Verlorene Seelen 1 - Licht am Ende des Tunnels - Claudia Choate - E-Book

Verlorene Seelen 1 - Licht am Ende des Tunnels E-Book

Claudia Choate

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Beschreibung

Die 15-jährige Waise Charlotte Rudd, genannt Charlie, wird aufgrund ihrer Herkunft von ihren Klassenkameraden gemobbt, verprügelt und zum Diebstahl genötigt, schließlich sogar für ein Verbrechen verurteilt, dass sie nie begangen hat. Als alles verloren scheint, tritt der junge Polizist Stefan Wagner in ihr Leben und Charlie sieht zum ersten Mal in ihrem dunklen Leben ein Licht am Ende des Tunnels. Bis ein weiterer Schicksalsschlag erneut ihr Leben aus den Bahnen wirft.

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INHALTSVERZEICHNIS

Ein verhängnisvoller Fehler

Unterdrückung

Ein folgenschwerer Zufall

Das Urteil

Rettungseinsatz

Gestüt Hillebrand

Der Gnadenhof

Neue Bekanntschaften

Therapiestunde

Der Albtraum

Die Arbeit beginnt

Reitunterricht

Das Zottelmonster

Hundeschule

Check-ups für Zottel

Abschied von Bongo

Erinnerungen

Überraschungen

Die Suche nach der Wahrheit

Zusammenstoß

Eine richtige Familie

Polizeieinsatz

Sommerwind

Sorge um Rex

In letzter Sekunde

Schicksalsschlag

Fragen und Antworten

Heimkehr

Ein neues Leben

Gefühle

Offenbarung

Danksagung

EIN VERHÄNGNISVOLLER FEHLER

„Nun geh‘ endlich, Charlie. Stell dich nicht an, wie ein Kleinkind. Wir haben das alle schon mal gemacht, da ist überhaupt nichts dabei“, drängte die rothaarige Valerie und auch die anderen drei Jugendlichen nickten zustimmend mit dem Kopf. Vier Paar Hände schoben das Mädchen in Richtung Musikgeschäft. Zögernd ging die 15-Jährige auf den Eingang zu, während die anderen in einigem Abstand stehen blieben und sie genau beobachteten. Charlie spürte deutlich die Blicke der Clique auf ihrem Rücken und straffte demonstrativ die Schultern. Keck schüttelte sie ihre schwarzen Locken und marschierte weiter.

Doch als sie den Eingang des Geschäftes passiert hatte, änderte sich ihre Haltung. Es schien, als ob sie schrumpfen würde. Ihre braunen Augen blickten ängstlich umher und das schlechte Gewissen war ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. „Was mache ich hier eigentlich?“, fragte sie sich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Sie fand es falsch, aber wenn sie endlich einmal dazugehören wollte, blieb ihr wohl keine andere Wahl.

Seit ziemlich genau fünfzehn Jahren fristete sie ihr Dasein in einem Kinderheim – allein das war schon ein Grund, nirgendwo dazu zu gehören und ausgegrenzt zu werden. Anfangs war ihr das egal gewesen, solange ihre Klassenkameraden sie in Ruhe ließen. Doch mit fortschreitendem Alter wurde sie immer mehr gemobbt und das nicht nur, weil sie ein Waisenkind war. Sie konnte weder mit angesagten Klamotten noch der neuesten Elektronik mit ihren Mitschülerinnen mithalten, genaugenommen besaß sie nicht einmal ein einfaches Handy, geschweige denn ein modernes Smartphone.

Auch körperlich unterschied sie sich von den restlichen Mädchen in ihrer Klasse. Während die anderen eine recht helle Hautfarbe hatten, sah Charlie immer aus, als käme sie gerade aus einem dreiwöchigen Strandurlaub. Auch ihre Haare deuteten darauf hin, dass sie einen farbigen Vater gehabt hatte. Die kurzen, schwarzen Locken standen ihr wirr auf dem Kopf und sie hatte längst aufgegeben, diese bändigen zu wollen. Tatsächlich fühlte sie sich weder als Weiße noch als Schwarze, was es umso schwerer machte, irgendwo dazu zu gehören.

Charlie hatte einfach die Nase voll, immer gedisst, als Nigger beschimpft oder gar geschlagen zu werden, und hatte sich daher von der Anführerin ihrer Klassenclique überreden lassen, eine CD zu stehlen, um in die Gruppe aufgenommen zu werden. Natürlich wusste das Mädchen, dass das nicht in Ordnung war und gegen das Gesetz verstieß, und ihr Gewissen quälte sie stark, aber sie hatte schließlich beschlossen, dass ein schlechtes Gewissen weniger schlimm wäre, als weiterhin von den anderen gequält zu werden. Außerdem hatte ihr die Clique versprochen, dass es ganz einfach sei und schon nichts passieren würde. Und es musste ja nur ein einziges Mal sein, danach hatte sie vielleicht Ruhe vor den Mädchen. Und falls es sie weiterhin quälen würde, könnte sie sich immer noch selber bei der Polizei stellen; davon musste die Clique ja nichts erfahren.

Immer wieder schaute sich das Mädchen im Laden um, während sie durch die Gänge schlenderte und nach der richtigen Abteilung suchte. Sie hatte einen genauen Auftrag bekommen. Valerie wollte eine ganz bestimmte CD haben, sonst würde es nicht gelten. Als sie schließlich das betreffende Regal erreicht hatte, wartete sie, bis der junge Mann, der gerade die Auswahl anschaute, sich entfernte. Dann schaute sie sich erneut um und ließ schließlich die gewünschte Hülle unter ihrer Jacke verschwinden.

Charlie wurde schlecht und sie dachte, sie müsse sich gleich übergeben, wenn sie nicht ganz schnell hier raus käme. Zielstrebig lief sie auf den Eingang zu. Sie musste warten, bis jemand die elektronischen Sicherheitsschranken passierte, damit es nicht auf sie zurückfiel, falls der Alarm losging. Das hatten ihr die anderen Mädels eingeschärft. Also lief sie ein bisschen langsamer und passte den Moment genau ab, als eine Frau mit einer Einkaufstüte durch die Schranke ging, um mit hindurch zu schlüpfen. Tatsächlich schrillte der Alarm los und die Frau blickte verwirrt auf ihre Tasche.

Während sie sich umdrehte, um zurück zur Kasse zu gehen, versuchte Charlie, sich zu verkrümeln, als sie plötzlich fest am Arm gepackt wurde. „Nicht so eilig, junge Dame“, hörte sie eine Stimme, nah an ihrem Ohr.

„Lassen Sie mich los!“, fuhr sie den Mann an, der ihren Arm ergriffen hatte.

„Genau das werde ich nicht machen“, grinste sie der Mann böse an. „Du hast die Wahl. Entweder kommst du freiwillig mit ins Büro oder wir machen das hier, wo es jeder mitbekommt.“ Der Mann deutete auf seine Brust und als Charlie den Kopf hob, bemerkte sie das Namensschild mit dem Zusatz ‚Kaufhausdetektiv‘.

‚Mist‘, dachte sie und warf einen hilfesuchenden Blick zu ihren Klassenkameradinnen, die kichernd auf der anderen Straßenseite standen, sich umdrehten und abzogen. Sie hatten sie fallen lassen, wie eine heiße Kartoffel. Hätte sie sich bloß nicht auf den Deal eingelassen.

Mit hängendem Kopf folgte sie dem Detektiv in dessen Büro, wo er sie auf einen Stuhl drückte und sich dann hinter einem großen Schreibtisch auf seinem Sessel niederließ. Mit hartem Gesichtsausdruck starrte er sie eine Weile an, bevor er die Hand ausstreckte, als wenn er etwas von ihr haben wollte. Charlie blickte ihn fragend an.

„Ich warte!“, sagte er unfreundlich.

Zögernd zog das Mädchen die CD unter der Jacke hervor und legte sie ihm auf die Handfläche. „Es tut mir leid“, flüsterte sie und senkte erneut den Blick.

„Diese Erkenntnis kommt ein bisschen spät, meinst du nicht auch?“ Damit nahm er den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer der Polizeidienststelle. „Ja, Menges hier. Ich bin Kaufhausdetektiv bei Music and More und möchte einen Diebstahl melden… ja, Uferstraße 25… in Ordnung, wir warten hier.“ Damit legte er auf und Charlie sackte auf ihrem Stuhl zusammen.

