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Jannis Mutter ist tot und sein Vater hält ihn für faul und schlecht erzogen. In der Schule gilt der 9-Jährige als Autist mit extremen Verhaltensstörungen, dessen Klassenlehrer Herr Möller die Vermutung hegt, dass der Junge zu Hause misshandelt wird. Doch da Jannis schweigt und seinen Vater in keiner Weise belastet, glauben dem Lehrer weder der Schulleiter noch das Jugendamt. Bis ein Nachbar bei einem weiteren Übergriff des Vaters aufmerksam wird und die Polizei ruft. Danach kommt Jannis auf den Sonnenhof. Dort versucht die Familie Bergmann mit viel Feingefühl und Verständnis hinter die schrecklichen Geheimnisse des Jungen und seines Verhaltens zu kommen.
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Seitenzahl: 405
Für Kevin,
der mich zu der Person des kleinen Jannis
inspiriert hat und der in meinen Augen
immer etwas ganz Besonderes bleiben wird.
Verdächtigungen
Polizeieinsatz
Willkommen auf dem Sonnenhof
Kontaktaufnahme
Angst und Vertrauen
Ein ganz besonderer Junge
Neue Erkenntnisse
Erinnerungen
Rettung in der Not
Überraschendes Geständnis
Reise in die Vergangenheit
Besuch auf dem Sonnenhof
Annäherungsversuche
Familienzuwachs
Gemischte Gefühle
Fremde Heimat
Albträume
Ungewöhnlicher Besuch
Zufall mit Folgen
Tiefe Wunden
In letzter Minute
Genesung
Überraschungen
Ein neuer Anfang
Danksagung
Weitere Titel von C.Choate
Wie immer war Jannis der letzte Schüler, der an der Arbeit schrieb, während seine Klassenkameraden bereits ihre Hefte nach vorne gebracht und leise den Raum verlassen hatten. Schon zum dritten Mal radierte der Junge eine Antwort weg und fing erneut an zu schreiben. Doch das lag nicht daran, dass er vorher eine falsche Antwort gegeben hatte, sondern weil die Schrift in seinen Augen unordentlich gewesen war.
Jannis war ein Perfektionist. Wenn er eine Arbeit schrieb, war das sehr kontraproduktiv, da er trotz der zusätzlichen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, noch nie eine Arbeit bis zum Ende geschrieben hatte. Das lag daran, dass er Buchstaben und Zahlen eigentlich nicht schrieb, sondern sie regelrecht malte. Und wenn sie schief oder nicht gleich groß waren, wurden sie wegradiert und neu gemalt.
Manchmal passierte es aber auch, dass er es sich selber nicht recht machen konnte und dann war es auch möglich, dass er den Stift einfach weg legte, die Beine anzog und auf seinem Stuhl hin und her schaukelte. Dann war es schwierig, ihn wieder zurück in den Unterricht zu bekommen. Man wusste sowieso nie genau, in wie weit er dem Lehrer überhaupt folgen konnte.
Jannis war Autist und vom Schreiben und seinen Schaukelattacken einmal abgesehen sehr schwer zu durchschauen. Er blickte zum Beispiel nie in die Augen seines Gegenübers, sondern entweder auf den Boden oder an ihm vorbei. Daher war es schwer zu sagen, ob er dem Unterricht folgte. Jannis sprach auch kein Wort, sodass man nur durch schriftliche Aufgaben und Arbeiten seinen Wissensstand erahnen konnte. Der jedoch schien enorm zu sein, denn obwohl er meistens nur die Hälfte einer Klausur schaffte, waren in seinen Antworten so gut wie keine Fehler vorhanden. Wäre Jannis ein ganz normaler Junge, hätte er vermutlich einen Notendurchschnitt von eins bis zwei und würde ohne Probleme eine Klasse überspringen können. So aber waren seine Noten trotz Leistungsausgleich eher Mittelmaß.
Frau Zimmer, die als pädagogische Betreuung für Jannis in der Klasse war, legte ihre Hand auf das Papier, als er erneut ein Wort wegradieren wollte. „Jannis, das ist sehr schön, so wie es ist. Wenn du nochmal radierst, sieht das Blatt bestimmt nicht mehr schön aus. Vielleicht versuchst du es noch mit der nächsten Aufgabe in den letzten paar Minuten.“
Jannis reagierte nicht wirklich auf sie und starrte auf den Radiergummi in seiner Hand, bevor er ihn schließlich zur Seite legte, dann jedoch erneut ergriff und das Wort wieder wegradierte, welches ihm nicht gefiel. Frau Zimmer seufzte, hatte genaugenommen auch nichts Anderes erwartet.
Bis die Zeit um war, hatte der Junge dann doch noch die nächste Aufgabe geschafft, war aber auch hier nicht mit seiner Schrift zufrieden und weigerte sich daher, seine Arbeit abzugeben. Der Klassenlehrer Herr Möller nahm ihm schließlich mit sanfter Gewalt das Blatt aus der Hand, wobei er versehentlich den Arm des Jungen berührte. Etwas, was dieser überhaupt nicht leiden konnte. Der Lehrer bemerkte seinen Fehler zu spät und konnte es nicht mehr verhindern.
Sofort sprang Jannis auf, rannte in die Ecke des Zimmers, zog seine Beine an und fing an zu wippen.
„Es tut mir leid, Jannis“, versuchte sich der Lehrer zu entschuldigen, wusste aber gleichzeitig, dass es unnütz war. Herr Möller kannte den Jungen seit über zweieinhalb Jahren, seit dieser damals eingeschult worden war. Derartige Anfälle kamen immer wieder vor. Inzwischen hatte er gelernt, dass es am besten war, wenn man den Jungen dann in Ruhe ließ, irgendwann würde er sich erheben und an seinen Platz zurückkehren. Am Anfang hatten er und Frau Zimmer noch versucht, auf Jannis einzureden, jedoch bald feststellen müssen, dass der Junge dann in einem Zustand war, in dem er seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen schien. Daher fuhr der Lehrer in diesen Situationen einfach mit dem Unterricht fort.
Jannis selber zeigte während dieser Zeit keinerlei Reaktion, bekam aber dennoch jedes Wort mit, das der Lehrer sagte, sodass er nie den Anschluss verlor. Sein Kopf glich in dieser Zeit einer defekten Festplatte, auf der man nach wie vor Daten speichern, jedoch nicht abrufen konnte.
So war es auch an diesem Tag, als sie ein neues Thema durchnahmen. Herr Möller gab ihm zwar die Hausaufgaben dazu auf, rechnete jedoch nicht damit, dass Jannis diese würde erledigen können.
Entsprechend überrascht war er am nächsten Morgen, als er die Hausaufgaben einsammelte und Jannis ihm sein Heft hinschob. „Ja, konntest du die Aufgabe denn machen?“, fragte er überrascht.
Jannis blickte wie immer an ihm vorbei und reagierte nicht wirklich, woraufhin der Lehrer das Heft in die Hand nahm und aufschlug. Und da war die Aufgabe in fein säuberlich gemalten Buchstaben. Herr Möller war überrascht und noch mehr, als er auf den ersten Blick keinen Fehler feststellen konnte. Irritiert nahm er das Heft zusammen mit den anderen mit zum Lehrerpult. Während die Schüler sich mit einer Stillarbeit beschäftigten, ging er die Hausaufgaben durch. Als er bei Jannis‘ Heft ankam, sah er seine Vermutung bestätigt. Der Junge hatte die wenigsten Fehler von allen. ‚Vermutlich hat der Junge die Aufgaben mit Hilfe seines Vaters gemacht‘, dachte der Pädagoge bei sich. Er hatte ja keine Ahnung, dass Herr Andersson gar nicht richtig schreiben und lesen konnte. Aber anders konnte er sich das Ergebnis nicht erklären.
