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Im Mai 1940 beginnt die 51-jährige Anna Haag ein schonungslos offenes und regimekritisches Tagebuch zu führen, das sie über Jahre im Kohlenkeller versteckt. Sie hört ihren Mitmenschen genau zu – in der Straßenbahn, bei Behördengängen oder in Geschäften. In pointierten Skizzen hält sie fest, was ganz gewöhnliche Deutsche schon während des Zweiten Weltkriegs über die Judenvernichtung und die Verbrechen des NS-Regimes wussten. Sie erzählt mit Ironie und Klarheit von Hamsterfahrten im Stuttgarter Umland, von verbotenen Treffen zum BBC-Hören oder von Wortgefechten mit ihrem Lieblingsgegner, dem regimetreuen Apotheker. Die vorliegende gekürzte und auf den Alltag in der Diktatur konzentrierte Textauswahl eignet sich besonders für den Schulunterricht. »Ein ungeheuerlich eindrucksvolles, atemberaubendes Dokument.« Götz Aly, Berliner Zeitung »Was für eine Feier der Zivilcourage!« Deutschlandfunk Kultur E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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Seitenzahl: 202
Anna Haag
Auswahl aus dem Tagebuch 1940–1945
Reclam
2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962034-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014290-5
www.reclam.de
Tagebuch 1940–1945
Zur Einführung
1940
1941
1942
1943
1944
1945
Zu dieser Ausgabe
Nachwort
Vom Tagebuch zum Typoskript
Zeittafel
Ich habe drei Kinder: Ludowike, Cläre und Martin. Ludowike und Cläre sind verheiratet. Die Erstere lebte bei Beginn dieser Aufzeichnungen im Norden Deutschlands. Cläre, die mit einem Engländer verheiratet ist, lebt in Birmingham. Sie hat ein Töchterchen Mary. Martin ging vor dem Krieg als 16½-jähriger Junge zum Studium nach England und konnte bei Kriegsausbruch nicht mehr zurückkehren. Das Angebot, englischer Bürger zu werden, lehnte er ab, weil er das Leben seiner Eltern nicht gefährden, d. h., weil er sie vor dem Zugriff der Gestapo bewahren wollte. Er wurde interniert. Die Aufzeichnungen beginnen leider nicht mit dem ersten Kriegstag.
11. 5. 1940. Wozu wohl ein Mozart, ein Beethoven, ein Goethe gelebt und ihre Werke geschaffen haben, wenn wir Heutigen nichts anderes wissen als töten und zerstören?
Mai 1940. In der Straßenbahn: »Da weint man nicht, da ist man stolz!« (Eine Mutter weint; der Sohn, ein Fallschirmjäger, ist beim Absprung tot an einem Baum hängen geblieben.)
22. 5. 1940. Nie in meinem Leben habe ich meine Ohnmacht so schmerzvoll empfunden wie in den gegenwärtigen Tagen. Meine drei Kinder müssen sich ohne meine Hilfe durch die dunklen Straßen des Lebens durchfinden. Wie wird es Martin gehen als Zivilinterniertem in England? Wie wird Cläre sich zurechtfinden? Wird ihre Ehe mit einem Engländer nicht getrübt werden durch die Ereignisse? Wie wird Ludowikens Ehe werden? Wird ihr Mann nicht doch noch der braunen Pest verfallen? Er will doch Karriere machen, Karriere um jeden Preis. Es ist mir, als habe ich, als haben meine Kinder jede Heimat verloren.
28. 6. 1940. Mein Weg von der Straßenbahnhaltestelle in meine Wohnung führt mich am Haus des Herrn Apotheker vorbei, dem Vater eines vier Monate alten Säuglings. Da höre ich nun zu jeder Tages- und Nachtzeit beim Vorübergehen, wie die Mutter dem Kind als Schlaflied singt: »… denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engelland – Engelland!«
10. 7. 1940. Frau Apotheker sagte: »Das sind so die letzten Zuckungen der Herren Engländer, der letzte Verzweiflungsschrei.« Sie meinte damit die nächtlichen Besuche einzelner englischer Flieger, die wir auch in unserer Stadt erleben.