„Kann ich nicht einfach gehen? Ich habe Ihnen die CD doch wiedergegeben“, fragte sie eine Weile später in die Stille hinein.

Herr Menges lachte laut auf. „Damit fangen wir gar nicht erst an. Wenn wir nicht durchgreifen, meint der nächste Rotzlöffel, er käme auch ungeschoren davon. So läuft das aber nicht. Wenn deine Eltern nicht in der Lage sind, dir Manieren beizubringen, dann müssen sie mit den Konsequenzen leben.“

„Ich bin kein Rotzlöffel und meine Eltern gehen Sie einen feuchten Kehricht an“, antwortete das Mädchen wütend.

„Das glaube ich aber doch. Anständige Mädchen begehen keinen Diebstahl. Wie heißt du eigentlich?“ Seine Stimme war immer noch unfreundlich und Charlie zog trotzig ihre Beine auf den Stuhl, umschlang ihre Knie mit den Armen und sagte kein Wort mehr. Sollte er doch sehen, woher er seine Informationen bekam.

„Ist mir gleich, ob du es mir oder den Bullen sagst, aber eins sage ich dir, wärst du meine Tochter, würde ich dir ein bisschen mehr Benehmen einprügeln.“ Er hob die Hand, als wenn er das Mädchen schlagen wollte, woraufhin Charlie von ihrem Stuhl aufsprang und sich in eine Ecke des Zimmers drückte.

„Na, da bin ich aber froh, dass Sie nicht der Vater dieses Mädchens sind“, klang in diesem Moment eine ernste Stimme von der Tür her. Sofort ließ der Kaufhausdetektiv seine Hand sinken.

Charlie drehte sich um und blickte in die Gesichter von zwei Polizisten. Beide trugen Schusswesten und Waffengürtel und das Mädchen wurde noch ein wenig kleiner. Sie war doch keine Schwerverbrecherin! Der jüngere der beiden Männer mochte Anfang zwanzig sein und blickte ihr freundlich entgegen, während man dem Älteren genau ansah, dass er den Einsatz hier als reine Zeitverschwendung empfand und genervt die Augen rollte.

„Sie haben uns gerufen?“, wandte sich der Ältere nun an den Kaufhausdetektiv. Dieser nickte und erzählte völlig übertrieben, wie Charlie fand, wie er sie dabei ertappt hätte, als sie eine CD stehlen wollte und wie er sie gestellt hätte, als sie die Flucht ergriffen habe. „Haben sie die Eltern schon informiert?“, fragte der Polizist weiter.

„Nee, die Göre sagt keinen Mucks. Habe noch nicht herausgefunden, aus welchem Loch die gekrochen ist.“

Der jüngere der beiden Polizisten blickte ihn böse an: „Ist ja auch kein Wunder, wenn sie das Kind total verängstigen“, was ihm ein verächtliches „Pah“ seines Kollegen einbrachte. Dann drehte er sich zu Charlie um, die immer noch zusammengekauert in der Ecke hockte. „Ich bringe sie schon mal zum Fahrzeug. Kümmerst du dich um den Papierkram, Klaus?“

Klaus nickte nur genervt und der junge Polizist trat auf das Mädchen zu und streckte ihr freundlich die Hand entgegen. „Magst du mitkommen?“

‚Blöde Frage‘, dachte das Mädchen, ‚natürlich nicht‘. Dennoch erhob sie sich langsam, hütete sich jedoch, seine Hand zu greifen.

„Von mir aus kannst du gerne alleine laufen, aber ich möchte dich bitten, keinen Fluchtversuch zu unternehmen – Es würde dir nichts nützen, ich bin eh schneller als du.“ Er lächelte sie immer noch freundlich an und Charlie ließ ihren Blick über die durchtrainierte Gestalt gleiten. Er hatte vermutlich Recht, mit Sicherheit war er um einiges schneller als sie. Ergeben nickte sie ihm zu und folgte ihm zum Polizeiauto, einem Fahrzeug mit zwei Rückbänken. Dort setzte er sie auf eine der Bänke und ließ sich ihr gegenüber nieder. Ein kleiner, ausklappbarer Tisch trennte sie. Ängstlich blickte sich das Mädchen um.

„Ich bin Stefan Wagner und du brauchst keine Angst vor mir zu haben – ich beiße nicht. Magst du mir nicht sagen, wie du heißt?“ Immer noch war seine Stimme freundlich und offen und Charlie war geneigt, ihm zu glauben.

Sie senkte den Blick. „Charlie… Charlotte Rudd“, sagte sie leise.

„R-A-D-D?“

„Nein, mit U, es ist Englisch“, antwortete sie mit einem leichten Grinsen. Er war nicht der erste, der ihren Nachnamen falsch schrieb.

„Wie alt bist du?“

„Fünfzehn.“

„Und wo wohnst du?“

Charlie zögerte mit der Antwort und der junge Mann blickte fragend zu ihr auf. „Im St. Angela“, flüsterte sie kaum hörbar, als sie sein Blick zu durchbohren schien.

„Du wohnst im Kinderheim?“ Herr Wagner schien überrascht zu sein, fing sich aber gleich wieder. Charlie nickte und der junge Polizist machte sich Notizen. Dann wurde sein Gesicht ernst und er beobachtete sie genau, während er sprach: „Stimmt es, was der Detektiv gesagt hat? Hast du wirklich eine CD entwendet und bist dann geflüchtet?“

Charlie nickte geknickt: „Im Grunde schon, auch wenn er ein bisschen übertrieben hat.“

„Aber du weißt doch sicher, dass das strafbar ist?“

„Natürlich“, gab das Mädchen zurück und nachdenklich blickte er ihr in die Augen: „Und warum hast du es dann getan?“

Charlie überlegte, was sie sagen sollte. Genau genommen wusste sie es ja selber nicht. Es war eine Schnapsidee gewesen, sich darauf einzulassen – das war ihr schon klar geworden, bevor sie erwischt wurde. Schweigend blickte sie aus dem Fenster und bemerkte, wie die Clique in einiger Entfernung das Fahrzeug beobachtete. Dann drehte sie sich wieder dem freundlichen Gesicht zu und zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht“, gab sie zu.

Stefan Wagner war ihrem Blick gefolgt und erkannte in der Gruppe Mädchen eine alte Bekannte wieder. Valerie und ihre Freunde schrammten immer wieder haarscharf an der Legalität vorbei und langsam kam ihm ein Verdacht. „Hat dich jemand dazu überredet oder vielleicht sogar gezwungen?“

Charlies Blick huschte erneut zu der Gruppe Mädchen, bevor sie den Kopf schüttelte. Doch der Polizist hatte genug gesehen, um seine Vermutung zu bestätigen. Aber solange sie nichts sagte, konnte er auch nichts gegen die Clique unternehmen.

„Bist du sicher?“, fragte er daher noch einmal nach und sie schüttelte erneut den Kopf. Stefan Wagner seufzte; zwingen konnte er sie ja nicht.

In diesem Moment kam sein Kollege zum Fahrzeug und setzte sich hinter das Lenkrad. „Alles klar bei dir? Hast du was rausbekommen? Von welchem Baum ist sie runtergefallen?“

Herr Wagner schüttelte über die Art seines Kollegen den Kopf und sein Unmut war ihm anzusehen, als er antwortet: „Wir müssen zum Kinderheim St. Angela.“

„Ach, daher weht der Wind“, gab der Ältere genervt zurück. „Haste das auch überprüft?“

„Nee, noch nicht. Mach ich gleich.“ Damit nahm er sein Funkgerät und während er seine Abfrage bei der Zentrale durchführte und die dortigen Kollegen dann informierte, dass sie nun zum Kinderheim fahren würden, blickte Charlotte ängstlich auf den Polizisten mit dem Namen Klaus. Er war ihr nicht geheuer und sie traute ihm nicht über den Weg, auch wenn er eigentlich zu den Guten gehörte.

