Vermächtnis der Schwerter (Band 1) - Tausendsturm - Michael Rothballer - E-Book

Vermächtnis der Schwerter (Band 1) - Tausendsturm E-Book

Michael Rothballer

4,4

Beschreibung

Ein vielschichtiges, dramatisches Fantasy-Abenteuer voller Spannung und Tiefgang! "Tausendsturm" ist der erste Band der Vermächtnis der Schwerter-Trilogie. Rai kann nicht fassen, was mit ihm geschieht: Die dunkle Waffe in seiner Hand scheint Besitz von ihm zu ergreifen und sich wie von selbst gegen seine Feinde zu richten. Der Junge flieht aus den Gemäuern, rennt um sein Leben, unwissend, welch kostbaren Schatz er aus dem königlichen Palast von Tilet entwendet hat: Tausendsturm, ein sagenumwobenes Schwert, das demjenigen, der es bei sich trägt, ungeahnte Kräfte und grenzenlose Macht verleiht. Und so ahnt Rai auch nicht, welch düsteres Schicksal ihn nach dem Diebstahl der magischen Klinge erwartet: Ein Leben ohne Licht und Hoffnung in den grausam beherrschten Erzminen von Andobras ...

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Für Fels und Stern

PROLOG

Am Anfang aller Tage behüteten vier Götter eine friedliche Welt: Bajula gebot über das Land, ihr Gemahl Kaloqueron über das Meer und den Wind, sein Bruder Xelos über die Unterwelt, und über allem thronte Cit, Herr des Himmels und der Sonne. Die vier Götter hatten bereits Himmel, Erde und Wasser mit Leben erfüllt: Vögel erhoben sich in die Lüfte, Fische schwammen im Meer, und eine Vielzahl von Pflanzen und Tieren besiedelte das Land. Jedoch gab es noch keine Kreatur mit genug Verstand, um das Dasein der Götter zu begreifen und die Schönheit ihrer Schöpfung zu lobpreisen. Daher fanden sich die Götter zusammen, um mit all ihrer Kunstfertigkeit ein Volk zu schaffen, das ihnen gleichen sollte an strahlender Schönheit, Edelmut und Macht. So entstanden die göttlichen Nauraín.

Dieses erste aller Völker erwählte sich die Ostlande zur Heimat und erbaute dort, wo die höchsten Gipfel der Berge den Himmel berührten, eine blühende Stadt. An schöpferischer Kraft standen sie den Göttern kaum nach, und so fertigten sie unzählige Werke von zeitloser Pracht. Schon bald aber gaben sie sich damit nicht mehr zufrieden. Nach dem Vorbild der Götter beschlossen die Nauraín, lebendige Wesen von bisher unbekannter Art ins Leben zu rufen. So schufen sie die Themuraia, Werkzeuge der Götter, und die Menschen, die sie Fendi – Freunde – nannten.

Beide Völker dienten ihren Erschaffern so gut sie es vermochten, dennoch erwies es sich bald, dass weder die Themuraia noch die Fendi in ihrer Art vollkommen waren. Deshalb fassten die Nauraín den Entschluss, ein letztes Mal ihre von den Göttern verliehene Gabe zu erproben, um makellose Wesen zu formen, die alle Stärken von Fendi und Themuraia in sich vereinten, ohne deren Schwächen zu besitzen. Die Fardjani wurden geboren – das vollendete Volk. Sie verkörperten Stolz und Freude ihrer Schöpfer und erhoben sich in ihrer Vollkommenheit über jedes andere Werk der Nauraín.

Wiewohl gab es in den Ostlanden auch noch Geschöpfe, die weder von den Göttern noch von den Nauraín erschaffen worden waren. Durch finstere Spalten im Fels waren diese Kreaturen emporgekrochen aus der Tiefe der Zeit. Ihr Verstand war scharf, doch ungezähmt, sie trieben durch die Welt ohne Zweck und Ziel wie der Wind. Nichts hatten sie jemals erbaut, nichts von Wert geschaffen, sie achteten keine Götter und keine Grenzen, keinen Besitz und keinen Befehl. Man nannte sie: die Drachen.

In wildem Aufbegehren weigerten sie sich, die göttergewollte Ordnung anzuerkennen und dem auserwählten Volk der Nauraín zu dienen. Sie erhoben sich, um zu Felde zu ziehen gegen die Lieblinge der Götter. In großer Zahl und mit all ihrer Macht fielen die Drachen über die Nauraín her und überzogen das Land mit Tod und Verderben. Ihr Feuer brannte heißer noch als die Lohe der Schmieden, ihre Körper waren gewaltig wie Berge, und dennoch glitten sie durch die Lüfte so geschwind wie Blätter im Sturm.

Lange währte dieser Krieg der Götterkinder gegen die unbeugsamen Echsen. Doch nach endlosen Schlachten erfüllte schließlich Angst und Verzweiflung die Herzen der Völker, die an der Seite der Fardjani für die Nauraín fochten. Verzweifelt flehten sie zum Himmel, dass die Götter ihnen helfen mögen im Kampf gegen die Ungeheuer. Und der allsehende Cit erhörte das Flehen seiner Kinder.

Von Xelos selbst ließ Cit in den Feuern der Unterwelt zwei unvergleichliche Schwerter fertigen, eines mit Namen Fendralin – Licht der Menschen –, das andere mit Namen Themuron – Wille der Götter. Dann wählte er unter den treuen Fardjani die beiden tapfersten Krieger aus: die Brüder Torion und Caras. Die Klinge Fendralin überreichte er Caras, der damit das zaudernde Volk der Menschen mit neuem Kampfgeist erfüllen sollte, während Torion das Schwert Themuron erhielt, um die Themuraia anzuführen. So zogen die vereinten göttertreuen Völker der Ostlande unter der Führung der beiden auserwählten Schwertträger erneut in die Schlacht gegen die Drachen. Die schuppigen Widersacher erzitterten vor der Macht der heiligen Klingen und flohen in die tiefsten Schluchten der Berge, wo sie sich vor der Rache der Fardjani zu verbergen trachteten. Doch jeder einzelne von ihnen wurde aufgespürt und vernichtet, bis zum Schluss nur noch der älteste und größte aller Drachen übrig war.

Berauscht vom Sieg über die gewaltigen Echsen, übermannte Caras jedoch der Hochmut. Verblendet von dem Wunsch, seinen Bruder Torion an Ruhm und Tapferkeit zu überflügeln, stellte er sich allein mit seinem Schwert Fendralin dem letzten Schuppentier entgegen. Doch dieses weigerte sich, mit Caras zu kämpfen. Stattdessen umgarnte der alte Drache den Auserwählten mit schönen Worten und vergiftete dessen Geist mit seinen Lügen. Der Drache versprach Caras, ihn nicht nur machtvoller als seinen Bruder Torion zu machen, sondern sogar den vier großen Göttern ebenbürtig. Er sollte nie wieder jemandem Gehorsam schuldig sein.

Und so kam es schließlich, dass sich Caras gegen seine Schöpfer stellte. Er brachte das Verderben über die göttlichen Nauraín.

Ihrem Anführer Caras schlossen sich auch die Menschen an, ebenso geblendet von den Einflüsterungen des Drachen, der ihnen reiche Beute und große Macht in Aussicht stellte. In unheiliger Allianz vereint, zogen nun die Menschen, der Fardjani Caras und der letzte Drache gegen die herrliche Stadt der Nauraín und machten sie dem Erdboden gleich. Als die vollkommene Vernichtung der Nauraín unabwendbar schien, erbarmten sich jedoch die Götter abermals. Cits strahlendes Auge blendete die Angreifer, und Kaloqueron entfesselte die Winde, um den todbringenden Drachen vom Himmel zu fegen. Xelos ließ die Erde beben und öffnete einen Spalt, durch den die letzten der Nauraín entfliehen konnten. Zuletzt ließ Bajula üppiges Grün über die Öffnung im Erdboden wachsen, sodass diese fortan nicht mehr aufzufinden war. Bevor die Nauraín vom Antlitz der Welt verschwanden, schworen sie bei den Göttern, erst dann in die Ostlande zurückzukehren, wenn das Unrecht an ihnen gesühnt sei.