[10]18. 8. 1940. Gestern wurde Birmingham bombardiert. Arme kleine Mary! (Enkeltochter) Hoffentlich bleiben den lieben drei Menschen solche Schrecken in Zukunft erspart. – Wie ich darum bete!
Zwischen dem 20. und dem 25. August soll die Invasion Englands tatsächlich erfolgen! Die Leute sagen so. Ob sie Recht haben? Ein Urlauber erzählte in der Straßenbahn, eben sei telegrafiert worden, er solle sofort zu seinem Truppenteil zurückkehren. Er ist nicht entzückt davon. Er freut sich nicht auf die »bevorstehenden Abenteuer«, nicht auf die »Größe der Aufgabe«. »Schluss« solle man endlich machen, sagt er. »Man möchte schließlich auch mal wieder was anderes tun«, fügt er hinzu. Armer Kerl! »Etwas anderes tun« möchtest du? Wie kannst du so etwas laut in der Straßenbahn sagen? Du hast Glück, wenn es niemand an der »geeigneten Stelle« meldet. Sonst holt man dich vielleicht morgen und bringt dich an einen ganz »ungeeigneten« Platz.
24. 9. 40. Ein furchtbares Flüstern geht um! Irre und Gemütskranke werden umgebracht. Auch den Sohn einer hiesigen Dame, der aus Liebeskummer schwermütig geworden war, soll das Schicksal ereilt haben. Dabei war er keineswegs verrückt. Ein Bruder fiel im Weltkrieg als Flieger (Pour-le-Mérite-Träger), ein anderer (Meteorologe) tut jetzt an der holländischen Küste Dienst, obgleich er im Weltkrieg seine Hand verloren hat. Und der »Verblichene« oder »Erlöste« war ebenfalls im Weltkrieg.
Ein Freund meines Mannes sagte, man habe die Namen der Insassen der Altersheime angefordert. Welch unerhörte Barbarei! Sollte solches möglich sein in deutschen Landen?
29. 9. 40. Herr und Frau B. waren da. B’s Worte liegen wie eine Zentnerlast auf meinem Manne und mir. Dieser [11]verlässliche, klardenkende Freund, der immer durch und durch Demokrat war, sagt, die Invasion Englands werde, sobald der dafür günstige Nebel einsetze, vom Stapel gehen. Er hat keinen Zweifel, dass auch dieses Unternehmen gelingen wird. Es sei alles so fabelhaft vorbereitet, selbst der Gaskrieg. England könne nicht widerstehen. Was es uns allerdings nützen werde? »England muss alles bezahlen!« »Iss und trink, der Engländer berappt’s«, das sei das geflügelte Wort beim Kommiss, wo man allüberall nur den Reichtum Englands hineinhause, den wir jetzt täglich durch unsere Bombenabwürfe und nach der Invasion durch unsere Panzer und schwere Artillerie vernichten.
Frau B. meinte, ich solle abstrahieren von all dem »großen Geschehen« der Gegenwart. Ich soll – so viel müsse man einer Mutter schließlich erlauben – nur dem einen Wunsch leben: »Mögen meine Kinder und wir nach dem Krieg gesund uns wiedersehen!« Nein, liebe Freundin. Ich kann freilich gar nichts ändern. Aber das eine kann ich doch tun: mir selber treu bleiben und dem, was ich dank meiner unverbogenen Vernunft und meinem gesunden Instinkt als gut und recht und menschenwürdig erkannt habe. Nein, nein, nein! Ich will nicht »zu leicht befunden« werden, will nicht vor mir selber schamrot werden müssen, ich will unerschütterlich festhalten an den ewigen Menschheitsidealen, will nicht, wie leider so viele, auf der Schaukel stehen und bald auf die eine, bald auf die andere Seite mein Gewicht verlegen! Nur an meine Kinder soll ich denken und an mein persönliches Glück und Unglück? Freilich denke ich an meine Kinder, und wer sie kennt, weiß, wie viel Glück sie mir bedeuten und welchen Reichtum! Aber was sollten meine Kinder in dieser »entgötterten« Welt? Wie sollen sie sich zurechtfinden? Wird es ihnen noch der Mühe wert sein, in ihr zu leben? In einer Welt, in der niemand mehr Verständnis hat für ein Gedicht von Mörike oder ein Heine’sches Liebeslied? Wo es ist, als seien solche Kunstwerke völlig sinnlose [12]Aneinanderreihungen von Wörtern! Wo es keine »Wissenschaft an sich« mehr gibt, sondern nur »Zweckwissenschaft« mit dem einen Zweck, möglichst vollkommene Vernichtungsmaschinen herzustellen! Wo die »Ehrfurcht vor dem Leben« nur solange besteht, bis die Mutter ihr Kind aus ihrem Schoß herausgequält hat, wo man aber Hunderttausende, nein Millionen Menschenleben hinmordet, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wo sich Menschen für diese »Tat von historischer Bedeutung« vergotten lassen, umjubeln, anbeten!
