Verlorene Seelen 12 - Wölfe im Internat - Claudia Choate - E-Book

Verlorene Seelen 12 - Wölfe im Internat E-Book

Claudia Choate

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Beschreibung

Kimberly Mitchel, ein Waisenkind aus Brooklyn, und Juliane von Verden, ein schräger Teenager aus dem Taunus. Zwei Mädchen, zwei Welten... zwei Suchen. Nur, dass keines von beiden ahnt, was genau es eigentlich sucht und warum. Bis sie schließlich den Mut fassen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Doch der Weg ist nicht leicht und bis es soweit ist, muss jedes für sich lernen, dass man nur als Team alle Widrigkeiten überwinden kann, und stellen dabei fest, dass das Leben hin und wieder ein paar schöne Überraschungen für sie bereithält und es sich lohnt, seine Ziele zu verfolgen.

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INHALTSVERZEICHNIS

Das verrückte Mädchen

Schikane

Reisevorbereitung

Internat oder Jugendknast?

Der heulende Wolf

Landflucht

Amnesie

Ein fremdes Ich

Sturz ins Unbekannte

Bei den Wölfen

Falsche Angst

Verwirrungen

Strafvollzug

Das doppelte Lottchen

Die Legende von Hase und Igel

Eine Meute auf der Flucht

Enthüllungen

Geständnisse

Der Wahrheit ein Stück näher

Ein neues Leben

Danksagung

Weitere Titel von C.Choate

DAS VERRÜCKTE MÄDCHEN

MAIN-TAUNUS-KREIS, MÄRZ 2019

Mit vor Zorn funkelnden Augen holte das Mädchen aus und ließ ihre flache Handfläche auf die Wange des Jungen klatschen. Das Geräusch war deutlich zu hören, auch wenn auf dem Schulhof eine für eine Pause normale Geräuschkulisse herrschte. Doch mit einem Schlag wurde es still um sie herum. Felix hielt sich die Hand an die Wange und mit Genugtuung konnte Juliane sehen, dass seine Augen verdächtig glänzten. „Bist du jetzt total irre geworden?“, blaffte er sie an. Die Überraschung stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben.

„Was ist hier los?“, fragte Herr Burger, der durch die plötzliche Stille angelockt worden war, und sich seinen Weg durch den Kreis bahnte, der sich um die beiden gebildet hatte.

„Jule hat mir eine geklebt, Herr Burger.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen und zum Beweis zog der Junge seine Hand von der Wange, auf der bereits der deutliche, rötlich schimmernde Abdruck einer Hand zu erkennen war.

„Jule, geh’ bitte zum Lehrerzimmer und warte dort auf mich.“

„Aber…“, begann das Mädchen, wurde jedoch unterbrochen, bevor sie richtig loslegen konnte.

„Sofort!“ Die Art und Weise, wie der Lehrer dieses eine, kleine Wort aussprach, ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es nur noch schlimmer werden würde, wenn sie seiner Anweisung nicht umgehend Folge leistete. Mit gesenktem Blick ging sie auf den immer noch um sie herum stehenden Ring aus Schülern zu, der sich nun auf magische Weise öffnete und sie durchließ. Keiner hatte Lust, sich mit dem Mädchen anzulegen; viele machten normalerweise einen großen Bogen um Juliane von Verden, die nun auf das Gebäude zuging, in dem sich Lehrerzimmer und Sekretariat befanden.

Herr Burger wandte sich an die Umstehenden. „Falls jemand Zeuge des Vorfalls war, kann er hierbleiben, ansonsten möchte ich niemanden mehr hier sehen.“ Sofort löste sich die Schülertraube auf und er stand allein mit Felix und einem weiteren Jungen aus seiner Klasse, der Sedat hieß, in der Ecke des Schulhofes. „Kommt mit. Wir sollten dir etwas zum Kühlen geben“, sagte er freundlich und führte die beiden Jungen zum Erste-Hilfe-Raum, wo er aus einem Kühlschrank ein Kühlpad holte und es dem Jungen reichte. „Leg’ das drauf. Das sollte helfen.“ Er deutete auf die Liege, auf der sich die beiden Jungen niederließen. „So, und jetzt will ich wissen, was los war.“

„Keine Ahnung“, sagte Felix. „Die Zicke ist einfach so auf mich losgegangen und hat auf mich eingeschlagen.“

„Fakten, Felix. Keine Märchenstunde. Eingeschlagen ist vielleicht ein wenig übertrieben, oder? Und Jule ist keine Zicke, sondern deine Mitschülerin.“

„Ja, stimmt“, gab der Junge zu, „und es war eine Backpfeife.“

„Na also. Geht doch. Und warum hat sie das gemacht?“, fragte der Lehrer nun weniger streng.

„Ich weiß es wirklich nicht. Wir haben uns nur unterhalten.“

Herr Burger bemerkte den Blick, den er dabei seinem Klassenkameraden zuwarf. Er kannte seine Schüler gut genug, um zu begreifen, dass es hier etwas gab, was der Junge nicht preisgeben wollte. „Na, gut. Lassen wir das mal so stehen. Bleib’ noch einen Moment hier sitzen und kühle deine Wange. Wenn du dich besser fühlst, kannst du in den Unterricht gehen. Die Pause ist sowieso gleich um. Sedat – kommst du bitte mal mit?“

Ein wenig unsicher folgte ihm der dunkelhaarige Junge aus dem Erste-Hilfe-Raum auf den Flur hinaus. Sie gingen um die nächste Ecke, wo der Lehrer stehen blieb und sich ihm zuwandte. „Was ging dem Angriff voraus, Sedat?“, fragte er dort ohne Umschweife und diesmal war seine Stimme wieder strenger. Er wusste, dass der erst kürzlich in die Klasse gekommene Junge dann einknicken würde.

„Wir haben uns wirklich nur unterhalten, Herr Burger“, sagte dieser mit gesenkter Stimme und schüchternem Blick.

„Worüber?“

Es dauerte einen Moment, bis er antwortete. Der Pausengong erklang und verhallte; in den Gängen wurde es laut. „Über Jule“, gab er schließlich zu.

„Aha. Dachte ich es mir doch. Und was genau?“

„Ich habe ihm gesagt, dass ich sie eigentlich ganz hübsch finde“, gab der Junge mit heißen Wangen zu.