Torion, die ihm ergebenen Fardjani und Themuraia hingegen gerieten in die Gewalt von Caras. Der alte Drache forderte, sie endgültig zu vernichten, denn gerächt werden sollte das Drachenblut, das sie vergossen hatten. Doch Caras schreckte davor zurück, seinen eigenen Bruder zu erschlagen, weshalb er ihm und dessen Verbündeten die Freiheit schenkte. Das Schwert Themuron jedoch nahm er an sich.

Nach der Vertreibung der Nauraín brach eine Zeit der Finsternis in den Ostlanden an. Caras, der Verräter, der nun beide heiligen Schwerter in seinem Besitz hatte, schwang sich zum obersten Herrn über alle Völker auf. Er regierte die Welt mit Grausamkeit und Furcht, während der letzte Drache an seiner Seite weilte. Zum Zeichen ihres Bündnisses trug Caras eine Schuppe des Ungeheuers an einer Kette um den Hals und gab seinem Reich den Namen Skardoskoin, Drachenbund.

Torion hingegen zog mit seinen Getreuen weit nach Süden, wo er viele jener götterfürchtigen Menschen um sich scharte, die der gnadenlosen Regentschaft des Drachenbundes entfliehen wollten. Tief im Süden lebten sie im Verborgenen und warteten auf den rechten Moment, um zurückzuschlagen.

Viele Jahrhunderte gingen ins Land, in denen die Nachfahren von Caras das Land mit derselben Härte beherrschten wie ihr Urahn. Nur der Bund mit dem alten Drachen, der sich in eine Höhle in den Bergen zurückgezogen hatte, geriet langsam in Vergessenheit.

Eines Tages zog ein Nachkomme von Caras mit Namen Elban Ikarion aus, um den Hort des Drachen zu plündern, der angeblich mit Gold und Edelsteinen angefüllt war. Was er fand, waren jedoch nicht die erhofften Reichtümer, sondern das einzige Junge des alten Drachen, das dieser im Verborgenen herangezogen hatte. Im Kampf erschlug Elban den Echsenspross und brach damit unbedacht das Bündnis, das zwischen den Menschen und dem Drachen für so lange Zeit bestanden hatte. Der Zorn des Geschuppten über die Ermordung seines Jungen kannte keine Grenzen. Er verwüstete das Land der Menschen und tötete jeden, der nicht rechtzeitig Zuflucht fand. Chaos und Verzweiflung herrschten im Reiche Skardoskoin, denn der Fluch ihres Frevels gegen die Götter traf die Menschen nun mit voller Härte.

Die göttertreuen Fardjani und Menschen im Süden blieben dagegen durch den Schutz der Götter vor dem Zorn der Bestie verschont und sahen nun, da Skardoskoin solchermaßen geschwächt war, die Zeit gekommen, sich aus dem Verborgenen zu erheben und selbst ein Reich zu schaffen. Dies war die Geburtsstunde Citheons, gegründet zu Ehren des allsehenden Cit. Doch nicht nur ihm, sondern auch den anderen drei großen Göttern, Bajula, Kaloqueron und Xelos, sollte gebührende Ehre zuteilwerden. Deshalb wurde in Citheon die geheiligte viergöttliche Kirche ins Leben gerufen. Der höchste Priester des Cit wurde zum Citarim bestimmt und mit der geistigen Führung der Kirche und des göttertreuen Volks betraut.

Nachdem der Drache endgültig in den Bergen verschwunden war, sahen sich die geschwächten Erben des Caras nicht mehr dazu in der Lage, das südliche Reichsgebiet Citheon wieder unter ihre Herrschaft zu zwingen. Erst mussten die Wunden heilen, die der Drache ihrem Land geschlagen hatte. Es folgte eine Zeit des Wiederaufbaus, in der Skardoskoin langsam von Neuem zu erstarken begann. Doch auch das neue Reich Citheon gewann durch die starke Hand der Kirche und seiner götterfürchtigen Könige beständig an Macht. Schließlich wollte Skardoskoin die Ausdehnung Citheons nicht länger hinnehmen und zog in den Krieg gegen die göttertreuen Südländer. Die Nachkommen Torions waren jedoch vorbereitet. Unter der Führung ihres tapferen Königs Noran Karwander stellten sie sich dem alten Feind entgegen. Die Schlacht um die Ostlande hatte begonnen.

aus dem Heiligen Buch der Cit-Priesterschaft, niedergeschrieben im Jahre 200 nach Citheons Gründung

DIE NACHT DER DIEBE

Über Tilet, der Hauptstadt des Reiches Citheon, war die Nacht wie eine dunkle Woge zusammengeschlagen. Ein Vorhang aus dicken schwarzen Wolken hatte die bleichen Strahlen des Mondes verschluckt, sodass auf den unbeleuchteten Straßen auch den verwegensten nächtlichen Streuner die Sorge um seine eigene Sicherheit dazu veranlasste, seine Schritte zu beschleunigen und die Gastlichkeit einer der zahlreichen Herbergen aufzusuchen. Die Bewohner zogen sich in ihre Häuser zurück oder fanden sich in einer nahe liegenden Schenke ein, um sich die Zeit zu vertreiben und die Unbehaglichkeit dieser ungewöhnlich dunklen Nacht auszusperren. So bemerkte auch keiner die beiden geduckten Gestalten, die sich lautlos auf den verlassenen Straßen in Richtung des königlichen Palasts von Tilet bewegten. Doch so unbedeutend diese beiden schattenhaften Gestalten auch scheinen mochten, ihr Vorhaben in dieser Nacht sollte das Schicksal der Bewohner von Tilet und weiter Teile des Landes grundlegend beeinflussen. Diese rabenschwarze Nacht sollte die Nacht der Diebe werden, denn die beiden Schatten gedachten, den größten Raub in der Geschichte Tilets zu begehen.

Im Gegensatz zu seinem eher betagt wirkenden Gefährten bewegte sich der kleinere der beiden ebenso flink wie gewandt. So hatte er seinen größeren Begleiter bereits ein Stück weit hinter sich gelassen, als er nur einen Steinwurf entfernt vom Palast unversehens haltmachte, um vorsichtig um ein Häusereck in eine kleine, schmuddelige Gasse zu spähen.

Als sein Komplize endlich aufgeholt hatte, zischte der Kleinere aufgeregt: „Dahinten hab ich was gehört, Barat!“ Er deutete in die Schwärze der Seitengasse.

„Das wird nur eine Ratte gewesen sein“, entgegnete der Größere beruhigend und ein wenig außer Atem. „Kein Grund zur Aufregung. Aber leise jetzt, dort vorne ist schon die Palastmauer zu sehen.“

Der flinkere der beiden, der auf den Namen Rai hörte, war gerade erst fünfzehn geworden. Er hatte von Kindesbeinen an auf der Straße gelebt und als Bettler, Akrobat oder Gaukler sein Brot verdient. Nur ein einziges Mal in seinem bisherigen Leben war er als Küchenjunge bei einer wohlhabenden Familie angestellt gewesen, doch hatte er das Herrenhaus wegen seiner angeblichen Unehrlichkeit schon bald wieder verlassen müssen. Inzwischen war er dazu übergegangen, die Dieberei zu seinem Haupterwerb zu machen. Den älteren Barat hatte Rai in einer kleinen Spelunke im südlichen Tilet kennengelernt: Der zottelige Alte forderte ihn mit verschlagen blitzenden Augen zu einem Würfelspiel heraus. Rai ging im Vertrauen auf sein Würfelglück auf das Angebot ein – und erlebte eine böse Überraschung. Denn entweder hatte der Fremde die Glücksgöttin zur Verbündeten, oder er war einfach ein geschickter Falschspieler. Am Ende gehörte Rai nicht einmal mehr das Hemd, das er am Leib trug. Der junge Tileter konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie dies hatte geschehen können, und versuchte deshalb, den Alten anschließend in ein Gespräch zu verwickeln. Dabei fand er heraus, dass dieser sonderbare Mensch seine Jugend ähnlich verbracht hatte wie Rai selbst, nämlich auf der Straße. Er hatte von der Hand in den Mund gelebt, sich durch Taschendiebstahl, kleine Betrügereien und Falschspiel das Nötigste zum Leben ergaunert.

