Vermis: Die vergessene Freiheit - Marie-Luis Rönisch - E-Book

Vermis: Die vergessene Freiheit E-Book

Marie-Luis Rönisch

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Beschreibung

Vor sechs Jahren verlor Dalaria alles – ihre Familie, ihre Heimat und ihre Freiheit. Gefangen hinter den Mauern des Palastes der Primori, besteht ihr einziger Zweck fortan darin, den Mördern ihrer Liebsten zu dienen. Ihre Realität ist grausam, ihre Erinnerungen düster und ein Ausweg nicht in Sicht. Bis der berüchtigte Schakal, gefangen in einem Käfig, ihren Weg kreuzt und Hoffnung in ihr entfacht. Doch genügt der Funken an Überzeugung, den Parlan in ihr weckt, um sich ihrem Schicksal zu stellen? Und ist Dalaria wirklich bereit, ihr Leben und ihr Herz für eine ungewisse Zukunft zu opfern?

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Epilog
Glossar
Danksagung
Die Autorin

 

 

WELTENBAUM VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

11/2023 1. Auflage

 

Vermis – Die vergessene Freiheit

 

© by Marie-Luis Rönisch

© by Weltenbaum Verlag

Egerten Straße 42

79400 Kandern

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Magicalcover

Lektorat: Isabel Dinies

Korrektorat: Jan Fischer

Buchsatz: Giusy Amé

Autorenfoto: Privat

 

 

ISBN 978-3-949640-57-5

 

www.weltenbaumverlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

Marie-Luis Rönisch

 

 

Vermis

Die vergessene Freiheit

 

 

 

Band 1

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltswarnung

Dieses Buch enthält explizite Darstellungen von Gewalt gegenüber Tieren, Kindern und Neugeborenen, Missbrauch, Sklaverei sowie Drogenkonsum.

 

Diese Themen sollen keineswegs verharmlost werden. Sie sind allerdings ein wichtiger Bestandteil für den Verlauf der Geschichte.

Prolog

 

 

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne brachten nicht nur Licht und Wärme in Dalarias Dorf. Heute war der Tag gekommen, an dem die Primori ihren Tribut einfordern und jede Seele zu einem grausamen Schicksal verdammen würden. Eingehüllt in ihren weißen Rüstungen tauchten sie am Horizont auf. Sie genossen den Moment der Überlegenheit. Ihnen war bewusst, dass ihre Gegner nur wenig Widerstand leisten könnten. Jahrelang hatte sich Dalarias Dorf den Gesetzen der Primori widersetzt und ihre Erstgeborenen mit dem Leben beschützt. Doch die Stärke der Kämpfer hatte nachgelassen.

Dalaria sah die weißen Pferde, auf denen die Primori ritten, und die Waffen, deren Gebrauch erahnen ließ, dass sie keine Gefangenen benötigten. Durch die Szene direkt vor ihr, wurde sie unweigerlich mit ihren schlimmsten Albträumen konfrontiert.

»Nimm deine Schwester und geh«, sagte ihre Mutter mit fester Stimme. Sie beugte sich vor und streifte Dalarias Stirn mit ihren Lippen. Für einen innigen Abschiedskuss blieb keine Zeit. Obwohl Dalaria Unbehagen in sich aufsteigen spürte, nickte sie. Schweigsam packte sie die Hand ihrer kleinen Schwester Marla. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, um ihren Vater an vorderster Front zu sehen, und wandte sich dann mit Tränen in den Augen ab. So schnell sie ihre Füße tragen konnten, rannte sie gemeinsam mit den restlichen Kindern des Dorfes in den Wald. All jene, die ihre Gaben ausreichend beherrschten, blieben zum Kämpfen zurück.

Marla war vier Jahre alt und zu jung, um zu verstehen, in welcher Gefahr sie schwebten. Schluchzend taumelte sie hinter Dalaria her, bis sich diese ihre Schwester über die Schulter warf, um genug Abstand zwischen sich und das Dorf zu bringen.