„Aha“, kam es erneut von dem Lehrer und er warf einen unauffälligen Blick auf den 15-Jährigen. Ging das etwa jetzt schon los? Seufzend fragte er weiter: „Das ist aber kein Grund, dass Jule auf Felix losgeht, oder? Wenn überhaupt hätte sie dir eine verpasst. Also? Was war dann?“

„Felix hat mir geraten, sie das bloß nicht merken zu lassen, weil Jule sowieso schon total eingebildet und irre wäre und…“

„Danke, das reicht mir schon. Du kannst jetzt in den Unterricht gehen. Sag’ bitte Frau Winter, dass ich dich aufgehalten habe und dass Felix gleich nachkommt.“

Der Junge nickte und verschwand so schnell er konnte um die nächste Ecke, froh, den Fragen des Lehrers relativ glimpflich entkommen zu sein.

Herr Burger machte sich daraufhin auf den Weg zum Lehrerzimmer, das sich langsam leerte, während seine Kollegen und Kolleginnen zu ihrem Unterricht gingen. Er selbst hatte jetzt eine Freistunde, sodass er Zeit hatte, sich um das Sorgenkind seiner Klasse zu kümmern.

Jule war eigentlich eine ganz passable Schülerin, doch ihr Sozialverhalten ließ oft zu wünschen übrig. Bereits als kleines Mädchen war sie immer und überall angeeckt und daher zurückgesetzt worden, als es Zeit für die Einschulung wurde. Deshalb war sie erst mit siebeneinhalb eingeschult worden und nun eine der ältesten in der achten Klasse von Herrn Burger. Er war ihr Klassenlehrer und kannte sie seit etwas mehr als einem Jahr – seit er die Klasse übernommen hatte.

Immer wieder gab es Probleme mit dem Mädchen, das mit den blau-schwarzen Haaren, die ihr fast bis an den Po gingen, und den strahlend blauen Augen eigentlich ein hübscher Teenager war. Doch man spürte immer wieder, dass sie mit sich selbst oder ihrem Leben alles andere als zufrieden war. Sie suchte förmlich Streit mit ihren Mitmenschen und vor allem mit Gleichaltrigen. Freunde hatte sie keine – sie hatte immer etwas an anderen auszusetzen, was ihre Mitschüler zu einer gewissen Distanz veranlasste, um nicht mit ihr aneinander zu geraten. Bei Gemeinschaftsprojekten weigerten sich manche sogar, mit ihr zu arbeiten. Sedat kannte das Mädchen erst seit kurzem, da er erst vor einem Monat in die Klasse gekommen war. Daher war er noch so blauäugig zu glauben, sie wäre ein ganz normales Mädchen.

Seufzend öffnete Herr Burger die Tür zum Lehrerzimmer und ließ Juliane eintreten. Es waren nur noch wenige Kollegen im Raum, die das Mädchen neugierig anblickten und sich ihren Teil dachten. Es war ja nicht das erste Mal, dass dieses Kind hier landete. Respektvoll zogen sie sich zurück, damit der Lehrer mit ihr reden konnte. „So, nun zu dir, junge Dame. Was war auf dem Schulhof los?“

„Das wissen Sie doch längst“, fauchte das Mädchen zornig. Sie war immer noch wütend auf die Bemerkung ihres Mitschülers.

„Nicht in diesem Ton, Fräulein. Ja? Du bist alt genug, um vernünftig mit mir zu reden. Und ich kenne lediglich die Version von Sedat und Felix. Mich würde aber interessieren, was du dazu zu sagen hast.“

„Er hat es verdient“, kam es ein wenig freundlicher, doch immer noch wütend aus dem Mund des Mädchens. Dann verschränkte sie demonstrativ die Arme vor der Brust und schwieg.

Herr Burger kannte das schon. Wenn Jule dichtmachte, war aus ihr nichts mehr herauszubekommen. „Du kennst unsere Schulregeln?“, fragte er daraufhin.

Doch das Mädchen hielt es nicht für notwendig, die Frage zu beantworten. Natürlich kannte sie die Schulregeln. Sie hatte sie in den letzten Jahren mindestens viermal abschreiben dürfen. Wenn sie sich richtig anstrengte, konnte sie sie vermutlich sogar auswendig aufsagen.

„Na gut. Wenn du meinst, es nicht nötig zu haben, mit mir zu reden, kann ich auch anders. Du schreibst bis morgen die Schulregeln ab und gibst sie mir in der ersten Stunde unaufgefordert. Außerdem werde ich deine Eltern informieren und am Freitag wirst du in der siebten und achten Stunde nachsitzen dürfen. Wenn du damit einverstanden bist, kannst du in den Unterricht gehen.“

Ohne ihn anzusehen, stand Juliane auf, drehte sich um und ging mit schnellen Schritten aus dem Lehrerzimmer. Natürlich war sie nicht damit einverstanden, aber hatte sie denn eine andere Wahl? Er war ihr Lehrer und sie war doch sowieso immer der Buh-Mann. Eigentlich mochte sie Herrn Burger sogar – zumindest mehr, als viele der anderen Lehrer. Er war gerecht, freundlich und konnte super erklären. Doch er konnte auch streng und konsequent sein, wie sie schon öfter am eigenen Leib erfahren durfte.

Jule wusste selbst nicht so genau, was sie manchmal ritt. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich innerlich so leer gefühlt. Irgendetwas fehlte. Vielleicht lag es daran, dass sie keine Geschwister hatte. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn sie nicht allein mit ihren Eltern aufgewachsen wäre, doch sie lebte mit diesen zu dritt in dem großen Haus direkt am Waldrand. Eigentlich konnte sie sich nicht beschweren. Ihre Eltern waren gut situiert und konnten ihr jeden Wunsch erfüllen. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte, und wenn sie sich etwas wünschte, bekam sie es in der Regel auch. Doch keine Geschenke, kein großes Haus und keine noch so schöne Reise in den Ferien konnten diese Leere in ihrem Herzen füllen. Kein Mädchen, das einmal versucht hatte, mit ihr befreundet zu sein, war ihr gut genug. Immer fehlte etwas, auch wenn Juliane nicht sagen konnte, was es war. Es fühlte sich einfach falsch an.

Als Jule das Klassenzimmer betrat, verstummte die Klasse schlagartig. Sie spürte, wie über zwanzig Augenpaare auf die gerichtet waren. Mit gesenktem Blick ging sie zu ihrem Platz und setzte sich. Nicht einmal eine Entschuldigung brachte sie über ihre Lippen.