Im weiteren Verlauf ihrer Unterhaltung stellte sich Barat schließlich vor, und gleich darauf machte er vollkommen unvorbereitet einen so absurden Vorschlag, dass Rai beinahe vom Stuhl gekippt wäre. Hätte ihm dieser merkwürdige Kauz vorgeschlagen, einen wohlhabenden Händler oder einen reichen Bürger auszunehmen, so hätte Rai wahrscheinlich abgelehnt. Denn die Lust auf derart große Unternehmen war ihm vergangen, seit er bei seiner letzten Verhaftung zu zwanzig Wochen Steineklopfen verurteilt worden war. Aber Barat plante etwas weit Größeres und Gefährlicheres, etwas, das noch nie jemand vorher gewagt hatte. Eben der Gedanke an den unermesslichen Ruhm wirkte bei Rai stärker als die Furcht vor einer harten Bestrafung. Der Reiz der Gefahr war ebenso verlockend wie die Beute, die Barat ihm in Aussicht stellte: Es sollten die Thronschätze aus dem Palast von Tilet sein.

Barat machte ihm tatsächlich den wahnwitzigen Vorschlag, in den Königspalast einzubrechen. Es hatte seinen Grund, warum es bisher noch niemand gewagt hatte, die Thronschätze zu rauben: Der Königspalast wurde von unzähligen Gardisten bewacht, und es gab kein Gebäude in Tilet, das mit dickeren Mauern oder schwereren Schlössern gesichert war. Doch selbst diese Überlegungen verblassten rasch wieder in Rais Kopf in Anbetracht des zu erwartenden Ruhmes. So willigte er schließlich ein.

Was Rai jedoch nicht wusste, war, dass er und Barat sich nicht zufällig in der Spelunke getroffen hatten, sondern dass Barat ihn sorgfältig für seinen Plan ausgewählt hatte. Aufgefallen war Barat der kleine Dieb das erste Mal bei einer harmlosen Straßenrauferei mit zwei anderen Gaunern, deren Zeuge Barat zufällig wurde. Die beiden wollten Rai offensichtlich seine Diebesbeute abnehmen, ein empört gackerndes und mit den Flügeln schlagendes Huhn, das dieser an den Beinen gepackt hielt. Obwohl seine Gegner in der Überzahl waren, gelang es Rai, die beiden auszutricksen, um sich samt Huhn mit einem beherzten Sprung durch ein offenes Fenster ins Innere eines Hauses zu retten. Begleitet von dem Gezeter der Bewohner, tauchte er bald darauf auf dem Dach desselben Gebäudes wieder auf und machte sich dann von Dach zu Dach springend davon. Seit jenem Tag folgte Barat ihm auf seinen Beutezügen durch die Stadt und studierte seine Gerissenheit und Körperbeherrschung. Schließlich war er überzeugt, dass er in Rai genau den Richtigen für den Einbruch in den Palast gefunden hatte. Und so kam es dann zu jener scheinbar zufälligen Begegnung beim Würfelspiel.

Barat hatte das Wagnis, die Thronschätze zu stehlen, natürlich weit besser bedacht als Rai. Er hatte behutsam sowohl die möglichen Folgen eines Erfolgs als auch die eines Scheiterns abgewogen. Dabei war er zu dem Schluss gekommen, dass im Falle eines Misserfolges in erster Linie Rai die Folgen zu tragen hätte. Schließlich wäre es der Junge, der den gefährlichen Einstieg in den Palast wagen würde, und daher wäre er auch derjenige, den die Wachen ergreifen würden, falls der Plan misslang. Bei einem Erfolg war Barat jedoch durchaus bereit, wie vereinbart mit Rai zu teilen. Denn die Reichtümer, die sie erbeuten würden, wären mehr, als beide in ihrem ganzen Leben auszugeben vermochten.

Die Idee zu seinem „Meisterstück der Diebeskunst“ war Barat vor etwas mehr als einem Jahr gekommen, als er noch in der Palastküche als Tellerwäscher gearbeitet hatte. Dabei bekam er ausführlich Gelegenheit, die Gänge, Gemächer und Kammern des Palastes zu erforschen und auch einige der Reichtümer in Augenschein zu nehmen. Unter anderem wegen dieser neugierigen Aktivitäten und der Vernachlässigung seiner Pflichten setzte man ihn recht bald vor die Tür. Zutiefst in seinem Stolz verletzt, beschloss er, auf eine Art und Weise Rache zu nehmen, die dem Königshaus schaden und ihm selbst gleichzeitig Profit bringen sollte. So brütete sein Verstand jenen Plan aus, den er heute endlich zu verwirklichen gedachte.

Die Finsternis, die in dieser Nacht über Tilet hereingebrochen war, schien Barat und Rai wie für ihren Plan geschaffen, und so hatten sie sich zu der Gasse in der Nähe des Palastes geschlichen, von der sie einen letzten vorsichtigen Blick auf ihr Ziel riskierten.

Vor ihnen war der gewaltige Palast zu sehen, der im Widerschein der Fackeln von einem zuckenden Leben erfüllt zu sein schien. Die Fackeln, die dieses unruhige Lichterspiel hervorriefen, waren an der oberen Kante der etwa zwei Mann hohen Mauer in regelmäßigen Abständen befestigt. Die Wehrmauer lief in einem weiten Rechteck um den gesamten Palast. Die Front des Hauptgebäudes wies nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen, und lag exakt im Zentrum des Anwesens. Mit seinen Nebengebäuden erstreckte sich der ganze Komplex über beinahe die gesamte Breite des von der Mauer umschlossenen Geländes. Der Rest des Grundstücks bestand aus Gärten und Parkanlagen. Kürzlich war auf der Südseite noch ein wuchtiges Wachhaus errichtet worden. Dort hatten nun das ganze Jahr über hundertzwanzig Gardisten ihr festes Quartier, wodurch der Palast zu einer Festung wurde, die nur von einer starken Armee zu bezwingen war – oder von zwei waghalsigen Verrückten, denen Ruhm und Gold mehr wert waren als ihr eigenes Leben.

Rai nickte Barat auffordernd zu. „Dann geht’s los, oder?“

Doch sein älterer Komplize wirkte unschlüssig. Beschwörend legte Barat die Hand auf Rais Schulter. „Bist du dir auch sicher, dass du das schaffst? Lass mich nicht bereuen, dass ich einen unerfahrenen Straßengauner für dieses komplizierte Unterfangen angeheuert habe.“

„Ich bin nicht unerfahren“, fauchte Rai zurück. „Und du musst überhaupt nichts bereuen – ich krieg das schon hin.“

Barat nickte und musste innerlich über den Stolz seines jungen Gefährten schmunzeln. „Ist ja gut, ich glaube dir. Also, dann los!“

Trotz der Dunkelheit schlichen die beiden vorsichtig von einer Hauswand zur nächsten, bis sie nur noch wenige Meter von dem Hintereingang des Parks im Westen entfernt waren. Geduckt verharrten sie dort einen Moment im Schutze der letzten Häuserzeile, ohne dass sie von den beiden schläfrig an der Außenmauer neben dem Tor lehnenden Wachen bemerkt wurden. Im Gegensatz zum Vordereingang des Palasts taten hier nur wenige Gardisten Dienst, da lediglich ein mannshoher, von einer Eisentür verschlossener Mauerdurchgang zu bewachen war. Kein Angreifer würde auf die Idee kommen, durch dieses Tor in das Palastgelände einzudringen. Zum einen war der Eingang von innen gut durch wenige Gardisten zu verteidigen, zum anderen glich der hintere Teil des Parks einem Urwald, in dem sich ein geschlossener Angriff auf den Palast nicht führen ließe. Doch so uneinnehmbar der Palast auch für eine Armee scheinen mochte, er war nicht gewappnet gegen das Eindringen von einem Einzigen, dessen Schild die Dunkelheit und dessen Waffen Geschick und Wagemut waren.