Schreie erklangen im Wald, konnten Dalaria aber nicht zum Innehalten bewegen. Angetrieben von ihrer Angst ignorierte sie sogar die Sträucher und Büsche, die ihr ins Gesicht peitschten, als wollten sie ihre Flucht erschweren. Marla keuchte auf und suchte mit ihren winzigen Fingern an Dalarias Oberteil Halt. Das Ruckeln dieses Hindernislaufes schien Marla zu ängstigen. Lediglich Dalarias fester Griff um ihre Beine ließ sie auf der Schulter verweilen.

»Keine Sorge. Ich lasse dich nicht fallen«, rief sie gehetzt und schnappte eisern nach Luft. Obwohl sie um die Grausamkeit der Primori wussten, lag Hoffnung in den Mienen der anderen Kinder, die ohne kleinere Geschwister wesentlich schneller vorwärtskamen und Dalaria überholten.

Irgendetwas zischte an ihrem Kopf vorbei und brachte sie ins Straucheln. Sie fing sich, duckte sich ins Dickicht und hielt inne, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Unruhig befreite sich Marla und ging vor ihr in die Hocke, das Haar schweißnass, der Rücken leicht gekrümmt. Das kaum hörbare Pfeifen von Pfeilen jagte nicht nur durch Marlas Körper einen Schauder, sondern ließ auch Dalaria erstarren. Ein Wimmern war zu vernehmen, gefolgt von einem quengelnden Schluchzer, der von Marla ausging. Panisch drückte Dalaria ihre Hand auf den Mund ihrer kleinen Schwester, welche die Augen sofort fest zusammenkniff und sich wider Erwarten, nicht wehrte.

Das erste Kind ging zu Boden, drei weitere in Dalarias Nähe folgten diesem Schicksal. Ein Röcheln – dann Stille.

Kaum jemand entkam den Schatten. Das gehörte schon in Kindertagen zu ihrer ersten Lektion und sorgte auch jetzt für ein mulmiges Gefühl in ihrem Magen.

Marla riss ihren Kopf in den Nacken und sah Dalaria an. Tränen liefen über ihre Wangen, benetzten Dalarias Hand, mit der sie ihren Mund weiterhin verschlossen hielt. Sie schmiegte sich enger an ihre Schwester, versuchte, sie zu beruhigen. Einen Schatten überlebte man nur, indem man nahezu unsichtbar wurde. Aber schon der eigene Atem vermochte ihren Feinden ihren Standort zu verraten. Dalaria lugte unter dem Blätterdach hervor und prüfte die Gegend. Von den Serpens fehlte jede Spur, was keinesfalls verwunderlich war, wenn man bedachte, dass sie unbemerkt mordeten.

Sie zog Marla auf ihre Füße, warf sie sich ein weiteres Mal über die Schulter und wagte sich in die Zone des Feindes. Sie hatte kein klares Ziel, als sie durch den Wald rannte. Es gab nur wenige Orte, in denen Frieden herrschte. Die Primori sorgten für genug Elend in dieser Welt.

Dalaria wich einem Baum aus, sprang über eine am Boden liegende Leiche eines Jungen und spürte Augenblicke später, wie sich etwas um ihre Knöchel wickelte. Sie verlor das Gleichgewicht, geriet ins Straucheln und stürzte. Geistesgegenwärtig ließ sie sich auf die Seite fallen. Ihre Rippen ächzten und ein stechender Schmerz kroch in ihren Brustkorb wie eine unausgesprochene Drohung. Sie rollte sich auf den Rücken, hielt Marla schützend an ihren Bauch gepresst und versicherte sich, dass sie nicht verletzt wurde.

Ihre Schwester wimmerte, der Schock war ihr anzusehen und hatte ihr offenbar die Sprache verschlagen. Die Tränen waren einem starren Blick gewichen, der die Gegend nach dem Feind absuchte.