Frau Winter räusperte sich kurz und fuhr dann mit dem Unterricht fort. Das Mädchen warf einen Blick auf Felix, dessen Wange immer noch leuchtete. Er bemerkte ihren Blick und warf ihr ein böses Funkeln zu, das sie jedoch ignorierte. ‚Geschieht ihm ganz recht!‘, fand sie. Am liebsten hätte sie ihm gleich noch eine geklebt.

Am nächsten Morgen hatte sich die Aufregung gelegt. Jules Wut war verraucht und Felix’ Wange sah wieder aus wie immer. Da Herr Burger im Stau stand, schloss ihnen ein anderer Lehrer das Klassenzimmer auf und sie gingen hinein. Jule holte Mäppchen und Hefte hervor und legte sie auf den Tisch. Dann spielte sie gedankenverloren mit einem ihrer Stifte. Als der Lehrer fünf Minuten später das Zimmer betrat, warf sie den Stift ins Mäppchen, nahm ihr Heft und ging nach vorne, um ihm die Strafarbeit vorzulegen. Hinter ihr kicherte es leise, doch Jule zwang sich, sich nicht umzudrehen. Sollten sie nur lachen, weil sie die Schulordnung abschreiben musste!

Doch natürlich wurmte es sie trotzdem und der Lehrer bemerkte es an ihrem Gesichtsausdruck. „Ruhe, bitte“, sagte er streng, ohne auf die Schüler zu achten und blickte stattdessen auf das ihm vorgelegte Schulheft. Er kontrollierte es kurz auf Vollständigkeit und zeichnete es ab. „Danke, Jule. Du kannst dich setzen“, sagte er dann freundlich und wandte sich anschließend an die Klasse: „Wie bereits angekündigt, habe ich euch eine kleine Lernkontrolle mitgebracht. Wir haben noch genug Zeit, da sie eh nur auf eine Schulstunde ausgelegt ist. Timo, kannst du die Blätter bitte verteilen und umgedreht auf die Tische legen?“ Er wartete, bis der Junge die Blätter verteilt und sich anschließend auf seinen Platz gesetzt hatte. „Lest euch den Text aufmerksam durch und beantwortet im Nachgang bitte die Fragen. Die Zeit beginnt jetzt.“ Ein Rascheln deutete an, dass alle Schüler ihre Blätter umdrehten. Dann wurde es still im Raum, während sie anfingen zu lesen. Auch Jule konzentrierte sich auf den Bericht. Gegen Ende des Textes griff sie in ihr Mäppchen, um einen Stift herauszuholen, behielt den Blick jedoch auf dem Text, während ihre Finger nach dem Schreibgerät tasteten. Doch sie schlossen sich nicht um ihren Füller, sondern berührten etwas Weiches, das sich auch noch bewegte. In der Stille der allgemeinen Konzentration ertönte ein spitzer Schrei. Jule sprang auf und machte einen Satz rückwärts. Erneut fingen ihre Mitschüler an, zu kichern.

„Was soll das, Juliane?“, fragte Herr Burger streng und das Mädchen konnte sehen, wie ungehalten er über die Störung war.

„Nichts“, stotterte sie und beeilte sich, sich wieder auf ihren Platz zu setzen. „Ich habe mich nur erschrocken.“

„So schlimm ist der Bericht ja nun auch wieder nicht“, tadelte der Lehrer und ihre Mitschüler kicherten erneut. „Wenn sich alle wieder beruhigt haben, wäre es nett, wenn wir mit dem Test weitermachen könnten“, wandte er sich dann an die Runde und sofort verstummte es im Raum.

Jule war knallrot im Gesicht und spürte deutlich die Blicke der Anderen, während sie ihr Mäppchen genau im Auge behielt. Erst als sich alle wieder über ihre Blätter gebeugt hatten und anfingen, zu schreiben, wagte sie, den Deckel ihres Mäppchens erneut anzuheben und einen vorsichtigen Blick hineinzuwerfen. Zwei kleine, rote Äugelein blickten ihr ängstlich entgegen und eine kleine Nase wackelte schnuppernd. In ihrem Mäppchen saß eine weiße Maus, die jedoch keine Anstalten machte, wegzulaufen. Vorsichtig zog Juliane ihren Füller an der Seite heraus und schloss den Deckel wieder, damit sie nicht weglief und sie erneut Ärger bekommen würde.

Als sie den Kopf hob, fiel ihr Blick auf Felix, der grinsend über seinem Blatt hockte und sie dabei beobachtet hatte. ‚Aha‘, dachte das Mädchen. ‚Das sollte wohl die Retourkutsche für meine Ohrfeige werden, oder wie? Aber da hast du dich geschnitten. Warte nur ab. Wenn du Krieg willst, bekommst du Krieg‘.

Den Rest der Stunde brachten sie ohne weitere Unterbrechungen hinter sich. Doch Jule befand sich in einer Zwickmühle. Was sollte sie jetzt mit der Maus machen? Immerhin hatte sie noch vier weitere Stunden, da konnte sie ja nicht in ihrem Mäppchen bleiben, wenn das Mädchen ständig da ran musste. Früher oder später würde das Tier bestimmt die Flucht ergreifen. In der Pause nutzte sie die Gelegenheit, da sie Tafeldienst hatte und allein im Klassenraum zurückblieb. Schnell ging sie an den Schrank, in dem die Kreide lag. Sie hatte richtig vermutet: dort gab es noch einen neuen Karton mit Kreide. Sie nahm diese heraus und legte sie ordentlich in den Schrank. Dann klopfte sie den Karton sorgfältig aus, legte ein Kleenex hinein und ging zu ihrem Platz. Sie legte ein Stück ihres Frühstücks – Karotte und Apfel – hinein und öffnete anschließend vorsichtig ihr Mäppchen. Die kleine Maus war entweder sehr zahm oder so ängstlich, dass sie sich kaum bewegte und es nicht schwer war, sie herauszunehmen. Jule strich ihr sanft über das Fell, dann setzte sie das Tier in die Kiste, die sie mit kleinen Luftlöchern versehen hatte, und schloss den Deckel. „Sei schön lieb, damit dir nichts passiert.“

Sie nahm die Kiste und wollte sie gerade in ihren Ranzen packen, als Herr Burger zurückkehrte und sie dabei überraschte. Er erkannte die Kreidebox und dachte natürlich, sie würde Schulmaterial entwenden. „Juliane!“, rief er ungehalten. „Beklaust du uns nun auch noch?“

„Nein“, stotterte das Mädchen, doch ihr Gesichtsausdruck ließ ihr schlechtes Gewissen erkennen. „Ich habe nur… ich wollte…“ Sie brach ab, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Die Wahrheit würde er ihr sowieso nicht glauben. Sie versuchte so unauffällig wie möglich die Box in ihren Ranzen zu schieben, doch der Mann kam mit zwei großen Schritten auf sie zu, hielt ihr Handgelenk fest und zog es zurück. Julianes Kopf arbeitete auf Hochtouren. „Ich habe wirklich nichts gestohlen!“, sagte sie, während sie sich blitzschnell eine Geschichte ausdachte.

