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Wer sagt denn, dass der Pate immer alt, übergewichtig und männlich sein und mit heiserer Stimme sprechen muss? Nichts gegen Marlon Brando, aber warum sollte der Job nicht auch mal von einer Frau gemacht werden? Einer Blondine. Mit langen Beinen. Gestählt durch die Erziehung einer pubertierenden Tochter und eines vierjährigen Sohnes. Und wahnsinnig verliebt in Anton, den bestaussehenden Anwalt der Stadt. Constanze ist "die Patin" der streng geheimen Mütter-Mafia. Gegen intrigante Super-Mamis, fremdgehende Ehemänner und bösartige Sorgerechtsschmarotzer kommen die Waffen der Frauen zum Einsatz. Ein Angriff auf Ihre Lachmuskulatur.
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Seitenzahl: 418
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Zitat
Nellys absolut streng geheimes Tagebuch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
Danksagung
Kerstin Gier hat als mehr oder weniger arbeitslose Diplompädagogin 1995 mit dem Schreiben von Frauenromanen begonnen. Mit Erfolg: Ihr Erstling Männer und andere Katastrophen wurde mit Heike Makatsch in der Hauptrolle verfilmt, und auch die nachfolgenden Romane erfreuen sich großer Beliebtheit. Ein unmoralisches Sonderangebot wurde mit der »DeLiA« für den besten deutschsprachigen Liebesroman 2005 ausgezeichnet. Heute lebt Kerstin Gier, Jahrgang 1966, als freie Autorin mit Mann, Sohn, zwei Katzen und drei Hühnern in einem Dorf in der Nähe von Bergisch Gladbach.
KERSTIN GIER
Die Patin
ROMAN
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
© 2006 by Kerstin Gier und Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von Motiven von © arigato / shutterstock.com; © CSA Images / gettyimages
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0067-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für radschkumari, stella2802, humer-heiligenberg, katerbaer, kittekat12, Lolle aus Berlin und die besonders netten Leserinnen aus Wuppertal, Darmstadt, Hamburg, Hannover, Ettlingen, Haiger, Euskirchen, Bayern und PC hinterm Sofa!
Ihr wisst gar nicht, wie viel Freude fünf Sterne machen können!
Dieses Buch ist nicht – ich wiederhole NICHT – für die Rezensentin aus Düsseldorf. Geh doch und schaufle dir ein Loch!
»Dass einem eine Sache fehlt, sollte einen nicht davon abhalten, alles andere zu genießen.«
Jane Austen
Nellys absolut streng geheimes Tagebuch
12. Juni
Lara ist in Max verliebt.
Max ist in mich verliebt.
Ich bin in Moritz verliebt.
Moritz ist in Lara verliebt.
Wie gemein kann das Leben denn noch sein?
Papa sagt, er würde alles darum geben, noch mal vierzehn zu sein. Mit vierzehn sei das Leben noch so herrlich leicht und unkompliziert. Ist der bescheuert oder was? Ich meine, was für ein Scheißleben muss man geführt haben, um sich mit fünfundvierzig noch mal zu wünschen, vierzehn zu sein???? Ich hab Papa gefragt, was er denn falsch gemacht hat, denn vielleicht kann ich ja aus seinen Fehlern lernen. Aber er hat bloß blöd gegrinst und gefragt: »Heißen die wirklich Max und Moritz?« Na ja, auf jeden Fall werde ich schon mal nicht Jura studieren und Volvo fahren. Und wenn ich heirate und Kinder kriege, werde ich sie nicht ein paar Jahre später für ein hippes Model sitzen lassen. Und ich werde die Finger von diesen ekelhaft scharfen Bonbons lassen, die er immer futtert. Wahrscheinlich machen die matschig in der Birne. Unkompliziert, haha, dass ich nicht lache. Mein Herz ist schwer wie Pudding. Unerwiderte Liebe ist so ungefähr das Schlimmste, das einem widerfahren kann, gleich nach Zahnschmerzen und Fernsehverbot.
P. S. Ein bisschen bin ich auch in Will Smith verliebt. In »Hitch« ist er ja so was von sexy. (Am Wochenende mit Lara dreimal überprüft – es lebe das Standbild!)
P. P. S. Wir haben einen neuen Jungen in der Klasse. Schade, dass Typen mit Monster-Tattoos so gar nicht mein Fall sind.
Anton sagte, dass ich ganz toll aussähe heute Abend. Er sagte es, während er den Jaguar rückwärts in eine Parklücke rangierte, eine Hand am Lenkrad, die andere in meinem Nacken. Ach, manche Momente im Leben waren einfach zu schön, um wahr zu sein.
»Danke«, sagte ich. Das Kompliment hatte ich wirklich verdient, für mein Aussehen heute war der ganze Nachmittag draufgegangen: Körper-Peeling, Beinenthaarung, Haarkur, Lockenwickler, Anti-Falten-Maske, straffende Körperlotion, Augencreme, schimmernder Körperpuder – das ganze Programm. Denn heute war »die Nacht der Nächte«, wie meine Freundin Anne es genannt hatte.
Anton wusste noch nichts davon. Aber seine Hand in meinem Nacken war schon mal ein guter Anfang.
Ich lächelte ihn an und hoffte, dass nichts von dem angeblich absolut kussechten Lipgloss an meinen Zähnen klebte. »Du siehst aber auch nicht schlecht aus.«
Das war noch sehr untertrieben. Anton Alsleben hatte es nicht nötig, mit Tricks wie Anti-Falten-Masken und schimmerndem Körperpuder zu arbeiten, er war einfach von Natur aus schön. Na ja, vielleicht nicht schön, aber sehr, sehr gut aussehend. So ein klassisches Modell im schwarzen Anzug, mit dunklen, kurz geschnittenen Haaren, kantigen Gesichtszügen und eindrucksvollen braun-grünen Augen, immer gut rasiert und manikürt. Ich fragte mich, ob er das selber machte oder ob er zu einer Maniküre ging. Zuzutrauen war es ihm durchaus. Vielleicht machte es auch seine Sekretärin.
Anton ging um den Wagen herum, öffnete mir die Beifahrertür und reichte mir seinen Arm zum Aussteigen. Daran war ich mittlerweile gewöhnt. Beim ersten Mal war ich mit ihm zusammen ausgestiegen und hatte einen lauten Schrei ausgestoßen, als ich ihn überraschend auf meiner Seite wieder getroffen hatte. Antons extrem gute Manieren erinnerten mich ständig daran, dass ich auf einem Bauernhof in Nordfriesland groß geworden war. Mein Vater hatte meiner Mutter meines Wissens nur einmal aus dem Auto geholfen, und das war, als sich ihr Gipsbein zwischen zwei Kisten mit Eintagsküken verkeilt hatte.
Es blitzte, als Anton die Wagentüre zuschlug. Ich guckte in den Himmel. Ein Sommergewitter? Bitte nicht! Das Kleid wurde garantiert durchsichtig, wenn es nass war.
»Guck mal, Constanze«, sagte Anton. »Der Typ da vorne ist ein Paparazzo! Wartet wohl auf Prominenz. Ich hörte, dass Alfred Biolek, Tina Turner und Frauke Ludowig hier öfter essen gehen.«
»Zusammen?«, fragte ich. Es blitzte wieder. Wahrscheinlich vertrieb sich der Paparazzo die Wartezeit auf Biolek, Turner und Ludowig mit dem Fotografieren weniger prominenter Gäste wie uns. Er war ganz offensichtlich ein Anfänger. Auf dem Weg zur Treppe kontrollierte ich unauffällig, ob das Kleid irgendwie verrutscht war. Das war das erste Mal in meinem ganzen Leben, dass ich keine Unterwäsche trug, und ich wollte auf keinen Fall morgen in der Bild-Zeitung abgebildet sein. Meine Freundin Mimi hatte mir zwar versichert, das Kleid würde nicht rutschen, schon weil es so eng war, dass es praktisch mit meinen Hüften verschmolzen war, aber ich traute der Sache nicht so recht. Meine Kleider neigten stets dazu, zu verrutschen, Knöpfe zu verlieren, Flecken zu bekommen und sich auch sonst in jeder Beziehung danebenzubenehmen. Dieses Kleid aber saß perfekt. Vielleicht, weil es nicht mein eigenes war, sondern von Mimi geliehen. Ein gut erzogenes Kleid. Ich zwang mich, meine Hände vom Kleid fern zu halten, und zog meinen Bauch ein.