4. 10. 40. Immer nichts von den Kindern! Andere haben bereits Nachricht bekommen von ihren internierten Angehörigen. Sie seien in Kanada. Ein Dampfer mit Internierten sei von einem deutschen U-Boot versenkt worden! Ach Gott! Man muss ganz still werden. Aber darf ich denn klagen? Millionen Mütter der Welt tragen schweres Joch. Mein Mutterglück? Das Büblein muss wenigstens nicht morden!
Gestern habe ich dem »deutschen Gottesdienst«, der Bekanntgabe des Wehrmachtsberichtes, angewohnt. Im Schlossgarten-Café, als um fünf Uhr der erwähnte Bericht durch den Lautsprecher bekannt gegeben wurde! Peinliche Stille! Andächtige Gesichter und leises, ehrerbietiges Löffeln des Kuchens, des Eises! Ah! Wie fein ein Vanille-Eis, eine Punschtorte schmecken, wenn man »nebenbei« erfährt, dass in London ganze Straßenzüge in Schutt und Asche gelegt, dass Tausende von Frauen und Kindern umgebracht worden und fünf Schiffe mit Mann und Maus und wertvoller Ladung versenkt worden sind! Wie gut wird man da schlafen! Will man sich nicht noch einen Kuchen spendieren auf diese Freudenbotschaft hin?
26. 10. 40. Mein Sohn muss wenigstens nicht töten! Was für ein Trost. Außerdem: kein Unteroffizier »Himmelstoß«1 kann auf ihm herumtrampeln und ihm befehlen, England und seine [13]Freunde dort und seine Freunde in der Welt zu »vernichten«. »Vernichten, Vernichtung!« das sind die Worte, die täglich in jeder Zeitung stehen, die unter Jubelgeschrei in Dichtungen verherrlicht werden, und in Briefen an mich von Freunden Martins zu lesen sind! Wir singen das »Hohe Lied der Vernichtung!« Welch eine Herausforderung Gottes! Wie lange wird er zusehen? Gott wird nicht ewig schweigen. Das ist mein Glaube, und das hilft mir vielleicht – vielleicht –, diesen entsetzensvollen Widersinn zu überleben.
27. 10. 40. »Haben Sie es gehört im Radio: Der Führer hat sich mit Franco an der spanisch-französischen Grenze getroffen?«, ruft mir Frau Apotheker zu, ein Seufzer hingerissener Ehrfurcht entquillt ihr, ein verklärender Schein von Gott-Anbetung überhellt ihr Gesicht. »Ich danke dir, Gott, dass du uns diesen Gott gesandt hast!«, so fühlt sie. »Und sei, bitte, nicht böse, wenn ich den Gott Nummer Zwei über dich selbst stelle! Seine Taten sehe ich, erlebe ich, während die Deinen für mich im Dunkeln bleiben. Darum ist mein Hauptgott, mein direkter Gott, Er, der Führer, den du mir gesandt hast, usf.« So ungefähr lautet das verzückte Gebet solcher Frauen. Es gibt, gottlob, auch andere! Man müsste sonst gar verzweifeln.