Zunächst mussten allerdings die beiden Wachen vor dem Eingang aus dem Weg geräumt werden. Gelassen holte Barat eine lange, dünne Röhre aus seinem Mantel hervor. Er steckte einen kleinen, fein gefiederten Pfeil hinein und überprüfte sorgfältig, ob er korrekt saß. Dann führte er das Rohr an die Lippen, zielte und schoss den Pfeil durch einen kräftigen Atemstoß auf einen der beiden Wachposten. Als der Gardist nach kurzem Taumeln zu Boden ging, war nichts weiter zu hören als ein dumpfes Scheppern seiner Rüstung. Dem zweiten Posten blieb nicht einmal genügend Zeit festzustellen, wodurch sein Gefährte niedergestreckt worden war, als auch er, von einem der kleinen Pfeile getroffen, über der anderen Wache zusammensank.

Nun musste alles sehr rasch gehen. Hintereinander liefen Rai und Barat geduckt zu dem Eingangstor, vor dem die beiden Wachen lagen. Barat stellte sich mit dem Rücken zur Wand, um Rai die Überquerung der Mauer zu ermöglichen. Von den kräftigen Schultern des alten Mannes aus war es für Rai kein Problem, den oberen Rand der Mauer zu erreichen. Ausgerüstet mit nicht mehr als einem kleinen Lederrucksack, zog er sich mühelos nach oben und glitt auf der anderen Seite der Mauer hinab.

Nachdem Rai verschwunden war, sah sich Barat prüfend um, lauschte einige Zeit dem leisen Schnarchen der Wachen und verbarg dann das Blasrohr wieder sorgfältig in seiner Manteltasche. Behutsam suchte er die Körper der Gardisten nach den Pfeilen ab, die, mit einem seltenen Pflanzensaft aus den südlichen Wäldern benetzt, den sanften Schlaf der Wachposten verursacht hatten. Nur dank Barats guter Beziehungen zu einigen Tileter Händlern hatten seine Ersparnisse ausgereicht, um dieses verbotene Gift zu erstehen. Indes hatte es sich als lohnende Investition erwiesen.

Nach dem Entfernen der Pfeile verschwanden auch diese rasch in seiner Tasche. Aus einem anderen Beutel, den er bei sich trug, zauberte er nun einen großen Krug hervor und stellte ihn neben sich auf die Erde. Dann setzte er die beiden Wachen Rücken an Rücken vor das Tor, sodass sie nicht umfallen konnten. Nachdem er aus dem großen Tonkrug etwas von der Flüssigkeit, die sich darin befand, auf das Kinn und auf die Rüstungen der beiden geträufelt hatte, stellte er den Krug neben sie. Zufrieden mit dem Bild, das sich ihm nun bot, verharrte er noch einmal für einen Moment, um sich umzusehen. Als er sicher war, dass ihn keiner beobachtete, machte er sich ohne Eile auf den Weg in Richtung Haupttor des Palastes.

Dort angelangt, schritt er zielstrebig auf eine der zahlreichen Wachen zu, wobei er schon aus einiger Entfernung zu sprechen begann: „Ich bin untröstlich, etwas von Ihrer kostbaren Zeit zu rauben, aber als königstreuer Bürger erachte ich es als meine Pflicht, Euch über einen gewissen Missstand in Kenntnis zu setzen.“ Barat hatte inzwischen den Gardisten erreicht.

Dieser sah allerdings ziemlich missmutig und wenig interessiert aus. „Nun, und was willst du so Wichtiges berichten, dass du mich von der Arbeit abhältst?“

„Wissen Sie, ich bin Weinhändler …“

Der Gardist blickte ihn stirnrunzelnd an.

„… und habe ein Geschäft ein paar Straßen von hier. Nun wollte es das Schicksal – und bei den Göttern, ihr müsst wissen, das Schicksal war mir nicht immer gnädig –, dass einige Häuser weiter ein Kaufmann sich entschied, ebenso wie ich mit dem Rebensaft Handel zu treiben.“

„Wenn du nicht bald zum Punkt kommst, lasse ich dich wegen nächtlicher Ruhestörung auspeitschen!“, rief der Gardist verärgert. Auch andere Wachen waren inzwischen hinzugekommen, und Barat wurde bedrohlich von ihnen umringt.

Barat hingegen spielte seine Rolle mit wachsender Begeisterung und entgegnete in beleidigtem Tonfall: „Gut, wenn Ihr einer möglichen Gefahr für die königliche Familie nicht Euer Interesse schenken wollt, werde ich gehen.“

Die Soldaten drängten sich um Barat herum, und alle redeten durcheinander. Einige liefen eilig davon, um den Kommandanten zu holen.

„So habt doch Geduld“, beendete Barat das Durcheinander, „und lasst mich weitererzählen. Also, jener besagte Weinhändler machte kein gutes Geschäft, da meine Weine den Leuten besser mundeten als sein Gesöff. Dennoch konnte er sich lange halten, und das wunderte mich sehr, wo er doch weit weniger verkaufte als ich. So nahm ich mir ein Herz und beobachtete den Schurken – denn so muss man ihn nennen, wenn man weiß, was er getan hat. Viele Male verlor ich ihn in den Straßen der Stadt, doch heute Nacht gelang es mir, ihn bis zum Ziel seines schändlichen Treibens zu verfolgen. Glaubt es oder nicht, er hat tatsächlich aus reiner Profitgier seinen Wein an die tapferen und wachsamen Beschützer unserer Stadt verkauft – an Eure Kameraden!“ Barat blickte eindringlich in die Runde. „Ein Gesöff, von dem selbst der stärkste Krieger nicht mehr als ein Glas trinken kann, ohne dass er meint, der Schädel müsse ihm zerspringen! Und das hat er tatsächlich an die verkauft – Cit möge ihnen verzeihen – die in so einer Nacht am wenigsten der Verlockung widerstehen können, sich die Kehlen mit einem guten Tropfen zu befeuchten, wenn er ihnen geboten wird.“

Die Gardisten um ihn herum schwiegen schuldbewusst, während der Kommandant, der in der Zwischenzeit hinzugetreten war, scharf entgegnete: „Keiner von uns würde auch nur einen Tropfen anrühren. Es ist streng verboten, im Dienst zu trinken, und auch für die Mußestunden erhalten meine Männer nur eine geringe monatliche Zuteilung. Besser du verschwindest jetzt, Alter, bevor ich dich für diese unverschämte Behauptung aufspieße.“

„Ich bitte um Vergebung, aber wie ich bereits erwähnte, verfolgte ich den niederträchtigen Kaufmann bis zum Schluss. Und ich sah ihn verhandeln mit zweien von der Garde am Hintereingang. Er ließ einen Krug bei ihnen, und ich konnte sehen, wie die beiden daraus tranken. Freilich kann ich nicht beschwören, dass die beiden im Dienst waren, noch weiß ich mit Sicherheit, dass sich Wein in dem Krug befand. Ich weiß nur, dass dort jetzt keine Wache mehr an der Tür steht … sondern eher – wie soll ich sagen – liegt.“

„Was?“, brüllte der Kommandant, dessen Haupt so rot angelaufen war, als wolle es mit den Fackeln an der Palastmauer um die Wette glühen. Dies belustigte Barat so sehr, dass er, während der Befehlshaber weiterbrüllte, ganz im Gegensatz zu den übrigen Soldaten um ihn herum nur mühsam ein Lachen unterdrücken konnte.

„Hauptmann! Wer tut hinten Dienst?“

Etwas eingeschüchtert beeilte sich der Hauptmann, seinem Vorgesetzten zu antworten: „Die beiden Neuen aus dem Norden. Bergulf und Lavas heißen sie, glaub ich.“

„Auf die aus dem Norden war noch nie Verlass“, knurrte der Kommandant, der selbst von den Inseln im Südosten kam. „Ihr fünf folgt mir, der Rest bleibt hier und hält Wache. Und du, Weinhändler, kommst auch mit, und wehe dir, wenn du gelogen hast!“

Im Laufschritt trabten die sechs Gardisten mit Barat im Gefolge zur hinteren Palastmauer, wo Bergulf und Lavas noch immer Rücken an Rücken friedlich vor dem Eingangstor schlummerten. Sofort überprüfte der Kommandant den Krug und stellte fest, dass er billigen Wein enthielt.

„Bringt mir eiskaltes Wasser. Ich werde diese beiden Säufer schon wieder wach bekommen“, grollte er.