Herr Möller unterrichtete neben Deutsch und Sachkunde auch Sport. Auch hier gab es die eine oder andere Herausforderung in Bezug auf den besonderen Jungen in der Klasse. Ballspiele waren zum Beispiel gar nicht möglich, Gerätetraining hingegen schon, solange keine Hilfestellungen notwendig waren. Da Herr Möller jedoch noch fünfzehn andere Schüler und Schülerinnen hatte, auf die er Rücksicht nehmen musste, bekam Jannis hin und wieder eine Sonderaufgabe, während die anderen Völkerball oder Ähnliches spielten. So auch an diesem Tag. Der Junge sollte an der Wand mit einem Ball alleine üben, indem er diesen an die Wand warf, dann auf den Boden dotzen ließ und anschließend auffing. Das klappte immer ganz gut, da Jannis dabei keinen Partner sondern lediglich die Wand ansehen musste.
Frau Zimmer behielt den Jungen auch hier im Auge, damit der Sportlehrer sich um die restlichen Schüler und Schülerinnen kümmern konnte. Nach dem Unterricht bemerkte Herr Möller, dass Jannis nicht aus der Sammelumkleide kam. Es war die letzte Stunde des Tages und die restlichen Jungen hatten die Umkleide bereits verlassen.
Als der Lehrer nach dem Rechten sehen wollte, zog Jannis gerade sein T-Shirt über den Kopf. Er hatte ihm den Rücken zugekehrt und bemerkte den Lehrer daher nicht sofort, was Herrn Möller die Gelegenheit gab, den großen, blauen Fleck auf Jannis‘ Rücken zu sehen.
„Bist du heute hingefallen?“, fragte er leise, doch der Junge wirbelte herum, als wenn eine Bombe explodiert wäre, und drückte sich an die Wand, ohne jedoch den Lehrer anzusehen. Herr Möller verfluchte die Tatsache, dass er mit dem Jungen nicht wirklich kommunizieren konnte. Schnell zog er einen Stift und einen Block aus der Hosentasche, malte einen Strich durch die Mitte des Blattes und schrieb auf je eine Hälfte die Wörter ‚JA‘ und ‚NEIN‘. Den Block und den Stift legte er auf die Bank neben Jannis und trat einen Schritt zurück. Dann versuchte er es erneut. „Hast du dir beim Sport wehgetan, Jannis?“
Der Junge schien ihn gar nicht zu beachten, sodass Herr Möller schon einen weiteren Fehlschlag vermutete. Doch dann bewegte sich die Hand des Kindes, griff den Stift und deutete mit der Spitze auf ‚NEIN‘.
„Sehr gut machst du das. Kannst du mir sagen, ob du vielleicht in der Schule gefallen bist?“ Wieder dauerte es einige Sekunden, bis der Stift erneut auf ‚NEIN‘ deutete. „Dann hast du dich wohl zu Hause verletzt?“, fragte der Lehrer weiter. Diesmal deutete der Stift auf ‚JA‘. „Bist du hingefallen?“ Wieder ein ‚NEIN‘.
Herr Möller dachte einen Moment nach. Konnte die Verletzung von seinem Vater sein? Als er eine diesbezügliche Frage stellte, bekam er jedoch keine Antwort mehr. Der Lehrer betrachtete den Neunjährigen aufmerksam. Jannis war recht groß für sein Alter und von eher schmaler Statur. Da er jedoch meist mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern vor einem stand, wirkte er viel kleiner, als er eigentlich war, und sehr zerbrechlich. Seine blonden Haare hingen ihm meist wirr um den Kopf und wirkten recht ungepflegt. Vermutlich war es sehr schwer, dem Jungen die Haare zu waschen oder zu schneiden, da er niemanden an sich heranließ. Zu mindestens keine Fremden. Er wusste jedoch nicht, wie es mit seinem Vater war.
Nachdem Jannis einige Minuten bewegungslos vor sich hingestarrt hatte, beschloss der Lehrer, Frau Zimmer zu holen. Vielleicht kam sie an den Jungen heran. Als er jedoch fünf Minuten später mit der Pädagogin zurückkehrte, war Jannis verschwunden. Der Stift lag ordentlich auf dem Block – genau auf dem senkrechten Strich, den der Lehrer zuvor gemalt hatte. Und deutete weder auf ‚JA‘ noch auf ‚NEIN‘.
Schließlich beschloss der Lehrer, seinen Verdacht beim Schulleiter zu melden, doch dieser fand, dass ein einmaliger, blauer Fleck noch lange kein Grund war, einen Vater zu beschuldigen, seinen Sohn zu misshandeln oder zu schlagen. Enttäuscht verließ er dessen Büro und nahm sich vor, den Jungen noch genauer zu beobachten. Sollte ein weiterer Verdacht vorliegen, würde er erneut zum Schulleiter gehen und notfalls selber das Jugendamt einschalten.
Dieser Verdacht kam einige Tage später, als er die Unterschriften auf den am Vortag zurückgegebenen Arbeiten kontrollierte. Jannis hatte zwar nur einen Fehler, aber aufgrund der fehlenden Aufgaben, die er zeitlich nicht mehr geschafft hatte, nur eine drei plus geschrieben. Bei der Kontrolle der Unterschrift blickte der Lehrer ungläubig auf den Zettel. Jemand hatte das Blatt zerrissen und anschließend war es fein säuberlich mit Tesafilm wieder zusammengeklebt worden. Das sah Jannis nicht ähnlich. Man fand nur äußerst selten einen Knick in seinen Unterlagen und nie einen Riss.
Während er noch ungläubig auf den Zettel starrte, zog der Junge den Ordner mit der rechten Hand vom Lehrer weg. Dabei bemerkte Herr Möller, dass er seine linke Hand im Schoß liegen hatte. Frau Zimmer war an diesem Tag nicht in der Klasse, sodass er der einzige war, der es bemerkte.
Während des Unterrichts blieb die Hand, wo sie war, obwohl Jannis sichtlich Probleme beim Schreiben hatte, weil sein Heft immer wieder wegrutschte, und er auch nicht radierte, wie er es sonst immer tat. Als die restlichen Schüler in die Pause gingen, trat der Mann ein wenig näher und zog sich einen Stuhl heran. Jannis blickte starr auf die Tischplatte.