Panisch schob Dalaria ihre Schwester beiseite, während sie versuchte sich, von den Schlingen an ihren Knöcheln zu befreien. Doch diese Seile zogen sich nur fester zusammen, schnitten schmerzhaft in ihr Fleisch und gestalteten eine Flucht unmöglich.

»Was haben wir denn da?« Die Stimme eines Mannes erklang in ihrem Rücken und sie drehte sich zu ihm, um etwas zu erkennen. Marla kreischte vor Schreck als sich ein Schatten zu einer Person manifestierte, deren Finsternis das Tageslicht verschlang. Unnachgiebig riss Dalaria an den Fesseln und ignorierte das dickflüssige Blut, das über ihre Finger floss. Sie glaubte, das verzweifelte Pochen ihres Herzens zu vernehmen, stattdessen erfasste ein Rauschen ihre Ohren. Ein beklemmendes Gefühl überkam sie. Ihr Mut hatte sie verlassen.

»An deiner Stelle würde ich mir eingestehen, dass es vorbei ist und mir weitere Schmerzen ersparen«, schlug der Mann vor und kam näher. Marla schrie noch immer. In ihrer Verzweiflung rief sie nach ihrer Mama und sehnte sich nach einer schützenden Umarmung.

»Bringst du das Balg zum Schweigen oder soll ich das machen?« Er musterte Dalaria und bewegte einen Dolch in seinen Fingern der silbern funkelte – nur an der Spitze und Innenseite der Klinge nicht, dort klebte dunkles Blut.

Dalaria zog Marla hastig in ihre Arme. »Sei jetzt ruhig, alles wird gut, das verspreche ich dir«, sagte sie mit fester Stimme. Ihre Schwester schüttelte den Kopf, vergrub ihr Gesicht in Dalarias Leinenhemd. Sie war vielleicht jung, aber nicht dumm. Ein leises Wimmern war zu vernehmen. Dalaria spürte Marlas warme Tränen durch den Stoff hindurch und strich ihr fürsorglich durch das Haar.

»Vorsicht Mädchen, gib keine Versprechen, die du nicht halten kannst«, meinte der Serpen belustigt. Dann entriss er ihr Marla und hob sie mit Leichtigkeit hoch. Er balancierte ihr Gewicht auf einem Arm, hielt sie fest an seinen Oberkörper gedrückt und streckte seine freie Hand eifrig nach Dalaria aus. Es gab kein Entrinnen. Seine Finger gruben sich in ihr Leinenhemd und zerrten sie zurück auf ihre Füße. Mit einem weiteren Ruck warf er Dalaria über seine Schulter. Sie konnte fühlen, wie Marla ihre Nähe suchte, wie ihre Finger ihren Oberarm streiften. Dalaria mochte sich gar nicht vorstellen, mit welcher Furcht ihre kleine Schwester in diesem Moment konfrontiert wurde. Ihr eigener Körper erbebte unter dem festen Griff ihres Feindes. Sie streckte wahllos ihre Hand in die Richtung, in der sie Marla vermutete. Schließlich fand sie die Finger ihrer kleinen Schwester. Marla gab ein Schluchzen von sich. Die ganze Aufregung hatte ihr viel abverlangt, sodass sie sich inzwischen müde und ausgelaugt ihrem Schicksal ergab.

Dalaria richtete ihren Blick starr auf den Boden und betete für Marla. Es hätte den Schatten kaum Mühe gekostet, ihr beider Leben sofort auszuhauchen, stattdessen setzte er sich in Bewegung. Ein Ruckeln durchfuhr sie und ihr Sichtfeld veränderte sich. Er schleppte sie zurück zum Dorf und ließ es dort enden, wo alles begonnen hatte.