»Nichts ist unerotischer als eine Frau, die ständig an ihren Klamotten herumzupft und zieht«, hatte Mimi behauptet, und wenn ich heute Abend eines nicht sein wollte, dann unerotisch. Schließlich war dies die Nacht der Nächte.
Auf der Treppe versuchte ich probeweise ein bisschen mit dem Hintern zu wackeln. Zur Strafe knickte ich mit den hauchdünnen Absätzen meiner Pumps um und stolperte. Das lag daran, dass es meine eigenen, schlecht erzogenen Schuhe waren. Bedauerlicherweise trug keine meiner Freundinnen Größe einundvierzigeinhalb.
Wenigstens blitzte es nicht, als ich stolperte.
Anton griff nach meiner Hand und lächelte mich an. »Ich habe Hunger, du auch?«
»Wie ein Bär«, sagte ich.
»Das mag ich an dir«, sagte Anton. »Dass du beim Essen so herzhaft zulangen kannst.«
Schon wieder ein Kompliment – oder? Ich hatte seit dem Frühstück nichts gegessen vor lauter Schönheitspflege, ich würde mir den Bauch so richtig voll schlagen können.
Aber war das auch erotisch?
Das Restaurant war eins von der piekfeinen Sorte, in dem es vor gestärktem Damast und geschliffenem Kristall nur so blinkte, alle Angestellten wie Pinguine aussahen und es für jeden Gang einen eigenen Kellner gab. Die Preise waren vermutlich so riesig wie die Portionen winzig, sodass wenigstens nicht die Gefahr bestand, dass ich Mimis Kleid um den Bauch herum unerotisch ausbeulen würde.
»Sie hatten reserviert?«, fragte der vornehme Herr hinter dem vornehmen Stehpult und blätterte in einem vornehmen Buch.
Anton nickte. »Alsleben«, sagte er. »Ein Tisch für zwei.«
Der vornehme Herr fuhr mit seinem Zeigefinger die Zeilen hinab. »Alsleben … Alsleben … – Herr Doktor Rudolf Alsleben? Tisch für vier?«
»Nein«, sagte Anton. »Der bin ich nicht.«
Der Zeigefinger fuhr weiter hinab. »Ah, hier ist es. Alsleben, Tisch für zwei Personen, am Fenster gegenüber vom Kamin.« Der vornehme Herr winkte einen Pinguin herbei, der uns an den Tisch führte. »Die Herrschaften bitte zu Tisch fünf.«
»Wusste gar nicht, dass Alsleben so ein gebräuchlicher Name ist«, sagte ich, während ich mich bemühte, nicht umzuknicken, den Bauch einzuziehen und trotzdem mit dem Hintern zu wackeln. Alles eine Frage der Koordination. »Und einen Doktortitel hatte der andere auch. Lustig, oder?«
»Nicht wirklich«, sagte Anton. »Rudolf Alsleben ist mein Vater.«
»Ach tatsächlich?«, sagte ich, während meine Knie zu Pudding wurden. »Und der ist heute Abend auch …?«
»Ja, gleich da vorne«, sagte Anton. »Komm, wir sagen schnell hallo.«
Komm, wir rennen schnell weg, wollte ich rufen, aber da war es schon zu spät. Anton war mit mir an der Hand direkt auf Tisch sieben zugesteuert. Zwei ältere Paare mit Sektflöten in den Händen blickten zu uns auf. Auf den ersten Blick bestätigten sie so ungefähr jedes Klischee, das ich über reiche, Golf spielende Beinahe-Rentner-Ehepaare parat hatte, wobei das mit dem Golfspielen natürlich ebenfalls bereits ein Klischee war: kiloweise Platin und Diamanten an Hals, Ohren und Händen, der Siegelring beim Mann, die perfekten Jacketkronen, der braune Teint, leicht runzelig bei den Männern, erstaunlich glatt bei den Frauen. Die Frauen hatten deutlich mehr Zeit und Geld in ihr Aussehen gesteckt als ich in meines. Obwohl sie mindestens fünfundzwanzig Jahre älter waren als ich, sahen sie höchstens zehn Jahre älter aus. Bei beiden sah man deutlich die Skelettstruktur im Dekolletee, was auf eine jahrzehntelange Unterernährung hinwies.
Die Männer sahen so alt aus, wie sie waren, und ihre Skelettstruktur war auch deutlich besser gepolstert als nötig gewesen wäre, dennoch verströmten sie Selbstbewusstsein aus jeder Pore. Sie erhoben sich lächelnd.
»So eine Überraschung.«
»Die Welt ist klein.«
»Schön, dich mal wieder zu sehen, mein Sohn.«
Anton ließ meine Hand los, um andere Hände zu schütteln. Seine Mutter bekam zwei Küsschen auf die Wange, sein Vater einen Klaps auf die Schulter. Er hatte Ähnlichkeit mit Anton, die gleichen braungrün gesprenkelten Augen, das gleiche dichte Haar, sogar der gleiche Haarschnitt, nur dass es bei ihm weiß wie Schnee war. Aber seine Nase war nicht so aristokratisch schmal und gebogen wie die seines Sohnes, sondern fleischig und mit geplatzten roten Äderchen überzogen. Ich konnte nichts dagegen machen, ich musste sofort an Rudolf, das Rentier mit der roten Nase denken.
Nachdem Anton alle begrüßt hatte, wandten sich ihre Blicke mir zu. Ich fühlte mich wie in einem Röntgenlabor und wünschte mir sehnlichst einen Bleiumhang herbei.
»Darf ich vorstellen«, Anton zog mich ein Stückchen an sich heran, diesmal am Ellenbogen. »Das ist Constanze Bauer, eine Klientin von mir.«
Da stand ich nun, mit einem kardinalvioletten Handtäschchen am Arm und dazu passenden Riemchen-Pumps in Größe einundvierzigeinhalb, in einem Kleid von Alaia und absolut nichts darunter.
»Du wirst dich so sexy fühlen wie nie zuvor in deinem Leben«, hatte Mimi mir versichert.
»Denn dies ist die Nacht der Nächte«, hatte Anne hinzugefügt.
Tja.
Es war einen Versuch wert gewesen. Weder Mimi noch Anne hatten ahnen können, dass dies ausgerechnet der Abend sein würde, an dem Anton mich seinen Eltern vorstellen wollte. Als seine – Klientin!
Ich unterdrückte mühsam ein Zähneklappern, während ich allen die Hände schüttelte und »Guten Abend« murmelte. Verdammt kalt, so ohne Unterwäsche.
Das andere Ehepaar hieß von Eiswurst, jedenfalls war es das, was ich in meiner Aufregung verstand. Von Eiswurst, kein wirklich adeliger Name, aber einer, den man sich gut merken konnte. Menschen lieben es, wenn man sie mit Namen anspricht, sie fühlen sich dann beachtet und wichtig, das wusste ich noch aus meinem Psychologie-Studium. Außerdem ist es höflich.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr und Frau von Eiswurst«, sagte ich. »Herr Alsleben, Frau Alsleben.«
Frau Alsleben kannte mich bereits. Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, das Sie sicher auch kennen, man nennt es auch »Pech«: Sie legen sich am Marktstand ganz gegen Ihre Gewohnheit mit einer sich vordrängelnden Frau an, und am Tag drauf stellt sich heraus, dass es sich dabei um die neue Lehrerin Ihres Sohnes handelt. Oder Sie nehmen all Ihren Mut zusammen und weisen den arroganten Typ im dicken BMW darauf hin, dass er Ihnen den allerletzten Frauenparkplatz weggenommen hat, und zwanzig Minuten später begrüßt er sie als der Gynäkologe, der Ihnen ein Myom wegoperieren soll. Genau so war es mir mit Antons Mutter ergangen: Sie hatte mir mit ihrem Mercedes Coupé die Vorfahrt genommen, und ich hatte mich mit ihr gezankt, bevor ich wusste, dass sie die Mutter des Mannes war, von dem ich nachts zu träumen pflegte. Bei jeder Begegnung hoffte ich, sie hätte mein Gesicht vergessen, aber ich hoffte jedes Mal vergebens.