14. 11. 40. »Aber der Führer – –.« Das ist immer der Einwand. »Der Führer« ist bereits eine mythische Gestalt im deutschen Volk, ein »böser Geist«, gegen den niemand etwas zu äußern, ja nicht einmal im Geheimen zu denken wagt, weil man – abergläubisch wie man ist – fürchtet, er könnte sich rächen, er sei ein Gott, ein böser Gott, der alles weiß und alles bestraft. Wie entsetzlich, was alles im Namen des deutschen Volkes geschieht. Tausenden, Abertausenden dämmert es, wie schauderhaft man die deutsche Ehre befleckt, wie viel Schuld wir auf uns laden – oder richtiger: wie viel Schuld andere im Namen [14]unseres Volkes, meines Volkes, auf uns alle laden, wie viel Grund zum Schämen wir haben! So viel, dass wir unser Gesicht verhüllen möchten, dass niemand es mehr erblicke. Das ahnen und fühlen Millionen. Aber um Gotteswillen! Sie bekreuzigen sich nach jedem entschlüpften Wort oder gedachten Gedanken, und ihre Lippen flüstern: »Der Führer! Wenn alle wären wie der Führer und das Gute und Rechte wollten wie er! Wie genial, wie gut, wie edel: Er hat die Norweger, die Belgier, die Holländer, die Luxemburger, die Rumänen – wen noch? – vor den Schrecken einer englischen Invasion bewahrt! Wie sehr sollten ihm diese Völker danken!« usf. Vergeblich wendet man ein: »Warum hat er denn die Engländer nicht schuldig werden lassen und ist in allen Fällen selbst schuldig geworden?«
Diese irregeführten deutschen Menschen! Diese Unter-Weltbürger! Diese lächerlichen Wesen, die nichts durch sich selbst sind, die die »Nation«, das »Vaterland« brauchen, um sich zu drapieren und zu einer Art (was für eine Ab-Art ist das!) Selbstgefühl zu kommen. Wie sehr habe ich einst selbst an dieses »Vaterland« geglaubt. Und habe gehofft, hier daheim zu sein. Ein Fremdling bin ich, Fremdlinge sind wir hier, unsere ganze Familie, und nach nichts drängt mich so sehr, als irgendwie dieses »Vaterland« wegzubaden, irgendwo unterzutauchen, wieder und wieder, bis auch nicht eine Spur an mir dieses »Vaterland« verrät!
8. 12. 40. Je mehr ich die Nazis hasse, umso mehr werde ich selbst Nazi. Nämlich so: Sollte dieser Krieg zu Ende sein und zwar so, dass die Nazis ihn verlieren (was Gott geben möge!), dann muss bei uns wieder die Gewalt herrschen. Man muss alles, was sich gegen eine vernünftige Weltordnung stemmt, ausschalten. Mindestens muss man alles überwachen! In jede Schulstunde sollte sich jemand hineinsetzen und mit [15]Luchsohren aufmerken, ob der »Revanche-Gedanke« nicht wieder hochgepäppelt und in den jungen Menschen falsches Heldentum gezüchtet wird. Ob der ewig Deutsche Kommissstiefel nicht schleunigst wieder geflickt wird, damit er »demnächst« wieder über den Erdball stolpern und alles zertrampeln kann, was an menschlich Schönem wieder aufzublühen beginnt. Tausend Augen und Ohren sollte man dann haben und gelegentlich den Mut zur Gewalt. Endlich – endlich sollte es doch gelingen, dem Wort »deutsch« wieder einen anderen Klang zu geben! Endlich uns die Scham zu nehmen, wenn wir das Wort denken oder aussprechen und anderen das Entsetzen, wenn sie es denken, hören, oder aussprechen! Es gibt doch auch ein anderes Deutschland. Wo ist es?