„Ach nein? Und was ist das?“, fragte der Lehrer streng und öffnete die Box. Überrascht schloss er den Deckel wieder und stellte die Box auf dem Tisch ab. „Was zum Teufel ist das?“

„Das… das ist… Mickey Mouse“, sagte sie zögernd, weil ihr auf die Schnelle kein anderer Name einfiel. „Er gehört mir. Irgendwie muss er aus dem Käfig gekommen sein und sich in meinem Mäppchen versteckt haben. Ich wollte nicht, dass ihm etwas passiert. Deshalb habe ich die Kreidebox genommen und ihn hineingesetzt. Bitte, Herr Burger. Es war wirklich nicht böse gemeint.“

Der Mann betrachtete das Mädchen eindringlich. Sie schien wirklich ein bisschen Angst zu haben – ob um ihren kleinen Freund oder vor einer eventuellen Strafe konnte er allerdings nicht beurteilen. Schließlich nickte er. „Also gut. Ich will dir dieses eine Mal glauben. Aber er kann nicht den Rest des Tages in deinem Ranzen bleiben. Ich nehme die Box mit ins Lehrerzimmer und nach der letzten Stunde kommst du vorbei und holst ihn ab. In Ordnung?“

Erleichtert, um eine Strafe herumgekommen zu sein, nickte sie und reichte ihm die Box. Dann verließen sie gemeinsam das Klassenzimmer.

Nach dem Unterricht holte Jule ihren kleinen Freund im Lehrerzimmer ab, nicht ohne eine weitere Ermahnung zu bekommen, in Zukunft besser auf ihn aufzupassen. Das Mädchen fuhr mit dem Bus in die Stadt zu einem Zoogeschäft und besorgte sich eine adäquate Unterbringung für ihren neuen Freund sowie notwendiges Zubehör. Zu Hause baute sie alles auf und entließ die weiße Maus schließlich in ihr neues Zuhause. Sofort suchte diese alles ab, schnüffelte am Futternapf und krabbelte durch die Rohre, die sie eingebaut hatte. Zufrieden setzte sich das Mädchen an ihre Hausaufgaben. Sie hatte noch nie ein Haustier gehabt, doch irgendwie gefiel ihr der Gedanke, nicht mehr allein zu sein, während ihre Eltern arbeiteten. Vielleicht hätte sie im Zoogeschäft nachfragen sollen, ob man Mäuse überhaupt allein halten kann oder ob sie besser ein zweites Tier dazukaufen sollte. Sie nahm sich vor, das in den nächsten Tagen nachzuholen. Bis dahin würde sie sich eben darum kümmern, dass Mickey Mouse sich nicht langweilte. Es war richtig interessant zuzusehen, wie sich die kleine Maus durch die Sägespäne wühlte und sich schließlich in einer selbstangelegten kleinen Höhle zusammenrollte und schlief.

Am nächsten Morgen wurde das Mädchen vor dem Schulgelände bereits von Felix erwartet. Er lächelte sie an und begrüßte sie. „Danke, dass du mich gestern nicht verpfiffen hast, Jule. Das war echt cool von dir.“

„Geschenkt“, sagte sie und wollte an ihm vorbei auf das Gelände.

Doch Felix hielt sie sanft am Arm fest. „Warte mal. Was hast du mit der Maus gemacht?“

Jule überlegte einen Moment, ob sie ihm sagen sollte, dass Mickey Mouse vermutlich zusammengerollt zu Hause schlief oder sich über die Leckereien hermachte, die sie ihm in den Käfig gelegt hatte. Doch dann entschied sie sich anders. Sie wollte sich an ihm rächen und blickte ihm fest in die Augen. „Die habe ich meiner Katze zum Spielen mitgebracht.“

Dem Jungen fiel alles aus dem Gesicht. Sie wusste, dass er extrem tierlieb war und ihn diese Aussage treffen würde. ‚Vermutlich gehörte das Tier sogar ihm‘, dachte das Mädchen plötzlich. ‚Tja. Das nennt man dann wohl Pech‘. Sie straffte die Schultern und lief einfach weiter, den geschockten Jungen zurücklassend, der sich jedoch schnell wieder fing und hinter ihr her rannte. „Du hast was getan?“

„Sie meiner Katze mitgebracht. Das sagte ich doch bereits. Die freut sich, wenn sie mal Lebendfutter bekommt. Ist eine reine Hauskatze.“ Es bereitete dem Mädchen eine teuflische Freude, zu sehen, wie sie ihn damit verletzte. Er hatte es verdient, glaubte sie. Dass sie es ein wenig übertrieb, merkte sie erst, als sie einen heftigen Stoß in den Rücken bekam, der sie nach vorne schleuderte und sie mit dem Gesicht auf dem Boden knallen ließ. Jetzt war sie nicht mehr zu halten, rappelte sich auf und warf sich auf den Angreifer. Innerhalb von wenigen Sekunden war die schönste Schulhofschlägerei im Gange, die die Schule je erlebt hatte. Die beiden warfen sich immer wieder aufeinander und lieferten sich einen heftigen Kampf. Weitere Schüler standen um sie herum, bis jemand endlich einen Lehrer holte.

Kurz darauf kam Herr Burger mit dem Rektor dazu und ging dazwischen. Die beiden Männer mussten die zwei Kampfhähne mit Gewalt festhalten, um sie davon abzuhalten, erneut aufeinander loszugehen. „Was zum Teufel ist denn in euch gefahren? Ich glaube das jetzt nicht. Wir sind doch hier nicht im Kindergarten!“

Jule versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff des Lehrers zu winden, doch er war stärker als sie und hielt sie nach wie vor fest. Er verständigte sich kurz mit dem Schulleiter darauf, dass dieser Felix mit in sein Büro nehmen und Herr Burger das Mädchen in das Krankenzimmer bringen würde. Dort drückte er sie auf die Liege und fuhr sie wütend an. „Das reicht jetzt Juliane! Hör’ endlich auf damit! Ich habe dir nichts getan.“

Endlich schien das Mädchen zu begreifen, dass er nicht ihr Gegner war, sondern sie nur vor weiterem Schaden beschützen wollte, genau wie ihren Mitschüler. Doch die Wut über den Angriff hallte noch in ihr nach. Sie zitterte am ganzen Körper, blieb aber auf der Liege sitzen.