»Vertritt Anton Sie in einer Strafsache?«, fragte sie zuckersüß.
Wenn Sie mir noch einmal die Vorfahrt nehmen, möglicherweise, dachte ich, sagte aber zähneklappernd: »Nein, er regelt meine Scheidung.«
»Nicht zu glauben«, sagte Rudolf mit der roten Nase. Nach seinem Blick zu urteilen schien er genau zu wissen, dass ich keine Unterwäsche trug. Das schienen mir überhaupt alle zu wissen, sogar der Kellner. »Welcher Mann lässt eine Frau wie Sie gehen?«
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte. Welcher Mann ließ eine Frau wie mich gehen? Genau genommen hatte er mich nicht gehen lassen, sondern darauf bestanden, dass ich ging und die Kinder und sämtliche gemeinsamen Erinnerungen mitnahm. An unserer Stelle war ein nicht unsympathisches Fotomodell namens Paris (sprich »Pärriss«) zu Hause eingezogen, mit hüftlangen blonden Haaren und noch längeren Beinen als meinen.
»Oberstaatsanwalt Lorenz Wischnewski«, antwortete Anton an meiner Stelle. Es klang ein bisschen schadenfroh.
»Aha«, sagten Herr von Eiswurst und Antons Vater wie aus einem Mund. Offenbar waren sie ebenfalls bei Gericht tätig. Obwohl, zumindest von Antons Vater wusste ich, dass er weder Anwalt noch Richter war. Er war leitender Geschäftsführer eines florierenden Pharmaunternehmens mit mehreren hundert Beschäftigten, das wohl nicht zufällig seinen Namen trug: Alsleben Pharmazeutik. Allerdings wurde die Firma des Öfteren verklagt, und möglicherweise hatte Antons Vater bei einer solchen Gelegenheit Lorenz’ Bekanntschaft machen können. Oder müssen.
»Na, von Herrn Wischnewski lohnt sich eine Scheidung sicherlich«, sagte Herr von Eiswurst. »Ich hörte, er hat ein Vermögen geerbt.«
Na, da wusste er mehr als ich. Lorenz hatte zwar ein paar allein stehende Onkel beerbt, aber soviel ich wusste nur in Form von hässlichen Gemälden und einer Steiffteddy-Sammlung.
»Ein sehr hübsches Kleid, meine Liebe«, sagte Frau von Eiswurst. »Nicht wahr, Polly?«
Antons Mutter nickte. »Für den, der’s tragen kann, sicher«, sagte sie.
Ich konnte nicht glauben, dass jemand wie sie einen so fröhlichen, sympathischen Namen wie Polly trug. Das warf meine Theorie, dass jeder Mensch einen Namen trug, der zu ihm passte, völlig über den Haufen. Einen scharfen Rottweiler taufte man doch auch nicht »Kuschel«.
»Unser Tisch wartet«, sagte Anton. »War nett, euch alle zu sehen. Einen schönen Abend noch.«
»Ebenso«, sagte Antons Vater, und Herr von Eiswurst zwinkerte Anton bedeutungsvoll zu. Wahrscheinlich hieß das so viel wie: »Das Mädel hat keine Unterwäsche an, mein Junge, das könnte wirklich ein sehr schöner Abend werden …«
Die beiden Frauen lächelten. Ich sagte höflich Auf Wiedersehen – »War nett, Sie kennen gelernt zu haben, Herr und Frau Alsleben, auf Wiedersehen, Herr und Frau von Eiswurst« – und stöckelte mit Anton davon. Der Pinguin, der uns an den Tisch führen sollte, hatte die ganze Zeit geduldig gewartet.
Als wir saßen, nur zwei Tische weiter als Antons Eltern, fragte ich das Erste, was mir durch den Kopf ging: »Von welchem Namen ist Polly die Abkürzung?«
»Apollonia«, sagte Anton.
Na bitte, das passte doch wieder.
»Und die Leute hießen übrigens von Erswert«, sagte Anton. Er sah aus, als ob er sich nur mühsam ein Lachen verkneifen könne. »Sie sind alte Freunde von meinen Eltern, früher habe ich Tante Julchen und Onkel Fred zu ihnen gesagt.«
»Zu wem?«, fragte ich irritiert.
»Zu den Leuten, die du Eiswurst genannt hast«, sagte Anton.
»Was?« Ich wurde nachträglich knallrot. Wie dämlich! Ich meine, wer hieß denn schon Eiswurst? Und dann auch noch mit einem »von« davor. Ich hätte mich ohrfeigen können, dass ich den Namen auch noch so oft wiederholt hatte. Aber warum hatte Anton mich nicht in die Rippen gestoßen beim ersten Mal?
Überhaupt – warum grinste er so blöd?
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich wollte wirklich einen guten Eindruck machen, als deine Klientin.«
»Oh, das hast du bestimmt«, sagte Anton. Spätestens jetzt hätte er sagen müssen, dass ich für ihn weit mehr als seine Klientin war, aber er tat es nicht. Vielleicht war seine Hand nur ganz aus Versehen in meinem Nacken gelandet, weil Anton einen Platz gebraucht hatte, wo er sie ablegen konnte. Ich widmete mich verunsichert der Speisekarte. Bis jetzt verlief der Abend so ganz anders, als Mimi und Anne es für mich geplant hatten. Wenn das so weiterging, würde der Augenblick wohl niemals kommen, in dem ich meine Beine lasziv übereinander schlagen, Anton tief in die Augen blicken und ihm mit leiser Stimme mitteilen sollte, dass ich keine Unterwäsche trug. Wie sollte ich da auch eine geschickte Überleitung finden? »Apropos Eiswurst, du, ich habe übrigens unter diesem Kleid absolut nichts drunter …«
Ich konnte gar nicht verstehen, wie ich mich dazu hatte überreden lassen.
Es war überhaupt nur passiert, weil meine Freundinnen nicht fassen konnten, dass zwischen Anton und mir noch nichts gelaufen war. Beide hatten sie am Nachmittag in meinem Schlafzimmer herumgelungert und mir bei den Vorbereitungen für dieses Rendezvous geholfen. Das heißt, Mimi hatte geholfen (sie lieh mir das Kleid, Ohrringe und Kosmetika), Anne hatte mich nur noch nervöser gemacht, als ich ohnehin schon war.
»Und ihr habt wirklich noch nicht …?« Sie hatte mich mit großen Augen angesehen.
Ich hatte den Kopf geschüttelt.
»Nicht mal …?«
»Na ja – beinahe«, sagte ich.
Anne seufzte. »Aber geküsst habt ihr euch doch wenigstens, oder?«
»Ich dachte, das meintest du gerade«, sagte ich verwirrt.
»Herrje«, sagte Anne.
»Ich verstehe das auch nicht«, sagte Mimi. Sie lag rücklings auf meinem Bett, die Füße auf dem Kopfkissen, und streichelte sich den Bauch. Sie war in der zwölften Woche schwanger und streichelte sich permanent über den Bauch. »Ihr wart doch in den letzten vier Wochen mindestens sechsmal miteinander aus.«
»Fünfmal«, sagte ich. »Zweimal essen, einmal Kino, einmal Theater.«
»Das sind nur viermal«, stellte Anne klar. Sie hockte neben Mimi auf dem Bett und stützte ihre erdigen Hände auf dem weißen Leinen ab. Ihre freien Nachmittage verbrachte sie überwiegend mit Gartenarbeit. Sogar wenn sie bei mir war, zupfte sie immer irgendwo Unkraut aus den Beeten.
»Letztes Wochenende waren wir mit den Kindern zum Wandern im Siebengebirge«, sagte ich. »Aber daran erinnere ich mich nur ungern.« Antons Tochter Emily hatte außer mit Anton mit niemandem gesprochen, meine Tochter Nelly hatte ununterbrochen telefoniert und SMS verschickt, und mein Sohn Julius hatte sich auf dem Drachenfels in die schöne Aussicht übergeben. Dummerweise war Plexiglas zwischen ihm und der schönen Aussicht gewesen.
