sich an wie eine schräge Mischung aus Navi und Feldwebel.

»Du weißt schon, dass wir nicht deine Soldaten sind, oder?«, fragte ich. »Du kannst ganz normal mit uns sprechen.«

»Außerdem kennen wir doch den Weg zu Madame Mirabelle, Babe«, sagte Faris.

Jeanne seufzte. Wenn die Sache nicht so brandeilig gewesen wäre, hätte sie sich garantiert besser gedrillte Mitstreiter organisiert, irgendwelche Söldner aus dem Saum, die ihr noch einen Gefallen schuldeten, aber wir waren das Beste, das sie vorhin auf die Schnelle hatte finden können. Durch einen ihrer zahlreichen dubiosen Kontakte hatte sie erfahren, dass Rektorin Themis und Frey den guten alten Hector damit beauftragt hatten, Madame Mirabelle zu ihnen in die Sternwarte zu bringen. Offenbar war Madame Mirabelles Name während der Vernehmung inhaftierter Schwarzalbenrebellen gefallen, in welchem Kontext wusste Jeannes Quelle nicht. Aber Jeannes Jagdinstinkt war trotzdem geweckt. »Wenn Themis und Frey plötzlich solches Interesse an ihr haben, muss sie etwas Interessantes zu sagen haben. Jedenfalls hat sich der Marktwert dieser kleinen Wahrsagerin gerade verhundertfacht«, hatte sie uns erklärt. »Weswegen wir die Ärmste unbedingt retten müssen, bevor Hector sie in eine Verhörkammer schleppen kann.«

Bei der Erwähnung von Hectors Namen verzog ich das Gesicht. Er und ich hatten nicht unbedingt das beste Verhältnis zueinander. Wie auch, der Typ hatte meinen leiblichen Vater, Yuri Watanabe, getötet und mich mit seinen Höllenbiestern vor einen Wagen gejagt. Er hasste Nachfahren. Und Menschen. Und Schwarzalben. Und vermutlich alles, was atmete.

Es war schon klar, dass Jeanne Madame Mirabelle nicht aus purer Nächstenliebe beistehen wollte, aber wenn wir helfen konnten, eine weitere Schwarzalbin vor Hectors Verhörkammer zu bewahren, war ich dabei. Genau wie Faris. Auch wenn es natürlich mehr als ein »kleiner Gefallen« war. Denn wenn man uns erwischte … Na ja, wir durften uns halt nicht erwischen lassen.

Auf den ersten Blick wirkte die schmale Seitenstraße, in die wir abbiegen wollten, ruhig und friedlich. Sonnenlicht ließ die bunten Farben der abblätternden Fassaden leuchten und spiegelte sich in den Fläschchen und Tiegeln im Schaufenster der Emotionen-Pfandleihe an der Ecke, eine Frau führte etwas Gassi, das wie ein Leopard mit Hörnern aussah, und neben dem Schild »Madame Mirabelle, Orakel, 95,5 %ige Wahrheitsgarantie« lehnte derselbe Mann wie immer an der Hauswand. Er kaute an einem Zahnstocher und blinzelte in die Sonne.

Es war der Vogel mit den weißen Augen, der mich innehalten ließ. Er hockte auf der Markise über dem Schaufenster der Emotionen-Pfandleihe und sah mit schiefgelegtem Kopf auf die Straße hinunter. Sofort stellten sich die Härchen in meinem Nacken auf.

»Blutdohle!«, flüsterte ich und zog Jeanne und Faris in den Schatten eines Hauseingangs.

»Ich sehe sie.« Jeanne spähte um die Ecke. »Muss nichts bedeuten, hier fliegen jede Menge herrenlose Viecher herum. Aber wir beeilen uns besser, bevor die Wahrsagerin spitzkriegt, dass die Nex zu ihr unterwegs sind. Quinn, du stehst vor dem Haus Schmiere, Faris, du weißt, wie sie aussieht, deshalb gehst du zum Hintereingang. Falls sie abhaut, bevor ich sie überzeugt habe, dass mit uns zu kommen ihre beste Option ist, packst du sie dir, und wir gehen zu Plan B über.«

»Alles klar«, sagte Faris. »Ich kann mir allerdings immer noch nicht vorstellen, dass Madame Mirabelle irgendwas mit der Rebellion zu tun hat, dafür ist sie viel zu heiß. Und als Wahrsagerin ist sie ziemlich mies. Keine einzige ihrer Lottozahlen hat gestimmt, und sie hat gesagt, ich würde in der Liebe bald mein blaues Wunder erle-«

»Schluss mit dem Gequatsche«, fiel Jeanne ihm ins Wort. »Los geht’s. Das hier ist eine simple Rein-raus-weg-Operation, Leute.«

Bei niemandem sonst hätte Faris dieser Steilvorschlage für eine schlüpfrige Bemerkung widerstehen können, aber er klappte brav den Mund zu und setzte sich in Bewegung. Jeanne war die einzige Person, von der er sich etwas sagen ließ.

Wir warteten, bis Faris zwischen den Häusern Richtung Hinterhof verschwunden war, dann folgten wir ihm über die Straße, wobei ich den Vogel auf der Markise nicht aus den Augen ließ. Blutdohlen dienten sowohl den Nex als auch den Söhnen des Nordens, also Freys Leuten, als Kundschafter, und es war besser, keinem von denen über den Weg zu laufen. Schon gar nicht, wenn man gerade vorhatte, etwas Verbotenes zu tun.