Wenig später spritzte den beiden schlafenden Gardisten aus zwei großen Holzkübeln ein Schwall eisig kalten Wassers über die auf die Brust gesunkenen Häupter, was sie wieder halbwegs zu sich kommen ließ. Unsicher versuchten sie, sich aufzurichten, und fragten erstaunt, was passiert sei und warum sie so nass wären. Das anschließende Gewitter von Beschimpfungen, das über die beiden hereinbrach, hielt alle Umstehenden so sehr in Atem, dass Barat Gelegenheit hatte, unbemerkt zu verschwinden.

Sein Plan hatte perfekt funktioniert. Durch das Betäubungsmittel, mit dem die Pfeilspitzen benetzt gewesen waren, konnten sich die Gardisten an die Stunden vor ihrem unfreiwilligen Nickerchen nicht mehr erinnern. Sie würden wahrscheinlich selbst glauben, zu viel getrunken zu haben, zumal sie ja sogar nach Wein rochen, nachdem Barat ihre Rüstung und Kleider damit übergossen hatte. Die Wunden, die durch die kleinen Pfeile verursacht worden waren, konnten eher für einen Mückenstich gehalten werden, ließen also keinen Schluss auf den wirklichen Grund ihres Schlafes zu. Was den Kommandanten betraf, so sah er in dem Wein auf jeden Fall die Erklärung für das Einschlafen der beiden Wachen, und da ein solcher Vorfall seiner Karriere nur schaden konnte, würde er die ganze Sache geheim halten. Da keiner vermutete, dass jemand in den Palast gelangt sein könnte, war folglich auch eine Durchsuchung der Gemächer nur eine unnötige Störung der königlichen Familie. Rai blieb somit von den Gardisten unbehelligt. Hätte die normale Wachablösung die schlafenden Bergulf und Lavas entdeckt, hätte sie wahrscheinlich sofort Alarm geschlagen. Dem Kommandanten wäre in diesem Fall nichts anderes übrig geblieben, als die Palastbewohner darüber zu informieren, was natürlich eine Durchsuchung zur Folge gehabt hätte. Weder die Gardisten noch Barat ahnten jedoch, dass Rai nicht der Einzige gewesen war, der sich in dieser Nacht unerlaubt Zutritt zum Palast von Tilet verschafft hatte.

Nachdem Rai sich im dichten Gestrüpp des hinteren Parkabschnitts mehrmals verlaufen hatte, lag vor ihm jetzt eine kleine Seitentür, die normalerweise von Angestellten benutzt wurde. Sie führte direkt in die Palastküche, in die sich um diese nächtliche Stunde normalerweise kein Bediensteter mehr verirrte. Nach einem weiteren vorsichtigen Blick über die Schulter zog Rai einen großen dunklen Schlüssel hervor, den Barat zu der Zeit, als er noch im Palast arbeitete, unerlaubterweise in seinen Besitz gebracht hatte. Rai wischte sich die schweißnassen Handflächen an seiner Hose ab, steckte dann den Schlüssel ohne ein Geräusch ins Schloss und drehte ihn um. Mit einem vernehmlichen Klacken war die Tür entriegelt. Als hätten sich die rostigen Angeln der knorrigen Holztür gegen Rai verschworen, gaben sie beim Öffnen ein lautes, nervenzehrendes Quietschen von sich. Rai überschüttete sie daraufhin flüsternd mit einigen seiner derbsten Flüche, was die eisernen Angeln jedoch nicht davon abhielt, ihre geräuschvolle Ohrenfolter fortzusetzen.

Als er es endlich geschafft hatte, die Tür so weit zu öffnen, dass er hindurchschlüpfen konnte, waren seine Nerven aufs Äußerste strapaziert. Vorsichtig ließ er die Tür wieder ins Schloss gleiten, wobei er mit einem gewissen Gefühl des Triumphs registrierte, dass die Angeln ihr Protestgeräusch diesmal unterließen. Hastig schloss er dann wieder ab. Eine nicht versperrte Küchentür würde unter Umständen Verdacht erregen, falls doch noch jemand in die Küche kam, während er bei den Thronschätzen war. Den Schlüssel verstaute er in einer Seitentasche seines Rucksacks.

Er versuchte, sein rasendes Herz möglichst rasch wieder unter Kontrolle zu bringen. Es war ihm, als würde der ganze Raum widerhallen von den dumpfen Schlägen in seiner Brust. Rai ärgerte sich über seine eigene Nervosität, denn eigentlich hatte er sich vorgenommen, gelassen zu bleiben. Schließlich war Gelassenheit die Folge von Erfahrung, und er hielt sich für einen außerordentlich erfahrenen Dieb. Um sich abzulenken, beschloss er, den Raum in Augenschein zu nehmen, in dem er sich befand. An der linken Wand stand bis zur gegenüberliegenden Seite eine lange Reihe von Schränken, die wohl im Wesentlichen Küchenutensilien enthielten. Unterbrochen war diese Front nur durch eine breite Tür, die vermutlich zu den anderen Palastteilen führte. Rai ließ seinen Blick noch über die Tische an der rechten Wand schweifen, wo einige kurios aussehende Geschirre kurz sein Interesse weckten. Doch eine Bewegung, die er im Augenwinkel wahrgenommen hatte, veranlasste ihn, sich blitzschnell zu ducken. Direkt rechts neben Rai erstreckte sich bis zur rechten Außenwand der gewaltige Herd, sozusagen das zentrale Heiligtum der Küche. Von dort war die Bewegung gekommen. Ein etwa ein Schritt hoher Sockel trug eine schwere Metallplatte, auf der gekocht wurde. An der vorderen Seite des aus Ziegeln bestehenden Sockels waren zwei kleine Eisentüren eingelassen. Erst bei näherem Hinsehen entdeckte Rai die Katze, die wie ein dicker Brotlaib auf der Herdplatte ausgebreitet lag und ihn mit mäßigem Interesse beobachtete. Sie war es gewesen, die Rai durch eine ihrer seltenen Bewegungen erschreckt hatte. Einigermaßen beruhigt richtete sich Rai wieder auf und näherte sich dem behäbigen Palastbewohner.

„Du bist zwar auch nicht weniger verwöhnt als die meisten hier, aber ich mag dich trotzdem“, flüsterte Rai. Er kraulte das Tier ein wenig hinter den Ohren.

„Und jetzt sei eine liebe Katze und mach Platz, damit ich in Ruhe die Thronschätze klauen kann.“

Er schob sie mit einigem Kraftaufwand von der noch warmen Kochstelle, woraufhin sie beleidigt davonschlich und durch einen Spalt in der Mauer die Küche verließ.

Der Herd wurde nun einer genaueren Inspektion unterzogen. Etwa anderthalb Schritt über der Kochplatte ragte von der Decke herab ein gemauerter Rauchfang. Die trichterförmige Konstruktion sollte den beim Kochen aufsteigenden Dampf sammeln und durch ein Loch in der Rückwand in den Kamin leiten. Und genau dort wollte Rai hin. Er schwang sich nun behände auf den Herd, erreichte von dort mit einem energischen Sprung die Kante der über ihm liegenden Öffnung zum Kamin und zog sich nach oben.

Gerade als er seine Füße hochgezogen hatte, wurde mit Schwung die Küchentür aufgerissen. Rai stockte der Atem. Sein Herz verweigerte einen Moment das Schlagen. Ein eisiges Prickeln kroch bis zu seinen Füßen hinab. Er konzentrierte sich angestrengt auf etwaige Geräusche, die ihm das Ausmaß der Gefahr verraten würden. Das nun deutlich vernehmbare Tapsen eines einzigen nackten Fußpaares war für Rai ein Indiz dafür, dass dieser Jemand, der ihn so unangenehm überrascht hatte, kaum hinter ihm her sein konnte.