Herr Möller schob ihm ein rundes Kärtchen hin, das sie im Unterricht benutzten. Es hatte eine rote und eine grüne Seite, die für ‚JA‘ und ‚NEIN‘ standen. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Jannis drehte die Karte auf grün. „Du weißt, dass man nicht lügen darf, Jannis – richtig?“ Wieder ging die grüne Seite nach oben. „Tut dir etwas weh?“
Jetzt zögerte der Junge länger, bis er schließlich die rote Seite nach oben drehte. Der Lehrer glaubte ihm jedoch nicht und versuchte, seinen Blick einzufangen, doch das Kind starrte nach wie vor auf den Tisch. „Dann lege bitte deine linke Hand auf den Tisch“, sagte Herr Möller. Sofort lag die Karte mit der roten Seite nach oben. Der Mann seufzte. „Jannis! Wenn du mir deine Hand nicht freiwillig zeigst, muss ich dich leider anfassen und selber nachsehen. Ich weiß, dass du das nicht magst, also wäre es sehr hilfreich, wenn du es selber tust.“
Ganz langsam hob der Junge die Hand und legte sie auf den Tisch. Sein Handgelenk war geschwollen, das konnte der Lehrer auch ohne medizinische Ausbildung sehen. Er fürchtete sogar, dass es gebrochen sein könnte. „Danke“, sagte er schnell, als die ersten Schüler aus der Pause zurückkehrten. „Du kannst sie wieder runternehmen.“
Dann wandte er sich an die anderen: „Tut mir bitte alle einen Gefallen und geht gemeinsam in die Bibliothek. Ich werde euch gleich eine Aufsicht schicken. – Andreas, du sorgst bitte für Ruhe.- Tom, du bleibst bitte hier.“
Verwundert trat der Junge namens Tom näher, während sich die anderen entfernten. „Bleibst du bitte ein paar Minuten bei Jannis, Tom? Ich muss kurz einmal ins Sekretariat.“ Der Junge nickte und setzte sich auf den Stuhl, auf dem der Lehrer bisher gesessen hatte.
Im Sekretariat rief Herr Möller in der Notrufzentrale an und schilderte ihnen die Beschwerden des Jungen und auch, dass es äußerst schwierig werden würde, ihn zu behandeln. Am besten wäre gewesen, wenn er Jannis mit dem Auto in die Klinik bringen würde, aber ohne Einwilligung eines Elternteils durfte er ihn nicht im Auto mitnehmen. Und aufgrund seiner Vermutung konnte er auch nicht einfach Jannis‘ Vater anrufen und ihn bitten, seinen Sohn abzuholen und zum Arzt zu bringen.
Nach seinem Gespräch mit der Notrufzentrale, informiert er den Schulleiter. Dieser fand die Alarmierung eines Krankenwagens für unnötig und erteilte dem Lehrer eine Rüge. Dennoch sorgte er für eine Betreuung der restlichen Klasse und nachdem er die Sekretärin noch gebeten hatte, die Sanitäter in sein Klassenzimmer zu schicken, ging er zurück und schickte Tom zu den anderen in die Bibliothek.
Zehn Minuten später klopfte es an der Tür und drei Männer traten näher, zwei Sanitäter und ein Notarzt, der aufgrund der besonderen Situation mitgeschickt worden war, da es unter Umständen notwendig sein würde, den Jungen zu sedieren, um ihn behandeln zu können.
Als Jannis die Männer aus den Augenwinkeln erblickte, sprang er auf und rannte in seine Ecke, in die er sich zurückziehen konnte, wenn er mit einer Situation nicht mehr zurechtkam. Sofort gab der Arzt seinen Kollegen ein Zeichen, dass sie erst einmal an der Tür warten sollten. Dann trat er auf den Lehrer zu, ohne Jannis anzublicken. „Guten Tag, ich bin Dr. Berger. Was ist passiert?“
„Guten Tag. Mein Name ist Möller und das ist Jannis Andersson. Er ist Autist, spricht nicht und lässt sich nicht anfassen. Mir ist heute Morgen aufgefallen, dass er seinen linken Arm versteckt hielt. Ich habe es schließlich geschafft, dass er ihn mir kurz zeigte. Soweit ich das erkennen konnte, ist sein Handgelenk stark geschwollen. Es könnte verstaucht oder gar gebrochen sein – ich weiß es nicht.“
„Darf ich fragen, warum sie nicht die Eltern informiert haben?“
„Naja. Es ist nicht die erste Verletzung, die der Junge hat. Vor einigen Tagen habe ich eine Prellung im Rücken festgestellt, als er sich nach dem Sport umgezogen hat. Er hat mir gesagt, dass das zu Hause passiert ist, doch auf die Frage, ob sein Vater etwas damit zu tun hat, verweigerte er die Auskunft.“
„Sagten Sie nicht, dass er nicht spricht?“, fragte der Notarzt, während er einen versteckten Blick auf Jannis warf, den er während des Gespräches heimlich beobachtete.
Herr Möller zog die Ja-Nein-Karte hervor. „Er gibt Antworten mit Hilfe dieser Karte… Meistens jedenfalls.“
„Gut“, sagte der Arzt und ergriff die Karte. Dann ging er ganz langsam auf den Jungen zu, setzte sich im Schneidersitz vor ihm hin und legte die Karte zwischen sie beide. Anschließend blickte er auf den Boden; vermied es aber, ihm direkt in die Augen zu sehen. „Hallo Jannis. Ich bin Peter. Ist es okay, wenn ich mich kurz zu dir setze?“ Gespannt wartete er auf eine Reaktion, doch es dauerte eine Weile, bis der Junge den Kopf hob und ihn für den Bruchteil einer Sekunde anblickte. Dr. Berger hielt den Kopf weiterhin gesenkt. Dann hob Jannis das Kärtchen und drehte die grüne Seite nach oben.
„Danke“, sagte der Arzt. „Jannis – ich habe ein Problem. Ich würde dir gerne helfen, aber dafür müsste ich mir deinen Arm einmal ansehen.“ Er zog einen Stuhl näher und schob ihn neben den Jungen. „Meinst du, du könntest ihn mal vorsichtig auf den Stuhl legen?“
Dr. Berger bemerkte eine leichte Bewegung aus den Augenwinkeln und ganz langsam kam die Hand in sein Blickfeld. Der Lehrer hatte Recht gehabt, das Gelenk war wirklich stark geschwollen und vermutlich gebrochen. Jetzt befand sich der Arzt in einer Zwickmühle. Um weitere Schäden zu vermeiden, benötigte der Junge eine Schiene, was wiederum mit Schmerzen verbunden war und außerdem musste er den Arm dafür anfassen, was der Junge jedoch nicht zuließ. Ein Schmerz- oder Betäubungsmittel konnte er ihm jedoch nur über einen Zugang verabreichen, den er aber ebenfalls nicht legen konnte.
Hilfesuchend drehte er sich zu dem Lehrer um. „Hat Jannis generell Angst vor Berührungen oder nur Haut an Haut?“
„Generell, soweit ich weiß.“
Verdammt. Das würde nicht einfach werden. Mit sanfter Stimme erklärte er dem Jungen, dass er ihm gerne etwas gegen die Schmerzen geben würde, um seinen Arm zu bandagieren, weil er es sonst vielleicht nicht aushalten könnte. Dann holte er eine verformbare Schiene aus seiner Tasche, bog sie so gut es ging zurecht und hielt sie neben seine Hand, während er eine Binde aus der Tasche zog. Jannis verstand, hob den Arm erneut und legte ihn auf die Schiene, die der Arzt nun auf seiner Hand liegen hatte. Dr. Berger legte die Mitte der Schiene auf die Stuhllehne und fing an, ganz vorsichtig den Arm zu bandagieren, sehr darauf bedacht, den Jungen nicht zu berühren. Weit kam er jedoch nicht, denn sobald er zum Handgelenk kam, zuckte der Junge zurück. Tränen traten ihm vor Schmerzen in die Augen und der Arzt hörte sofort auf.