Aber vielleicht hatte Jeanne recht, und der Vogel gehörte niemandem. Er schien sich jedenfalls kein bisschen für uns zu interessieren, sondern guckte nur in der Gegend herum und flatterte dann mit einem leisen Krächzen davon.

Der Mann neben dem Orakelschild schaute kaum auf, als wir vor ihm stehen blieben. »Na? Interesse an der Zukunft?«, nuschelte er wenig enthusiastisch um seinen Zahnstocher herum. Offenbar sahen wir für ihn nicht nach zahlender Kundschaft aus. »Die einmalige Madame Mirabelle verrät euch heute schon, was morgen passiert.«

»Sie ist also da? Sehr gut.« Jeanne machte Anstalten, die Tür zu öffnen, aber da wurde Zahnstochermann mit einem Schlag wach und trat ihr in den Weg.

»Nicht so schnell, junge Dame! Zuerst müssen wir über die Bezahlung sprechen.« Ein Lächeln entblößte seine spitzen Eckzähne, während seine amethystfarbenen Augen Jeanne von oben bis unten taxierten, von der braven Flechtfrisur über die zugeknöpfte, kurzärmelige Strickjacke und den karierten Minirock bis hin zu den Sneakers. »Lass mich raten – Liebeskummer, richtig? Du willst wissen, ob und wann der Angebetete dir verfallen wird. Ist zufällig Madame Mirabelles Spezialität, allerdings nicht ganz billig.«

»Wir haben es ein bisschen eilig«, sagte Jeanne. Ihre Stimme klang genauso jung und harmlos wie sie aussah, doch die leichte Gereiztheit, die darin mitschwang, ließ in mir jetzt schon Mitleid mit dem armen Mann aufkommen.

»Ja, ihr Arkadierkids habt es immer eilig.« Der amethystfarbene Blick glitt nun auch voller Verachtung über mich hinweg. »Schnell, schnell in Schattenstadt ein bisschen über die Stränge schlagen, Spaß haben, ein paar verbotene Substanzen besorgen, und dann, husch, zurück in die heile Welt. Wissen eure Eltern überhaupt, wo sich ihr kostbarer Nachwuchs herumtreibt? Wenn ja, wären sie bestimmt nicht begeistert. Seit dem Aufstand tun sie so, als sei es der Lebenssinn eines jeden Schwarzalben, Arkadierkinderchen zum Frühstück zu verspeisen. Nur damit sie uns weiter schikanieren können.«

Der Mann wusste definitiv nichts von Jeannes wahrer Identität, er quatschte sich gerade in ernsthafte Schwierigkeiten. »Wie wäre es mit ein paar Emotionen als Bezahlung? Ihr könntet sie praktischerweise direkt nebenan abfüllen lassen, in der Emotionen-Pfandleihe an der Ecke.« Er zeigte mit dem Daumen in die Richtung. »Wir nehmen bevorzugt Glücksgefühle, Hoffnung und Schaffensfreude, von Resignation, Antriebslosigkeit und Frust haben wir in dieser Gegend mehr als genug. Die Preise für Wut, Neid und Depression sind ebenfalls total im Keller, das hat hier jeder selber im Überfluss, wie ihr euch vielleicht denken könnt. Unbeschwertheit und Lebenslust hingegen werden hoch gehandelt, aber ich würde auch eine Portion Selbstverliebtheit und Stolz als Zahlung akzeptieren, ihr Pimpfe seht aus, als könntet ihr davon jede Menge abgeben.«

»Und du siehst aus, als könntest du ein bisschen Respektlosigkeit abgeben.« Blitzschnell hatte Jeanne einen ihrer Dolche gezogen und an seine Kehle gehalten.

Die violetten Augen weiteten sich verblüfft. »Was bist du? Eine als Schulmädchen verkleidete Nex?«

»Ich bin die, die deiner Madame Mirabelle den Arsch retten will«, knurrte Jeanne. »Aus purer Gutherzigkeit. Aber vorher bezahle ich dich gerne noch, alter Gierhals. Und zwar mit Schmerz.«

»Rein, raus, weg, kein Gequatsche«, erinnerte ich sie, weil mir der Ausdruck in ihrem Gesicht nicht gefiel.

In diesem Augenblick trat Faris wieder aus der Lücke zwischen den Häusern und fragte: »Hatten wir eigentlich auch einen Plan C? Und warum bedrohst du den guten alten Karl mit dem Messer, Babe? Er tut keiner Fliege was zuleide.«

»Hallo, Menschenjunge«, krächzte Karl und rang sich ein Lächeln ab. »Sind das etwa Freunde von dir?«

»Ja«, sagte Faris und schaute Jeanne vorwurfsvoll an.

»Du solltest doch am Hintereingang warten«, fauchte sie in seine Richtung, ließ den Dolch aber sinken.

»Das habe ich ja auch. Aber dann kamen da diese beiden unheimlichen Typen mit Schnabelmasken an, und ich dachte, weil davon bisher keine Rede war, frage ich lieber noch mal nach …«

Sofort stellten sich meine Nackenhaare wieder auf. Faris hatte recht: Unheimliche Typen mit Schnabelmasken waren neu. Jedenfalls für mich. Karl hingegen wurde leichenblass.