Der Ältere grinste sie spöttisch an. „Anschnallen“, befahl er unfreundlich, bevor er losfuhr und Charlie schnappte sich den Gurt und ließ ihn einschnappen. Auch Stefan Wagner schnallte sich an, als der Wagen sich in Bewegung setzte. Traurig blickt das Mädchen aus dem Fenster und bemerkte die drohenden Fäuste, die Valerie ihr entgegenstreckte. Aber noch jemand anderer hatte diese bemerkt, als er unauffällig ihrem Blick gefolgt war, und seine Entdeckung schien seine Vermutungen nur noch mehr zu bestätigen.

Nachdenklich betrachtete er das junge Mädchen. Sie wirkte verlassen und verängstigt. ‚Natürlich, sie war ja auch eine Waise‘, dachte er dann. Trotzdem tat ihm das Mädchen leid. Er wusste, dass es Waisenkinder oft schwer hatten und auch immer wieder auf die schiefe Bahn gelangten, so viel hatte er in seinem Job bereits gelernt, auch wenn seine Ausbildung noch nicht lange abgeschlossen war. Aber irgendwie weigerte er sich zu glauben, dass dieses Mädchen dazugehörte, vermutlich war sie selbst das Opfer von Valerie und ihrer Clique und wusste sich nicht anders zu helfen, als mitzumachen. Er beschloss, Charlie im Auge zu behalten, falls es ihm möglich war; er wollte einfach nicht glauben, dass sie ein schlechter Mensch war.

UNTERDRÜCKUNG

Als sie beim Kinderheim ankamen, wurden sie bereits von der Heimleiterin, Schwester Elisabeth, erwartet. Scheinbar hatte die Zentrale ihr Kommen bereits angekündigt. Freundlich begrüßte sie die beiden Beamten und bat sie dann in ihr Büro.

Der ältere Polizist schob Charlie grob vor sich her und als sie sich entrüstet umdrehte, bemerkte sie ein Namensschild auf seiner Uniform: Gerges. Nachdem sie im Büro Platz genommen hatten, berichtete Klaus Gerges der Leiterin, warum sie hier waren.

Mit einem enttäuschten Blick betrachtete diese das junge Mädchen, und für Charlie war dieser Blick schlimmer, als wenn sie sie angeschrien oder geschlagen hätte. Sie kauerte sich auf ihrem Stuhl zusammen und hob nicht mal den Kopf, als die beiden Polizisten sich verabschiedeten. Stefan Wagner blieb noch einmal kurz bei ihr stehen.

„Kopf hoch. So schlimm wird es schon nicht werden. – Und wenn du noch etwas erzählen möchtest, melde dich bei mir.“ Damit drückte er ihr ein Visitenkärtchen in die Hand, das sie zögernd entgegen nahm. Dann war auch er durch die Tür verschwunden.

Langsam stand das Mädchen auf und wollte sich ebenfalls entfernen, doch ein strenges „Charlotte“ ließ sie in der Bewegung innehalten.

„Du weißt hoffentlich, dass ich dich nicht einfach so gehen lassen kann, Mädchen“, sagte Schwester Elisabeth ernst und Charlie nickte. „Ich denke, du weißt am besten, dass es falsch war, was du getan hast, auch wenn ich keine Ahnung habe, warum ausgerechnet du so etwas machst. Bisher war ich immer der Meinung gewesen, du wärst eine unserer zuverlässigsten Bewohnerinnen, aber da habe ich mich scheinbar getäuscht.“

Charlie versuchte, die Tränen zurück zu drängen, die sich in ihre Augen schlichen. Die Enttäuschung der Heimleiterin war deutlich aus jedem ihrer Worte zu hören.

„Geh‘ jetzt auf dein Zimmer und bleib dort. Du wirst es für die nächsten zwei Wochen nur für die Schule und deine Arbeitsdienste verlassen und auch auf dem Zimmer essen. Außerdem bekommst du zusätzliche Dienste auferlegt. Einverstanden?“

Charlie nickte – sie hatte es verdient. Mit hängenden Schultern schlich sie aus der Tür, schloss diese leise und ging dann in ihr kleines Zimmer im Turm des Gebäudes. Dort setzte sie sich auf die niedrige, eingebaute Bank unter dem Fenster und ließ ihren Tränen freien Lauf. Was hatte sie sich da nur eingebrockt? Sie konnte selbst nicht mehr begreifen, wie sie so blöd hatte sein können.

Gegen Abend klopfte es an die Tür und als sich diese öffnete, trat die zwölfjährige Elli ins Zimmer. In der Hand trug sie ein Tablett mit einem Teller Suppe und einem Stück Brot. Sie stellte alles auf ihren Schreibtisch und wandte sich wieder zum Gehen.

„Danke“, sagte Charlie leise und Elli drehte sich zu ihr um.

„Gern geschehen. Kannst dich ja mal revanchieren, wenn ich Mist baue.“ Grinsend verließ Elli den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Lustlos löffelte Charlie ihre Suppe, bevor sie sich fürs Bett fertig machte. Lange lag sie dann noch wach im Bett, dachte darüber nach, was ihr wohl morgen blühen würde, wenn sie auf die Clique stieß. Bei denen war sie unten durch, das war schon mal klar – und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch keinerlei Bedürfnis mehr, dazu zu gehören.

*

Als sie am nächsten Morgen in die Schule kam, wurde sie bereits von Valerie erwartet. „Was hast du den Bullen erzählt“, fragte sie schroff, während ihre Freundinnen sie umringten.

Charlie schaute sich hilfesuchend um und stotterte: „Nichts, Valerie. Keine Angst.“

„Angst? Ich habe doch keine Angst. Aber du solltest vielleicht welche haben, wenn du nicht die Klappe hältst.“ In diesem Moment kam ihr Direktor in der Nähe vorbeigelaufen und Valerie tat so, als wenn sie ihr freundschaftlich auf die Schulter klopfte, bevor sie ihren Mädchen winkte und sie im Schulgebäude verschwanden. Erleichtert atmete Charlie auf und machte sich nun ebenfalls auf den Weg zum Klassenzimmer.

In der großen Pause schnappte sich Valerie wie immer Charlies Pausenbrot, aber daran war das Mädchen schon lange gewöhnt. Sie wusste gar nicht mehr, wann sie das letzte Mal in der Schule etwas gegessen hatte. Das blöde war nur, dass sie nun bis zum Abendessen warten musste, weil sie nach dem regulären Unterricht noch Schwimm-AG hatte. Die Schule lag genau neben dem städtischen Schwimmbad und daher konnte sich die Schule eine solche AG leisten, an der auch Charlotte Rudd mit Erfolg teilnahm. Zu ihrem Missfallen war jedoch auch Valerie und ein weiteres Mädchen aus der Clique in dieser AG und sie neideten dem Mädchen ihren Erfolg, da Charlie eine weitaus bessere Schwimmerin war, als sie selber es waren.

Glücklicherweise ließen die beiden Charlie heute in Ruhe und als sie am Ende der Stunde noch ein paar Bahnen extra schwamm, damit sie ihnen Zeit geben konnte, sich umzuziehen und nach Hause zu gehen, fühlte sie sich frei und glücklich, wie immer, wenn sie durch die Wellen glitt. Da es sich um eine Nachmittags-AG handelte, durften die Schüler nach dem Unterricht alleine nach Hause gehen, oder weiterhin im Schwimmbad bleiben. Die Aufsichtspflicht des Lehrers endete mit dem Ende der Schulstunde.

Daher war es nichts Ungewöhnliches, dass Charlie noch ein paar Runden länger im Wasser blieb. Zum Abschluss übte sie noch ein paar Kopfsprünge vom Drei-Meter-Brett, während sie der Lehrer lächelnd beobachtete, der ebenfalls noch etwas länger geblieben war, um ein paar Bahnen zu schwimmen. Als das Mädchen aus dem Wasser stieg, kam er auf sie zu. „Du solltest dir vielleicht mal überlegen, ob du nicht ein richtiges Schwimmtraining besuchen möchtest. Du hättest bestimmt Chancen bei einer Teilnahme an den diversen Wettkämpfen, die es so gibt.“

Charlie lächelte ihn dankbar an. „Danke, aber Sie wissen doch, dass ich mir das nicht leisten kann und ich glaube nicht, dass mir der Staat einen solchen Kurs bezahlen würde.“

„Schade“, sagte der Lehrer, „du könntest recht erfolgreich werden. Tja, es trifft immer die Besten. Viel Spaß noch.“ Damit schnappte sich der Sportlehrer seine Tasche und verschwand in Richtung der Umkleidekabinen.