 

Dalaria schwieg, denn jedes weitere Wort hätte ihr Leben um Minuten verkürzen können. Minuten, die sie mit ihrer Schwester verbringen wollte. Sowie die Bäume des Waldes ein Ende fanden, krampfte sich Dalarias Magen zusammen. Der Geruch von Schwefel, Metall und verkohltem Holz drang in ihre Nase. Sie hob eifrig ihren Kopf und erblickte die brennenden Dächer ihres Dorfes. Ein Berg aus Leichen ragte vor den Häusern empor, Gliedmaßen verschlungen mit anderen Personen, kaum ein Elternteil als solches zu erkennen. Sie sah die aufgereihten Söhne des Dorfes, die in Ketten gelegt an die Pferde gebunden waren. Soldaten und Serpens hielten sie gefangen, bedrohten sie mit den Waffen der Vis, welche blau leuchteten und die Macht der Primori verdeutlichten.

»Ich hab hier noch zwei.« Mit diesen Worten warf der Serpen Dalaria und Marla zu Boden und trat an die Primori heran, die den weiblichen Nachkommen erst jetzt ihre Aufmerksamkeit schenkten. »Der Rest der Flüchtigen ist tot.«

Eine Aussage, die Dalaria erzittern ließ und ihr verdeutlichte wie knapp sie einem verfrühten Ende entkommen waren.

»Was soll mit den Mädchen passieren?«, fragte einer der Primori und verlangte die Entscheidung von seiner Anführerin – einer Frau in einer weißen Tunika.

»Ich habe keine Verwendung für diese Bälger. Mir genügen die männlichen Exemplare, um den Minen ein paar Arbeiter zu schenken.« Sie winkte ab. »Tötet sie, tötet sie alle und brennt anschließend auch den letzten Funken einer bloßen Erinnerung an dieses Dorf nieder.«

Ein Wimmern ging durch die Reihen der Mädchen. Schreie ertönten, als die ersten Serpens, ohne mit der Wimper zu zucken, den Befehl ausführten.

Peng. Peng. Peng.

Die Jungen riefen nach ihren Geschwistern, weinten um ihre Eltern. Drei Mädchen fielen zu Boden. Das Sterben verlief so unsagbar schnell, dass Dalaria und Marla nur Sekunden blieben. Sie klammerte sich an ihre Schwester und küsste sie auf die Wange. Ihre Tränen verklärten ihre Sicht. Marlas Schluchzen war deutlich zu hören. Ein letztes Mal strich Dalaria durch ihr kurzes Haar. Sie nahm den typischen Geruch nach Zimt wahr, der ihre Schwester ausmachte, weil sie so gern vom zimtigen Reisbrei ihrer Mutter naschte – wie auch an diesem Morgen.

Peng. Peng. Das Ende kam näher und Dalaria war bereit. Bereit zu sterben, aber keinesfalls gewillt, ihre Schwester auf ewig zu verlieren.

Ein weiterer Schuss ertönte. Die blauen Funken der Waffe glitten zu Boden. Marla zuckte, Blut verteilte sich auf Dalarias Gesicht.

Schlaff hing sie in ihren Armen, ihr Weinen hatte geendet, doch in ihren Augen war ein Funken Traurigkeit zu erkennen, der glasig verblasste. Sie hatten ihr alles genommen – ihre Eltern, die irgendwo in dem Leichenberg ruhten und ihren kleinen Sonnenschein, ihre geliebte unschuldige Schwester.

Dalaria schrie aus vollstem Herzen, um ihrem Kummer Ausdruck zu verleihen. Dabei entfachte sie mit den letzten verblieben Atemzügen auch ihre Gabe. Sie spürte das Prickeln der elektrisierenden Macht, sah wie der Soldat den Abzug betätigte und hörte den Knall der Kugel, die den Lauf verließ. Ein Kribbeln in ihrem Nacken machte sich bemerkbar. Dann brach Chaos aus. Violette Blitze verlangsamten den Flug der Kugel, hielten sie für den Bruchteil von wenigen Sekunden in der Luft, bevor sich eine geballte Energie entlud. Wie eine Welle der Zerstörung fegte ihre Gabe über die Soldaten hinweg bis zu den Primori und den Jungen, die sich nicht davor schützen konnten.