„Soll ich dir doch lieber eine Spritze in den Arm geben, Jannis?“
Der Junge starrte auf seinen Arm. Dann presste er die Lippen aufeinander und schloss seine Augen. Gleichzeitig streckte er dem Arzt seine gesunde Hand entgegen und legte sie auf das Knie des Arztes. Dr. Berger spürte den Kampf, den der Junge gerade mit sich selber ausfocht, und beeilte sich, ihm einen Zugang zu legen und ihm ein Medikament zu verabreichen, bevor er es sich anders überlegte. „Du bist ein tapferer, kleiner Junge, Jannis“, lobte er dann. „Das Medikament wirkt sehr schnell. Es kann sein, dass du etwas müde wirst. Das ist normal.“
Schnell legte er ihm noch eine Infusion an, um ihm über den Schlauch notfalls ein weiteres Medikament geben zu können, ohne seine Hand anzufassen. Mit der Zeit entspannte sich der Junge ein wenig. Peter Berger merkte, wie Jannis zusammensackte und ergriff schnell das verletzte Handgelenk, bevor es von dem Stuhl rutschen konnte. Mit wenigen Handgriffen fixierte er die Schiene fertig und winkte seinen Kollegen, die mit der Trage näher kamen. Als jedoch einer der Sanitäter den Jungen auf die Trage legen wollte, wehrte sich dieser gegen ihn.
„Ganz ruhig, Jannis. Wir wollen dir nur helfen.“
Doch Jannis beruhigte sich erst wieder, als der Sanitäter einen Schritt zurückwich, woraufhin der Arzt es versuchte. Von ihm ließ sich der Junge schließlich auf die Trage legen und anschnallen. Dann rief dieser die Sanitäter erneut zurück und wandte sich an Herrn Möller: „Könnten Sie vielleicht mitkommen? Es wäre gut, wenn ein bekanntes Gesicht in der Nähe wäre, wenn er wieder klar wird.“
„Ja, natürlich. Ich muss nur kurz Bescheid geben.“
„In Ordnung. Wir bringen Jannis derweil in den Wagen.“
Der Lehrer nickte und verließ das Klassenzimmer. Inzwischen war so viel Zeit vergangen, dass erneut Pause war und einige Schüler neugierig auf die Rettungskräfte starrten, als diese zusammen mit Herrn Möller aus dem Klassenraum traten. Der Lehrer forderte sie umgehend auf, den Weg freizumachen, bevor er sich abmeldete und dann ebenfalls zum Krankenwagen ging, um mit Jannis mitzufahren.
Im Krankenhaus weigerte sich der Junge jedoch, irgendjemand anderen als seinen Lehrer oder den Notarzt in seine Nähe zu lassen, woraufhin Dr. Berger nichts anderes übrig blieb, als seine Kollegen in der Klinik zu unterstützen. Gemeinsam schafften sie es, Jannis zu einer Röntgenaufnahme zu überreden, bei der tatsächlich ein Bruch des Handgelenkes festgestellt wurde.
Inzwischen waren auch Herr Andersson und jemand vom Jugendamt eingetroffen. Da jedoch der Junge seinen Vater erneut nicht belastete, blieb dem Jugendamt nicht viel übrig, als die Familie im Auge zu behalten.
Herr Möller betrachtete Jannis‘ Vater skeptisch, als dieser den Raum betrat. Es schien ihm fast, als hätte der Mann Angst oder einen Ekel vor seinem Sohn. Er tat nichts, um den Neunjährigen zu trösten, schien sich nicht einmal wirklich dafür zu interessieren, wie es ihm ging oder was ihm fehlte. Dass Herr Andersson den Jungen nicht in den Arm nahm, konnte der Lehrer ja noch damit erklären, dass Jannis vielleicht auch von seinem Vater keine Berührungen akzeptierte, das wusste er nicht, aber er hätte ja wenigstens mit seinem Kind sprechen können.
Jannis lag bewegungslos in einem Bett, hatte Kühlpads auf dem Arm und Medikamente erhalten, die ein Abschwellen bewirken sollten, damit der Arm anschließend mit einem Gips ruhiggestellt werden konnte. Herr Andersson bestand darauf, dass der Lehrer nun ging – er war wütend auf ihn, weil er ihm das Jugendamt auf den Hals gejagt hatte.
Bevor er sich jedoch entfernte, wandte sich Herr Möller noch einmal an den Jungen: „Ich wünsche dir gute Besserung, mein Freund. Wir sehen uns in der Schule.“
Bildete er sich das ein oder hatte Jannis ein zaghaftes Nicken angedeutet, bevor er sich abwandte? Herr Möller wusste es nicht und als er sich an der Tür noch einmal umdrehte, lag der Junge genauso unbeweglich da, wie zuvor.
Zwei Tage später war Jannis wieder in der Schule, genauso still und unnahbar, wie immer, jedoch mit einem Gips um den linken Arm. Ein paar Kinder aus der Klasse wollten ihm unbedingt etwas auf den Gips schreiben, doch das ließ der Junge nicht zu. Beim Schreiben hatte er etwas mehr Probleme als sonst, aber der Lehrer konnte keine weiteren Verletzungen mehr feststellen und glaubte schon, er hätte sich wirklich nur etwas eingebildet.
Jannis‘ Arm war bereits wieder verheilt und alles ging seinen gewohnten Lauf. Es war nicht mehr lange bis zu den Sommerferien und die letzten Arbeiten wurden geschrieben. Wie immer kam Jannis nach der Schule nach Hause, stellte seine Schultasche an genau denselben Fleck wie jeden Tag, holte seine Hausaufgaben heraus und legte sie auf seinen Tisch. Dann ging er in die Küche und schenkte sich ein Glas Milch ein, das er in sein Zimmer brachte und auf den Schreibtisch stellte.
Bis sein Vater nach Hause kam, arbeitete er an den Hausaufgaben, die den gesamten Nachmittag in Anspruch nahmen, weil er wie immer die Buchstaben und Zahlen in penibler Kleinarbeit in seine Hefte malte. Auch die Berichtigung der Mathearbeit, beziehungsweise die ihm fehlenden Aufgaben dieser Arbeit, erledigte er gewissenhaft. In dieser Klausur hatte es ebenfalls nur für eine drei gereicht, weil er einfach nicht fertig geworden war. Als sein Vater die Wohnungstür öffnete, war es bereits fünf Uhr. Jannis blickte kurz auf, als er die Tür hörte, wandte sich aber sofort ab, nachdem Herr Andersson sein Zimmer betrat.
„Irgendetwas Besonderes?“, fragte er seinen Sohn, ohne ihn zu begrüßen. Wortlos schob ihm der Junge die Arbeit hin und legte einen Stift auf das Heft. Herr Andersson brauchte aufgrund seiner Leseschwäche eine Weile, bis er die Note gefunden hatte, konnte aber sehen, dass er bei dem, was er gerechnet hatte, die volle Punktzahl bekommen hatte. „Warum ist es nur eine drei? Du kannst das doch. Musstest wieder herumtrödeln, was?“
Jannis senkte den Kopf noch weiter und wich etwas zurück. Ein sehr leises „Nein“ kam aus seinem Mund.
„Sieh’ mich gefälligst an, wenn du mit mir redest, Bursche!“, schimpfte der Vater und packte den Jungen am Kinn, um es in seine Richtung zu drehen. Jannis zuckte zusammen, entwand sich seinem Griff und blickte zur Seite. Deshalb konnte er auch die Hand nicht sehen, die nur Sekunden später auf seiner Wange aufschlug. Sein Kopf schlug zur Seite und Jannis schmeckte Blut in seinem Mund, weil er sich vor Schreck in die Wange gebissen hatte. Er sprang auf, rannte zum Kleiderschrank und kauerte sich wippend auf dessen Fußboden zusammen.