Charlie griff sich ihr Handtuch und schlang es sich um die Schultern. Als sie in die Sammelumkleide ging, fand sie diese verlassen vor. Erleichtert zog sie ihren Badeanzug aus und stellte sich unter die warme Dusche. Während sie ihre Haare wusch, erklang plötzlich eine gehässige Stimme: „Na, wen haben wir denn hier?“

Erschrocken riss Charlie die Augen auf – ein Fehler, denn sofort brannte ihr das Shampoo in den Augen. Sie wusste, wem diese Stimme gehörte und ihr Ton verhieß nichts Gutes. Schnell spülte sie sich die Augen aus, um etwas sehen zu können und bemerkte Valerie, die mit einer Socke vor ihr stand, in dem etwas Schweres zu sein schien. Eine ihrer Freundinnen stand an der Tür zum Flur Schmiere, während Valerie und zwei weitere Mädchen auf sie zukamen und sie in die Ecke drängten. Wo hatte Valerie nur die Verstärkung plötzlich her? Ängstlich zog sich das Mädchen so weit wie möglich zurück.

„So, jetzt mal Klartext. Was hast du den Bullen erzählt?“

„Gar nichts. Das sagte ich doch schon“, erwiderte Charlie mit zitternder Stimme.

„Und wenn ich dir das nicht glaube?“

„Dann kann ich es auch nicht ändern. Ich habe nichts gesagt, wirklich nicht.“ Ihre Stimme klang nun flehend, während die drei Mädchen sie herablassend anblickten. Valerie betrachtete nachdenklich das Häufchen Elend vor ihr.

„Na gut, ich will dir dieses eine Mal glauben“, sagte sie mit einem falschen Lächeln und Charlie atmete innerlich schon auf, als die plötzlich weitersprach: „Und damit das auch so bleibt, werden wir dir einen kleinen Vorgeschmack darauf geben, was mit dir passiert, wenn du auf die Idee kommen solltest, doch noch zu quatschen.“

Bevor Charlie noch darüber nachdenken konnte, was sie damit meinte, holte Valerie mit dem Socken aus und traf das Mädchen mit dem Gegenstand im Socken mitten in den Magen. Keuchend krümmte sie sich zusammen und gab damit ihren Rücken preis. Der nächste Schlag traf sie an der Schulter und sorgte dafür, dass ihr die Beine wegknickten und sie auf dem nassen Fliesenboden landete, wo sie ein weiterer Hieb in den Rücken traf. Valerie holte noch ein weiteres Mal aus und traf diesmal ihren Oberarm, der sich anfühlte, als wenn er explodieren wollte. Dann drehte Valerie den Socken um und ließ ein Stück Seife auf den Boden fallen, bevor sie sich mit ihren Freundinnen abwandte und die Umkleide verließ.

Charlie lag auf dem Boden und konnte sich nicht rühren. Alles tat ihr weh, Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie wollte einfach nur noch sterben. Irgendwann schaffte sie es, sich auf die Knie zu stemmen. Ihr linker Arm hing ihr wie taub am Körper, ihr war übel von dem Schlag in den Magen und ihr Rücken schmerzte ebenfalls stark. Vorsichtig versuchte sie, den Arm zu bewegen. Es ging, auch wenn es höllisch wehtat. ‚Zu mindestens scheint nichts gebrochen zu sein‘, dachte sie erleichtert und kam schließlich auf die Beine, die immer noch bedenklich wankten.

Vorsichtig wusch sie sich den Schaum aus den Haaren, bevor sie sich mit der rechten Hand abtrocknete und schließlich anzog. Bei jeder Bewegung raste der Schmerz durch ihren Körper, doch sie hatte keine Wahl. Sie musste zurück ins Heim, wenn sie nicht noch mehr Ärger mit der Heimleitung bekommen wollte, als sie sowieso schon hatte.

*

Nachdem sie endlich in ihrem Zimmer anlangte, ließ sie sich erschöpft auf das Bett fallen und stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, als der Rücken das Bett berührte. Schwerfällig raffte sie sich wieder auf und lief in die kleine Nasszelle, die an ihr Zimmer grenzte. Sie hatte sich vor einiger Zeit den Fuß verstaucht gehabt und müsste eigentlich noch den Rest der Sportsalbe irgendwo haben, die ihr der Arzt damals verschrieben hatte. Nach kurzem Suchen wurde sie fündig. Vorsichtig zog sie sich ihr T-Shirt über den Kopf und betrachtete sich im Spiegel. Ihre linke Schulter und ihr Oberarm fingen bereits an, sich zu verfärben und obwohl sie ihren Rücken nicht sehen konnte, wusste sie, dass dieser nicht viel besser aussah. Vorsichtig schmierte sie die Stellen mit der Sportsalbe ein und allein die Berührung der entsprechenden Körperteile trieb ihr die Tränen ins Gesicht. Erschöpft zog sie sich direkt ihr Schlafanzugoberteil an, damit sie sich später nicht noch einmal umziehen musste.

Danach setzte sie sich an ihre Hausaufgaben. Gott sei Dank war ihr rechter Arm verschont geblieben, sonst wäre sie aufgeschmissen gewesen. Auch an diesem Abend wurde ihr das Essen von Elli gebracht, die sofort wieder das Zimmer verließ, als sie das Tablett abgestellt hatte.

*

In der Nacht machte Charlie kaum ein Auge zu. Ihre Verletzungen taten weh, sie hatte Probleme beim Atmen und vor allem hatte sie Angst, morgen in die Schule zu gehen. Dennoch fühlte sie sich am nächsten Morgen etwas besser. Den linken Arm konnte sie wieder ein wenig bewegen, wenn auch unter Schmerzen, und auch der Rücken tat wenigstens beim Laufen nicht mehr so weh, wie noch am Abend zuvor. Erneut behandelte sie die Stellen mit der Sportsalbe, bevor sie ein T-Shirt mit halblangen Ärmeln anzog. Wenn sie ein bisschen aufpasste, würde niemand die blauen Flecke bemerken, die der Angriff hinterlassen hatte.

In der Schule versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, nur als Valerie ihr einmal scheinbar freundschaftlich auf die betroffene Schulter klopfte, stöhnte sie auf vor Schmerzen, was ihrer Rivalin ein zufriedenes Lächeln entlockte. Charlie war froh, als sie nach Schulschluss endlich verschwinden durfte.

*

Als sie zwei Tage später aus der Schule kam und nach Hause lief, hielt ein Streifenwagen am Straßenrand. Charlie beachtete ihn nicht und ging einfach weiter.

„Charlie?“, rief eine freundliche Stimme hinter ihr und sie drehte sich erstaunt um. Die Stimme kam ihr bekannt vor und als sie in das lächelnde Gesicht des Polizisten blickte, wusste sie auch warum.

„Herr Wagner?“ Ein mulmiges Gefühl stieg ihr in den Magen. Was sollte sie denn jetzt wieder angestellt haben? Mit gesenktem Kopf erwartete sie, was nun kommen würde.

Stefan Wagner trat zu dem Mädchen und musterte sie. „Ich wollte nur mal fragen, wie es dir geht. Ist alles in Ordnung?“ Charlie nickte. „Hast du nochmal darüber nachgedacht, ob du mir nicht doch noch etwas erzählen möchtest?“ Diesmal ein Kopfschütteln, während sie nach wie vor auf ihre Schuhspitzen blickte.

Seufzend trat der Polizist näher und wollte sie sanft an den Oberarmen festhalten, damit sie ihn endlich ansah. „Glaubst du nicht…“ Er brach mitten im Satz ab, als das Mädchen heftig zusammenfuhr und ihm ihren Arm entriss. Alarmiert blickte er ihr ins Gesicht. Dann ergriff er blitzschnell ihre linke Hand und schob mit seiner zweiten Hand vorsichtig den Ärmel ihres Shirts nach oben. Entsetzt blickte er auf das große Hämatom, das ihren Arm bedeckte. „Was ist passiert?“, fragte er leise.