»Schnabelmasken?«, wiederholte er und rieb sich den Hals. »Wie sie die Häher der Schwarzen Witwe tragen? Was haben Morenas Schergen denn in unserem Hinterhof verloren?«

Morena? Gehörte die nicht dem Hohen Rat an? Warum sollte sie ihre eigenen Leute herschicken, wenn die Rektorin ohnehin ihre Nex beauftragt hatte, die Wahrsagerin zum Verhör abzuholen?

In diesem Moment begann eine Frauenstimme von drinnen um Hilfe zu schreien.

»Sie wollen anscheinend unser Orakel stehlen«, sagte Jeanne finster. »Aber das werden wir nicht zulassen.« Sie stieß die Tür auf. »Los! Plan C!«

Matilda

»Kneif mich bitte mal«, verlangte Julie. »Sonst glaube ich nämlich nicht, dass ich gerade wirklich zwei Paletten Wackelpudding, eine Axt und einen Vorschlaghammer durch die Uniklinik trage.«

»Ich kann dich nicht kneifen, ich brauche beide Hände für meine Eimer voller Maurerkellen, Meißel und Trockenfrüchte.« Im Vorbeigehen nickte ich einer Frau im weißen Kittel zu. »Aber ich versichere dir, dass du nicht träumst. Wir sind mit diesem seltsamen Zeugs tatsächlich auf dem Weg in den unterirdischen Geheimraum einer geheimen Studentenorganisation, der seit neustem als Asyl für verfolgte Schwarzalben aus einer nicht materiellen Parallelwelt fungiert.«

»Und zwar nicht für irgendwelche Schwarzalben, sondern die weltberühmten Königlich-Skandinavischen Kammersymphoniker«, ergänzte Julie. »Sorry, ich denke immer noch, dass das hier alles ein schräger Traum ist. Mama wollte mir nicht glauben, dass die auf unserem Schulball spielen werden, dazu seien sie viel zu gefragt. Sie ist übrigens ein großer KSK-Fan. Das Vivaldi-Concerto, das sie beim Hausputz rauf und runter hört, ist eine Aufnahme von ihnen aus der Carnegie Hall. Mama sagt, keine andere Musik beschwingt sie so sehr wie diese.«

Tja, wenn Tante Berenike wüsste, dass diese berühmten und gefragten Musiker derzeit Löcher in die Katakomben unter der Uniklinik gruben, süchtig nach Waldmeisterwackelpudding waren und ihre verzauberte Musik manchmal durch die Gullydeckel drang, würde sie vielleicht auch glauben, dass sie auf unserem Schulball spielen würden. Obwohl das noch nicht ganz gesichert war, Jeanne arbeitete mit Hochdruck daran, den Konzertmeister wieder aufzutreiben, der seit dem Schwarzalbenaufstand vor ein paar Wochen spurlos verschwunden war, zusammen mit zwei Bratschen. Also den Musikern, nicht den Instrumenten.

Ein Pfleger, der uns entgegenkam, grüßte freundlich, und wir grüßten zurück, während er die Tür zur Gerinnungsambulanz öffnete und darin verschwand.

»Es ist schon erstaunlich, was man einfach so durch eine Klinik tragen kann, ohne dass sich jemand wundert«, sagte Julie. »Man muss nur dreist genug sein.« Im nächsten Moment hätte sie allerdings vor Schreck beinahe die Axt vom Wackelpudding rutschen lassen, weil hinter uns jemand »Hey, wartet!« rief.

Es war aber nur Eric, dessen weiß gefärbten Haare wie immer wild vom Kopf abstanden, was ihn zusammen mit der runden Brille wie einen jungen Einstein aussehen ließ. Eric studierte Medizin und war Mitglied bei Pandinus Imperator, der geheimen Studentenorganisation, zu der wir jetzt irgendwie auch gehörten, obwohl wir noch nicht mal Abi hatten und höchstwahrscheinlich niemals Medizin studieren würden. Der Sack Zementputz, den Eric geschultert hatte, sah ziemlich schwer aus. »Das ist gar nichts«, versicherte er leise keuchend, als er uns eingeholt hatte. »Nadim und Kim haben heute Morgen fünfundzwanzig Kilo Sonnenblumenkerne und dreißig Meter Seil angeschleppt. Ui, eine neue Axt.«

»Die habe ich aus unserem Gartenschuppen geklaut«, sagte Julie. »Es war leider das einzige Teil von der Werkzeugliste, das ich auftreiben konnte.«

»Ich weiß. In allen Baumärkten haben sie Kim und mich nur seltsam angeschaut, als wir nach Flügeleisen, Schlägeln und Keilhauen gefragt haben. So was scheint es nur noch in Bergbaumuseen zu geben.«

Gemeinsam bogen wir um die Ecke und liefen am Blutspenderaum vorbei bis zu einer Tür mit einem »Zugang für Unbefugte verboten«-Aufkleber, hinter der sich ein kleines Treppenhaus verbarg. Der ganze Weg hinunter zum Hauptquartier von Pandinus Imperator war mit derartigen abschreckenden Hinweisschildern versehen.

»Ich habe mir gestern mal wieder die Videos der alten Pandinus-Leute angeschaut und etwas entdeckt, Matilda«, sagte Eric zu mir, während er uns die Tür aufhielt. »Leider nichts, das hilft, den Sicherheitsmechanismus wieder in Gang zu setzen, aber ich habe jetzt eine Idee, wie wir die Telefonnummer herausfinden können, die Kims Mutter am Tag von Yuris Tod gewählt hat.«

»Wie denn?« Sofort lief ein aufgeregtes Kribbeln durch meinen Körper. Wir hatten bisher vergeblich versucht herauszufinden, wer der geheimnisvolle Administrator war, der Pandinus Imperator in den siebziger Jahren gegründet hatte.