»Aber Anton und du, ihr habt unterwegs Händchen gehalten«, sagte Mimi hoffnungsvoll.
Ich schüttelte wieder den Kopf. »Wie man’s nimmt. Ich hab Julius’ Händchen gehalten und Anton Emilys. Es war ein ziemlicher Reinfall, und wir haben beschlossen, den Kindern noch ein wenig Zeit zu geben, sich an die Situation zu gewöhnen.«
»Na toll«, sagte Anne. »Und ich dachte, wenigstens du hast ein aufregendes Liebesleben.«
»Aufregend ist es ja«, sagte ich.
Anne und Mimi wechselten einen ziemlich überheblichen Blick.
»Wie alt bist du noch mal, Constanze?«, fragte Mimi.
»Fünfunddreißig«, sagte ich und unterdrückte einen Seufzer.
»Und wann hattest du das letzte Mal Sex?«
»Mit einem Mann«, setzte Anne hinzu. »Vibrator gilt nicht.«
Ich wurde ein bisschen rot. Anne und Mimi hatten keine Probleme damit, mit Begriffen wie »Vibrator«, »Fellatio« und »a tergo« um sich zu schmeißen, ständig erzählten sie mir intime Dinge aus ihrem Leben, die ich überhaupt nicht wissen wollte. Im Gegenzug wollten sie dann Antworten auf Fragen wie »Kannst du in jeder Stellung einen Orgasmus bekommen?« oder »Was findest du besser: beschnitten oder unbeschnitten?«. Wenn ich keine Antwort gab, hieß es sofort, ich sei verklemmt. Vielleicht stimmte das ja. Einen Vibrator zum Beispiel hatte ich noch nie in meinem Leben in der Hand gehabt. Ich kannte das Ding nur aus Katalogen, wo eine Frau es sich unerklärlicherweise an die Schulter hielt und dabei glücklich lächelte. Aber wenn ich das Anne und Mimi verriete, würden sie mir einen Vibrator zum nächsten Geburtstag schenken und mich ständig darüber ausfragen.
»Wartet mal, das ist jetzt … – also, ich glaube, das war im Oktober«, sagte ich. »Einen Tag, bevor Lorenz die Scheidung wollte. Warum fragt ihr immer so blöd?«
»Weil wir jetzt Juni haben«, sagte Mimi. »Kein Mensch kann so lange ohne Sex leben.«
»Na ja, leben kann man schon ohne«, sagte Anne und popelte ein bisschen an ihren Fingernägeln herum. »Also, ich habe das letzte Mal mit meinem Mann geschlafen, das war, lass mich überlegen, tja, ich glaube, das war, als ich schwanger wurde.«
»Oh!« Mimi richtete sich ruckartig auf. »Warum hast du uns denn nichts davon gesagt? Das ist ja wunderbar!«
Anne sah sie verständnislos an. »Was ist denn daran wunderbar?«
»Das mit der Schwangerschaft«, sagte Mimi. »Ich freu mich ja so!«
»Welche Schwangerschaft?«
Mimi schnaubte ungeduldig. »Du hast doch gerade gesagt, dass du bei deinem letzten Mal schwanger geworden bist!«
»Ja, mit Jasper«, sagte Anne. »Du Schaf.«
Ich lachte so laut auf, dass meine Antifaltenmaske in kleinen Bröckchen durch das Zimmer flog, während Mimi sich wieder auf das Bett plumpsen ließ. Jasper war Julius’ bester Freund und wurde in diesem Herbst fünf Jahre alt.
Mimi warf eine Puderdose nach Anne. »Du willst mir allen Ernstes erzählen, dass dein Mann und du seit über fünf Jahren enthaltsam lebt?«
»Aber nein«, sagte Anne.
»Ich dachte schon«, sagte Mimi, die – wenn die Berichte zutrafen – täglich mit ihrem Mann Ronnie das Kamasutra von vorne bis hinten durchturnte.
»Nur ich lebe enthaltsam, mein Mann vögelt seine Sekretärinnen«, sagte Anne.
Mimi und ich waren gleichermaßen schockiert, ich wegen der Wortwahl, Mimi wegen der Tatsache, dass Annes Mann sie betrog. Mir war das bereits bekannt gewesen. Annes Mann war mir, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte, zutiefst unsympathisch, allein aus Annes Erzählungen. Er betrog Anne nicht nur, er beteiligte sich auch in keiner Weise an der Hausarbeit. Jahrelang hatte er sich gegen die Anschaffung eines Wäschetrockners gesträubt, gab aber jedes Jahr ein Vermögen für seine Motorräder aus. Und er war nicht mal besonders nett zu den Kindern. Aus irgendeinem Grund blieb Anne aber trotzdem bei ihm. Obwohl er zu allem Überfluss auch noch Hansjürgen hieß, ohne Bindestrich.
Anne lächelte Mimi beruhigend an. »Mir geht es gut«, versicherte sie. »Du glaubst ja gar nicht, wie viele Frauen mit einem noch viel übleren Sack verheiratet sind. Ich sehe das täglich in meinem Job.« Anne war Hebamme. Ich liebte die Geschichten, die sie uns von all ihren schwangeren und frisch entbundenen Patientinnen erzählte. Am liebsten hatte ich die von den Hausgeburten, bei denen die ganze Familie einschließlich der Schwiegereltern und der Haustiere bei der Geburt dabei sein durften und beim Abbrennen von Duftkerzen »We shall overcome« gesungen wurde. »Du und Ronnie, ihr beide seid die ganz große Ausnahme. Ich habe jedes Mal Tränen in den Augen, wenn ich euch beide anschaue. Die wahre Liebe. Ihr habt mir den Glauben daran zurückgegeben. Ihr und Titanic und Rosamunde Pilcher.«
Mimi schluckte. »Sagtest du Sekretärinnen? Mehrzahl?«
»Ja, aber nicht alle auf einmal. Er wechselt alle paar Monate.«
»Ist er denn – ähm – sexsüchtig, oder so?«
Anne zuckte mit den Schultern. »Nein, er ist einfach ein Arschloch«, sagte sie. »Er sagt, es ist meine Schuld. Männer gingen nur fremd, wenn ihnen etwas fehlt, und Hansjürgen sagt, mir fehlt es an echter Weiblichkeit und Herzenswärme. Wahrscheinlich hat er sogar Recht. Ich bleib ja nur bei ihm wegen des Ehevertrages. Meine Kinder und ich müssten im Fall einer Trennung das Haus verlassen, und von meinem Gehalt kann ich mir nur eine Wohnung leisten, ohne Garten. Das kann ich den Kindern nicht antun.«
Ich verabscheute Hansjürgen wieder mal aus ganzem Herzen. Wahrscheinlich war er auch noch klein und dick und hatte Mundgeruch.
»Solche Geschichten machen mich immer ganz fertig«, sagte Mimi. »Eigentlich müssten doch viel mehr Männer mit Bratpfannen über den Köpfen tot aufgefunden werden. Ich hoffe nur, dass Nina-Louise niemals an so einen Scheißtyp gerät.« Nina-Louise war der Name, den Mimis Baby tragen sollte, wenn es geboren wurde, irgendwann nach Weihnachten. Mimi hatte es in dem Augenblick Nina-Louise getauft, als sie gesehen hatte, dass der Schwangerschaftstest zwei rosa Streifen im Sichtfeld aufwies. Manchmal nannten Anne und ich den Fötus scherzeshalber Heinz-Peter, schon weil über das Geschlecht ja noch gar nichts bekannt war, aber dann wurde Mimi böse. Sie hatte Nina-Louise und Nina-Louises Leben schon sehr plastisch vor Augen, und von allem, was wir wussten, würde es ein wunderbares Leben werden.