„Ich… ich bin beim Schwimmtraining gestürzt“, antwortete sie mit zittriger Stimme.

Stefan Wagner seufzte. Er hatte während seiner Ausbildung genug gelernt, um zu wissen, dass das kein Sturz war. Sanft hob er mit seiner Hand ihr Kinn hoch, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. „Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht sagst, was los ist“, sagte er eindringlich.

Charlie drehte ihren Kopf weg, sie wollte diese grünen Augen nicht sehen, die in ihre Gedanken zu dringen schienen. „Ich brauche keine Hilfe, danke“, sagte sie, drehte sich um und setzte ihren Weg fort. Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie zügig das Weite suchte.

Der junge Beamte blickte ihr verwirrt nach. Wieso ließ sich dieses Mädchen denn nicht helfen? Er war Polizist geworden, weil er Menschen wie ihr helfen wollte; Menschen, die Unrecht erlitten und nun versagte er kläglich an einem jungen Mädchen. Was sollte er nur tun, um sie davon zu überzeugen, dass er es gut mit ihr meinte?

Charlie war bereits um eine Häuserecke verschwunden, als er endlich wieder sein Fahrzeug bestieg und seine Streife fortsetzte.

Aufatmend schloss das Mädchen ihre Zimmertür hinter sich. Hoffentlich hatten Valerie und die anderen sie nicht mit dem Polizisten zusammen gesehen. Sie dachte zurück an ihre Begegnung mit dem jungen Mann. Er war vermutlich nur wenige Jahre älter als sie selber, und trotzdem war er eine Respektsperson, vor der sie große Achtung hatte. Sie schloss die Augen und rief sich seine grünen Augen ins Gedächtnis zurück, die ihr bis in die Seele zu schauen schienen. Sie war fasziniert von ihnen und hatte gleichzeitig Angst vor dem, was diese Augen entdecken könnten.

Gedankenverloren zog sie seine Visitenkarte aus ihrer Tasche und drehte sie in ihren Händen. Sollte sie ihm vertrauen und ihm sagen, was in der Schule los war? Doch dann entschied sie sich dagegen. Auch die Polizei konnte nicht immer da sein, wenn sie gebraucht wurde und sie musste noch eine Weile mit Valerie zusammen zur Schule gehen, die ihr das Leben zur Hölle machen würde, wenn sie sie verpfiff. Entschlossen steckte sie die Karte zurück in ihre Tasche und setzte sich dafür an ihre Hausaufgaben.

EIN FOLGENSCHWERER ZUFALL

Seit dem Angriff auf Charlie waren gut zwei Wochen vergangen und inzwischen schillerten ihre Hämatome nicht mehr ganz so bunt, wie noch in der Woche zuvor. Bis auf die üblichen Hänseleien ließ die Clique sie weitestgehend in Ruhe, und Charlie fand das sehr angenehm. Ihr Hausarrest war aufgehoben und sie durfte das Heim auch an den Nachmittagen wieder verlassen.

Der Sommer neigte sich dem Ende und es wurde etwas kühler. Daher beschloss Charlie eines Nachmittags, einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft zu machen. Entspannt schlenderte sie durch den Park und genoss die frische Luft nach den heißen Tagen des vergangenen Sommers.

Als sie den Park schon wieder verlassen wollte, kam sie an zwei Polizisten vorbei, die gerade einen Fahrraddiebstahl aufnahmen und erkannte in einem der beiden Herrn Wagner wieder. Zügig ging sie weiter und hoffte, dass er sie nicht bemerkt hatte. Doch Stefan war sehr aufmerksam und daher entging ihm auch nicht das Mädchen mit den dunklen Locken, die versuchte, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen. Er drückte seinem Kollegen das Formular in die Hand. „Kannst du bitte mal übernehmen, Tom?“ Der Kollege nickte und fuhr fort, die Frau zu befragen, deren Fahrrad gestohlen worden war, während Stefan mit raschen Schritten hinter dem Mädchen herlief.

„Charlie?“

‚Verdammt‘, dachte das Mädchen, ‚er hat mich gesehen‘. Seufzend drehte sie sich zu ihm um: „Was immer es ist, ich war’s nicht“, sagte sie laut.

Der Polizist grinste: „Du bist wohl immer gleich auf Verteidigungsmodus, oder?“ Charlie zuckte die Schultern. „Ich wollte nur mal fragen, wie es deinem Arm geht“, fuhr der junge Mann fort.

„Meinem Arm? Gut. Alles wieder heil“, antwortete sie schnell.

„Dann ist ja gut. Sei bitte vorsichtig und pass vor allem auf, dass du nicht wieder einen Unfall hast.“ Er betonte das Wort ‚Unfall‘ und Charlie verstand, was er ihr damit sagen wollte.

„Das werde ich. Keine Angst.“ Damit drehte sie sich um und ging weiter den Weg entlang, während Stefan Wagner sich zufrieden wieder seiner Arbeit zuwandte.

Keiner von beiden hatte das rothaarige Mädchen bemerkt, dass die Szene aus einiger Entfernung beobachtet hatte und nun den Kopf mit einigen anderen Gleichaltrigen zusammensteckte. Doch die Gruppe zog es vor, sich zurückzuhalten, solange die Polizisten noch hier herumliefen.

*

Am nächsten Morgen, einem Samstag, machte sich Charlie erneut auf den Weg. Sie benötigte einige neue Schulhefte, da die aktuellen langsam voll wurden. Gut gelaunt ging sie los und stoppte an einem kleinen Geschäft für Büroartikel. Dort besorgte sie sich die notwendigen Hefte und einige Tintenpatronen und bezahlte alles bei einem freundlichen, alten Mann an der Kasse. Anschließend steckte sie ihre Einkäufe und ihren Geldbeutel in eine Stofftasche und ging noch ein wenig durch die Einkaufsstraße, um sich die Auslagen anzusehen, bevor sie ihren Rückweg antrat. Da sie nicht noch einmal durch die immer voller werdende Einkaufsstraße gehen wollte, entschied sie sich dafür, außenherum zu gehen. Hier war so gut wie nichts los, selbst an der dortigen, heruntergekommenen Tankstelle war kein einziges Auto zu sehen.

Plötzlich hörte sie hinter sich Gelächter und drehte sich erschrocken um. Valerie und ihre Kumpels kamen auf sie zugelaufen. „Na, Rudd. Was treibst du denn hier?“

„Ich… ich brauchte ein paar Schulhefte“, kam es gepresst hervor. Unruhig beobachtete sie die anderen Mädchen, die Valerie wie kleine Hündchen folgten.

„Ich habe dich gestern gesehen. Was hast du denn immer noch mit dem Bullen zu schaffen?“

„Nichts. Er hat mich nur gefragt, ob ich etwas gesehen habe. Es wurde im Park wohl ein Fahrrad gestohlen.“

Valerie grinste vielsagend zu den anderen Mädchen hinüber. „Das ist uns wohl bekannt“, lachte sie auf. Dann wurde sie wieder ernst: „Ich mag es nicht, wenn du mit denen redest.“

„Was soll ich denn machen, wenn er mich anspricht? Einfach die Klappe halten?“

„Das wäre zu mindestens besser für deine Gesundheit.“ Drohend kamen die vier Mädchen auf sie zugeschritten und in einem Anfall von Panik drehte sich Charlie um und rannte so schnell sie konnte zu der Tankstelle. Schnaufend stürmte sie durch die Tür und lief auf einen Mann zu, der im hinteren Teil an einer Theke lehnte.

„Bitte helfen Sie mir. Ich werde…“ Sie stockte, als der Mann sich umdrehte und sie schief angrinste. Er sah ungepflegt aus, hatte einen Drei-Tage-Bart und als er sie von oben bis unten musterte, lief es ihr eiskalt über den Rücken. Warum hatte sie nur die Bluse mit dem Ausschnitt angezogen? Lüstern fiel der Blick des Mannes auf ihren Ausschnitt.

„Natürlich helfe ich dir, Mädchen“, sagte er und zog sie zu sich heran. Charlie versuchte, sich seinem Griff zu entwenden. Er roch nach Bier und es würgte sie, als er versuchte, sie zu küssen. Irgendwie schaffte sie es nun doch, sich ihm zu entziehen und drehte auf dem Absatz um, um gleich darauf in die Arme eines weiteren Mannes zu laufen.