Die Worte, die der barfüßige Störenfried in einem fort vor sich hin murmelte, bestätigten Rais Vermutung: „Mach dies, Kuckie, mach jenes, Kuckie! Kuckie hier, Kuckie da, den lieben langen Tag und jetzt auch noch bei Nacht! Die feine Herrin kann ja nicht schlafen wie normale Menschen um diese Stunde.“

Polternd begann der Unbekannte, unter unablässigem Schimpfen, in irgendeinem Schrank herumzuwühlen. Rais Möglichkeiten zu erspähen, um wen es sich handelte und was er um diese Zeit in der Küche tat, waren sehr begrenzt. Er kauerte wie ein Rollmops in der schmalen Öffnung, die durch die Wand in den Kamin führte. Verzweifelt versuchte er, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und dadurch womöglich entweder zur einen Seite auf die Herdplatte oder zur anderen durch den Kamin in die Feuerstelle zu fallen. Sein einziger Trost, dass ebendort zurzeit kein Feuer brannte, wurde sogleich von Kuckie zunichtegemacht, der sich nämlich daranmachte, genau dort ein Feuer zu entfachen. Heißer, beißender Rauch stieg nun durch den Kamin zu Rai auf. Kuckie setzte einen kleinen Blechtopf mit Milch auf und wartete mit ungeduldig verschränkten Armen, bis sie zu kochen begann. Zu allem Überfluss schien sich seine Laune nun so weit gebessert zu haben, dass er, um die Zeit totzuschlagen, entsetzlich falsch ein altes Kinderlied trällerte. Rai war ernstlich versucht, von der ungemütlichen Kaminöffnung auf den nichts ahnenden Küchenjungen hinabzuspringen und ihm mit dem Feuerholz den Mund zu stopfen. Endlich fing die Milch an zu kochen. Kuckie löschte das Feuer und goss das Getränk in eine Tasse. Mit den Worten „Hoffentlich verbrennt sie sich daran den Mund“ verließ er die Küche und warf mit einem Krachen die Tür hinter sich zu.

Rai atmete tief durch. Er kramte eine der vorbereiteten Fackeln aus seinem Rucksack und kletterte noch einmal hinab zur Feuerstelle, wo er die Fackel an der noch leicht schwelenden Glut im Ofen entzündete. Das ersparte ihm das mühsame Hantieren mit dem Feuerstein. So hatte Kuckies Feuer, durch das Rai beinahe bei lebendigem Leib geröstet worden wäre, doch noch sein Gutes. Nun beeilte er sich, seinen Weg fortzusetzen. Nachdem er sich die brennende Fackel zwischen die Zähne geklemmt hatte und wieder zu der Abzugsöffnung emporgeklettert war, spreizte er sich mit den Füßen fest in den Kamin ein, dessen Seitenwände nur knapp einen Schritt voneinander entfernt waren. So gesichert, arbeitete er sich Stück für Stück nach oben, bis er einen Abschnitt entdeckte, wo die rußige Innenwand des Kamins nicht wie sonst aus festgefügtem Mauerwerk bestand, sondern nur aus lose übereinandergeschichteten Steinen.

Barats Beschreibung war auch hier bis ins Detail genau gewesen: „Drei Meter über dem Dunstabzug ist vor einigen Jahren ein Teil der Kaminmauer bei einem leichten Erdbeben herausgebrochen“, hatte er gesagt. „Dort wurde das Mauerwerk nur notdürftig ersetzt. Es müsste für dich ein Leichtes sein, da durchzukommen. Du musst die Steine wegschaffen und erreichst dann eine Holztäfelung. Die Brettchen der Täfelung sind dann das einzige Hindernis, das dich noch von den größten Reichtümern des Südens trennt.“

Konzentriert machte sich Rai daran, die Steine in seinen Lederrucksack zu packen. Schwer beladen, ließ er sich fast bis zur Feuerstelle hinabgleiten und lud dort seine Last beinahe geräuschlos ab. Nachdem er das schweißtreibende Auf- und Absteigen im Kamin fast ein Dutzend Mal wiederholt hatte, war ein Loch entstanden, groß genug, um ihm das Durchsteigen zu ermöglichen. Wie von Barat angekündigt, lag hinter der Öffnung noch eine Holztäfelung, die es nun zu durchschlagen galt. Rai stützte sich mit beiden Händen im Kamin ab, sicherte sich mit dem linken Fuß und trat mit dem freien rechten, so kräftig er konnte, gegen die Täfelung. Mit einem Ächzen gab diese nach. Erschrocken über dieses unerwartet laute Geräusch, lauschte er einen Moment angestrengt auf eine mögliche Reaktion im dahinterliegenden Raum. Als er nach einer Weile immer noch keine beunruhigende Regung wahrnehmen konnte, machte er sich mit weiteren Tritten daran, das entstandene Loch zu vergrößern. Als die Öffnung endlich groß genug war, kehrte unvermittelt seine anfängliche Aufregung wieder zurück.

Vorsichtig steckte er seinen Kopf durch den Spalt und versuchte, bei dem sich ihm bietenden Anblick nicht den Verstand zu verlieren. Staunend richtete er sich auf, vergaß dabei allerdings, dass er noch immer nur mit seinem Kopf durch das Loch geschlüpft war. So kam, was kommen musste: Sein Schädel schlug mit einem dumpfen Krachen gegen die gesplitterten Bretter über ihm, er verlor das Gleichgewicht und kippte vornüber in die Schatzkammer des Palastes. Seine Fackel rollte ein Stück von ihm weg, erlosch aber glücklicherweise nicht.

Er blieb eine Weile liegen, ehe sich seine Sinne wieder ordnen ließen. Beinahe erwartete er, dass ihn ein bewaffneter Trupp Gardisten in Empfang nehmen würde, doch keiner schien sein ungestümes Eindringen in die Schatzkammer bemerkt zu haben. Als er sich aufrichtete und seinen Blick schweifen ließ, glaubte er im ersten Augenblick, in den nächtlichen Sternenhimmel zu blicken mit seinen unzähligen glitzernden Lichtern. In Wahrheit war es jedoch der Schein seiner am Boden liegenden Fackel, der tausendfach zurückgeworfen wurde von den unfassbaren Schätzen, die hier verstreut lagen wie Kiesel an einem Fluss.

Rai hob seine Fackel auf und begann, wie im Traum zwischen den Reichtümern umherzuwandeln. Aufwendig gearbeitete Truhen säumten die mit wertvollen Teppichen behängten Wände, und fast achtlos, so schien es Rai, hatte man unbezahlbare Kostbarkeiten auf dem Boden gestapelt: Elfenbeinschnitzereien aus Etecrar, Perlenketten aus Telechja, die aus Korallen geschnitzten Miniaturschiffchen der südlichen Inseln, Vasen der nordischen Meister und vieles mehr aus den geplünderten Nordprovinzen. Auf roten Samtkissen waren glanzvolle Schmuckstücke gebettet, von denen Rai sich weniger wegen ihrer Schönheit als vielmehr aufgrund ihres Wertes kaum noch abwenden wollte. Die vielen Juwelen in ihren kunstvollen Fassungen sahen aus wie kleine Flammen, die zu feurigem Eis erstarrt waren. In der Mitte des Raumes trug ein besonders schön gearbeiteter Sockel aus dunklem Marmor das Kernstück der Prunkkammer: die Sonnenkrone des alten Südreichs. Viele Sagen und Legenden rankten sich darum, und wie kein anderer Teil des Schatzes symbolisierte sie die Macht und Erhabenheit des Herrschers von Citheon.

Direkt neben der Krone, auf einem weiteren, etwas niedrigeren Marmorsockel, lag ein Schwert, das Rai unvermittelt in seinen Bann schlug. Die schlichte Schönheit der Waffe ließ ihn für einen Moment die prunkvolle Krone vergessen. Die Klinge war aus einem seltsamen dunklen Metall gearbeitet. Sie war ungewöhnlich lang und vollkommen glatt, als wäre sie gerade erst geschmiedet worden. Doch Rai fühlte instinktiv, dass dieses Schwert uralt sein musste und die Klinge eine bedeutsame Geschichte in sich barg.

Gerne hätte er das Schwert noch länger betrachtet, doch Rai wusste, wie sehr die Zeit drängte. Er zwang sich, seine Augen von der geheimnisvollen Waffe abzuwenden, und widmete seine Aufmerksamkeit einer nahe stehenden Truhe, in der sich, wie er hoffte, Goldmünzen befanden. Mit dem mitgebrachten Brecheisen war es ein Leichtes, das Schloss der Truhe zu knacken. Tatsächlich befanden sich im Inneren Tausende von dicken, runden, glänzenden Goldmünzen, von denen eine reichen würde, um Rai ein ganzes Jahr satt zu machen. Es bedurfte seiner gesamten Selbstbeherrschung, um nicht in lauten Jubel auszubrechen. Er leerte seinen Rucksack aus und begann, mit den Händen die Münzen hineinzupacken. Er fing bereits an, sich sein zukünftiges Leben in Überfluss und Reichtum auszumalen, doch schon im nächsten Augenblick sollte sich dieser Traum in einen Albtraum verwandeln.