»Nina-Louise werden wir in einen Selbstverteidigungskursus für Mädchen schicken, sobald sie stehen kann«, sagte ich energisch. Ich war nämlich Nina-Louises Patentante und durfte bei so etwas mitreden. »Wir von der Mütter-Mafia werden ihr zeigen, dass man eine Bratpfanne nicht nur zum Kochen benutzen kann.«
In unserer Siedlung gab es einen sehr elitären Club, der sich »Mütter-Society« nannte, und die Mütter dort waren für die Insektensiedlung das, was die weiblichen Mitglieder der Familie Oleson für Walnut Grove von »Unsere kleine Farm« gewesen sind. Deshalb hatten Anne, Mimi, meine verrückte Freundin Trudi und ich eine Art kreative Gegenbewegung gegründet, die »Mütter-Mafia«, von der allerdings nicht ganz feststand, wozu sie eigentlich da war. Fest stand nur, dass ich mich eindeutig besser fühlte, seit es sie gab. Unser Motto war so schlicht wie das von den Musketieren: Alle für eine, eine für alle.
»Aber ich will auch nicht, dass sie in dem Glauben aufwächst, Männer seien Schweine«, sagte Mimi.
»Aber Männer sind …«, begann Anne.
»Das will ich auch nicht«, sagte ich schnell. »Wir werden sie also zusätzlich mit Jane-Austen-Romanen und Titanic-Videos füttern, damit sie die Bratpfannenmänner von den guten Männern unterscheiden kann – und dann darfst du nicht vergessen, dass ihr eigener Papi ja ihr allergrößtes Männer-Vorbild sein wird.«
»Wir wollen aber nicht vom Thema abkommen«, sagte Anne. »So interessant ich das auch finde, über Nina-Louise zu reden« – an dieser Stelle verdrehte sie die Augen –, »waren wir ja eigentlich bei Constanze und Anton. Es ist doch so, Constanze, nur weil ich so ein lausiges Sexualleben habe, musst du es ja nicht nachmachen. Zumal du und Anton euch doch gerade erst kennen gelernt habt und noch so richtig scharf aufeinander sein müsstet.«
»Das stimmt. So kann das mit euch nicht weitergehen«, sagte Mimi. »Sogar ein Blinder sieht, dass Anton und du füreinander geschaffen seid. Ich meine, ich muss das wissen, ich habe euch beide schließlich miteinander verkuppelt! Und ich verstehe das nicht: Der Mann lässt sonst wahrlich nichts anbrennen!« Mit einem Seitenblick auf mich setzte sie schnell hinzu: »Ich meine, nicht dass er wahllos in der Gegend rumvögelt oder so, aber er lebt auch nicht gerade wie ein Mönch.«
»Constanze sendet wahrscheinlich die falschen Signale«, sagte Anne.
»Ich sende gar keine Signale«, sagte ich würdevoll. »Da bin ich altmodisch. Ich finde, der Mann sollte den ersten Schritt tun.«
»Nein«, sagte Anne entschieden. »Nicht, wenn du fünfunddreißig und allein erziehend bist.«
»Willst du damit sagen, ich müsse froh sein, wenn ich …«, fing ich ziemlich aufgebracht an, aber Mimi unterbrach mich:
»Ich finde auch, der Mann muss den ersten Schritt tun«, sagte sie.
»Siehst du«, sagte ich zu Anne. »Und Mimi ist auch über fünfunddreißig.«
»Pah«, machte Anne.
»Anton wird den ersten Schritt tun«, versicherte Mimi. »Wenn Constanze die richtigen Signale sendet.«
»Siehst du!«, sagte Anne zu mir.
»Und wie soll ich das machen?« Ich würde mir auf keinen Fall ständig mit der Zunge über die Lippen fahren oder auf zweideutige Weise an einer Cocktail-Litschi herumlutschen.
»Ganz einfach: indem du die Unterwäsche weglässt«, sagte Anne feierlich.
»Au ja!«, rief Mimi. »Wie bei Sharon Stone in dem Eispickel-Film.«
»Ich denke nicht, dass Anton vorhat, mich zu verhaften«, sagte ich. »Für so blöde Rollenspiele bin ich nicht zu haben.«
Mimi und Anne seufzten.
»Es geht doch bloß um das Gefühl«, sagte Anne. »Es ist nämlich ganz einfach: Ohne Unterwäsche sendest du garantiert die richtigen Signale, ob du willst oder nicht.«
»Du musst ja gar nicht viel tun, nur lasziv die Beine übereinander schlagen …«, murmelte Mimi begeistert. »Der Mann wird seine unnatürliche Zurückhaltung auf der Stelle über den Haufen werfen!«
»Aber Sharon Stone hatte doch so einen Drehstuhl«, sagte ich. »Den werden sie im Restaurant nicht haben.« Und außerdem stand ein Tisch davor und eine Tischdecke. Sollte ich den blöden Stuhl in den Durchgang verrücken, damit ich die Beine lasziv übereinander schlagen konnte? Alle würden mich anstarren, Antons Eltern und die Eiswürste eingeschlossen.
»Es geht ums Prinzip«, hatte Anne gesagt, und Mimi hatte ergänzt: »Anton muss es gar nicht sehen, es reicht, wenn er es weiß!«
Ich hätte mich, wie gesagt, nie darauf einlassen sollen. Aber jetzt war es zu spät. Ich saß ohne Unterwäsche in diesem Restaurant und …
Was roch hier eigentlich so merkwürdig?
»Constanze!« Anton riss mir die Speisekarte aus der Hand.
»Was zum Teu…?« Oh Mist! Ich hatte die verdammte Karte zu nah über die Kerze gehalten. In das goldgeprägte Leder war ein schwarzer Kreis gesengt. Ich sah mich um, aber weder die Gäste noch die Pinguine schienen etwas gemerkt zu haben. Nur Anton, der mich fragend ansah.
»Ich war mit meinen Gedanken woanders«, sagte ich peinlich berührt. Musste ich das jetzt bezahlen?
Anton lächelte mich an. »Wo denn?«
»Bei Mimi«, sagte ich, was ja zum Teil der Wahrheit entsprach. »Sie freut sich so auf Ni… auf das Baby.«
»Ja, Ronnie auch. Es ist so schön zu sehen, wie glücklich die beiden sind. Ich hoffe bloß, dass sie auch noch so glücklich sind, wenn sie mit drei Stunden Schlaf am Tag auskommen müssen und sich die Drei-Monats-Koliken ein ganzes Jahr lang hinziehen …« Anton seufzte, offenbar an die Babyzeit seiner eigenen Kinder erinnert. »Diese Zeit ist ganz schön strapaziös, auch für die Ehe.« Antons eigene Ehe hatte die Babyzeit des zweiten Kindes nicht überstanden.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ni… dass Mimis Kind Drei-Monats-Koliken bekommt«, sagte ich. »Ich wette, sie schläft von Anfang an durch.«
»Das ist doch eher unwahrscheinlich«, sagte Anton. »Ich weiß noch, als Molly auf der Welt war, bekam das Wort Schlaf plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir klar, dass Schlaf wirklich überlebenswichtig ist. Und dann diese Verantwortung, die einem förmlich die Kehle zudrückt. Selbst wenn Molly mal geschlafen hat, bin ich ständig aufgestanden, um zu gucken, ob sie noch atmet. Ich hab mich ernsthaft gefragt, wie Menschen es fertig bringen, ein zweites oder sogar ein drittes Kind zu bekommen.«
Wie konnte man ein Kind nur »Molly« nennen? Ein Nilpferdbaby vielleicht, aber doch kein Kind! Wahrscheinlich war der Name die Strafe für die Drei-Monats-Koliken. Molly hatte vorher Isabella oder Leticia geheißen, aber nach drei Monate währendem Gebrüll hatten die Eltern beschlossen, sie umzutaufen. »So, Isabella, jetzt reicht’s! Ab jetzt heißt du Molly. Das passiert mit Kindern, die sich nicht benehmen, merk es dir!« Wahrscheinlich hatte Molly sich seitdem am Riemen gerissen, sonst hieße sie jetzt Waltraud.
Oder umgekehrt. Das Kind war so empört über den Namen gewesen, dass es sich mit Koliken gerächt hatte.