„Na, wo wollen wir denn so schnell hin? Ich denke, du brauchst unsere Hilfe.“ Er strich ihr durch die dunklen Locken. „Ich hatte noch nie eine Farbige. Ist doch mal was anderes.“

Entsetzt riss das Mädchen die Augen auf, ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr und ihre Tasche rutschte ihr aus der Hand. Im nächsten Moment wurde sie auch schon zu Boden gedrückt und kam neben einem Regal zum Liegen, während der Mann sich auf sie kniete. Panisch schlug sie um sich, aber das schien den Mann nur noch mehr anzustacheln. Sie tastete an dem Regal entlang und schließlich griff sie nach dem erstbesten Gegenstand, der ihr in die Finger kam. So hart sie konnte, schlug sie diesen Gegenstand gegen den Kopf des Angreifers, der neben ihr zusammensackte. Bis der zweite Mann, der sichtlich betrunken war, überhaupt realisierte, was passiert war, war das Mädchen auch schon aufgesprungen und rannte Hals über Kopf aus dem Verkaufsraum.

Blind vor Tränen stürmte sie einfach weiter, bis sie nicht mehr konnte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, wie weit sie gelaufen war oder in welche Richtung sie eigentlich musste. Erschöpft ließ sie sich auf einen großen Stein fallen und atmete tief durch. Ihr Körper zitterte immer noch. Als sie wieder zu Atem kam, schaute sie sich um. Vielleicht erkannte sie ja etwas wieder. Nein, hier war sie definitiv noch nie gewesen. Was sollte sie jetzt nur tun? Sie musste die Polizei anrufen. Entschlossen folgte sie der Straße, auf der sie sich befand, aber es dauerte fast eine Stunde, bis sie endlich eine der wenigen Telefonzellen erreichte, die es heutzutage noch gab. Sie hatte noch ein paar Münzen in der Tasche und zog schließlich auch die Visitenkarte aus ihrer Hose. Mit immer noch zitternden Fingern wählte sie die Handy-Nummer, die auf der Karte stand und wartete gespannt, ob sich jemand melden würde.

„Wagner“, hörte sie schließlich eine vertraute Stimme und atmete innerlich auf.

„Hier ist Charlotte… Charlotte Rudd… ich… ich brauche Ihre Hilfe… da war dieser Mann… nein eigentlich zwei… ich glaube… einer von ihnen ist tot...“ Wieder wurde sie von Tränen überwältigt, während sie unzusammenhängende Dinge redete.

„Ganz ruhig, Charlie. Atme erst einmal tief durch. Wir schaffen das schon. – Wo genau bist du jetzt?“

„Ich… ich weiß nicht.“

„Okay, von wo rufst du an?“

„Von einer Telefonzelle.“

„Das ist gut. Schau mal an die Wand. Dort ist normalerweise die Telefonnummer der Telefonzelle abgebildet. Siehst du sie?“

„Ja“, sagte das Mädchen nach einer kurzen Pause und nannte ihm die angegebene Nummer.

„Okay, Charlie. Damit finde ich heraus, wo die Zelle steht. Bleibe bitte genau da, wo du bist. Ich bin so schnell ich kann bei dir.“

„In Ordnung“, schluchzte das Mädchen und hängte den Hörer auf die Gabel. Erschöpft ließ Charlie sich neben der Telefonzelle auf den Boden sinken, zog die Knie an den Körper und fing erneut an zu weinen. Sie bemerkte nicht mal das Blaulicht, dass nur zehn Minuten später neben der Telefonzelle anhielt. Stefan Wagner konnte sie erst nicht sehen, da sie von seinem Standpunkt aus hinter der Zelle saß und blickte sich suchend um. Dann hörte er das leise Schluchzen und ging um die Telefonzelle herum.

„Charlie?“ Das Mädchen blickte auf und bevor er sich versah, fiel sie ihm um den Hals. Er wusste, dass das nicht erlaubt war und schob sie sanft von sich weg. „Alles wird gut. Komm’.“

Widerstandslos ließ sie sich zum Wagen führen. Stefan öffnete die hintere Tür und drückte sie auf den Sitz. „So und jetzt erzähl’ mal, was los ist.“

Er hielt ihr ein Taschentuch hin und als sie sich die Tränen abgewischt hatte, erzählte sie mit belegter Stimme, was passiert war: „Ich wollte mich vor ein paar Mädchen in dieser Tankstelle verstecken und den Mann dort um Hilfe bitten, aber er und ein anderer sind über mich hergefallen. Er sagte etwas davon, dass er noch nie eine Farbige gehabt hätte und warf mich auf den Boden. Ich habe mich gewehrt, aber er war so stark. Und dann habe ich irgendetwas gegriffen und ihn damit geschlagen. Er ist einfach umgefallen. Oh mein Gott, ich glaube, ich habe ihn umgebracht!“, rief sie laut und der Polizist ergriff beruhigend ihre Hand.

„Nein, das hast du nicht. Er hat nur eine Kopfplatzwunde und vermutlich eine Gehirnerschütterung, aber er ist schon wieder ansprechbar.“

Charlie atmete erleichtert auf. „Muss ich jetzt ins Gefängnis?“, fragte sie schüchtern.

Der junge Mann überlegte, was er sagen sollte. Schließlich entschied er sich für die Wahrheit: „Das kommt darauf an. So wie du das schilderst, war es eindeutig Notwehr und das ist nicht strafbar. Das Problem an der Sache ist nur, dass die beiden Männer eine ganz andere Geschichte erzählen. Unter anderem, dass du Geld entwendet hättest.“ Charlie blickte ihn mit großen Augen an. „Würdest du mir zeigen, was du in deinen Taschen hast?“

Immer noch sprachlos starrte das Mädchen auf den Polizisten, von dem sie bisher dachte, dass er ihr Freund war. Sie hätte es besser wissen müssen. Wütend drehte sie ihre Taschen auf links, aber außer der Visitenkarte und ein paar Münzen gab es nichts, was sie ihm zeigen konnte.

„Danke“, sagte Stefan Wagner erleichtert. Es war ihm unangenehm, weil er ihrer Geschichte so gerne glauben wollte. Aber die Aussagen der beiden Männer in der Tankstelle erzählten einen ganz anderen Tathergang. Im Laden hatte man eine Tasche mit ihrer Geldbörse gefunden. Die Kasse war aufgebrochen und die Tageseinnahmen fehlten.

Die Videoüberwachung belegte die Geschichte des Mädchens auch nicht, da lediglich der Eingangsbereich überwacht wurde, nicht aber die Kasse oder der Teil, in dem der Kassierer niedergeschlagen wurde. Somit stand es Aussage gegen Aussage und da die Männer zu zweit waren, stand es schlecht für das Mädchen.

„Hör mir zu, Charlie. Ich glaube dir und ich werde versuchen, deine Geschichte zu belegen. Aber jetzt müssen wir erst einmal auf die Wache fahren, deine Aussage aufnehmen und versuchen herauszufinden, was wirklich passiert ist.“ Charlie fühlte sich von ihm verraten und zog trotzig ihre Beine in das Fahrzeug, damit er die Tür schließen konnte. „Da ist noch etwas“, begann der junge Polizist verlegen, „ich müsste eigentlich einen zweiten Kollegen hinzuziehen, um dich auf die Wache zu bringen, aber wenn du…“ zögernd zog er die Handfesseln aus seinem Gürtel und ließ die Frage unausgesprochen. Schweigend streckte sie ihm die Handgelenke entgegen, doch der Blick, den sie ihm dabei zuwarf, zerrte an seinen Eingeweiden, so verachtungsvoll schaute sie ihn an. „Es tut mir leid“, sagte er leise, während er die Fesseln um ihre Handgelenke legte.

Schweigend setzte er sich hinters Lenkrad. Auf dem Weg zur Wache sagte keiner ein Wort, doch Stefan warf immer wieder einen Blick in den Rückspiegel. Das Mädchen tat ihm unendlich leid und er wünschte sich nichts sehnlicher, als ihr helfen zu können. Leider hatte er jedoch keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Alle Beweise sprachen gegen sie und trotzdem war er von ihrer Unschuld überzeugt.