Mit der Nutzung ihrer Fähigkeit wurde Dalaria ebenfalls mit deren Folgen konfrontiert. Schwäche nagte an ihren Gliedmaßen, sodass sie unfähig war, sich aufrecht zu halten und in sich zusammensank. Sowie sie mit der Bewusstlosigkeit kämpfte, vereinnahmte ein Summen Dalarias Ohren. Sie sah weiße Schuhe in ihr Blickfeld treten und filterte die Stimme der Frau aus den Rufen der Verwundeten heraus. »Ich habe meine Meinung geändert. Tötet alle bis auf dieses Mädchen. Eine Gabe wie diese sollte nicht an das Jenseits verschwendet werden.«

Dalaria wimmerte, wurde sich bewusst, was das bedeutete und versuchte, mit den letzten Kraftreserven zu Marla zu kriechen. Es waren nur wenige Meter, die sie die Gabe voneinander getrennt hatte. Meter, die ihr wie die Unendlichkeit vorkamen. Doch sowie sie die blutigen Finger ihrer toten Schwester berührte, schloss sie mit ihrem Schicksal ab. Denn sie wusste, dass niemand den Primori entkommen konnte, und ihre Gabe würde daran nichts ändern.

Kapitel 1

Gegenwart

 

 

Parlan beobachtete wie die Wachen Kreise um ein Gebäude zogen, um die Insassen vor neugiergen Blicken zu bewahren. Durch die abgeriegelten Zugänge glich dieser Ort einem Gefängnis, was wiederum das freudige Kinderlachen hinter der harten Fassade umso skurriler gestaltete. Vor sechs Jahren hatte er schon einmal die Mauern niedergerissen und ein paar Kinder befreit. Seither durfte er sich glücklich schätzen in diesem Heim einen Verbündeten gefunden zu haben, der ihm wie ein Sohn ans Herz gewachsen war. Selbst wenn er hin und wieder Parlans Geduld aufs äußerste strapazierte.

»Nicolas, mach das Feuer aus«, flüsterte er.

»Auf gar keinen Fall. Nur so können wir die Männer in Schach halten.« Nicolas balancierte die Feuerkugel in seinen Händen. Ein leises Zischen verriet, dass er keineswegs die Kontrolle besaß und seine eigenen Fähigkeiten überschätzte.

»Zum letzten Mal, mach es aus!«

Der Jugendliche mit den dunkelbraunen Locken sah Parlan mit feuchten Augen an.

»Verflucht, das ist ja, als würde man einem Hündchen den Knochen wegnehmen.« Parlan seufzte und konzentrierte sich wieder auf sein eigentliches Ziel: das Kinderheim. Nicolas und er waren einem Hilferuf gefolgt und fest entschlossen, die Vermis aus den Klauen der Primori zu befreien. Sofern Nicolas mit seiner Feuereinlage nicht alles vermasselte.

»Ich übernehme die Drei auf der rechten Seite und du den einen Soldaten auf der linken.« Er wartete auf eine kurze Bestätigung, dass Nicolas die Aufteilung akzeptierte. Stattdessen verblasste das Knistern des Feuers und Nicolas stützte sich auf ihn, um eine bessere Sicht zu erhalten. Schmollend lugte er über Parlans Schulter.

»Traust du mir etwa nicht zu, die drei Kerle fertig zu machen?«, fragte er und überspielte seine Nervosität, die deutlich am Zucken seiner Kieferknochen zu erkennen war. Wann immer es zum Kampf kam, biss er die Zähne zusammen, um sich seinem Feind ohne Furcht zu stellen.