»Erkläre ich dir, wenn wir unten sind.« Eric folgte uns die Treppe hinunter in einen Gang, in dem seit Monaten dasselbe matratzenlose Krankenbett stand. Diese Ecke der Klinik schien vollständig verwaist zu sein, jedenfalls hatten wir hier unten in der ganzen Zeit noch nie jemanden angetroffen. »Wir brauchen dazu nur ein paar ruhige Minuten, ohne Musik, Gehämmere und Gehacke.«

»Könnte schwierig werden – sie arbeiten in Schichten rund um die Uhr. Schwarzalben benötigen nur zwei Stunden Schlaf am Tag, sagt Skipp, sie brauchen immer etwas zu tun.« Julie öffnete mit dem Ellbogen eine Feuerschutztür mit der Aufschrift »Vorsicht! Ätzende Stoffe. Schutzkleidung erforderlich«. »Sie sind eindeutig Genies. Aber bin ich die Einzige, die trotzdem Angst hat, dass sie früher oder später eine tragende Wand einreißen oder sich in eine Wasserleitung hacken?«

»Oder in der U-Bahn landen«, ergänzte Eric.

Sofort hatte ich einen inneren Film vor Augen. »Das wäre schon lustig, wenn plötzlich ein weltberühmter Cellist mit einer Axt in seiner sechsfingrigen Hand durch die Wände der U-Bahn-Station bricht, die Leute aus lila Augen anfunkelt und nach Wackelpudding fragt …«

Lachend kletterten wir hintereinander durch das Loch in der Rückseite eines Sicherungskastens, wobei wir uns gegenseitig mit unserem Gepäck halfen.

»Wenn man Onkel Molly glauben darf, haben alle Schwarzalben von Kindesbeinen an das Talent, zu graben und zu bauen«, erklärte Eric. Der leicht abschüssige Gang wurde vom Licht leuchtender Schwebewürmer erhellt, die zusammen mit den Schwarzalben in die Kanalisation eingezogen waren. »Im Zweifel mit bloßen Händen.«

»Außer Onkel Molly selber.« Ich dachte an dessen spitzenbesetzte Samthandschuhe.

»Haha, ja, der ist völlig aus der Art geschlagen.« Eric wischte einen leuchtenden Schwebewurm beiseite, der sich auf seiner Nase niederlassen wollte. Warum diese Saumwesen »Würmer« hießen, war mir nicht ganz klar, es handelte sich um zwei Zentimeter große Käfer, die mit ihren rundlichen Körpern und den metallisch schimmernden Flügeln wunderhübsch anzusehen waren. Sobald sie sich durch die Luft bewegten, begannen sie zu leuchten wie winzig kleine, schwebende Glühbirnen. Und zwar so hell, dass wir keine Taschenlampen mehr benötigten. »Ich wette, Onkel Molly hat noch nie in seinem Leben ein Loch gebuddelt.«

Onkel Molly hieß eigentlich Jean-Baptiste Molière und war der Mann, den Jeanne d’Arc für die Organisation des Abschlussballs engagiert hatte, der an unserer Schule stattfinden sollte. Obwohl Jeanne ihn vor unserem Schulleiter als ihren reichen Onkel ausgab, war er weder mit ihr verwandt noch verschwägert. Sondern lediglich, um es mit ihren Worten auszudrücken, »jemand, der mir noch einen Gefallen schuldet«. Denselben Satz hatte sie übrigens auch verwendet, um ihr Verhältnis zu dem verschwundenen Konzertmeister der Kammersymphoniker zu beschreiben sowie zu dem Typ, der die leuchtenden Schwebewürmer besorgt hatte. Offenbar hatte Jeanne d’Arc in ihrem mehr als sechshundertjährigen Leben einer Menge Leute einen Gefallen getan. Und es musste sich um wirklich große Gefallen handeln, denn Onkel Molly war, wie eine kurze Netzrecherche bestätigt hatte, ein weltweit gefragter, preisgekrönter Kostümbildner sowie Film- und Bühnenausstatter. Seine Firma Molière Equipment beschäftigte vierundsiebzig festangestellte Mitarbeiter und besaß unter anderem einen Fuhrpark mit einhundertzwanzig Oldtimern sowie ganze Hallen voller Kostüme und Möbeln aus allen Epochen. Die Gestaltung von Schulbällen stand sicher nicht in seinem Portfolio, außer sie fanden in einem Hollywoodfilm statt. Jeannes Versicherung, die Dekoration würde »episch« werden, war also vermutlich noch untertrieben.