Dann wurde die Schulkrankenschwester verständigt, die sich der Wunden der beiden annahm. Am schlimmsten hatte es Jule erwischt. Durch den Sturz auf den Steinboden hatte sie eine leicht blutende Schürfwunde an Wange und Schläfe und ein Monokelhämatom am Auge. Felix hatte nur eine aufgeplatzte Lippe. Ansonsten waren beide mit einigen Hämatomen an Armen und Beinen davongekommen.

Als das Mädchen versorgt war, bedankte sich Herr Burger bei der Sanitäterin und setzte sich vor das Mädchen auf einen Stuhl. Sie war noch immer aufgewühlt und zitterte, wenn auch nicht mehr so stark wie zuvor. „Und jetzt hätte ich gerne gewusst, was das da draußen sollte.“ Er deutete hinter sich in Richtung Schulhof. Doch Jule blieb stumm. Sie war keine Petze und sie würde Felix nicht verpfeifen – genauso wenig wie sie es bei der Maus gestern getan hatte. Eine halbe Stunde lang redete der Lehrer auf das Mädchen ein – doch ohne Erfolg. Schließlich ließ er sie zurück und ging zum Schulleiter. Doch auch hier sah es nicht viel anders aus. Felix hockte mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl in der Ecke und sprach kein Wort. Doch Herr Burger konnte sehen, dass er weinte. Er versuchte, mit dem Jungen zu reden, doch das war genauso aussichtslos, wie mit einer Wand zu diskutieren.

Die beiden Männer verließen den Raum, um sich kurz zu besprechen. Dann kehrten sie mit Juliane im Schlepptau in das Büro zurück und bugsierten sie in die andere Ecke des Zimmers, um einen weiteren Zwischenfall zu vermeiden. Inzwischen hatte es bereits zur zweiten Stunde geläutet.

Der Lehrer stand wie eine Schutzmauer zwischen den Kontrahenten, während der Rektor sich hinter seinem Schreibtisch aufbaute. „Also gut. Ihr wollt es anscheinend nicht anders. Da ihr euch weigert, den Mund aufzumachen, müsst ihr eben mit den Konsequenzen leben. Ihr werdet beide für den Rest der Woche vom Unterricht suspendiert. Ich werde gleich eure Eltern anrufen, damit sie euch abholen. Außerdem werdet ihr ab nächster Woche vier Wochen lang jeden Freitag nachsitzen und eine Woche lang gemeinsamen Hofdienst verrichten. Und ich rate euch dringend, eure Differenzen auf einem anderen Weg zu klären, als mit den Fäusten. Sollte das noch einmal vorkommen, müssen wir über einen Schulverweis nachdenken. Ich hoffe, dass ihr euch der Ernsthaftigkeit der Situation bewusst seid und anfangt, euren Kopf zu benutzen.“

Die beiden Teenager nickten betreten, sagten jedoch nichts. Für den Rest der Stunde saßen sie im Lehrerzimmer und warteten auf ihre Eltern. Felix wurde als erster abgeholt und als er an ihr vorbei zur Tür ging, zischte er ihr noch ein gehässiges „Tiermörder!“ zu.

Für einen kurzen Moment war Jule geneigt, ihm die Wahrheit zu sagen, verwarf diesen Gedanken jedoch wieder. Sollte er ruhig noch ein bisschen leiden, weil er dachte, seine Maus wäre tot. Er hatte es redlich verdient, fand sie.

Die Mine ihres Vaters sprach Bände, als er wenig später ebenfalls in der Schule auftauchte. Jule konnte ihm direkt ansehen, wie sehr er sich ärgerte, auch wenn er dem Lehrer gegenüber höflich distanziert blieb. Sie hatte fast ein bisschen Angst, mit ihm ins Auto zu steigen und folgte ihm wie ein geschlagener Hund zum Wagen. Doch zu ihrer Verwunderung sagte Herr von Verden kein Wort, während sie nach Hause fuhren.

Auch als sie vor dem großen Haus parkten, schwieg der Vater und deutete mit der Hand lediglich die Treppe hinauf. Juliane verstand und verzog sich in ihr Zimmer. Dass ihr Vater kein Wort mit ihr sprach, traf sie härter, als wenn er sie angeschrien hätte. In ihrem Zimmer warf sie sich auf ihr Bett und fing an zu weinen. Wieso passierten ihr immer solche Sachen? Was war nur los mit ihr? Vielleicht hätte sie Felix besser nicht anlügen sollen, dann wäre es gar nicht so weit gekommen. Andererseits hatte er den Streit angefangen. Er war es gewesen, der sie als komplett irre dargestellt hatte, der ihr die Maus ins Mäppchen gesteckt hatte, um ihr Ärger zu bereiten, und der sie angegriffen hatte – nur weil sie ihm etwas vorgeflunkert hatte.

Oder war es doch etwas hart gewesen, ihm zu sagen, dass die kleine, unschuldige Maus tot war? Sie stand auf und ging zu dem Käfig. Mickey Mouse kam zu den Stäben und ließ sich von ihr kraulen. Sie war wirklich extrem zahm und zutraulich. Mit Sicherheit stammte sie nicht erst kürzlich aus einem Zoogeschäft. Sie nahm sich vor, sie zurückzugeben, sobald sich die Wogen etwas geglättet hatten.

Im Erdgeschoss hörte sie die Haustür gehen und kurz darauf vernahm sie gedämpfte Stimmen aus dem Wohnzimmer. Scheinbar diskutierten ihre Eltern ausgiebig über etwas, doch sie konnte nicht verstehen, um was es ging. Vermutlich stritten sie darüber, wer Schuld daran war, dass sie so eine missratene Tochter bekommen hatten.