»Na ja, nach einem Jahr hatten wir uns an das erste gewöhnt«, fuhr Anton fort. »Ein, zwei Nächte mit fünf Stunden Schlaf am Stück, und man glaubt wieder, allen Herausforderungen gewachsen zu sein.« Er machte eine Pause. »Stimmt’s, Constanze?«
Mir wurde klar, dass ich schon länger nichts gesagt hatte. Anton schien das befremdlich zu finden. Ich wusste ja auch nicht, was heute mit mir los war, irgendwie war ich ständig abgelenkt. Dachte über die blödesten Dinge nach, anstatt mit Anton zu flirten und Signale auszusenden. Wahrscheinlich, weil ich keine Unterwäsche anhatte. Das war ich einfach nicht gewohnt. Dabei wollte ich wirklich, wirklich einen guten Eindruck auf Anton machen.
»Ich kann nicht sagen, dass ich jedes Mal Lust auf ein weiteres Kind bekomme, nur weil ich ausgeschlafen bin«, sagte ich hastig. »Dann hätte ich jetzt ungefähr fünfzehn Kinder, die müssten alle in Etagenbetten schlafen, immer drei übereinander. Die KVB hätten mir einen ihrer ausrangierten Linienbusse zur Verfügung gestellt, damit ich die Kinder damit zur Schule fahren könnte. Das Kindergeld wäre so hoch wie das Bruttoinlandprodukt eines Entwicklungslandes. Und mein Busen würde bis zu den Knien hängen, und ich hätte nur noch siebzehn Zähne, weil doch jede Schwangerschaft einen Zahn kostet.«
Anton guckte ein bisschen komisch. »Tatsächlich?«
»Na ja, das sagt man so. Aber keine Sorge, ich habe sie noch alle. Die Zähne, meine ich.« Warum redete ich eigentlich ununterbrochen dämliches Zeug, wenn ich den Mund aufmachte? Ganz sicher war mein Geschwafel über Hängebusen und Schwangerschaften alles andere als erotisch! Um das zu wissen, hätte ich noch nicht mal Psychologie studieren müssen.
Glücklicherweise erschien ein Pinguin an unserem Tisch und fragte, ob wir gewählt hätten.
Anton orderte für sich das Tagesmenü mit Spargel und eine Flasche 2003er Würtz-Weinmann Riesling trocken für uns beide.
»Falls du einverstanden bist«, sagte er.
»Ja, natürlich«, sagte ich. 2003er Würtz-Weinmann Riesling trocken klang doch sehr lecker. Obwohl ich gerne etwas mit höherem Alkoholgehalt getrunken hätte, ein Fläschchen Absinth oder so. Was das Essen anging, hatte ich strenge Anweisungen von Mimi und Anne erhalten: keinen Salat, der macht am Abend Blähungen, keine Sahnesoße, die macht müde, möglichst nichts mit Knoblauch und rohen Zwiebeln wegen des Mundgeruchs, am besten Fisch und gedünstetes Gemüse, und lutsch auf dem Klo ein Atemfrisch-Dragee, noch besser, du putzt dir die Zähne, und vergiss nicht, das Make-up aufzufrischen … – meine kardinalslila Handtasche war zum Bersten gefüllt. Ich überlegte, jetzt schon mal das Klo aufzusuchen und Mimi mit dem Handy anzurufen, um zu fragen, wie genau diese Nacht-der-Nächte-Nummer weitergehen sollte.
Okay, an Planungsstab der Mütter-Mafia: Bis jetzt läuft es nicht besonders gut: Er hat mich seinen Eltern als seine Klientin vorgestellt, ich habe Tante Julchen und Onkel Fred Eiswurst genannt, die Speisekarte angekokelt und nur Mist geredet – wie soll ich weiter vorgehen?
Was? Mission sofort abbrechen, ich wiederhole: Mission abbrechen.
Mimi hatte sich bereit erklärt, heute Abend als Babysitter über meine Kinder zu wachen. Eigentlich hätte ich sie auch allein lassen können, denn Nelly war immerhin vierzehn, und Julius schlief in der Regel wie ein Stein, aber man konnte nie wissen. Nelly hatte seit neustem einen Kerzenfimmel, jeden Abend zündete sie einen Haufen Teelichter an, legte eine CD auf und starrte im Kerzenlicht träumerisch an die Decke. Jedenfalls tat sie das, wenn ich ins Zimmer kam. Das tat ich ziemlich oft – viel zu oft, nach Nellys Ansicht –, denn ich fürchtete, irgendetwas in ihrem Zimmer könnte Feuer fangen und das ganze Haus würde abbrennen, während Nelly von Max träumte. Ich hoffte jedenfalls, dass sie von Max träumte und nicht etwa von ihrem Mathelehrer oder von irgendeinem Kokain schnupfenden Zwölftklässler. Aber wissen kann man das bei vierzehnjährigen Mädchen ja nie so genau. Ich konnte sie jedenfalls unmöglich allein mit ihrem vierjährigen Bruder und einem Haufen Kerzen und Streichhölzer zu Hause lassen. Mimi war da mit mir einer Meinung. Sie hatte versprochen, Nelly mit einer DVD von jeglichen pyromanischen Aktivitäten abzulenken, sobald Julius eingeschlafen war. »Tatsächlich Liebe«, das würde Nelly gefallen. Mimis Mann Ronnie würde in der Zeit Feuermelder in allen Räumen installieren. Feuermelder gab es zur Zeit im Angebot in Ronnies Baumarkt. Ronnie und Mimi waren die beiden hilfsbereitesten Menschen, die ich kannte, hatte ich das schon erwähnt? Eigentlich hätten ihnen Flügel zwischen den Schulterblättern wachsen müssen.
»Ich bin ja auch spätestens um elf Uhr wieder da«, hatte ich gesagt und aus reiner Gewohnheit vergessen, dass heute ja die Nacht der Nächte sein sollte. Die erste Nacht, in der ich meine Kinder allein lassen würde. Mimi und Anne waren sich nämlich einig, dass ich auf die klassische Frage »Zu dir oder zu mir?« auf jeden Fall »zu dir« antworten sollte.
»Emily übernachtet bei einer Freundin«, hatte Mimi freudestrahlend verkündet. Emily war Antons sechsjährige Tochter, für die er nach der Scheidung das Sorgerecht erhalten hatte. Die ältere Tochter, Molly, lebte bei seiner Exfrau in London. »Ich habe das ganz genau recherchiert. Bei Anton seid ihr völlig ungestört. Ihr könnt morgen sogar gemütlich zusammen frühstücken. Ronnie und ich werden auf deinem Sofa schlafen und auf die Kinder aufpassen.«
»Aber ich kann doch nicht …«, sagte ich. »Was sollen denn die Kinder denken, wenn ich morgen Früh nicht zu Hause bin, wenn sie aufwachen?«
»Was sollen denn die Kinder denken, wenn Anton morgen Früh mit nacktem Oberkörper aus dem Bad geschlurft kommt?«, konterte Anne.
Ich sah sie entsetzt an. Als ob Anton jemals mit nacktem Oberkörper aus meinem Bad schlurfen würde.
»Anton schlurft nicht«, sagte auch Mimi. »Aber Anne hat Recht: Für eure erste Nacht wäre es doch viel – einfacher, wenn du mal nicht an die Kinder denken müsstest, oder?«
Ich war immer noch bei der Vorstellung von Anton mit nacktem Oberkörper. Ob er Haare auf der Brust hatte? Herrje, ich hatte den Mann bisher noch nicht mal ohne Krawatte gesehen. Irgendwas in meinem Magen schlug Purzelbäume.
»Ich will ja nicht sagen, dass deine Kinder nicht damit umgehen könnten«, sagte Anne. »Aber wäre es denn nicht entspannter, wenn du nicht die ganze Zeit Angst haben müsstest, ob sie möglicherweise etwas hören?«
»Außerdem sieht dein Schlafzimmer chaotisch aus«, sagte Mimi. Sie wies auf die halb heruntergerissene Tapete, die noch von meiner verstorbenen Schwiegermutter stammte. Ex-Schwiegermutter. Ihr hatte das Haus vor mir gehört, und hier im Schlafzimmer konnte man das immer noch erkennen. Es herrschte, alles in allem, eine ausgesprochen unerotische, schwiegermütterliche Atmosphäre. »Bis heute Abend wirst du es wohl kaum schaffen, hier zu renovieren, oder? Und das Bett müsste auch frisch überzogen werden, Anne hat lauter Tapsen hinterlassen.«
Das Argument überzeugte mich schon eher. Anne betrachtete schuldbewusst ihre erdigen Hände.