Mit einer ohrenbetäubenden Explosion wurde die große Flügeltür, der einzige Eingang in die Schatzkammer, aus den Angeln gesprengt. Die eine Hälfte der Tür drehte sich einmal um ihre Achse, um dann ins Innere der Schatzkammer zu kippen, die andere segelte ein Stück weit durch den Raum, prallte mit einem dumpfen Knall auf und schlitterte über den Mosaikboden zur gegenüberliegenden Wand. Rai beobachtete die Tür, wie sie an ihm vorbeirutschte, und das Einzige, was er empfinden konnte, war Wut darüber, dass ihm jemand seinen schönen Traum mit solcher Grobheit zerstörte. Es hätte Rai in keinster Weise verwundert, wenn nun ein Feuer spuckender Drache mit drei Köpfen durch das Loch, das gerade eben noch eine Tür gewesen war, gekrochen wäre. Stattdessen erkannte er durch den Dunst der Explosion eine unscheinbare Gestalt, kleiner als er selbst und völlig verhüllt von einer schwarzen Kutte. Rai versagten die Knie, und er war unfähig zu reagieren. Seine Fackel glitt auf den Boden. Noch nie zuvor hatte er einen Gegenstand, für den es zum Anheben bestimmt zehn kräftiger Männer bedurfte, wie ein Blatt durch die Luft segeln sehen. Es war ihm unverständlich, wie dieser schmächtige schwarze Kerl dies bewerkstelligt hatte.

Doch der gab ihm keine Gelegenheit, sich weiter zu wundern, denn er kam direkt auf ihn zu. Dies löste bei Rai eine gewisse Panikreaktion aus, die ihm auf der Straße schon oftmals das Leben gerettet hatte. Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier ging er zum Gegenangriff über. Ohne weiter nachzudenken, rappelte Rai sich auf und packte das Schwert, das hinter ihm auf dem Sockel ruhte.

„Lass mich in Ruhe, Schwarzmantel, oder ich schlitze dir deine verdammte Kutte in zwei Hälften!“

Bedrohlich fuchtelte er mit dem Schwert vor sich herum, wobei er einen kleinen Schritt vortrat. Zu seiner größten Verwunderung wich das schwarz gekleidete Wesen lautlos zurück. Beflügelt von diesem Erfolg rückte Rai noch einige Schritte weiter vor. Mit einem Mal waren laute, militärische Schreie zu hören. Am Eingang tauchten zwei Wachen auf, von denen eine ein Schwert und eine Fackel trug, die andere eine gespannte Armbrust.

„Keiner rührt sich, oder ich nagle euch mit der Armbrust an die Wand“, bellte der eine Mann.

Fassungslos blickte Rai zuerst auf die Wachen, dann auf sein Gegenüber. In dessen Hand blinkte unversehens etwas Metallisches auf. Die kleine Gestalt fuhr herum, duckte sich und schleuderte den Gegenstand in ihrer Hand auf eine der Wachen, die fast im selben Moment schreiend zusammenbrach. Sofort griff das seltsame Wesen in seine Kutte und zauberte ein kurzes Schwert hervor. Sechs weitere Wachen, mit Fackeln und Armbrüsten bewaffnet, stürmten in die Schatzkammer. Rai stand noch immer unbeteiligt mit seinem Schwert in der Mitte des Raums, während er mit ansah, wie der verhüllte Fremde den Armbrustbolzen auswich, als wären es gemächlich heransummende Bienen. Bevor die Wachen ihre Armbrüste wegwerfen konnten, um zu ihren Schwertern zu greifen, waren schon zwei von der zuckenden Klinge des Fremden niedergestreckt worden.

Rai hatte all das beobachtet, als wäre er nur ein Zuschauer bei einem spannend inszenierten Theaterstück, aber als schließlich einer der vier verbliebenen Soldaten mit gezückter Klinge auf ihn zustürmte, kam endlich wieder Leben in seine erstarrten Glieder. Fast blind vor Angst schlug er auf den Angreifer ein. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis dieser blutend vor ihm auf dem Boden lag. Rai hielt staunend inne. Bereits bei seiner ersten Attacke war die Klinge des Gardisten zerborsten, als wäre sie aus Glas. Die folgenden Schläge hatten fast ausnahmslos schreckliche Wunden bei seinem Gegner gerissen, der sich nur notdürftig mit seinem Schwertstummel verteidigte. Ehrfürchtig starrte Rai einen Augenblick auf die dunkle Waffe in seiner Hand.

Dann wurde ihm bewusst, dass er nun keine Zeit mehr verlieren durfte. Der unheimliche Fremde hielt die anderen Gardisten in Schach, sodass er Rai unbeabsichtigt die Flucht ermöglichte. Der junge Tileter erreichte mit einigen wenigen Schritten das Loch in der Holztäfelung. Im nächsten Augenblick schlitterte er den Kamin hinunter. Er fühlte nicht, wie seine Hände von der rauen Wand aufgerissen wurden. Ohne dabei das Schwert loszulassen, krallte er sich an dem Mauerdurchbruch fest, der in die Küche mündete. Er zog sich hoch, schlüpfte durch die Öffnung und ließ sich auf den Herd fallen. Fassungslos stand er beinahe Auge in Auge mit dem Küchenjungen Kuckie. Dieser empfand wohl mindestens ebenso viel Angst wie Rai, doch der geübte Dieb hatte sich schneller wieder unter Kontrolle.

Er brüllte den Küchenjungen an: „Verschwinde, oder ich mache dich einen Kopf kürzer!“

Mit einem Schrei flüchtete Kuckie aus der Küche. Fluchend verkeilte Rai die Tür mit einem Stuhl. Draußen würde sicherlich bald eine Horde Gardisten auftauchen. Aber er konnte den Palast ja auf dem gleichen Weg verlassen, wie er ihn betreten hatte. Mit Schrecken stellte Rai jedoch fest, dass die Pforte zum Park verschlossen war. Natürlich, er hatte sie ja selbst abgesperrt! Zu allem Überfluss hatte er auch noch seinen Rucksack mit dem Schlüssel in der Schatzkammer vergessen. Nun saß er in der Falle! Er hätte sich ohrfeigen können für diese Nachlässigkeit.

„Denk nach, Rai!“ Verzweifelt versuchte er, die aufsteigende Panik zu bekämpfen. „Es gibt doch noch einen anderen Weg hier raus. Was hat Barat noch mal gesagt?“

Ein lautes Poltern an der Tür unterbrach jäh seine gehetzten Gedanken.

„Hier ist die Palastwache, sofort aufmachen, oder wir treten die Tür ein!“

Fieberhaft versuchte Rai, sich an Barats Fluchtplan zu erinnern. In seinem Kopf schienen alle Gedanken vollkommen durcheinandergewürfelt zu sein. Wie war das noch? Wo war die Öffnung?

Schließlich gab die stabile Küchentür dem Ansturm der Gardisten mit einem Ächzen nach. Die Palastwachen stürmten in die Küche und durchsuchten jeden Winkel, doch von einem Eindringling fand sich keine Spur.

„Bringt mir diesen verdammten Küchenjungen“, schrie der Anführer. „Ich werde ihm die Hammelbeine lang ziehen, diesem hysterischen Wicht. Der ganze Palast steht Kopf, und er holt uns wegen eines Hirngespinsts in die Küche.“

„Aber irgendwer muss doch die Tür von innen verriegelt haben!“, entgegnete einer der Gardisten.

„Dann hat diesen Jemand wohl der Erdboden verschluckt, wie? Und jetzt bringt mir den dreimal verfluchten Küchenjungen!“

Der Anführer konnte nicht ahnen, wie nahe er der Wahrheit mit seiner Vermutung gekommen war. Die Palastküche verfügte nämlich über eine Besonderheit, wie Barat Rai erzählt hatte. Nicht nur der Waschzuber der Küche verfügte über einen Abfluss zur Kanalisation von Tilet – eine Einrichtung, die im ganzen Reich einzigartig war –, sondern auch im Boden war ein solcher Ablauf eingelassen. Dies erleichterte die Reinigung des Küchenbodens ungemein, da der meiste Unrat ohne großen Aufwand mit ein wenig Wasser in die Kanalisation gespült werden konnte. Und genau diesen Weg hatte auch Rai genommen.