Auch beim Abendessen verlor niemand ein Wort darüber, dass Juliane von der Schule freigestellt worden war. Ihr Vater drückte ihr lediglich einen Stapel Blätter in die Hand, die sie in den nächsten Tagen erledigen und dem Lehrer zeigen sollte. Doch die Stimmung war gedrückt und unnatürlich knisternd. Wortlos half das Mädchen beim Abdecken und als sie versuchte, mit ihrer Mutter über den Vorfall in der Schule zu reden, winkte diese ab. „Ich weiß Bescheid, Kleines. Lass’ uns später darüber reden. Geh’ jetzt in dein Zimmer.“

Verwirrt nahm Juliane die Arbeitsaufträge an sich und ging die Treppe hoch. Noch lange hörte sie ihre Eltern im Wohnzimmer reden, meinte sogar, ihre Mutter weinen zu hören. Als sie sich ins Bett legte, fühlte sie sich noch schlechter, als bisher. Ihre Wunden brannten und die blauen Flecke taten bei jeder Bewegung weh. Sie wusste nicht, wie sie liegen sollte, und stand schließlich wieder auf, um sich auf die Couch zu setzen und zu lesen. Irgendwann fielen ihr dann aber doch die Augen zu und ihr Kopf kippte zur Seite.

Auch der nächste Tag war schwer für das Mädchen. Ihr Vater verließ früh am Morgen das Haus, ihre Mutter wenig später. Als sie in die Küche kam, fand sie einen Zettel, auf dem stand, dass sie das Haus nicht verlassen dürfe und ihre Arbeitsaufträge erledigen sollte. Zusätzlich hatte ihr Vater ihr noch Strafarbeiten fürs Haus aufgetragen, wie zum Beispiel Saugen und Fensterputzen. Seufzend machte sich das Mädchen an die Arbeit, verlor aber schon bald die Lust und setzte sich auf ihre Couch, um zu lesen. Erst, als ihr Vater von der Arbeit kam, schreckte sie hoch. Sie hatte die Putzsachen im Flur stehen lassen und er fiel prompt über den Eimer. „Juliane!“, schrie er ungehalten und sie beeilte sich, nach unten zu rennen und die Schweinerei zu beseitigen.

Anschließend zitierten ihre Eltern sie ins Wohnzimmer. Ihre Mutter wirkte nervös, doch das Gesicht ihres Vaters blieb fest, als er zu sprechen anfing. „Deine Mutter und ich haben uns gestern lange unterhalten, Jule. So geht es einfach nicht weiter.“

„Ich weiß“, gab das Mädchen zu. „Ich wollte das alles doch nicht, aber Felix…“

„Lass’ mich bitte ausreden, Kind“, unterbrach er sie und Jule funkelte ihn böse an. Sie war kein Kind mehr! Sie war vor Kurzem sechzehn geworden. „Wir wissen einfach nicht mehr, was wir machen sollen. Und deshalb habe ich heute ein paar Telefonate geführt.“ Er zog einige Papiere hervor und legte sie vor seiner Tochter auf den Tisch. Neugierig warf sie einen Blick darauf. Es waren ausgedruckte Seiten aus dem Internet. Auf der ersten Seite war ein Bild von einem Gebäude, das an ein Gruselschloss aus einem Horrorfilm erinnerte.

„Was soll das sein? Schloss Schreckenstein?“

„Das ist nicht lustig, Juliane“, mahnte der Vater. „Die Sache ist ernst. Es ist tatsächlich ein altes Schloss. Doch heute ist es ein Internat für… sagen wir mal: schwierige Fälle.“

„Ihr wollt mich in die Klapse schicken?“ Jule sprang auf und warf die Papiere dabei auf den Boden.

„Nein, Kleines“, versuchte Frau von Verden ihre Tochter zu beruhigen. „Es ist einfach eine Schule, in der du auch wohnen wirst. Die Lehrer dort sind speziell geschult, um Kindern wie dir zu helfen, damit sie wieder lernen, mit anderen klarzukommen. Und vielleicht darfst du nach ein paar Wochen an den Wochenenden sogar wieder nach Hause kommen.“

„Also eine Mischung aus Klapse und Jugendknast. Super! Vielen Dank.“ Julianes Stimme triefte vor Sarkasmus. „Und ab wann werde ich dort weggesperrt?“

„Wir werden dich am Samstag hinfahren“, gab ihr Vater zurück und wirkte dabei fest entschlossen, sich das nicht ausreden zu lassen.

Dem Mädchen schossen die Tränen in die Augen. Ohne etwas zu erwidern, rannte sie die Treppe hinauf und warf die Tür hinter sich zu. Sie kam weder zum Abendessen herunter, noch am nächsten Morgen zum Frühstück. Den Vormittag über beschäftigte sie sich mit der kleinen, weißen Maus. Am liebsten hätte sie sie mitgenommen, doch ihr war klar, dass das nicht ging. Mickey Mouse musste zurück zu ihrem Besitzer. Am besten brachte sie es so schnell wie möglich hinter sich.

Aus dem Schrank nahm sie die kleine Transportbox, die sie im Zoogeschäft gekauft hatte und packte die restlichen Vorräte in eine Tüte. Dann machte sie sich auf den Weg zum Haus von Felix’ Eltern. Als sie klingelte, wurde die Tür von seiner Mutter geöffnet, die es scheinbar überhaupt nicht merkwürdig fand, dass Jule davor stand. „Ich würde gerne zu Felix“, sagte sie leise.

Die Frau nickte und trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. „Sein Zimmer ist am Ende des Flurs rechts. Das mit dem Tierposter an der Tür.“

„Danke“, antwortete das Mädchen und ging den Flur entlang, um an der Tür zu klopfen.

„Herein!“ Sie öffnete die Tür vorsichtig und sah sich um. Felix saß am Schreibtisch über seinen Aufgaben und blickte bei ihrem Eintritt hoch. Als er sie erkannte, sprang er unvermittelt auf. „Was willst du hier?“

Jule blickte sich in dem Zimmer um. Die Wände waren mit Tierbildern übersäht und in einer Ecke stand ein großer Glaskasten, in dem sich mehrere Mäuse tummelten. Durch das Glas konnte man die Gänge erkennen, die die Tiere im Streu gegraben hatten. Sie hatten sogar durchsichtige Rohre, die durch das gesamte Zimmer gingen. „Ich… ich wollte mich entschuldigen“, fing sie beinahe zögernd an. „Und ich wollte dir Mickey Mouse zurückbringen.“

„Mickey Mouse?“, fragte der Junge verständnislos.