5. 1. 41. Lieber Lindley Fraser2, ich habe Sie verschiedentlich im BBC gehört, und alles, was Sie da gesagt haben, war mir so selbstverständlich und überzeugend, es war das, was ich selbst denke und fühle. Ein Echo klang in mir und meinem Manne auf, wie es sich vollkommener kein Mensch wünschen kann, der sich berufen fühlt, zu wirken und an dem mitzubauen, woran nach diesem Entsetzlichen gebaut werden muss: an einer vernünftigen und darum besseren, glückvolleren Welt. Sehen Sie, lieber Lindley Fraser, im heutigen Deutschland ist folgende Erfahrung allzu gleich: Man kommt mit seinen nächsten Freunden, die man sehr lieb hat, zusammen und bemerkt plötzlich, dass die beiderseitigen Straßen von einem gewissen Punkt ab diametral auseinanderstreben. Man versucht noch eine Zeit lang, wieder zusammenzutreffen, sich die Hände wieder reichen zu können, man gibt eine Menge Kraft für die Erreichung dieses Zieles aus; denn es ist einem so wichtig. Aber zuletzt entdeckt man doch, dass alle Mühe vergebens ist, dass man eben tatsächlich durch getrennte Straßen wandert.
Ich werde mich an Sie und Ihre Gedanken halten, Lindley Fraser. Es muss uns Wenigen hier ja jemand hilfreiche Hand reichen von drüben, von anderswo in der Welt; denn sonst wäre ja all unser Beginnen von vornherein von hoffnungsloser Trostlosigkeit erfüllt.
18. 1. 41. Was mich krank macht vor Aufregung, ist die Tatsache, dass so wenig Menschen hierzulande der Gedanke kommt, wir könnten etwa den Krieg verlieren. Die Ansicht der allermeisten Deutschen ist die, dass wir längst den Krieg schon so gut wie gewonnen haben. Sie richten ihr Leben ganz danach ein, spekulieren auf die ewige Dauer des Dritten Reiches, flüchten sich als Lehrer z. B. in »Heeresschulen« oder zur [17]Rüstungsindustrie; junge Menschen freuen sich auf Posten in den »Kolonien«; jeder weiß, dass »wir als Herrenvolk« allerlei Pflichten – nein, das war falsch, – nur Rechte haben. Man sagt: »Mit England wird’s natürlich noch etwas kosten, aber im nächsten Monat schon gehen wir hinüber, wir ›schweißen‹ mit unseren Stukas dort, wo wir landen wollen, alles zusammen, kein Lebewesen wird sich mehr regen, und dann hauen wir die Engländer in acht Tagen kurz und klein, und der Friede und der totale Sieg ist da!«
24. 1. 41. Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob ein Massenwahnsinn das deutsche Volk ergriffen habe und als ob ein Gehirnschwund in großem Ausmaß um sich fräße. Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode. Wie wäre eine solche Geistesverwirrung sonst möglich, dass Deutsche beispielsweise begeisterte Verehrer Albert Schweitzers und gleichzeitig glühende Anhänger des Nationalsozialismus sein können! Wendet man gegen diese Zusammenstellung schüchtern etwas ein, so wird man mit einem mitleidigen Achselzucken abgetan, das etwa besagen will: »Du bist eben noch nicht so weit fortgeschritten wie ich!« Gebe Gott, dass ich nicht auch noch so weit »fortschreiten« werde! Oder: heute früh wurde im Rundfunk eine Plauderei über die »Güte« verlesen. Etwas, das so unzeitgemäß ist und so weit ab von allem liegt, was der Nationalsozialismus lehrt. Und doch – ich schwöre es – werden die Hörerinnen aufatmend gesagt haben: »Wie war das schön! Wie war das gut! Wie war das richtig!«
Gott verhelfe uns wieder zu unserem Verstand.
10. 2. 41. Jedes Haus bekommt fünf Eimer Sand zum Löschen der Brände bei Luftangriffen. Eine Bekannte sagte ergriffen: »Wir sollten noch viel dankbarer sein dafür, dass so für uns gesorgt wird!« Also, auf, deutsches Volk, sei dankbar!