Kurz entschlossen schlug sein Vater die Schranktür zu und drehte den Schlüssel um. „Ich werde dich lehren, dich anständig zu benehmen. Du bleibst so lange hier drin, bis du mich endlich anschaust. Zum Teufel mit dem ganzen Autismus-Gefasel. Du bist einfach ein ungezogener Junge. Und dazu noch faul, wenn man deine Arbeiten sieht. Das werden wir dir mit der Zeit schon austreiben.“
Damit verschwand Herr Andersson aus dem Kinderzimmer. Jannis blieb in seiner Ecke sitzen, schaukelte nach wie vor hin und her und hatte die Arme um die Knie geschlungen. Sein Magen fing an zu knurren. Seit dem Frühstück hatte er nur ein Glas Milch getrunken und er hatte Hunger. Doch sein Vater holte ihn nicht zum Essen, sondern ließ ihn im Schrank eingesperrt. Irgendwann schlief der Junge in seiner zusammengekauerten Haltung ein, bis er am nächsten Morgen durch einen Sonnenstrahl geweckt wurde, als sein Vater die Schranktür öffnete. Sofort sprang der Junge auf und versuchte, an seinem Vater vorbei zu schlüpfen, um auf die Toilette zu gehen.
Doch der starke Mann war schneller und griff nach seinem Handgelenk. Jannis blieb stehen, denn als er das letzte Mal versucht hatte, sich diesem Schraubstockgriff zu entwenden, hatte er anschließend ein gebrochenes Handgelenk gehabt.
„Wo willst du hin?“ Sein Vater schien immer noch wütend zu sein.
„Bad“, kam es flüsternd zurück und der Junge presste die Beine zusammen, um nicht in die Hose zu machen. Doch sein Vater dachte gar nicht daran, ihn gehen zu lassen.
„Sieh‘ mich an und sage mir, was du möchtest. Oder bist du dafür auch zu doof?“
„Nein“, rief Jannis laut und wütend.
„Widersprich mir nicht!“, blaffte ihn sein Vater an und schlug ihm erneut ins Gesicht. Der Schlag kam so unvermittelt, dass Jannis die Kontrolle verlor und sich eine große Pfütze an seinen Füßen ausbreitete. Er konnte es nicht stoppen, fühlte wie immer mehr warme Flüssigkeit seine Beine hinunter lief, während sein Vater ihn nur angeekelt anstarrte. Jannis blickte geschockt auf die Pfütze. Er hatte schon seit vielen Jahren nicht mehr in die Hose gemacht und konnte nicht glauben, dass es nun passiert war. Er schämte sich zutiefst.
Als der Mann seinen ersten Ekel überwunden hatte, zwang er Jannis in die Knie, direkt vor der Pfütze und griff mit der Hand in die langen, strähnigen Haaren des Jungen. „Was fällt dir ein, auf meinen Boden zu pinkeln? Du hast sie wohl nicht mehr alle!“ Damit drückte er seinen Kopf nach unten, sodass die Nasenspitze des Jungen nur noch Millimeter von der Lache entfernt war. Der Uringeruch stieg Jannis in die Nase und er stemmte die Hände auf den Boden, um nicht näher zu kommen. Mit aller Kraft kämpfte er gegen die Hand in seinem Nacken.
Als er sich schließlich befreien konnte, bekam er einen weiteren Schlag ins Gesicht, der ihn zu Boden warf und durch den seine Lippe aufplatzte. Erneut versuchte Herr Andersson, ihn in die Lache zu drücken und fuhr fort, seinen Sohn mit allen möglichen Schimpfwörtern zu betiteln.
Jannis fing an, zu schreien, etwas, das er eigentlich noch nie zuvor gemacht hatte. Und das war ein Glück, denn durch diese Schreie wurde eine Nachbarin auf seine Situation aufmerksam und bekam die folgenden Schläge und Nötigungen mit, die sie aufgrund der fehlenden Vorhänge deutlich durch das Fenster sehen konnte.
Der Notruf ging um kurz vor zehn in der Dienststelle ein: häusliche Gewalt in der Rennergasse 10. Die beiden Streifenpolizisten Tobias Bergmann und Manfred Denner waren gerade in der Nähe, als sie den Funkspruch hörten und machten sich sofort auf den Weg zu der angegebenen Adresse. Sie wurden an der Straßenecke von der Nachbarin erwartet und informiert. Sie konnte ihnen auch genau sagen, wo sich der Mann mit seinem Sohn befand. „Bitte seien Sie vorsichtig mit Jannis. Er ist Autist.“
Tobias Bergmann nickte; er wusste, was das bedeuten konnte, weil seine Schwester für das Jugendamt als Pädagogin und Kindertherapeutin tätig war und daher oft mit besonderen Kindern und Jugendlichen zu tun hatte, die unter ADHS, Konzentrationsstörungen, Autismus oder Behinderungen aller Art litten. Sprich: Kinder, die man nicht einfach so in ein Kinderheim stecken konnte. Diese Kinder kamen oft für eine Weile auf ihren Hof, bis man sie vermitteln oder in einem besonderen Heim unterbringen konnte, wo man sich genügend um sie kümmerte.
Als die beiden Polizisten näher kamen, konnten sie eine wimmernde Stimme hören, dann einen Schrei. Ohne sich lange abzusprechen trat Manfred Denner gegen die altersschwache Holztür, die sofort splitterte und aufflog. Tobias Bergmann war das schon gewohnt, denn in Notsituationen hielt dem Riesen keine Tür stand. Sein Kollege war knapp zwei Meter groß und hatte ein Kreuz wie ein Preisboxer und mindestens ebensolche Armmuskeln. Im Gegensatz zu ihm war Tobias Bergmann eher ein durchschnittlicher Typ. Trotz seiner Ein-Meterachtzig wirkte er neben Manfred Denner eher klein, war aber durchtrainiert und konnte es mit jedem Flüchtigen aufnehmen.
„Polizei!“, rief Manfred Denner, während er vor Tobias Bergmann her in das alte Haus stürmte, das auf den ersten Blick recht unordentlich wirkte. Sie rannten die Treppe hinauf, nachdem niemand reagierte, und konnten durch die geöffnete Zimmertür Herrn Andersson erkennen, der auf den kleinen Jungen einschlug. Ihn von dem Kind wegzuzerren, auf dem Boden zu fixieren und ihm die Handschellen anzulegen, war für den Polizisten eine Sache von wenigen Sekunden.
„Brauchst du Hilfe?“, fragte Tobias Bergmann, als sein Kollege den Mann auf die Beine zog.
Dieser ließ einen verächtlichen Blick über den immer noch schimpfenden Mann schweifen und grinste: „Wohl eher nicht. Die Kollegen sind eh gleich da. Kümmere du dich um den Jungen, du hast da mehr Erfahrung.“
Sein Kollege nickte und drehte sich wieder zu dem Jungen um, musste jedoch feststellen, dass dieser verschwunden war. Der Polizist blickte sich aufmerksam im Zimmer um. Erst jetzt bemerkte er den beißenden Geruch von Urin. Dann fiel sein Blick auf die Pfütze am Boden, neben der der Junge eben noch auf allen Vieren gekauert hatte. Er bemerkte ein Bett, das ordentlich gemacht war und auf dem Schreibtisch ein Heft und mehrere Stifte. Hier stutzte er. Die Stifte lagen in Reih‘ und Glied, fein säuberlich nebeneinander, darunter quer ein Lineal, fast so, als hätte sie jemand nach einem bestimmten Muster angeordnet. Sein Blick fiel auf das Heft, in dem die Buchstaben wie gedruckt aussahen und nicht wie die Schrift eines kleinen Jungen.