Dabei hatte er diese ungewöhnliche Fluchtmöglichkeit durchaus nicht zufällig entdeckt, denn es war nach Barats Plan der Weg, den Rai mit dem geraubten Gold hätte nehmen sollen. Barat hatte Rai unter anderem auch aus diesem Grund für den Raub der Thronschätze ausgewählt, denn nur ein wirklich kleiner und schmächtiger Mensch konnte das glitschige Rohr des Ablaufs als Weg in die Freiheit nutzen.

Rai fühlte sich momentan allerdings alles andere als erfolgreich. Er lag in einer bestialisch stinkenden Brühe von menschlichem Unrat, um ihn herum nur undurchdringliche Schwärze. Zu allem Überfluss hatte er das Schwert bei seiner Rutschpartie durch das Abwasserrohr verloren. Fluchend begann er, in der widerwärtigen Flüssigkeit nach der Klinge zu fischen, und zu seinem Erstaunen gelang es ihm unerwartet schnell, das glatte Metall des Schwertes zu ertasten. Etwas zu beschwingt richtete er sich auf, sodass er sich den Kopf schmerzhaft an der niedrigen Decke stieß. Mit einem unterdrückten Schrei sank er wieder auf die Knie.

Alles hatte sich heute gegen ihn verschworen. Er biss sich auf die Unterlippe, während er einen Augenblick überlegte, ob er nun heulen oder sich übergeben sollte.

‚Du bist ein Versager, Junge, ein Tunichtgut. Und dazu dumm, wie die Welt flach ist.‘ Diese vernichtenden Worte fielen Rai stets dann ein, wenn er sich selbst ohnehin schon leidtat. Gesprochen hatte sie sein ehemaliger Herr, Kaster Tjolmar, Aufseher der Knechte im Hause Scherwingen, der selbst nicht eben gescheit und obendrein noch ziemlich brutal gewesen war. Rai hatte dort vor einigen Jahren als Küchenjunge angefangen, aber das Dienstverhältnis währte nicht lange. Jeremia Scherwingen war Besitzer eines der größten Handelshäuser von Tilet, und es hatte Rai durchaus mit einem gewissen Stolz erfüllt, für solch eine einflussreiche Familie zu arbeiten. Doch das war ein anderes Leben gewesen.

Vorsichtig betastete er seinen Kopf, wo er zu seiner Erleichterung keine offene Wunde entdeckte, sondern sich nur eine unangenehm schmerzende Beule zu wölben begann. Schließlich beschloss er, mit seinem Selbstmitleid aufzuhören, denn alles in allem betrachtet könnte es jetzt auch wesentlich schlechter für ihn stehen. Das Bild von groben Gardisten, die ihn in einen düsteren Steinbruch schleiften, begann sich vor seinem inneren Auge abzuzeichnen. Er schüttelte energisch den Kopf und machte sich entschlossen daran, einen Weg aus diesem fauligen Labyrinth zu finden. In der völligen Finsternis war eine Orientierung praktisch unmöglich. Rai konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, ein gigantisches Wesen habe ihn verschluckt, dessen übelriechender Magensaft nun unter ihm dahinpulsierte. So weit hergeholt war diese Vorstellung auch nicht, dachte er bei sich, denn schließlich befand er sich sozusagen tatsächlich in den Gedärmen Tilets.

Nachdem er eine Weile gezögert hatte, steckte er seine Hand erneut in die zäh dahinfließende Brühe zu seinen Füßen, um die Strömungsrichtung festzustellen. Er hoffte, damit herauszufinden, in welcher Richtung das Meer, also der Ausgang der Kanalisation lag. Schließlich entschied er sich für eine Richtung und tappte unsicher los, wobei er mit der Rechten das schwarze Schwert fest umklammert hielt. Es war schließlich das Einzige, was er erbeutet hatte. Wenn alles gut ging, würde Barat an der Küste, wo die Kanalisation ihr unangenehmes Inneres ins Meer entleerte, mit einem Boot warten oder ihm bereits zu Fuß entgegenkommen. Sein Komplize würde nicht erfreut sein über den Lohn für ihre Mühen, denn ein altes Schwert war sicherlich nicht das, was er sich erhofft hatte. Doch Rai war im Moment so froh darüber, noch frei und am Leben zu sein, dass er Barats Enttäuschung gern in Kauf nehmen wollte. Allerdings musste er damit rechnen, dass Barat ihn einfach in der Kanalisation zurückließ, wenn er die erhoffte Beute nicht erhielt. Rai hatte keine Ahnung, was er dann anfangen sollte, denn die Planung ihrer Flucht hatte er ganz und gar seinem älteren Komplizen überlassen. Er konnte nur darauf bauen, dass Barat in Anbetracht der Umstände nachsichtig war.

DER RAT VON SEEWAITH

Viele Hundert Meilen nordwärts auf der Halbinsel Fendland kündigte der erste milde Frühlingstag endlich den Rückzug des Winters an. Die versöhnlichen Strahlen der Sonne hatten die Bewohner der Hafenstadt Seewaith im Nordwesten der Halbinsel frühzeitig erwachen lassen. Schon kurz nach Sonnenaufgang waren die noch schlammigen Straßen, auf denen den gesamten eisigen Winter hindurch kaum ein lebendiges Wesen zu sehen gewesen war, mit emsigem Leben erfüllt. Obwohl von Frost und Kälte gezeichnet, wirkten die Menschen so froh, dass man den Eindruck gewinnen konnte, sie hätten den vergangenen Winter bereits vergessen. Es wurde gefeilscht und gestritten, Waren wechselten den Besitzer, man hämmerte und sägte, Dächer, Fenster und Wände wurden abgedichtet und instand gesetzt, kurz, das Leben schien wie jedes Frühjahr in die Stadt zurückzukehren. Doch dieser erste Eindruck trog, denn kein Winter ging spurlos vorüber, und dieses Jahr hatte die kältesten Frostperioden und längsten Schneegestöber des ganzen Jahrhunderts gebracht. Dies bewiesen nicht nur die Schäden, welche der grimme Frost an Pflastersteinen und Hauswänden hinterlassen hatte, sondern auch die blassen Kinder mit eingefallenen Wangen, die nun zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in den Gassen spielten. Manche lagen auch noch fiebrig zu Hause, falls es etwas gab, das sie Zuhause nennen konnten, und gerade in den kleinen Stein- oder Holzhäusern der Altstadt waren viele erfrorene Kinder zu beklagen. Auch unter den Erwachsenen der Stadt hatte der Winter seinen Tribut gefordert, und wie immer war es den Armen besonders schlecht ergangen. Nachdem dieser ungewöhnlich lange und harte Winter nun langsam seine Kraft verlor, kam zudem eine noch schrecklichere Bedrohung als der Frost auf die Stadt zu: der Hunger.

Zu dieser Jahreszeit konnte noch kein Ertrag aus den Feldern, die die Stadt umgaben, erwartet werden. Noch dazu waren beinahe alle Speicher bis auf das letzte Korn entleert. Nur einige reiche Bürger und vereinzelte Großgrundbesitzer mit Gehöften außerhalb Seewaiths hatten noch genügend Vorräte in ihren Privatspeichern gehortet, um ihre Bediensteten zu versorgen und sich selbst auch jetzt noch jenes ausschweifende Leben zu ermöglichen, für das sie zu Recht den Namen „Rundadel“ erhalten hatten. Zu Abgaben an die Armen waren nur sehr wenige bereit, denn dies hätte für sie folglich einen gewissen Verzicht bedeutet.

Die meisten Erträge zur Versorgung der Stadt wurden bislang durch den Fischfang erzielt. Da aber die Boote in Seewaith nach dem Winter in einem erbärmlichen Zustand waren und zusätzlich um diese Jahreszeit auch ständig mit plötzlichen Stürmen und treibenden Eisschollen gerechnet werden musste, konnten die Fischer der See wenig mehr abringen, als was für sie selbst und ihre Familien zum Überleben notwendig war.

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