»Aber …«, sagte ich dennoch.
Mimi unterbrach mich: »Falls du dir Sorgen machst, wer Antons Bett überzieht: Der hat eine Putzfrau, die überzieht die Betten jeden Freitag. Und glaub mir, bei Anton ist es so ordentlich, dass er jederzeit eine Frau mit nach Hause nehmen kann. Soviel ich weiß, hat er eine super indirekte Beleuchtung im Schlafzimmer, die einen ganz tollen Teint macht.«
Woher wusste sie denn das? Redete Anton mit Ronnie und Mimi etwa über so etwas? »Ich sage euch, ich habe mir jetzt eine indirekte Beleuchtung im Schlafzimmer machen lassen, da sieht so gar Cellulite ganz harmlos aus. Und die Frauen um Jahre jünger …«
»Aber«, begann ich noch einmal.
Mimi fiel mir wieder ins Wort. »Und Ronnie und ich, wir passen wirklich gerne auf deine Kinder auf, schließlich wohnen wir gleich nebenan, und, nein, das ist uns überhaupt nicht zu viel, wir finden, das ist eine tolle Abwechslung.«
»Und jetzt kein Aber mehr«, sagte Anne streng. »Heute ist die Nacht der Nächte.«
»Genau«, sagte Mimi und strahlte. »Und morgen ist dann der Tag, an dem wir offiziell verkünden, dass Nina-Louise unterwegs ist.«
Anne warf mir einen kurzen Blick zu. Ich zuckte nur mit den Schultern.
»Wem denn? Ich meine, nur so aus Interesse«, sagte Anne zu Mimi. »Ihr habt verkündet, dass Nina-Louise unterwegs ist, als sich das Ei noch im Zwei-Zellen-Stadium befand.«
»Ja, inoffiziell«, sagte Mimi und strahlte noch mehr. »Aber morgen sind die zwölf ersten Wochen herum, und wir machen es offiziell.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemanden gibt, der diese Neuigkeit noch nicht kennt«, sagte ich vorsichtig. Mimi hatte nicht nur das unübersehbare Bauchstreichelsyndrom, sondern bereits Nina-Louises komplette Garderobe zusammengekauft, bis einschließlich Größe 74. Ständig hielt sie einem Strampler, Mützchen und Handschühchen unter die Nase. Im zukünftigen Kinderzimmer hing bereits ein himmelblau lackiertes Korbbettchen von der Decke.
»Natürlich!«, sagte Mimi. »Wir haben das bisher noch geheim gehalten, weil in den ersten zwölf Wochen doch manchmal … etwas schief gehen kann.«
»Geheim gehalten?«, wiederholte Anne. »Mimi, du hast jedem wildfremden Menschen im Supermarkt von deiner Schwangerschaft erzählt, und Ronnie hat auf der Arbeit seinen Kollegen einen auf das erste Ultraschallbild ausgegeben. Und ihr seid schon seit vier Wochen für einen Geburtsvorbereitungskurs im Oktober angemeldet, und …«
»Schon möglich, dass ich ein paar Leuten davon erzählt habe«, gab Mimi zu. »Aber offiziell war es bisher noch nicht!«
»Na, dann gibt das ja morgen eine schöne Überraschung für alle«, sagte ich grinsend.
»Ja, meine Schwiegermutter wird tot umfallen«, sagte Mimi.
»Auch wenn sie es inoffiziell schon weiß«, sagte Anne.
»Aber nein! Kein Sterbenswort«, sagte Mimi. »Ich habe Ronnie damit gedroht, ihn zu verlassen, wenn er seiner Mutter oder seinen Geschwistern etwas von Nina-Louise verrät.«
»Du hast also Hinz und Kunz davon erzählt, aber der Familie deines Mannes nicht?«
»Ich wollte damit warten, bis es ganz sicher ist«, sagte Mimi. »Meine Schwiegermutter ist ein gemeiner alter Drachen, die sich wer weiß was darauf einbildet, dass sie fünf Kinder bekommen hat. Dabei war sie bloß zu blöd, um zu verhüten. Sie hat Ronnie nach meiner Fehlgeburt geraten, sich eine andere Frau zu suchen. Mein Becken sei nicht fürs Kinderkriegen gemacht, hat sie gesagt. Ich hasse sie. Na ja, ich hasste sie – jetzt nicht mehr. Schließlich möchte ich, dass Nina-Louise ein entspanntes Verhältnis zu ihren Großeltern bekommt.«
»Natürlich«, sagte Anne. »Das wollen wir alle.«
»Constanze?« Das war Anton.
Mist, verdammter! Brannte etwa schon wieder die Speisekarte? Nein, Gott sei Dank. Aber ich musste mich wirklich besser konzentrieren. Der Pinguin guckte auch schon so komisch. Vielleicht wurde ich ja lockerer, wenn ich was getrunken hatte. Der Champagnercocktail hörte sich gut an. Schade, dass man den nur in so kleinen Gläsern servierte. Ich brauchte eine ganze Wanne davon.
Der Kellner räusperte sich.
»Ich nehme den Spargel in der Crêpe mit Morcheln«, sagte ich schnell. »Und Mineralwasser. Stilles. Und vorneweg eine Wanne Champagnercocktail. Äh, ein Glas, meine ich.«
Als der Pinguin weggewatschelt war, beugte Anton sich zu mir vor über den Tisch und griff nach meiner Hand: »Ist alles in Ordnung, Constanze? Du bist heute irgendwie – so abwesend.«
Auf einmal war ich wieder ganz da, konzentriert und hellwach. Antons Augen waren so wahnsinnig schön, das dachte ich jedes Mal, wenn ich hineinsah. Braun und grün mit winzigen goldenen Sprenkeln. Eigentlich mochte ich keine Männer mit braunen Augen, sie erinnern mich immer an einen Cockerspaniel. Aber Antons Augen waren keine Hundeaugen, sie waren schmal, mandelförmig und von kurzen, dichten Wimpern eingerahmt. Es waren sehr kluge Augen.
»Ja, nein, vielleicht«, sagte ich. Seine Hand auf meiner machte mir neuen Mut. »Ich bin nur etwas – aufgeregt.«
Anton lächelte. »Etwa meinetwegen?« Sein Lächeln war wahnsinnig schön, das dachte ich jedes Mal, wenn ich ihn lächeln sah. Es lag nicht nur an seinen perfekten Zähnen, sondern an den Fältchen, die sich in seinem rechten Mundwinkel bildeten, und an der Art, wie seine Augen mitlächelten. Es war das erotischste Lächeln, das man sich vorstellen konnte. Besonders jetzt.
»Ja«, sagte ich und senkte meine Stimme. »Und nein. Eigentlich ist es wegen meiner Unterwäsche.«
»Du bist wegen deiner Unterwäsche aufgeregt?«, wiederholte Anton.
Ich nickte. Ehrlich: Ursprünglich hatte ich mich diesmal mit Anton über tief schürfende Themen unterhalten wollen, das wollte ich eigentlich jedes Mal, wenn wir uns trafen. Aber irgendwie ging das immer schief. Dabei war ich in Wirklichkeit gar nicht so zerstreut und oberflächlich, wie Anton denken musste, im Gegenteil! Ich war das sprichwörtliche tiefe Wasser, das still oder trüb oder – äh – wie ging das Sprichwort noch gleich? Jedenfalls war ich ein Mensch mit Tiefgang, und es wäre schön, wenn Anton auch mal die Gelegenheit erhielte, das zu merken.
»Jetzt steckst du mich allmählich mit deiner Aufregung an«, sagte er. Ich sah die Kerzenflamme in seinen Augen tanzen. »Was ist denn mit deiner Unterwäsche, hm?«
»Sie ist … also, meine Unterwäsche ist zu Hause geblieben«, sagte ich und versuchte, Antons Blick standzuhalten.
Seine Augen hatten sich plötzlich merklich verengt. »Aus Versehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Mit voller Absicht«, flüsterte ich.