Es war verrückt, aber die gesamte Oberstufe des Lessing-Gymnasiums, einschließlich der Lehrer, befand sich mittlerweile im Ballfieber. Erst recht seit feststand, dass wir mit den Kostümen einer bekannten Jane-Austen-Verfilmung ausgestattet werden würden. AGs wie »Tanzen wie die Bridgertons« oder »Die schönsten Ballfrisuren selbstgemacht« erfreuten sich großer Beliebtheit, mehrere Jungs hatten sich lustige Koteletten wachsen lassen, der Kunst-Grundkurs hatte stilechte Tanzkarten designt, und Lilly Goldhammer hatte angekündigt, eine Diamanttiara aus dem Nachlass ihrer adeligen Urgroßmutter zu tragen. Sogar Leopold und Luise beteiligten sich voller Begeisterung an der Vorbereitung. Sie hatten auch nur ganz leise dagegen protestiert, dass das Holzkreuz, das normalerweise unter einem der Fenster an der Stirnseite der Aula hing, vorübergehend einer Galerie aus goldgerahmten Ölgemälden weichen sollte. Leopold erzählte jedem, der es nicht hören wollte, dass der Gentleman von damals stets ohne Unterhose unterwegs gewesen war, weil Unterhosen noch nicht erfunden worden waren, und Luise – nun, Luise schien in den letzten Wochen mit den Gedanken ständig woanders zu sein. Genauer gesagt, seit sie an Quinns Geburtstagsparty für einige Stunden verschwunden war und ihr Handy irgendwo im Gebüsch hatte liegen lassen. Als sie wieder auftauchte – wir hatten gerade angefangen, uns Sorgen zu machen –, behauptete sie, von einem extrem gut aussehenden Mann mit starken Armen entführt worden zu sein. Der habe sich dann aber spontan in sie verliebt und sie zwei Stadtteile weiter wieder freigelassen. Weshalb es auch überhaupt nicht nötig wäre, zur Polizei zu gehen, zumal sie sich ebenfalls verliebt habe. Wir vermuteten, dass Luise aus Versehen einen der nicht patentierten Haschkekse aus Gereon Meyers 3D-Drucker probiert und sich diesen Entführer samt der seltsamen Geschichte dann irgendwie zusammenphantasiert hatte. So oder so konnte sich niemand über die veränderte Luise beklagen: Sie lächelte öfter und petzte viel weniger.

Die Schwebewürmer beleuchteten die Stufen der gusseisernen Wendeltreppe, die weiter in die Tiefe führte, und wie neuerdings immer, wenn wir uns dem Geheimraum näherten, wurde mir ein wenig mulmig zumute. Das lag daran, dass sich hier unten so einiges geändert hatte.

Nach dem Tod der Himäre Hasret, eines extrafiesen Dämons, an den sich außer Quinn und mir leider niemand mehr erinnern konnte, hatten Jeanne und Onkel Molly das geheime Portal, das vom jetzt nicht mehr ganz so geheimen Geheimraum nach Schattenstadt in den Saum führte, für diverse Schmuggelgeschäfte benutzt. In Einzelheiten waren wir nicht eingeweiht. Jeanne nannte es natürlich auch nicht »Schmuggeln«, sondern »Transfer heikler Güter«. Durch den Schwarzalbenaufstand hatte das Geschäft allerdings sehr gelitten. Seit dem Aufstand wurden die wenigen offiziellen Portale in Schattenstadt nämlich dauerhaft bewacht, und eine verstärkte Nexpräsenz machte es zusätzlich schwer, mal eben etwas von einem Portal zum anderen zu bringen, vor allem wenn es illegal war.

Der Aufstand selbst war zwar innerhalb von vierundzwanzig Stunden niedergeschlagen worden, und es hatte sich herausgestellt, dass nicht mehr als fünfzig Schwarzalbenrebellen daran beteiligt gewesen waren, dennoch standen immer noch alle Schwarzalben unter Generalverdacht und durften Schattenstadt vorerst nur mit ausdrücklicher Genehmigung verlassen. Wenn jemand außerhalb von Schattenstadt erwischt wurde, kam es nicht selten vor, dass er verhaftet und erst Wochen später wieder freigelassen wurde. Einige Schwarzalben verschwanden auch einfach von der Bildfläche, und es kursierten erschreckende Gerüchte darüber, was die Nex alles Übles mit ihnen anstellten. Wie viele Schwarzalben dabei getötet worden waren, wusste wahrscheinlich niemand so genau, denn Saumwesen wurden ja sofort vergessen, wenn sie starben.

Aber auch die wenigen Schwarzalben, die sich seit vielen Jahrzehnten eine Existenz außerhalb des Saums aufgebaut hatten und ein bürgerliches Leben auf der Erde führten, waren von den Repressalien der Arkadier betroffen. So wie die Königlich-Skandinavischen Kammersymphoniker, die mitten in der Nacht von Nex aus ihrem Hotel geholt und nach Schattenstadt gebracht worden waren, obwohl sie dort weder Kontakte noch eine Wohnung besaßen. Manche von ihnen hatten den Saum schon ewig nicht mehr betreten.

Das Orchester war vor allem deshalb in den Fokus der Ermittlungen geraten, weil es sich zum Zeitpunkt der Überfälle auf Europatournee befunden und gerade ein Freiluftkonzert in Paris gegeben hatte, und zwar ausgerechnet im Bois de Boulogne, wo sich eins der beiden angegriffenen Portale befand. Für die Nex stand sofort fest, dass das kein Zufall gewesen sein konnte, ihrer Ansicht nach seien die Kammersymphoniker an dem Komplott beteiligt, und ihr Konzert habe als Ablenkungsmanöver gedient. Die Annahme war durchaus nachvollziehbar, zumal der Konzertmeister und die zwei Bratschisten ja am selben Abend inmitten des Tumults verschwanden und bis heute nicht wieder aufgetaucht waren. Die übrigen siebzehn Musiker beteuerten allerdings ihre Unschuld, sie hätten nichts von diesen Plänen gewusst. Doch obwohl es keinerlei Beweise für eine Beteiligung gab, wurde das Orchester bis auf weiteres in den Saum verbannt. Nicht einmal ihre Instrumente hatten sie mitnehmen dürfen.