[18]11. 2. 41. Der Sand ist noch nicht da. Aber wisst ihr, ihr lieben Kinder, warum ich mich auf ihn freue? Weil ich mir vorstelle, dass er nach dem Krieg irgendwo im Garten liegen wird und dass deine Kinder, liebes Däxlein, mit ihm spielen werden.
Gestern waren R’s da. Er hält den Krieg gegen Russland für bevorstehend. Das würde euch in England entlasten, so hoffe ich. Was soll noch werden!
14. 2. 41. abends. Lieber Lindley Fraser, gestern Nacht (22 Uhr) haben Sie endlich wieder einmal ein paar Worte gesprochen. Wie die Welt nach dem Kriege aussehen soll! Ach Gott! Nach dem Kriege! Sie sagten das, als ob das tatsächlich wieder wirkliche Wirklichkeit werden könnte! Werden würde, nein wird, sein wird! Ich kann Ihnen nur eines sagen: wenn ich dann noch Kraft haben werde, noch ein wenig Kraft, dann will ich mitarbeiten, mitschaffen an dieser Welt, die ein anderes Gesicht haben soll. Es ist einem unbegreiflich, dass das deutsche Volk in seiner großen Mehrheit dem heutigen Begriff »deutsch« zujauchzt.
17. 3. 41. Neid ist kein erhabenes Gefühl! Ich neige für gewöhnlich nicht dazu, aber nun bin ich doch zuweilen neidisch, schmerzhaft neidisch: auf alle die nämlich, die nicht als Deutsche geboren worden sind, die nicht an der Hitler-Schmach mitzuschleppen und die später das Recht haben, die Welt neu ordnen zu helfen.
23. 3. 41. Noch eine kleine Betrachtung über die »heldische deutsche Jugend«. Das Jungvolk in der Hitlerjugend hatte letzte Woche wieder einmal Altpapier zu sammeln. Eine Frau rief aus der Waschküche: »Ich habe heute keine Zeit, Papier für euch herzurichten, ich habe große Wäsche!« Als die Frau später aus der Waschküche in ihre Wohnung hinaufstieg, fand sie [19]die Rache der Lausbuben (sprich: »deutsche Helden«) im Treppenhaus: sämtliche dort aufgestellten Sand- und Wassereimer waren über die Treppe hinab ausgegossen. Aber nicht genug! Andern Tages fand die Frau große Flächen der Hauswand mit Rot überschmiert! Daraufhin wandte sie sich an die Polizei. Was aber antwortete man ihr? Die Polizei sehe sich außerstande, in dieser Sache einzuschreiten! Natürlich! Wieso auch! HJ ist doch weit mehr als Polizei!
26. 3. 41. Ein Schwiegersohn ist in der Regel ein Mensch, zu dem die Schwiegereltern sehr nahe Beziehungen haben. Ein deutscher Schwiegersohn jedoch – unser Schwiegersohn – ist vor allen Dingen deutsch und heldisch (er war zwar noch nicht an der Front), und natürlich ist er überzeugt vom deutschen Sieg, hundertprozentig überzeugt! Er entwickelt im Gespräch die Invasion Englands, lässt Fallschirm-, Luftlande- und andere Truppen landen, schwelgt in deren Heldentum, erzählt, dass man vorher mindestens drei Wochen lang die Engländer mit Luftangriffen so zermürben wird, dass sie nicht mehr wissen, was »vorn« und was »hinten« ist. Er weiß, dass wir selbstverständlich alle amerikanischen Lieferungen torpedieren (der Führer hat’s ja gesagt, nicht wahr?), dass wir Afrika wieder erobern werden (gleichzeitig mit der Invasion Englands, denn wir sind unerhört stark!). Der Schwiegersohn nimmt mir übel, wenn ich sage, dass die Italiener ihr Kolonialreich fast ganz verloren haben. Ich sage: »Die Italiener sind ja demnächst eingekreist in Abessinien, sie haben nur noch einen Hafen am Roten Meer. Sie können bald nimmer raus!« Er antwortet überheblich: »Die wollen gar nicht raus! Die ziehen sich ins Innere zurück, wo sie sich verteidigen werden. Wir werden aus den Lüften als Retter erscheinen! Wir werden alles wieder erobern und noch mehr dazu!«
Wir! Wir! Wir!