Erstaunt wandte er sich ab und ließ seinen Blick weiter durch das Zimmer wandern. Am Kleiderschrank blieb er schließlich hängen und der Mann näherte sich lauschend. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und blickte auf das Häufchen Elend, das dort in einer Ecke kauerte. Der Junge blickte nicht einmal auf. Tobias wusste, dass das Kind Autist war und von seiner Schwester hatte er gelernt, dass es viele Formen dieser Störung gab. Er musste sich langsam vortasten. Leise zog er den Schreibtischstuhl näher und setzte sich vor die geöffnete Tür, um nicht ganz so groß zu wirken.
„Hallo“, sagte er dann und gab sich Mühe, seine Stimme so freundlich wie möglich klingen zu lassen. „Du musst Jannis sein. Mein Name ist Tobias.“ Keine Reaktion. Jannis starrte zwischen seiner Brust und seinen Beinen, die er mit den Armen umschlungen hatte, nach unten. Der Polizist konnte sein Gesicht nicht sehen. „Geht es dir gut, Jannis?“ Wieder regte sich nichts. „Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Jannis. Dein Vater ist weg. Mein Kollege hat ihn nach draußen gebracht. Er kann dir nichts mehr tun.“
Ganz langsam hob sich der Kopf ein wenig und blickte an dem Polizisten vorbei durchs Zimmer, sah diesen aber nicht an. Dadurch bemerkte Tobias das Blut in seinem Gesicht. „Bist du verletzt? Brauchst du einen Arzt, mein Junge?“
Sofort verschwand das Gesicht wieder hinter den Beinen. Dann kam ein leises „Peter“ zwischen den Beinen hervor.
„Wer ist Peter? Ist er ein Freund von dir?“
„Dr. Berger“, sagte der Junge.
Tobias überlegte einen Augenblick. „Du meinst, du möchtest Dr. Peter Berger sehen?“ Ein fast unmerkliches Nicken war die Antwort. Tobias stand auf und ging zur Tür. „Ich bin gleich wieder da.“
Draußen auf dem Flur griff er das Funkgerät und rief die Zentrale.
„Zentrale hört“, kam es aus dem Gerät.
„Ihr müsst mal was recherchieren, bitte. Ich habe hier einen völlig verstörten, autistischen Jungen, der anscheinend verletzt ist. Er möchte mit einem Dr. Peter Berger sprechen, vielleicht sein Kinderarzt oder so. Versucht mal, den Mann ausfindig zu machen und ihn herzuschicken.“
„Verstanden. Wir kümmern uns drum.“
Tobias schaltete das Gerät aus und ging zurück in das Kinderzimmer. Jannis hatte sich keinen Millimeter bewegt. Langsam trat er auf den Jungen zu und wollte seine Hand nehmen, doch dieser wich sofort zurück, als der Polizist sich ihm näherte. „Ich tue dir nichts, Jannis. Ich bin hier, um dir zu helfen. Kannst du mir vielleicht sagen, warum dein Vater so böse auf dich war?“
Er wartete einen Augenblick und als der Junge wieder nicht reagierte, fragte er: „Du redest nicht gerne, richtig?“
Zwischen seinen Beinen nickte Jannis fast unmerklich.
„Gut“, stellte Tobias fest, „das klappt ja. Können wir uns vielleicht darauf einigen, dass ich dir ein paar Fragen stelle, die du nur mit ‚JA‘ oder ‚NEIN‘ beantworten kannst?“ Wieder dauerte es einen Augenblick, doch dann erfolgte erneut ein zaghaftes Nicken.
„Okay. Hast du starke Schmerzen irgendwo?“ Ein Kopfschütteln folgte. „Das ist gut. Aber ich glaube, du bist ein bisschen verletzt, richtig?“ Jannis leckte über seine Lippe und schmeckte das Blut. Das konnte Tobias Bergmann jedoch nicht sehen. Schließlich nickte der Junge. „Ich habe meine Kollegen gebeten, Dr. Berger herzubringen. Der wird sich das ansehen. Ich habe gesehen, dass im Zimmer eine Pfütze ist. Hast du in die Hose gemacht?“
Jetzt kauerte sich der Junge noch mehr zusammen, bevor er nickte.
„Das muss dir nicht peinlich sein, Jannis. Es kann schon mal passieren. Und du hast es bestimmt nicht mit Absicht gemacht.“ Diesmal kam die Reaktion viel schneller: Jannis schüttelte den Kopf. „Siehst du? Das dachte ich mir. Wenn ich mir dein Zimmer und dein Schulheft ansehe, bist du eigentlich ein ordentlicher Junge, stimmt’s?“ Wieder ein Nicken. „Bestimmt bist du einfach nicht rechtzeitig ins Bad gekommen.“
Ein erneutes Nicken war die Antwort, doch dann löste sich seine Hand und griff nach der Schranktür. Er zog den Schlüssel ab und hielt ihn dem Polizisten hin. Tobias streckte die Hand aus und der Junge ließ ihn hineinfallen, bevor er die Hand wieder zurückzog. Der Mann starrte auf den Schlüssel. Was wollte er ihm damit sagen? „Warst du in deinem Zimmer eingeschlossen?“ Der Junge schüttelte den Kopf und zog erneut die Schranktür zu. „Du meinst, du warst im Schrank eingeschlossen?“ Jetzt nickte Jannis und ließ die Tür wieder los. Einige Minuten später hatte der Mann herausgefunden, dass Jannis seit dem Nachmittag des vergangenen Tages in dem Schrank gesessen hatte. Seine Antworten kamen nun etwas zügiger, scheinbar fasste er langsam Vertrauen zu dem Polizisten.
Tobias konnte in dem Schrank einige Stapel mit Kleidungsstücken sehen und stand auf. „Ist es okay, wenn ich dir ein paar frische Sachen aus dem Schrank hole?“ Jannis stimmte zu und der Mann suchte Unterwäsche, Hose und T-Shirt heraus und legte es auf das Bett. „Magst du dich alleine umziehen? Ich kann gerne so lange raus gehen.“
Jannis hob den Kopf ein bisschen und starrte auf die Schuhe seines Gegenübers. Tobias wich ein wenig zurück, um ihm Platz zu machen, und ging in Richtung Tür. Vorsichtig krabbelte der Junge aus dem Kleiderschrank, schloss dessen Tür und ging mit gesenktem Blick zum Bett, wo er sich umzog, während Tobias sich diskret abwandte. Die nassen Sachen legte Jannis ordentlich auf einen Haufen. Dann kauerte er sich auf dem Bett zusammen.
Der Polizist ging zurück und zog den Stuhl nun zum Bett, um sich weiter mit ihm zu unterhalten, als im Türrahmen plötzlich sein Kollege auftauchte.
„Dr. Berger ist jetzt da, Tobias.“ Er trat zur Seite, um den Notarzt einzulassen und Tobias stand auf, um ihm die Hand zu reichen. „Jannis wollte, dass Sie ihn behandeln, Dr. Berger. Er hat nach Ihnen gefragt.“
„Der Junge hat gesprochen?“ Dr. Berger war sichtlich überrascht.
„Ja, er hat mir Ihren Namen genannt. Scheinbar kennt er Sie.“
„Das stimmt, ich habe ihn vor einiger Zeit in der Schule abgeholt. Er hatte sich den Arm gebrochen. Aber gesprochen hat er nicht.“ Der Arzt stellte seine Tasche ab und trat an das Bett. „Hallo Jannis. Ich habe gehört, dass du verletzt bist. Magst du mal den Kopf heben, damit ich es mir ansehen kann?“
Zögernd tauchte das schmale Gesicht aus dem Knäul aus Armen und Beinen auf. Die beiden Männer konnten nun deutlich einen Handabdruck auf der linken Wange, eine leichte Schwellung am Auge und eine Wunde an der Lippe erkennen.