Sie hob die Transportbox und reichte sie dem Jungen. Ein freudiges Strahlen machte sich auf seinen Zügen breit, als er das Tier aus der Box nahm und liebevoll streichelte. „Aber ich dachte… du hast doch gesagt…“

„Ich wollte dich ärgern, weil du so blöde Sachen gesagt und die Maus in mein Mäppchen gelegt hast. Ich war so wütend auf dich. Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass er dir so viel bedeutet.“

Felix lächelte sie zum ersten Mal freundlich an und sie fühlte sich gleich etwas besser. „Er ist eigentlich eine Sie und heißt Mina. Und es war scheiße, was ich gemacht habe. Es tut mir auch leid, dass du so viel Ärger bekommen hast. In Zukunft werde ich dich in Ruhe lassen, versprochen.“

„Ganz sicher sogar, denn in Zukunft wirst du keine Gelegenheit mehr haben, mich auf die Palme zu bringen.“

„Wie meinst du das?“, fragte Felix überrascht und setzte die Maus zu ihren Artgenossen, die sie sofort umringten. Dabei fiel Jule auf, dass alle Tiere unterschiedlich aussahen. Sie unterschieden sich in Größe und Farbe voneinander. Mina war die einzige rein weiße Maus. Dann drehte er sich wieder um und blickte das Mädchen erwartungsvoll an.

„Weil meine Eltern mich in ein Internat stecken – so ’ne Mischung aus Klapse und Jugendknast. Na ja, wenigstens seid ihr mich dann los. Was mit mir ist, interessiert doch eh keinen.“ Sie wollte sich umdrehen und wieder gehen und stellte deshalb die Tüte mit den Vorräten auf dem Boden ab. Doch bevor sie die Klinke greifen konnte, spürte sie eine vorsichtige Berührung an ihrer Hand. Felix hielt sie fest und zog sie zur Bettkante, wo er ihr bedeutete, sich zu setzen. „Ist das wirklich wahr?“, fragte er und seine Stimme klang plötzlich traurig.

Jule wunderte sich darüber. Sie hätte gedacht, dass er einen Freudensprung machen würde. Immerhin hatte sie ihm eine geklebt und zum Schluss sogar eine aufgeplatzte Lippe und eine Suspendierung verschafft. Und das war ja nur der Gipfel des Eisberges gewesen. Jetzt schien er sie plötzlich mit anderen Augen zu sehen. Jule senkte verlegen den Blick, als sie sich so beobachtet fühlte, und starrte auf ihre Hände. „Ja“, gab sie zu. „Sie bringen mich morgen weg. Was ich fühle, interessiert sie nicht.“

„Aber mich interessiert es“, kam es leise zurück. Jule hob den Kopf ein wenig und zum ersten Mal sah sie ihm direkt in die Augen. Sie waren fast ebenso blau wie ihre, doch im Gegensatz zu ihr hatte er keine schwarzen Haare, sondern hellblonde, die immer ein gewisses Eigenleben zu haben schienen und ihm ein bisschen wirr um den Kopf standen. Felix war im Sommer sechzehn geworden und damit der älteste Mitschüler in der Klasse. Dies lag daran, dass er einmal Opfer eines schweren Unfalls geworden war und deshalb ein Jahr hatte wiederholen müssen, weil er lange Zeit in der Reha verbracht hatte. Heute wirkte er gesund und fit, doch das war nicht immer so gewesen. „Bitte sage mir, wie du dich fühlst.“

Das Mädchen spürte, wie ihre Augen anfingen zu brennen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sie konnte jetzt nicht anfangen zu weinen. Nicht hier vor ihrem Erzfeind. Doch war er das überhaupt? Im Moment fühlte es sich nicht so an, als wäre er überhaupt ein Feind. Eher im Gegenteil. Ihren Eltern schien es egal zu sein, wie sie sich dabei fühlte, wenn sie sie einfach wegschickten – irgendwohin, wo die Lehrer das Mädchen nach den Wünschen der Eltern zurechtbiegen sollten – anstatt sich selbst mal zu fragen, warum Jule überhaupt so war. Und jetzt saß da dieser Junge, mit dem sie sich seit Jahren in die Wolle kriegte und er war plötzlich ein ganz anderer. Fast wie ein Freund.

Zögernd gab sie ihm Auskunft: „Scheiße“, sagte sie einfach, doch es drückte in diesem Moment am besten aus, was sie fühlte. „Und allein.“

Da tat Felix etwas, das sie völlig aus dem Konzept brachte. Er nahm sie einfach in den Arm und strich ihr sanft über den Rücken. In diesem Moment konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Sie fing an zu schluchzen und die Tränen rannen ihr in dicken Bächen über die Wangen und benetzten den Verband, den sie noch immer trug. Ihr Gegenüber kümmerte das nicht. Er hielt sie einfach fest. Jules Gefühlswelt wirbelte durcheinander. Sie war traurig und wütend, dass sie in das Internat musste, und gleichzeitig war da plötzlich jemand, der für sie da war, dem sie scheinbar etwas bedeutete. Und dieser Jemand war ausgerechnet der Mensch, dem sie in gewisser Weise das alles zu verdanken hatte. Auch wenn er natürlich nicht allein Schuld daran war. Das hatte bereits lange bevor er in die Klasse kam angefangen.

Als die Tränen versiegten, ließ Felix sie wieder los, reichte ihr ein Taschentuch und wartete, bis sie sich die Nase geputzt hatte. „Geht es dir jetzt etwas besser?“ Das Mädchen nickte. Es war ihr peinlich, dass sie vor ihm geweint hatte, doch sie fühlte sich tatsächlich ein wenig befreiter. „Darf ich dir mal schreiben, wenn du in dem Internat bist?“

Überrascht hob sie den Kopf. „Möchtest du das denn?“

Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht.“

Jule stand auf und ging zu dem Glaskasten, um die Tiere zu beobachten. „Wenn du magst. Ich würde mich freuen“, gab sie dann zu. „Sind das alles Weibchen?“

Froh darüber, ein unverfängliches Thema zu haben, trat Felix neben sie und in der nächsten Stunde unterhielten sie sich über die Tiere, ihren Lehrer und allgemeine Sachen. Der Junge war beinahe überrascht, wie gut man mit Jule reden und diskutieren konnte. Es machte richtig Spaß, ihre Fragen zu beantworten und ein wenig über sie zu erfahren. Warum nur mussten sie sich erst die Köpfe einschlagen, um festzustellen, dass der andere eigentlich ein ganz netter Kerl war?