Als sie schließlich auf dem Revier ankamen, führte er sie in das Gebäude. Dabei kamen sie an Klaus Gerges vorbei, der sich gerade mit einem Kollegen unterhielt. „Na Stefan, hast du die Täterin bereits gestellt? Moment mal, das ist doch die kleine Ladendiebin von vor ein paar Wochen.“

Stefan Wagner warf ihm einen strengen Blick zu und führte das Mädchen weiter in einen Nebenraum. Kurz darauf kam eine weibliche Kollegin, die es übernahm, sie zu durchsuchen und die auch nach Verletzungen Ausschau hielt, die ihre Geschichte belegen könnten. Anschließend wurde sie in ein Verhörzimmer gebracht, in dem der junge Polizist und ein Kollege in Zivil auf sie warteten. Trotzig setzte sie sich auf den freien Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Mein Kollege sagt, du hättest dich nur verteidigt, als die beiden Männer über dich herfallen wollten. Wie kommt es dann, dass du keinerlei Verletzungen hast?“, fragte der Beamte in Zivil.

Charlie blieb der Mund offen stehen. Ihre Angst war verschwunden, jetzt war sie einfach nur noch wütend. „Entschuldigung. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich gewartet, bis er mich vergewaltigt hat, bevor ich mich gewehrt hätte. Dann hätten sie vielleicht ihre Spuren“, sagte sie trotzig und schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Charlie, das bringt doch nichts. Erzähl‘ bitte genau, was passiert ist.“

„Wieso denn? Sie haben sich Ihre Meinung doch sowieso schon gebildet. Ich kann doch sagen was ich will – mir glaubt eh niemand. Die kleine Ladendiebin hat sich an was Größeres getraut, nachdem der CD-Diebstahl nicht geklappt hat. Das glauben Sie doch alle, oder etwa nicht?“

Erstaunt schüttelte Stefan den Kopf. „Das stimmt nicht. Aber was sollen wir denn glauben, wenn du nicht mit uns sprichst?“

Das Mädchen drehte sich auf ihrem Stuhl zur Seite, verschränkte erneut die Arme vor der Brust und war zu keinem weiteren Wort mehr zu überreden. Irgendwann gaben es die Beamten auf, etwas aus ihr herauszubekommen. Der junge Mann war verzweifelt. Er fühlte, dass hier etwas vollkommen schief lief und aktuell gab es für ihn keine Möglichkeit, etwas daran zu ändern.

Schließlich wurde Charlie in eine Zelle gebracht, bis sie von der Heimleiterin abgeholt wurde, deren Blick diesmal noch enttäuschter wirkte als zuvor. Bis zur Verhandlung würde sie auf ihrem Zimmer bleiben müssen, durfte nur zum Unterricht den Raum verlassen und wurde sogar von einer Nonne zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Sie fühlte sich, wie ein kleines Kind, das ständig unter Aufsicht stand und in der Schule wurde sie auch weiterhin von Valerie und ihren Anhängern gemobbt und beschimpft. Dank der Clique hatte Charlies Verhaftung bereits am Folgetag die Runde durch die gesamte Schule gemacht und nicht nur die Lehrer betrachteten sie mit anderen Augen. Auch die wenigen Schüler, die bisher nichts gegen sie hatten, machten nun einen weiten Bogen um sie.

Am liebsten würde sie im Erdboden versinken oder wenigstens auf eine neue Schule gehen, auf der niemand wusste, was ihr vorgeworfen wurde. Am schlimmsten war, dass der einzige Mensch, dem sie vertraut hatte, dieses Vertrauen gebrochen hatte. Sie wusste nicht, dass Stefan Wagner einen Großteil seiner Freizeit opferte, um Zeugen oder Beweise für ihre Unschuld zu finden. Leider bisher ohne Erfolg. Er wusste, dass der Verhandlungstermin näher rückte, und wenn er nicht bald etwas finden würde, würde sie vermutlich wegen räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung eine Jugendstrafe oder zu mindestens eine Menge Sozialstunden aufgebrummt bekommen.

Der junge Polizist horchte auf. Sozialstunden… vielleicht konnte er ja wenigstens auf diesem Weg etwas für das Mädchen tun. Der Jugendrichter war ein Bekannter seiner Eltern und vielleicht ließe sich ja damit etwas anfangen.

DAS URTEIL

Weihnachten kam und ging, doch Charlie durfte nicht, wie die anderen Kinder, an den Feierlichkeiten teilnehmen. Während die restlichen Bewohner Schmuck bastelten und die Räume dekorierten, saß sie in ihrem Zimmer, lernte für die Schule, las Bücher oder erledigte eine der vielen Sonderaufgaben, die ihr auferlegt worden waren.

Während der Ferien hatte sie wenigstens Ruhe vor der Clique, und als am Heiligen Abend leise Weihnachtsgesänge bis zu ihrem Zimmer drangen, setzte sie sich wieder einmal ans Fenster und blickte auf die dicken, weißen Flocken, die passend zum Fest auf die Erde niedergingen. Alles wirkte so ruhig, nur die vielen Lichter deuteten auf die besinnliche Zeit des Jahres hin. Charlie beobachtete einen Vater, der seinen Sohn auf einem Schlitten durch den Schnee zog, vermutlich auf dem Weg nach Hause, um unter dem Tannenbaum zu feiern. Ob ihr Vater das auch mit ihr gemacht hätte, wenn er noch leben würde? Langsam stand das Mädchen auf und trat zu ihrem Bett. Aus einer kleinen Schachtel, in der sie ihre Wertgegenstände aufbewahrte, zog sie einen Briefumschlag, der schon etwas vergilbt war und dem man es ansah, dass er viele Male gelesen worden war.

Vorsichtig faltete sie das schon etwas rissige Papier auseinander und strich es glatt. Dann las sie traurig die wenigen Zeilen, die ihre Mutter ihr vor vielen Jahren hinterlassen hatte und die ihr die Heimleiterin an ihrem vierzehnten Geburtstag überreicht hatte:

Meine geliebte Charlotte, oder möchtest Du lieber Charlie genannt werden? Während ich dies hier schreibe, bist Du noch nicht einmal geboren, aber wenn Du diese Zeilen liest, wirst Du bereits alt genug sein, um zu verstehen, warum Du keine Eltern mehr hast. Zumindest hoffe ich das und wünsche mir, dass Du von einer netten Familie aufgenommen worden bist, die Dir all die Liebe gibt, die wir Dir nicht mehr geben können. Ich wünsche mir so sehr, dass Du mich verstehst und dass Du mir eines Tages verzeihen kannst. Und ich möchte, dass Du weißt, wie sehr wir Dich lieben.

Charlie wischte sich eine Träne aus den Augen, bevor sie weiterlas:

Mein Name ist Melanie Rudd und der Name Deines Vaters ist Jason Rudd. Wir haben uns etwa zwei Jahre vor Deiner Geburt kennengelernt. Er war Soldat in der US-Army und wir haben uns schnell ineinander verliebt. Dein Vater war ein wundervoller Mensch, er hatte nur einen Fehler: seine Hautfarbe war schwarz.

Mich hat das natürlich nicht gestört, ich habe Jason über alles geliebt und hätte alles dafür gegeben, wenn Du ihn auch kennengelernt hättest. Aber leider gibt es auch heute noch Leute, die etwas gegen Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder Herkunft haben. Und so jemandem sind wir leider begegnet, als ich schon mit Dir schwanger war. Einige junge Männer sind grundlos auf uns losgegangen, nur weil er kein Weißer war.

Jason ist in dieser Nacht in meinen Armen gestorben, aber bevor er uns allein gelassen hat, hat er mich noch gebeten, dass ich Dich Charlotte taufen soll und ich werde seinen letzten Wunsch akzeptieren. Er hat sich so auf Dich gefreut, hat eine Wiege gezimmert und Dein Kinderzimmer eingerichtet. Fast hätte ich Dich auch noch verloren, aber die Ärzte konnten das Gott sei Dank verhindern.