[20]Ich habe vor des Schwiegersohns Ankunft die Antenne entfernt, damit er nicht auf den Verdacht kommen solle, ich höre Radio London, und ich habe auch sonst noch entsprechende Vorsichtsmaßregeln ergriffen. Das ist »deutsches Familienglück« im Jahre des Heils 1941!
28. 3. 41. Gottlob, der Schwiegersohn ist »vorläufig« abgereist. Und wenn er uns auf der Rückreise aus den Bergen noch einmal beglücken wird, werden wir verreist sein. Ein Tag Zusammenlebens hat unserer Tochter, die seit einigen Monaten in das Elternhaus zurückgekehrt ist, wieder genügt, ihr ganzes Elend aufzudecken. Scheidung ist vorläufig unmöglich. Ludowike ist ganz in seiner Gewalt, denn sie hat ihm gegenüber über den deutschen Gott Hitler und seine Nebengötter, über den Willen Hitler-Deutschlands zum Krieg, über seine Grausamkeit den Juden und dann den kleinen besetzten Ländern gegenüber ihrer Empörung nur allzu deutlich Ausdruck gegeben. Ein Elend! Was soll werden, wenn Lord Halifax Recht behält mit seiner düsteren Voraussage, dass der Krieg noch zwanzig Jahre dauern werde?
1. 4. 41. Zeitungen und Radio sprechen von »Volkszorn«, der sich empört darüber, dass wir Jugoslawien gegenüber eine so undeutsche Geduld an den Tag legen. Wir lassen uns (deutschen Zeitungsmeldungen nach) provozieren und bleiben bei den grässlichsten Drohungen Volksdeutschen gegenüber in sanfter Ruhe. Aber wehe, wenn der Tag der Rache angebrochen sein wird! Mit dieser Vorstellung tröstet sich dann der Durchschnittsdeutsche. Diese Vorstellung kühlt bzw. bändigt seinen furor teutonicus noch so lange, bis – bis – ja – bis wir die Segnungen der »neuen Ordnung« auch nach Jugoslawien bringen dürfen, wie wir sie nach der Tschechei, nach Polen, Rumänien usf. gebracht haben.
[21]Karfreitag 1941. In ein Mäuseloch möchte ich mich verkriechen, wenn ich daran denke, dass ich zu dem Volk gehöre, das nun ohne Zaudern Belgrad vernichtet hat. Wehe, wenn die Engländer stark genug sein werden, zurückzuschlagen! Wenn ich mir überlege, ob tatsächlich dieser eine Verbrecher – unser »Gott Hitler« – schuld an all dem Jammer auf Erden ist, so muss ich immer wieder sagen, dass bestimmt eine große Zahl gleichgerichteter Willen in unserem Volk vorhanden sein müssen, dass vor allem die Generäle, die Offiziere überhaupt, diese »Religion« zu der ihren gemacht haben, und dass das dumme Volk es nachbetet. Wohin werden wir noch kommen, wenn England nicht bald stark genug ist, diesen Verbrecher zu zerquetschen! Unser Bekannter K. leidet offenbar wie wir. Er hält sich, obgleich die Sonne scheint und er an solchen Tagen sonst in seinem Gärtlein hantiert, in seiner Werkstatt unter der Erde verborgen. Er bastelt – trotz Karfreitag. Zuweilen höre ich Hammerschläge. Auch er scheint verzweifelt zu sein, die deutschen Erfolge auf dem Balkan scheinen ihn genauso zu quälen wie uns.
Heute Nacht kommt unser Schwiegersohn, und wir besinnen uns, wie wir ihm und seinem von Heldenmut triefenden Geschwätz morgen aus dem Weg gehen können. Was für eine Zeit!