Anton schwieg ein Weilchen. Dann fragte er: »Zu dir oder zu mir?«
Ich spürte, wie sich völlig ohne mein Zutun ein fettes Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Gleichzeitig raste mein Puls in die Höhe. Oh Gott! Wir würden es wirklich tun.
»Zu dir«, sagte ich. »Du sollst so tolle indirekte Beleuchtung haben.« Obwohl ich die heute gar nicht brauchen würde: Ich hatte ja keine unschönen Druckstellen zu verbergen. Das war der Vorteil, wenn man keine Unterwäsche trug.
»Und Emily schläft heute bei einer Freundin«, sagte Anton. »Weißt du was? Ich habe plötzlich überhaupt keinen Hunger mehr.«
»Ich auch nicht«, sagte ich. Das war natürlich gelogen.
Ein Kellner brachte die Getränke.
»Es tut uns sehr Leid, aber es ist etwas dazwischengekommen«, sagte Anton zu ihm und zog seine Brieftasche aus dem Jackett. »Ein Notfall. Wir müssen sofort gehen.«
Der Kellner war nicht böse auf uns, er wirkte nicht mal erstaunt. Allerdings war da so ein gewisser Ausdruck in seinem Gesicht, mit dem er mich musterte, als ich den Champagnercocktail hinunterkippte, aufstand und meine Handtasche schulterte. So als wisse er genau, von welcher Art Notfall Anton gesprochen hatte. Mir egal. Vor mir lag die Nacht der Nächte. Davon hatte ich monatelang geträumt. Ich versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Es war nicht so, dass ich Angst hatte oder so, im Gegenteil, ich wollte es wirklich, ja, und wie ich es wollte, es war nur so … – na gut, ja, ich hatte Angst! Ich war fünfzehn Jahre lang nur mit einem einzigen Mann ins Bett gegangen, und davor hatte ich diesbezüglich auch nur eine einzige klägliche Erfahrung gemacht. Sex mit Lorenz war auch nicht gerade besonders variantenreich gewesen. Fünfzehn Jahre lang Missionarsstellung – Mimi und Anne waren entsetzt gewesen, als sie mir diese Information an einem feuchtfröhlichen Abend entlockt hatten. Anton hingegen war eine Art Sexgott, wenn man Mimi glauben durfte. Sie hatte es zwar nicht selber ausprobiert, war aber gut mit seiner Exfrau und diversen Exgeliebten bekannt, und die waren sich alle einig gewesen, was Antons Qualitäten im Bett betraf, sofern es überhaupt im Bett stattfand. Gott, was würde er denken, wenn er entdeckte, dass ich praktisch überhaupt von gar nichts eine Ahnung hatte? Wenn er wollte, dass ich etwas tat, von dem ich gar nicht wusste, wie man es machen sollte? Oder wenn er Begriffe verwendete, mit denen ich nichts anfangen konnte? Ich hätte mir wenigstens vorher ein Buch kaufen sollen. »Sex für Anfänger« oder »Hundert raffinierte Tricks, mit denen Sie ihn verrückt machen«, dann hätte ich vielleicht bluffen können.
»Anton?«, sagte ich. »Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss …«
Anton und der Kellner sahen mich gleichermaßen neugierig an. Letzterer war mir zunehmend unsympathisch. Er hatte ein paar große Scheine von Anton bekommen und verstaute sie besonders umständlich in einem Ledermäppchen. Merkte er nicht, dass er störte? Ich sah ihn an und schwieg, bis er sich, nicht ohne einen vorwurfsvollen Seufzer, verkrümelte.
»Was musst du mir sagen?«, fragte Anton und stand auf.
»Ich … ähm, also, ich kenne überhaupt keine hundert raffinierten Tricks«, flüsterte ich, während er meinen Ellenbogen nahm und mich zwischen den Tischen hindurch Richtung Ausgang führte. »Ich meine, im Bett. Oder wo auch immer. Ich kenne ehrlich gesagt keinen einzigen. Und mit den Fachtermini, also, da habe ich auch große Lücken.«
Ich sah ihm gespannt ins Gesicht. Sein Ausdruck war schwer zu deuten. Im Kiefer zuckte ein Muskel, sonst war sein Gesicht unbeweglich.
»Tut mir wirklich Leid«, flüsterte ich.
»Schon okay«, sagte Anton, und jetzt grinste er ein bisschen. »Ich glaube, ich kenne genug Tricks für uns beide. Und was die Fachtermini angeht« – hier begann er breiter zu grinsen –, »frag einfach, wenn du was nicht verstehst.« Und jetzt lachte er. Er prustete richtig laut.
Ich runzelte die Stirn. Machte er sich über mich lustig? Ach, und wenn schon!
»Ich bin sehr gespannt auf deine Tricks«, sagte ich.
In diesem Augenblick geschah etwas Merkwürdiges. Zwischen Anton und mir rauschte klar und deutlich eine Toilettenspülung auf, so laut, dass alle im Restaurant sich zu uns umdrehten, obwohl wir schon fast den Ausgang erreicht hatten. Ich dachte aus irgendwelchen Gründen sofort an eine Art übersinnliches Phänomen und blieb wie angewurzelt stehen. Der Pinguin am Stehpult neben dem Ausgang sah mich strafend an. Ja, merkte er denn nicht, dass hier etwas ganz Eigenartiges, etwas Mysteriöses geschah? Wieder ging die Toilettenspülung. Eine Gänsehaut überzog meine Arme.
Was wollte mir dieses übersinnliche Geräusch sagen? Etwas ging den Abfluss, den Bach hinunter … äh … ich musste etwas über Bord werfen … äh … meine Prinzipien davonspülen … äh … ein Griff ins Klo stand unmittelbar bevor …
Anton, immer noch lachend, schob mich energisch weiter, er schubste mich fast durch die Tür.
»Hörst du das denn nicht auch?«, fragte ich aufgeregt, als wir draußen auf der Treppe standen.
»In der Tat, bruh-hahaha«, prustete Anton. Er hörte sich an wie ein Nilpferd, das gekitzelt wurde. »Ich glaube, bruh-hahaha, das ist deine Handtasche.«
Meine Handtasche? Warum sollte meine Handtasche wie eine Toilettenspülung rauschen? Die war von Louis Vuitton, und ich hatte zwei Kilo Kosmetika darin, eine Haarbürste, eine Zahnbürste, zwei Päckchen Atemfrisch-Dragees, Kondome, mein Handy … – mein Handy! Das war’s! Nelly hatte es vorhin für mich auf Vibrationsmodus stellen sollen. Stattdessen musste sie mir einen neuen Klingelton draufgemacht haben, das freche kleine Biest. Ausgerechnet eine geschmacklose Klospülung! Das fand sie wohl komisch.
»Das ist bestimmt Nelly«, zischte ich, während ich zwischen Lippenstiften und Schachteln nach dem verflixten Handy kramte. »Will mich blamieren! Die werde ich … ich werde sie …« Ah, da war es ja. »Hallo?«
»Ich bin’s«, sagte Mimi am anderen Ende der Leitung. Fast hätte ich sie nicht erkannt, ihre Stimme klang ganz anders als sonst.
»Ist was mit den Kindern?«, fragte ich erschrocken.
»Nein«, sagte Mimi. »Es ist … es ist was mit Nina-Louise. Ich blute.«
Oh mein Gott! Bitte nicht!
»Hör zu, Mimi. Das muss nichts bedeuten. Ich bin gleich bei dir. Leg dich hin und leg die Beine hoch. Ist Ronnie bei dir? Hast du Anne angerufen? Manchmal blutet man ein bisschen, aber es ist nichts Schlimmes …«
»Ich blute nicht ein bisschen«, sagte Mimi. »Ich blute wie abgestochen. In deinem Badezimmer sieht es aus, als wäre Charles Manson da gewesen.«
»Nein, das darf nicht … wo ist Ronnie?«
»Er ist hier. Er fährt mich jetzt ins Krankenhaus. Aber es ist sowieso zu spät.«
»Nein, vielleicht nicht … Wir kommen so schnell es geht«, sagte ich und drückte die »Aus«Taste. Anton hatte aufgehört zu lachen und sah mich fragend an.
»Mimi verliert das Baby«, sagte ich und brach in Tränen aus.