Vermutlich wäre Jeanne das unter anderen Umständen völlig egal gewesen, aber sie hatte den Auftritt der Kammersymphoniker für unseren Schulball bereits groß angekündigt, die Plakate waren längst gedruckt, und Jeanne hasste es, wenn ihre Pläne durchkreuzt wurden. Also versuchte sie, ihre Beziehungen spielen zu lassen, wo immer sie konnte, und ein gutes Wort für die Musiker einzulegen. Wobei »ein gutes Wort einlegen« für Jeanne Bestechung und Bedrohung miteinschloss. Als das alles nichts half, entschied sie, das Orchester kurzerhand aus Schattenstadt herauszuschmuggeln und bis zum Ball zu verstecken.

Und ehe wir es uns versahen, waren wir alle zu Fluchthelfern und Mitverschwörern mutiert.

Wobei es erstaunlich viel Spaß machte, sich um die Kammersymphoniker zu kümmern – sie waren bis auf eine unter ihrer stylischen Ponyfrisur stets feindselig dreinschauende Harfenistin namens Dagny sehr umgänglich und bescheiden. Obwohl sie luxuriöse Hotels gewohnt waren, schien es ihnen hier unter der Uniklinik hervorragend zu gefallen. Wir hatten ihnen Geld, Handschuhe und Sonnenbrillen besorgt, damit sie unerkannt durch die Stadt laufen und einkaufen konnten, ohne dass sich jemand über die Anzahl ihrer Finger oder die violetten Augen wunderte. Doch sie verspürten offenbar nicht das geringste Bedürfnis, ans Tageslicht zu gehen und zu erkunden, wo sie hier überhaupt gelandet waren. Im Gegenteil: Nachdem sie ihre Instrumente wiederhatten – Faris und Nadim waren nach Paris gefahren, um den verwaisten Tourbus des Orchesters zu holen –, schienen sie wunschlos glücklich zu sein. Nicht mal Torve, der Pianist, der auf sein sperriges Instrument aus naheliegenden Gründen verzichten musste, beschwerte sich. Er frischte stattdessen seine Bratschenkünste auf, um wenigstens einen der verschwundenen Musiker vertreten zu können. Die meisten von ihnen waren mindestens ein paar hundert Jahre alt und beherrschten mehr als ein Instrument meisterhaft.

Den größten Teil der Zeit verbrachten sie allerdings nicht mit Musizieren, sondern mit Bauen. Und auch hierbei schienen sie magische Fähigkeiten zu besitzen, anders war nicht zu erklären, wie sie es in so kurzer Zeit geschafft hatten, eine ganze Zimmerflucht ins Erdreich zu graben, obwohl es ihnen vorne und hinten an Werkzeug fehlte.

Wenn sie nicht gerade bauten oder musizierten, vertrieben sich unsere Musiker ihre Zeit zum Beispiel mit dem Dressieren der Schwebewürmer, die ihnen tatsächlich auf Handzeichen folgten. Wie die Feen besaßen Schwarzalben eine besondere Verbindung zu Tieren und Tierwesen, weshalb sie sich auch nicht vor den Ratten, Spinnen, Kellerasseln und anderem Viehzeug ekelten, das hier unten hauste. Außerdem liebten sie Spiele aller Art. Julie und ich brachten Ingvi und Skipp, den beiden Cellisten, gerade Doppelkopf bei und sie uns im Gegenzug ein Spiel namens Knute-Ute, bei dem man strategisch Seile aneinanderknüpfen und einen Knoten mit einem anderen übertrumpfen musste. Was sehr viel lustiger war, als es sich zuerst anhörte. Julie war regelrecht besessen von diesem Spiel.

Hier unten war es seit der Ankunft des Orchesters nicht zuletzt dank der Teppiche, Bodenkissen und Stoffe, die Onkel Molly für die neuen Zimmer angeschleppt hatte, richtig heimelig geworden. Wenn dann noch, so wie jetzt, schon von weitem fröhliche Klarinettenmusik zu hören war und einem der Duft von gerösteten Sonnenblumenkernen in die Nase stieg, vergaß man vollkommen, dass man sich eigentlich in der Kanalisation befand.

Und trotzdem überkam mich bei jedem meiner Besuche hier von neuem dieses mulmige Gefühl. Denn mit der Idylle konnte es von einem Augenblick auf den nächsten vorbei sein.

Um die Schwarzalben zu evakuieren, hatte Eric nämlich den komplizierten Passwortmechanismus außer Kraft setzen müssen, der das Portal sicherte und bisher verhindert hatte, dass jemand aus dem Saum in den Geheimraum gelangen konnte, wenn er das Portal nicht zuvor von hier aus passiert hatte. Das Problem war, dass Eric das System zwar komplett hatte abschalten können, aber nicht mehr in der Lage gewesen war, es zu reinstallieren. Und jetzt konnte praktisch jeder durch das Portal latschen, wenn er wusste, wo es lag. So hätte beispielsweise Hasret, die bösartige Himäre, die sich als Faris’ und Nadims Mutter ausgegeben und nicht weniger als die ganze Welt mit ihren dämonischen Kräften hatte verseuchen wollen, ein leichtes Spiel gehabt. Vielleicht machte diese Vorstellung den anderen keine Angst, weil sie Hasret schlichtweg vergessen hatten, aber es gab im Saum ja noch genügend andere Wesen zum Fürchten. Ich konnte jedenfalls nicht verstehen, wie sie es alle schafften, so sorglos zu sein. Auch Julie, für die das Ganze hier ja noch ziemlich neu war. Sie hätte eigentlich total eingeschüchtert und verschreckt sein müssen. Aber sie war … nun ja, sie war eben Julie.