Schließlich wurde es Zeit für das Mädchen, nach Hause zu gehen. Sie musste noch ihre Sachen für den nächsten Tag packen. Felix brachte sie noch bis zur Tür und drückte ihr einen Zettel in die Hand. „Ich werde dich vermissen“, sagte er leise, während sich ihre Hände berührten. Dann drehte er sich um und schloss die Haustür.

Jule blickte auf den Zettel. Es war seine Anschrift und seine Handy-Nummer. Lächelnd steckte sie den Zettel in ihre Hosentasche und machte sich auf den Weg nach Hause.

SCHIKANE

BROOKLYN, USA, MÄRZ 2019

'Es ist doch immer dasselbe', dachte Kimberly enttäuscht. Doch sie hatte längst aufgegeben, gegen die anderen ankommen zu wollen. Wenn drei Jungen übereinstimmend aussagten, sie sei schuld daran, dass sich ein bunter Socken in die Weißwäsche verirrt hatte, konnte sie noch so sehr beteuern, dass sie keinen Wäschedienst hatte und nicht mal in der Nähe der Waschmaschine gewesen sei. Sie war mit ihrer Aussage allein und niemand würde ihr glauben. Schon gar nicht ihre Pflegeeltern. Also biss sie in den sauren Apfel und machte sich an die Arbeit. Wenn sie sich beeilte, könnte sie es vielleicht sogar bis zum Schlafengehen schaffen und müsste morgen nach der Schule nicht weitermachen. Vielleicht würde sie dann Zeit haben, in dem deutschen Roman zu lesen, den sie sich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Sie war immer froh, wenn sie Bücher, Hörspiele oder Ähnliches ergattern konnte. Glücklicherweise gab es eine Kaserne in der Nähe und hin und wieder begegneten ihr Deutsche, mit denen sie sich in dieser Sprache unterhalten konnte. In der Schule war sie die beste in diesem Fach, doch woher ihre Leidenschaft für die Sprache kam, war ihr ein Rätsel.

Bereits bevor sie in der Schule mit der Fremdsprache begonnen hatte, hatte sie gewisse Grundkenntnisse gehabt. Das lag daran, dass ihr Vater Soldat gewesen war und sie zusammen in Texas gelebt hatten. In der unmittelbaren Nachbarschaft gab es mehrere Mischlingsfamilien, bei denen ein Elternteil aus Deutschland kam und der andere Amerikaner war. Diese Kinder wuchsen meist zweisprachig auf und wenn Kimberly mit den anderen spielte, schnappte sie immer wieder neue Wörter auf. Mit einer Familie verstanden sie sich sehr gut – fast täglich spielte sie mit dem Sohn David im Garten und sie hatte sich angewöhnt, mit ihm deutsch zu sprechen. Noch heute schrieben sie sich Briefe in dieser Sprache und er war ihr einziger Vertrauter inzwischen, nachdem ihre Eltern bei dem Amoklauf in Fort Hood im November 2009 gestorben waren. Damals war das kleine Mädchen noch nicht einmal sieben gewesen.

Seitdem lebte sie in Pflegefamilien und Heimen, war bereits mehrfach umgezogen und fristete ihr Dasein nun im Raum New York, in der Nähe von Fort Hamilton. David lebte noch immer in Texas, also viel zu weit entfernt, um ihn jemals wiederzusehen. Doch sie schrieben sich alle paar Wochen; manchmal sogar öfter und seine Briefe gaben ihr die Kraft, entgegen aller Widerstände weiterzumachen, die Zähne zusammenzubeißen und ihr Schicksal zu akzeptieren.

Während sie arbeitete, dachte sie daran, wie schön das Leben doch gewesen war, als ihre Eltern noch gelebt hatten und sie fröhlich im Garten gespielt hatte – entweder mit David oder einem anderen Kind oder auch einfach mit ihrem Hund Joker, der nach dem Tod ihrer Eltern in ein Tierheim gekommen war. Sie vermisste die Wärme eines Zuhauses und die Freundschaft von David und dem Hund. Hier fühlte sie sich alles andere als wohl. Die drei Söhne der Familie machten ihr das Leben zur Hölle und betrachteten sie als billige Magd, der sie sämtliche Arbeiten aufhalsen konnten, die sie selbst nicht erledigen wollten. Wenn sie sich weigerte, passierten Dinge wie der verirrte Socken in der Weiß-Wäsche oder ein völlig missratenes Abendessen, was dann wiederum nette Bestrafungen wie Putzdienst, Büchereiverbot oder gar Freiheitsentzug nach sich zog. Kim hatte es längst aufgegeben, sich dagegen zu wehren, denn die Wahrheit wollte ihre Pflegemutter sowieso nicht wissen, sondern brummte ihr bei Widerspruch nur noch mehr Arbeiten auf. Also hatte sie sich dazu entschlossen, das Spiel mitzumachen und bei der nächstbesten Gelegenheit dieses gastliche Haus zu verlassen. Bisher hatte sich jedoch noch keine Gelegenheit ergeben. Sie war inzwischen sechzehn und verdiente ein wenig Geld bei Nachhilfestunden und beim Zeitungsaustragen. Dieses Geld sparte sie eisern und ihr Versteck dafür war so gut, dass es ihre Brüder noch nicht gefunden hatten. Inzwischen hatte sich dort eine nette kleine Summe angespart, die sie für ihre Flucht verwenden würde. Sie musste nur noch klären, wohin sie eigentlich wollte.

„Hast du nichts zu tun?“, fragte ihre Pflegemutter, als sie bemerkte, dass das Mädchen aus dem Fenster starrte.

Erschrocken wirbelte Kim herum. „Entschuldige bitte, ich habe nur eine kurze Pause gemacht.“

„Pause kannst du machen, wenn du fertig bist.“

Kim hasste diesen Spruch, doch sie griff die Putzsachen und machte weiter. Zum Abendessen musste sie sich die Sticheleien ihrer Pflegebrüder gefallen lassen, die sich darüber amüsierten, wie sie das Mädchen in die Pfanne gehauen hatten. Natürlich umschrieben sie es so, dass die Mutter nicht begriff, von was sie tatsächlich redeten, doch Kim wusste genau, was sie meinten. Am Abend war sie so erschöpft, dass sie nicht einmal ein paar wenige Seiten lesen konnte, und ging direkt ins Bett.