Aber bei den Untersuchungen haben sie etwas Anderes festgestellt. Ich bin krank und ich werde nicht mehr lange leben. Schon bald nach Deiner voraussichtlichen Geburt werde ich nicht mehr in der Lage sein, mich um Dich zu kümmern. Und da wir keinerlei Verwandte haben, werde ich Dich weggeben müssen, um sicherzustellen, dass Du gut versorgt wirst.

Ich hoffe so sehr, dass Du die Liebe findest, die Du verdienst und dass Du mir verzeihen kannst, wenn ich Dich schon so bald alleine lassen muss. Es tut mir in der Seele weh, aber ich habe keine andere Wahl. Sei stark. Ich weiß, dass wir Dich eines Tages wiedersehen werden, und bis dahin werden Dein Daddy und ich so gut es geht über Dich wachen.

In Liebe, Deine Mutter.

Charlie faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es zurück in den Umschlag, während ihr die Tränen genauso leise vom Gesicht tropften, wie es die Schneeflocken draußen taten. Die Hoffnungen ihrer verstorbenen Eltern hatten sich leider nicht erfüllt. Niemand hatte das kleine Mädchen mit den schwarzen Locken adoptieren wollen und Charlie machte sich auch keine Illusionen darüber, dass sie bis zu ihrer Volljährigkeit hierbleiben würde. Wer wollte schon eine 15-Jährige zu sich nehmen? Die meisten suchten Babys oder Kleinkinder und alles was älter als zehn war, hatte eh schon verloren. In den letzten zehn Jahren hatte sie das oft genug mitbekommen.

Charlie hatte die Hoffnung, eine neue Familie zu bekommen, schon vor Jahren aufgegeben. Da sie nie eine Familie gehabt hatte, vermisste sie dieses Gefühl auch nicht so sehr, wie Kinder, die erst im fortgeschrittenen Alter zu Waisen geworden waren.

Nachdem sie den Brief wieder in die Kiste gelegt hatte, zog sie ein Foto hervor, das ihr ihre Mutter mit dem Brief vererbt hatte. Es war das Hochzeitsbild ihrer Eltern. Ein großer Mann mit hellbrauner Hautfarbe, schwarzen Locken und einem breiten Lächeln – und eine Frau, die ihr selber wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur dass sie lange braune Haare, grüne Augen und eine helle Haut hatte. Sie lächelten glücklich in die Kamera und wenn man genau hinsah, konnte man bereits den kleinen Bauchansatz erkennen, der das weiße Kleid ein wenig ausbeulte. Auch sie selber war auf diesem Foto. Es war das einzige Familienfoto, das sie besaß.

Schließlich legte sie das Bild ebenfalls zurück und zog sich für die Nacht um. Während alle anderen feierten, lag sie in ihrem Bett, weinte sich in den Schlaf und träumte von ihren Eltern, die mit ihr im Urlaub auf einen Ponyhof fuhren und mit ihr einen Ausritt machten.

*

Als die Ferien zu Ende waren und der Unterricht wieder anfing, schien sich die Lage in ihrer Schule etwas beruhigt zu haben. Die meisten Schüler machten nicht mehr einen großen Bogen um sie, sondern ignorierten sie einfach. Charlie war das Recht, so konnte sie in Ruhe in der Pause lesen oder einfach ihren Gedanken nachhängen. Bald würde die Gerichtsverhandlung beginnen und es würde sich zeigen, ob sie den Rest ihrer Jugend im Gefängnis verbringen musste. Na ja, genaugenommen war es da vermutlich auch nicht viel anders als jetzt. Immerhin musste sie dann nicht mehr mit der Clique auf die gleiche Schule gehen und hatte endlich ihre Ruhe vor Valerie und ihren Freundinnen.

Wenn man es so betrachtete, wäre es vielleicht sogar eine Verbesserung zu ihrem jetzigen Leben. Andererseits wäre sie dann vorbestraft und darauf konnte sie gerne verzichten, zumal sie sich keiner Schuld bewusst war – sie hatte sich ja nur verteidigt.

*

Anfang April war es dann so weit. Schwester Elisabeth hatte sie zum Gericht gebracht, konnte jedoch nicht bei ihr bleiben, da sie sich um die anderen Kinder im Heim kümmern musste. Man hatte dem Mädchen einen Pflichtverteidiger zur Seite gestellt, doch Charlie war sich bis heute nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Ihrer Meinung nach sollte ein Verteidiger ihr glauben, doch Herr Schneider machte nicht den Eindruck, als wenn er irgendetwas ihrer Erzählung glaubte. Daher hätte sie gerne auf ihn verzichtet, vermutlich schadete er ihr mehr, als er ihr half. Aber er war nun mal da und saß gelangweilt auf seinem Stuhl, als sie den Saal betrat.

Ängstlich kauerte sie sich auf ihrem Stuhl zusammen und wartete auf den Beginn der Verhandlung. Während sie auf den Richterplatz starrte, trat ein Mann näher und Charlie schrak kurz zusammen, als er zu sprechen anfing. „Hallo Charlie. Wie fühlst du dich?“

Charlie hob den Kopf. „Herr Wagner? Was machen Sie denn hier?“

Der junge Mann hatte seine Polizeimütze abgenommen und fingerte nervös daran herum. „Ich dachte, du brauchst vielleicht Unterstützung. Auch wenn ich leider immer noch keine neuen Beweise auftreiben konnte. Ich weiß leider auch nicht mehr, wie ich die Wahrheit beweisen könnte.“ Der Polizist wirkte trotz seiner Uniform wie ein kleiner Junge, der das erste Mal eine Arbeit verhauen hatte und sich nun schämte, es seinen Eltern zu beichten.

Charlie blickte in die grünen Augen, die sie traurig anblickten. Sie war wütend auf ihn gewesen, weil er sie damals auf die Wache gebracht hatte und weil sie der Meinung war, er würde ihr nicht glauben. Doch als sie ihn jetzt dort stehen sah, wurde ihr auf einmal klar, dass er die ganze Zeit auf ihrer Seite gestanden hatte, sogar versuchte, ihre Geschichte zu beweisen und dass er ihr gerne helfen wollte. „Warum tun Sie das für mich?“, fragte sie ungläubig, als die Erkenntnis auf sie einstürmte.

„Weil ich die Wahrheit beweisen möchte. Deshalb bin ich Polizist geworden. Ich wollte Menschen wie dir helfen. Und jetzt habe ich kläglich versagt. Es tut mir leid.“

Charlie lächelte den jungen Mann an. „Danke“, sagte sie einfach und Stefan setzte sich auf eine der Zuschauerbänke. Während der Verhandlung behielt er sie die ganze Zeit im Blick und beobachtete sie genau. Und was er sah, bestätigte ihn immer mehr in seiner Vermutung, dass hier etwas vollkommen schief lief. Sah denn niemand, wer hier die Wahrheit sagte und wer nicht?

Nachdem die Anklage verlesen worden war, musste Charlie sich auf einen Stuhl in der Mitte setzen, ihre Daten bekannt geben und durfte dann erzählen, was an dem Tag passiert war. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie von ihren Erlebnissen berichtete. Doch niemand schien das zur Kenntnis zu nehmen.

Als sie ihren Bericht beendet hatte, blätterte der Staatsanwalt in seinen Unterlagen und trat dann auf das Mädchen zu. „Stimmt es, dass du nur wenige Wochen vor der Tat bei einem Ladendiebstahl erwischt wurdest?“ Charlie senkte den Blick und nickte. „Wir können dich nicht hören“, sagte er unfreundlich.

„Ja, das stimmt.“

Der Staatanwalt drehte sich von ihr weg und sagte laut: „Die Anklage wurde in diesem Fall wegen Geringfügigkeit abgewiesen, aber es zeigt deutlich das Verhältnis der Angeklagten zu mein und dein und auch in diesem Fall hatte sie sich gewaltsam gegen die Festnahme des Kaufhausdetektives gewährt.“

Charlie riss die Augen auf. Wie bitte? Wo hatte sie sich denn gewaltsam gewehrt? Auch Stefan Wagner stockte kurz und fand die Auslegung des Staatsanwaltes mehr als ungerecht. Natürlich hatte sie versucht, sich dem Griff des Detektives zu erwehren, aber gewaltsam war ja wohl etwas anderes.