Als wir den Geheimraum betraten, rief sie laut: »Wackelpudding für alle!« und ließ sich dafür von Skipp umarmen. Ingvi nahm mir mit einem strahlenden Lächeln Eimer und Spitzhacke ab, und Espen, der Flötist, winkte uns aus dem Nebenraum zu. Er war es, der gerade Sonnenblumenkerne röstete. Nur Dagny, die Harfenistin, machte wie immer ein finsteres Gesicht. Sie griff sich die Axt und verschwand damit grußlos im Gang, hinter Ingvi her.

Mein Blick glitt sofort zum Portal hinüber. Wie meistens standen die beiden hölzernen, mit Schnitzereien verzierten Türflügel weit offen, so dass man das Mauerwerk dahinter sehen konnte. Daneben lehnten Quinns Gehhilfen an der Wand, er war also gerade in Schattenstadt unterwegs. Na toll, eigentlich waren wir hier verabredet gewesen – und jetzt war er gar nicht da. Dabei war unsere Zeit heute knapp bemessen, weil am Abend bei uns zu Hause die Abschiedsfeier für Matías, unseren Austauschstudenten, stattfand, bei der ich nicht fehlen durfte.

Hier im Geheimraum sah es bis auf ein paar bunte Bodenkissen und eine Vase frischer Blumen, mit denen uns Hyazinth neuerdings versorgte, aus wie früher: ein Schreibtisch mit dem orangefarbenen Siebziger-Jahre-Telefon, Erics Laptop und seinem anderen Technikkram, eine laut tickende Wanduhr über zwei Krankenbetten, daneben Infusionsständer und fahrbare Container mit medizinischem Zubehör. Auf dem einen der beiden Betten lag der bewusstlose Faris, angeschlossen an einen Infusionsschlauch und einen Monitor, der seine Vitalfunktionen anzeigte. Sein Bruder Nadim hockte gut gelaunt mit Torve, dem Pianisten, im Schneidersitz auf dem anderen Bett. Kim, deren Haare im Licht der Siebziger-Jahre-Neonröhren kobaltblau leuchteten, saß deutlich weniger gut gelaunt zwischen den beiden Betten auf einem Stuhl. Alle drei hatten Seile in den Händen.

»Oh gut, dass ihr kommt«, begrüßte Kim uns erleichtert. »Das hier ist schlimmer als der Makrameekurs, den mir meine Tante zur Konfirmation geschenkt hat. Außerdem muss ich mit Faris’ Rückholung beginnen. Sein Puls ist schon seit ein paar Minuten nur knapp unter hundert – er scheint dort drüben etwas Aufregendes zu erleben.«

»Ich löse dich gern ab!« Julie nahm ihr das Seil aus der Hand und grinste die anderen beiden an. »Jetzt wendet sich euer Blatt, Jungs, denn die wahre Knute-Ute is in the house.«

Torve und Nadim kicherten.

Währenddessen starrte ich weiterhin auf das Portal. Jede Nacht hatte ich Albträume, von denen ich bisher niemandem erzählt hatte: Im Traum sah ich Nex in den Geheimraum poltern, zusammen mit Blutwölfen, die ich mir dank Quinns Schilderungen leider sehr plastisch vorstellen konnte, von ihren gelb glühenden Augen bis hin zu ihren kräftigen Reißzähnen. Manchmal träumte ich auch, die drei »Söhne des Nordens«, die uns in der Schule überfallen hatten, sprängen mit gezückten Dolchen durch die Mauer, vorneweg der Typ mit der Sturmhaube, und einmal hatte sich im Traum ein riesiger Skorpion in den Raum geschlichen, der genauso aussah wie der, der in einen der Türflügel des Portals geschnitzt worden war, nur zehnmal so groß. Diese Träume waren so lebendig und bedrückend, dass ich dem Portal nur ungern den Rücken zukehrte, wenn ich hier unten war, und jedes Mal, wenn das Portalfeld zu flimmern begann, klopfte mein Herz schneller.

Aber ganz offensichtlich war ich die Einzige mit einem mulmigen Gefühl, alle anderen schienen darauf zu vertrauen, dass das Portal von der Saumseite unentdeckt blieb, schließlich lag es dort unsichtbar in eine Mauer eingebettet, auf halbem Weg in den Untergrund.

Eric stieß mich in die Rippen. »Schau nicht so düster, Matilda. Im Gegensatz zu den anderen verhalten wir beide uns jetzt mal wie Erwachsene und kümmern uns um die Sache mit dem Administrator.« Er zeigte auf das Telefon.

Richtig, er hatte ja eine Idee. »Ich bin gespannt«, sagte ich, dankbar für die Ablenkung, und warf einen letzten Blick auf das Portal. Genau in diesem Moment verwandelte sich das Mauerwerk in ein Flimmerfeld.

Und wie aufs Stichwort begann mein Herz zu rasen.

Quinn

Ich duckte mich unter dem sichelförmigen Messer hinweg, das unmittelbar über meinen Kopf hinwegsauste, und ging hinter einem Ohrensessel in Deckung. Gerade noch rechtzeitig, um einem zweiten Messer zu entgehen, das sich hinter mir in die mit alchemistischen Symbolen tapezierte Wandverkleidung bohrte.