„Gut machst du das. Ist dir schwindelig oder übel, kleiner Mann?“ Dr. Berger blickte sich gerade nach der Ja-Nein-Karte um, als er aus den Augenwinkeln ein Kopfschütteln bemerkte und lächelte. Anscheinend brauchte er die Karte gar nicht. Dann nahm er ein Wattestäbchen aus der Tasche. „Jannis – ich müsste die Wunde ein bisschen sauber machen, damit ich sehe, wie tief sie ist. Ich bin ganz vorsichtig und versuche, nur das Stäbchen zu benutzen. Schaffen wir das?“
Jannis nickte und schloss die Augen, während der Arzt die Wunde reinigte. Sie hatte aufgehört zu bluten und war auch nicht tief. Sie würde bald heilen. Anschließend holte Dr. Berger noch ein Kühlpad aus der Tasche und legte es Jannis in die Hand. „Leg’ das auf deine Wange, mein Junge. Es wird helfen, dass die Schwellung nicht zu groß wird.“
Der Junge folgte der Aufforderung und Dr. Berger wandte sich dem Polizisten zu. „Soweit ich das sehe, ist er nicht schwer verletzt. Die Wunde ist oberflächlich und die Prellungen werden einige Tage brauchen, bis sie nicht mehr wehtun. Jannis hat Glück gehabt, dass nicht noch mehr passiert ist. Ich habe seinen Vater im Krankenhaus kennengelernt. Ein eiskalter Mensch. Ich denke, Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen, Herr Bergmann. Was wird jetzt mit dem Jungen geschehen?“
„Soweit uns bekannt ist, hat er nur noch seinen Vater. Ich denke, das Jugendamt wird sich um ihn kümmern“, warf Tobias‘ Kollege ein, der noch immer in der Tür stand und die drei beobachtet hatte.
Dr. Berger warf Tobias einen Blick zu. „Ich glaube nicht, dass ein Heim richtig für Jannis wäre. Ich kann ihn zwar nicht mit ins Krankenhaus nehmen, weil ich dafür keine Indikation habe, aber es wäre besser, wenn er irgendwo hinkönnte, wo er intensiver betreut werden kann, als in einem Kinderheim. Vielleicht wäre die Psychiatrie eine Option…“
Tobias riss die Augen auf. „Der Junge ist doch nicht verrückt!“
„Nein, natürlich ist er das nicht. Aber dort könnte er adäquat betreut werden. Falls Sie eine andere Idee haben, bin ich ganz Ohr.“
„Ich habe tatsächlich eine Alternative. Vielleicht könnte meine Schwester Jannis vorläufig aufnehmen.“
„Ihre Schwester?“
„Ja. Sie arbeitet fürs Jugendamt und lebt auf dem Sonnenhof. Silvia ist ausgebildet für Kinder wie Jannis und kümmert sich um Spezialfälle.“
„Das wäre natürlich eine Alternative. – Sonnenhof, sagten Sie? Ich glaube, das ist mir ein Begriff. Werden dort nicht auch Reittherapien angeboten?“
„Das stimmt, ja. Wir haben ein paar Therapiepferde. Früher war der Sonnenhof ein Reitstall, heute gibt es jedoch nur noch wenige Pferde. Mein Schwager ist Tierarzt und nimmt oft kranke oder verstörte Tiere auf, um sie gesund zu pflegen. Dafür benötigt er einen Großteil der Ställe. Und meine Schwester kümmert sich um verstörte Kinder. Oft hilft es denen, wenn sie mit den Tieren arbeiten dürfen und sie haben dort auch Familienanschluss, was es in einem Kinderheim nicht gibt. Einer von uns ist eigentlich immer zu Hause.“
„Das klingt, als wäre Jannis bei Ihnen auf dem Sonnenhof gut aufgehoben. Rufen Sie Ihre Schwester an und versuchen Sie, das zu klären. Ich bleibe so lange bei Jannis.“
Der Polizist nickte und verließ das Zimmer, während sich der Arzt wieder zu Jannis setzte. „Würde dir das gefallen, auf einem Hof mit vielen Tieren zu wohnen?“ Jannis nickte leicht. „Was hältst du davon, wenn wir dir dann ein paar Sachen einpacken?“
Der Junge stand auf und zog eine alte Sporttasche unter dem Bett hervor, die er auf das Bett legte. Dr. Berger ging zum Kleiderschrank und holte ein paar Hosen, T-Shirts und Unterwäsche hervor, die er Jannis reichte. Dann ging der Junge ins Badezimmer und kam kurz darauf mit einem Schlafanzug und einer Zahnbürste zurück. Der Arzt blickte sich im Zimmer um. „Hast du kein Kuscheltier oder so?“ Ein Kopfschütteln folgte. „Möchtest du sonst noch etwas mitnehmen?“
Mit gesenktem Kopf ging der Junge zum Schreibtisch, packte die Stifte ins Mäppchen und räumte sämtliche Schulhefte und Schulbücher in die Tasche. Das Mäppchen fand ebenfalls seinen Platz, genauso wie ein Buch, dass er sich scheinbar aus der Schulbibliothek ausgeliehen hatte, wie ein Aufkleber bezeugte. Anschließend stellte er den Schulranzen neben die Sporttasche und setzte sich daneben.
Plötzlich wirkte er überhaupt nicht mehr wie ein verschüchtertes oder gar autistisches Kind, fand Dr. Berger, sondern eher wie ein Junge, der es kaum erwarten konnte, von hier wegzukommen. Er erinnerte sich an die Andeutungen von Jannis‘ Lehrer. Anscheinend hatte dieser Recht behalten, auch wenn niemand ihm damals geglaubt hatte. Und deshalb konnte er Jannis gut verstehen. Wer weiß, wie lange oder wie oft Herr Andersson seinen Sohn misshandelt hatte?
Als Tobias Bergmann zurückkehrte, saß der Junge immer noch wartend auf dem Bett und blickte sogar kurz auf, als der Polizist den Raum betrat, wandte den Blick aber sofort wieder ab, als dieser in seine Richtung blickte. „Entschuldigen Sie bitte – es hat etwas länger gedauert. Aber es ist alles geklärt. Das Jugendamt ist informiert und hat zugestimmt, dass Jannis auf den Sonnenhof darf. Und meine Schwester bereitet schon dein Zimmer vor und freut sich auf dich, Jannis. Ich habe auch meiner Dienststelle Bescheid gegeben, dass ich den Rest des Tages freinehme, damit du nicht alleine bist. Dann kann ich dir in Ruhe alles zeigen und dich mit meiner Schwester bekannt machen, wenn dir das Recht ist.“
Jannis nickte, stand auf, zog seinen Ranzen auf den Rücken und griff die Sporttasche, die Tobias ihm jedoch gleich darauf abnahm. „Lass’ mich das tragen, Jannis.“
Der Junge schien etwas irritiert, reichte ihm dann jedoch die Tasche und lief wie selbstverständlich die Treppe hinunter. Überrascht blickte Tobias auf den Arzt, der lächelnd die Schultern zuckte und meine:
„Da kann es jemand wohl kaum erwarten, von hier wegzukommen.“
„Verstehen kann ich es ja, nach dem, was passiert ist“, stellte Tobias fest und folgte dem Jungen nach draußen.