22. 4. 41. Ich habe das Reichsarbeitsblatt Nr. 6, Jahrgang 1941, vor mir liegen. In diesem ist die »Vorläufige arbeitsrechtliche Behandlung der Juden« festgelegt. Scham überkommt mich, wenn ich sehe, wie unsere Herren Juristen die Worte und Paragrafen deuten, um aus Unrecht »Recht« auszutüfteln. Kurz gesagt: die Juden müssen arbeiten, denn es geht nicht an, »Arbeitskräfte nur deshalb ungenutzt zu lassen, weil sie einer fremden Rasse angehören«. – – »Besonders geeignete Arbeiten für Juden sind Erdarbeiten, Straßenreinigung, Erfassung [22]und Sortierung von Altmaterial, Hilfsarbeiten in den Betrieben usf.« Aber den Juden steht kein Recht zu, weder in Bezug auf irgendwelche sozialen Einrichtungen der Betriebe noch überhaupt irgendein anderes Recht. Abgesondert von den »Deutschblütigen« sollen sie ihre Zwangsarbeit verrichten usf. usf.
5. 5. 41. Gewiss, auch ich glaube an einen »Sinn«. Aber ich glaube erstens nicht, dass Gott Hitler als »Werkzeug« ausersehen hat, um England für seine »Missetat« zu bestrafen (wie viele naive Fromme, denen ich dann die Gegenfrage stelle: »Dann liegt wohl das Werkzeug, das Deutschland für seine gegenwärtigen Übeltaten zu züchtigen hat, auch schon wieder in der Wiege?«) Zweitens glaube ich nicht, dass der »Sinn« dieser entsetzensvollen Gegenwart sich dann erfüllt, wenn wir uns ergeben fügen und nicht einmal mehr innerlich dagegen aufbäumen. Sondern: ich glaube an den »Sinn« dieser Zeit, indem ich hoffe, dass sie viele Menschen wachrüttelt, dass sie in ihnen das glühende Wollen erweckt, nachher eine bessere Welt aufbauen zu helfen! Dass viele – viel, viel mehr Menschen als früher – sich ihrer Verantwortung dem Ganzen gegenüber bewusst werden, dass sie sich schwören, nie mehr eine Diktatur zuzulassen, dass sie lernen: auch auf mich kommt es an, damit sich solches nicht wiederhole! Dass man sich endlich bemüht, die Wurzel aller Kriege – wirtschaftliche Not – auszurotten, dass man wachsam wird und bei den kleinsten Anzeichen, die neues Wachstum von Völkerhass offenbaren, einschreitet und nicht abwartet, bis das Unkraut einem über den Kopf geschossen ist!
Heute hat der australische Premier gesagt, es habe keinen Zweck, Hitler zu töten, das deutsche Volk müsste einmal exemplarisch am eigenen Leib erleben, was es anderen zufügt. Der Mann hat Recht. Was hülfe es, unseren »Gott« zu töten? In [23]diesem Fall würde die deutsche Hammelherde lamentieren und sagen: »Warum hat man ihn nicht leben lassen! Er hätte den Krieg gewonnen!«
7. 5. 41. Ich habe die Wochenschau gesehen: Führers Geburtstag im Führer-Hauptquartier (wenn ich Arzt wäre, so würde ich anordnen, dass der Mann in ein Irrenhaus käme, denn der Wahnsinn loht aus seinem brutalen Gesicht). Ferner haben wir den Balkan-Feldzug, Bilder vom libyschen Feldzug und – das zerstörte Belgrad gesehen! Ich habe diesem Bericht nichts hinzuzufügen. Ich bin hinausgegangen und durch den frischgrünenden Maienwald die gute Stunde heimmarschiert! Was ist das für eine Welt! Was für eine Welt! Wie soll das jemals wieder gut werden! Mein Herz ist übervoll von Jammer, und das einzige kleine Tröstlein ist mir nur: meine Kinder haben nicht teil an diesem entsetzlichen Tun! Ludowike geht abseits der deutschen Heerstraße, Cläre ist Engländerin, und mein Bub ist in Kanada interniert!
Was für ein Gewieher im Film heute, als ein »jüdischer serbischer Offizier« gezeigt wurde. Und da soll man noch an eine deutsche Zukunft glauben!
13. 5. 41.