Keine Ahnung, warum ich so überrascht war, aber irgendwie hatte ich wohl erwartet, vor einem Kampf wenigstens noch ein paar halbwegs zivilisierte Worte der Vorstellung, Verhandlung oder gegenseitigen Einschüchterung auszutauschen. Eine höfliche Vorwarnung wäre doch das Mindeste gewesen. Aber nein – diese Arschgeigen wollten uns umbringen, bevor sie überhaupt wussten, wer wir waren.

Dummerweise hatte Faris sich verzählt – es waren nicht zwei unheimliche Typen mit Schnabelmaske, die das Orakel entführen wollten, sondern vier. Und sie waren Weltmeister im Messerwerfen. Die eigenartigen Sicheldolche glitten pfeilschnell durch die Luft und kehrten wie Bumerangs zu ihren Besitzern zurück, wenn sie nicht irgendwo stecken blieben. Noch unheimlicher als die schwarzen Schnabelmasken, die ihre Gesichter bedeckten, war die Stille, die von den Typen ausging: Sie schwiegen nicht nur, sie gaben nicht mal den kleinsten Pieps von sich, keine Rufe, kein Ächzen, kein Keuchen, nichts. Nur das unheilvolle Sirren ihrer Dolche. Ich war nicht mal sicher, ob sie überhaupt atmeten.

Der Schnabeltyp, der die zappelnde und wild um sich tretende Madame Mirabelle gepackt hielt, hatte als Einziger keine Hand frei, dafür warfen die drei anderen Schnäbel mit Messern um sich, als würden sie dafür bezahlt. Was ja wahrscheinlich auch der Fall war. Ich warf mich zurück, und mein Windstoß ging ins Leere. Lediglich den Kronleuchter hatte ich ins Schwanken gebracht.

Faris hatte nicht so viel Glück wie ich, ihn erwischte einer der Dolche am Hals. Mit einem Aufschrei brachte er sich hinter einem Sofa aus der Schusslinie und fasste sich an den blutenden Hals. »Ich glaube, der Sternocleidomastoideus ist durchtrennt«, rief er aus. »Ruf einen Krankenwagen. Ich muss meinen Kopf stabili-«

»Zieh das Messer einfach raus«, unterbrach ich ihn. »Dein Körper liegt ganz entspannt drüben im Geheimraum, vergessen?«

»Ach ja, stimmt.« Faris sah mich erleichtert an. »Wir sind hier ja im Saum.«

Eine Tatsache, die ich mir auch gerade dringend in Erinnerung rufen musste – das hier war der Saum, und im Saum war man unsterblich, selbst wenn einem ein Sichelmesser den Sterno-was-auch-immer zerfetzte und das Blut meterweit spritzte. So wie das des einen Schnabelmannes, dem Jeanne gerade mit einem lauten Wutschrei einen ihrer Dolche in die Brust gerammt hatte. Im nächsten Moment nagelte sie ihn mit einem zweiten Dolch an der Wand fest. Gruseligerweise blieb der Typ bei diesem Gemetzel immer noch vollkommen stumm, nicht mal der leiseste Seufzer war von ihm zu hören.

Faris stöhnte dafür umso lauter, als er sich das Messer mit einem beherzten Ruck aus dem Hals zog. »Scheiße, tut das weh!«, brüllte er.

Im Gegensatz zu mir hatte Faris jetzt wenigstens eine Waffe. Allerdings neigte sich sein Kopf bedenklich zur Seite, als er versuchte, sich aufzurichten und über die Sofakante zu spähen. »Okay, das wären dann drei von denen gegen uns fünf – das müsste doch zu schaffen sein, oder?«

Offenbar hatte er bei dieser Rechnung den an die Wand genagelten Schnabelmann schon abgezogen, dafür auf unserer Seite das zierliche Orakel und ihren Freund Zahnstocher-Karl mitgezählt, der gleich hinter Jeanne ins Haus gestürmt war. Seine »Lasst meine Miri in Ruhe, ihr Schnabelschweine«-Rufe waren allerdings verstummt, wahrscheinlich war er ebenfalls von einem Sichelmesser niedergestreckt worden. Die Schnabeltypen schienen einen unendlichen Vorrat dieser tückischen Teile zu besitzen, denn nach wie vor sausten etliche gleichzeitig durch den Raum. Ich schaffte es nie, lange genug hinter meinem Ohrensessel aufzutauchen, um die genaue Position der Werfer zu bestimmen, und als ich auf gut Glück einen Windstoß losschickte, erntete ich nur ein »Verdammt, Quinn!« von Jeanne, die wiederum überall gleichzeitig zu sein schien. Da mittlerweile alle ihre Dolche aufgebraucht waren, hatte sie angefangen, mit Feuer zu schleudern.

In diesem Augenblick sah ich Karl an Faris’ Sofa vorbeirobben. Aus seinem Rücken ragte zwar ein Sichelmesser, dennoch krabbelte er zielstrebig auf eine Art Zelt zu, das in der Zimmerecke von der Decke hing, ein Baldachin aus mit Sternbildern bemalten Tüchern. Dort angekommen stieß er ein Tischchen mit einer Kristallkugel beiseite und öffnete eine Klappe im Boden. Eine Falltür? Ein Kartoffelkeller machte hier im Saum nicht wirklich Sinn, also vermutete ich eine Art Notausgang.