Als Jannis bereits im Dienstwagen saß, reichte Dr. Berger dem Polizisten eine Visitenkarte. „Für den Fall, dass Sie mich brauchen“, sagte er und Tobias nickte dankbar.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe, Dr. Berger.“
„Gern geschehen.“ Der Arzt verabschiedete sich noch von dem Jungen und ging dann zu seinem eigenen Fahrzeug.
Gemeinsam fuhren Manfred Denner, Tobias Bergmann und Jannis Andersson zur Dienststelle. Jannis‘ Vater war bereits von den Kollegen abgeholt worden. Damit der Junge seinem Vater nicht begegnete, wartete Manfred mit ihm im Wagen, während Tobias sich abmeldete, seine Waffe einschloss und sich umzog. Kurz darauf kehrte er in Jeans und T-Shirt zurück und Jannis erkannte ihn nicht sofort, weil er immer nach unten blickte. Erst, als Tobias zu sprechen anfing, wusste er, wen er vor sich hatte. Sie luden Jannis‘ Taschen in das Fahrzeug des Mannes und der Polizist wartete, bis der Junge sich angeschnallt hatte. Dann fuhren sie los.
Der Sonnenhof lag etwas außerhalb und war von einigen kleinen Koppeln umgeben. Eine davon war mit einem hohen Zaun umsäumt und in vier große Teile getrennt worden, in denen sich Hunde die Beine vertreten konnten. Auf einer anderen Koppel grasten einige Pferde und auf einer weiteren tummelten sich Schafe, Ziegen, ein Esel und ein Alpaka.
Auch mehrere Ställe gab es und ein großes Haupthaus, vor dem es einen geteerten Parkplatz gab, auf dem gut und gerne fünfzehn Fahrzeuge Platz hatten. Ein Jeep, ein Kleinwagen und ein Pferdeanhänger standen auf drei mit ‚Privat‘ markierten Plätzen. Tobias parkte den Wagen auf einen vierten Parkplatz mit dieser Bezeichnung.
Jannis registrierte, dass einige Parkplätze mit ‚Praxis‘ und zwei weitere mit ‚Gäste‘ beschriftet waren. Er erinnerte sich daran, dass der Polizist etwas von einem Tierarzt erzählt hatte. Vermutlich waren die Praxis-Parkplätze für die Tierbesitzer, die zu dem Arzt wollten.
„Magst du nicht aussteigen?“, fragte Tobias freundlich lächelnd und riss ihn damit aus seinen Überlegungen. Erschrocken sprang der Junge auf und öffnete die Tür. Tobias holte derweil die Taschen aus dem Kofferraum. In diesem Moment öffnete sich die Haustür und eine Frau trat vor das Haus, die Tobias extrem ähnlich sah. Sie hatte die gleichen dunkelblonden Haare und fast identische Gesichtszüge, nur dass sie etwas femininer wirkten. Als sie näher trat, lächelte sie freundlich und begrüßte den Jungen, der sich halb hinter Tobias verschanzte, zu dem er inzwischen Vertrauen gefasst hatte.
„Das ist meine Schwester, Jannis. Bei ihr wirst du dich bestimmt wohlfühlen. Warte nur ab, bis du sie etwas kennengelernt hast. Dann magst du sie bestimmt.“ Er lächelte dem Jungen aufmunternd zu.
„Vielleicht sollten wir dir erst einmal dein neues Zimmer zeigen, Jannis. Wäre das okay?“ Der Junge nickte und folgte den beiden Erwachsenen ins Haus.
Das Kinderzimmer war gemütlich und freundlich. Als Jannis es betrat, blickte er sich suchend um, öffnete den Kleiderschrank und schloss ihn wieder. Silvia blickte ihren Bruder fragend an, der die beiden Taschen auf dem Bett abstellte. Und dann begriff er: Jannis suchte einen Rückzugsort, doch der Kleiderschrank hatte im unteren Drittel Fächer, sodass er sich dort nicht verstecken konnte.
„Warte, Jannis“, sagte er schnell, „ich habe eine Idee.“ Er verließ das Zimmer und kam kurz darauf mit einer Wolldecke und einem Paravent zurück. Letzteren stellte er so in eine Ecke, dass am Rand ein schmaler Spalt blieb, durch den Jannis leicht hindurchschlüpfen konnte. Auf dem Boden dahinter legte er die Wolldecke aus und kehrte dann zur Tür zurück. „Besser?“
Der Junge schielte hinter den Paravent, rückte ihn noch etwas näher an die Wand und nickte dann. Tobias konnte den Hauch eines Lächelns auf seinen ernsten Zügen erkennen, während Silvia ihm einen fragenden Blick zuwarf.
„Jannis braucht einen Ort, an dem er alleine sein kann, wenn er sich aufregt“, erklärte er ihr.
„Ach so. Und dieser Ort war wohl bisher sein Kleiderschrank“, vermutete sie.
Tobias nickte, während der Junge nun zum Bett ging, seine Schultasche nahm und die Hefte und Bücher nach Größe sortiert in eines der Regale legte. Die Tasche fand anschließend ihren Platz neben dem Schreibtisch. Währenddessen beobachtete er aus den Augenwinkeln genau jede Bewegung der beiden Erwachsenen, die wiederum ihn fasziniert betrachteten.
Als er fertig war, packte er auch die Sporttasche aus und räumte seine Sachen in den Kleiderschrank. Zum Schluss hielt er seine Tasche ein wenig unschlüssig in der Hand. Unter das Bett konnte man nichts schieben – es ging bis zum Boden. Tobias ging auf ihn zu und nahm ihm die Tasche aus der Hand, um sie in das oberste Fach des Schrankes zu legen, das Jannis nicht erreichen konnte. „Hier ist sie doch gut aufgehoben“, erklärte er dann und der Junge griff nach seiner Zahnbürste und seinem Schlafanzug. „Zeigst du ihm das Badezimmer, Silvia? Ich werde mal nach unten in die Küche gehen und dem jungen Mann etwas zu essen besorgen. Ich glaube, er hat schon seit gestern nichts mehr bekommen.“
Silvia nickte und führte Jannis ins Bad, wo sie ihm zeigte, an welchen Haken er seinen Schlafanzug hängen und wo er seine Zahnbürste verstauen konnte. Anschließend gab sie ihm noch Handtücher, die sie ebenfalls aufhängten, und danach gingen sie in die große Küche. Tobias hatte derweil ein paar Sandwiches geschmiert und auf einen Teller gelegt. Er stellte noch ein Glas auf den Tisch und holte Milch und Saft aus dem Kühlschrank.
Zögernd ließ sich Jannis von Silvia auf die Bauern-Eckbank dirigieren und blickte hungrig auf den Teller mit Broten. „Nimm’ dir ruhig, was du möchtest, Jannis“, lächelte ihm Tobias aufmunternd zu und seine Schwester fragte: „Was möchtest du trinken, junger Mann?“
Jannis deutete auf die Milch und nahm sich ein Sandwich, in das er genussvoll hineinbiss. Er hatte gar nicht bemerkt, wie hungrig er inzwischen war. Es war bereits Mittag vorbei und er hatte bis auf ein Glas Milch seit dem Morgen des Vortages nichts mehr gegessen.
Auch Silvia und ihr Bruder aßen etwas, während der kleine Junge zwei Gläser Milch und drei Brote verdrückte und sich schließlich zurücklehnte. Nachdem Silvia ihm noch ein feuchtes Tuch zum Kühlen seiner Wunden gegeben hatte, fragte ihr Bruder: „Geht es dir jetzt etwas besser, Jannis?“