»Natürlich trau ich dir das zu, was für eine Frage. Aber ich möchte dein Leben nicht so einfach aufs Spiel setzen, dafür bist du mir zu wichtig.« Mit diesen Worten preschte Parlan aus dem Dickicht hervor, hinein in das gleißende Licht der Morgensonne. Er rannte auf die drei Wachen zu, spreizte seine Finger der rechten Hand und metzelte sie mit seinen Klauen nieder, die ihm die Bestie im Inneren verlieh. Zeitgleich traf ein Feuerball den verbliebenen Mann, dessen Schreie Sekunden später durch einen gezielten Genickbruch erstickt wurden.

Für einen kurzen Moment fragte sich Parlan, was an dieser Szene nicht stimmte. Dann wurde es ihm klar und er schluckte seine Zweifel hinab, angewidert von der grausamen Realität ihrer Welt. Ein Junge wie Nicolas sollte weder zu solchen Taten fähig, noch dazu verdammt sein, sie auszuführen. Aber Parlan gestand sich ein, dass Nicolas das Morden beherrschte. Außerdem war er der Einzige, dem Parlan in diesen rauen Zeiten vertraute.

»Gut gemacht. Weißt du noch, wie wir in den Innenhof kommen?«

Ein verschmitztes Grinsen tauchte auf Nicolas' Gesicht auf und er nickte. Wie hätte er das vergessen können? Er war durch schmerzliche Erinnerungen mit diesem Ort verbunden.

Nicolas zwinkerte Parlan zu und führte ihn näher an die schulterhohe Mauer heran, die das Heim umgab. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie mit einem gezielten Sprung zu überwinden, doch auf der anderen Seite wartete ein Hinterhalt, dem ein Vermis nur schwer entkam. Wie ein Schutzzaun reihten sich Birken, Buchen, Kastanien und Eichen aneinander, verbunden durch ihr netzartiges Wurzelwerk, das blau leuchtend selbst unter der Erde eine klare Warnung aussprach. Die Wurzeln atmeten im Einklang mit der Vis, der Quelle ihrer Macht, einer Energie, die weder ein Canis noch ein Vermis überwinden konnte. Mit diesem Wissen suchten sie den einen Ort, der ihr Eindringen unbemerkt ließ - abgesehen von den Leichen am Haupteingang.

»Da drüben«, flüsterte Nicolas und führte Parlan zu der einzigen Stelle, an der kein grünes Blattwerk über die Mauer ragte, sondern ein eisernes, altes Tor auf sie wartete.

Nicolas krempelte seinen linken Ärmel hoch und legte seine flache Hand auf das Metall. Seine Hautfarbe änderte sich und nahm den dunklen Farbton der Tür an, ehe seine Finger durch den Widerstand hindurchglitten. Nun streckte er die zweite Hand aus und presste das Metall auseinander, sodass in der Mitte ein Loch entstand, das den Blick auf das Heim vollkommen freigab. »Nach dir«, witzelte er mit einem selbstsicheren Grinsen auf den Lippen.

Parlan lehnte sich nach vorn und kam der Aufforderung nach, als sich plötzlich ein seltsames Zischen in seine Ohren grub. Gänsehaut breitete sich wie eine klare Warnung auf seinen Gliedmaßen aus. Sekunden später erwachte die Bestie in seinem Inneren, denn einzig sie erkannte die drohende Gefahr.

»Nicolas, pass auf!« Er versuchte, den Jungen zu packen, und auf den Boden zu ziehen, doch die silberne Sichel war schneller als seine Reflexe. Das konnte nur eines bedeuten: ein Hinterhalt.

Die runde Klinge erwischte Nicolas am Rücken. Blut spritzte Parlan entgegen, verteilte sich warm auf seinem Gesicht. Der Junge geriet ins Straucheln und sank auf seine Knie, unfähig zu atmen oder mehr als ein Stöhnen über seine Lippen zu bringen. Sein Blick traf ihn und löste unerbittliche Schuldgefühle aus, die er verzweifelt abschüttelte.

Parlan konnte Schritte hören, spürte die Präsenz ihrer Gegner, doch für sein Auge waren sie zu schnell. Eine überaus tödliche Schnelligkeit, die nur Serpens an den Tag legten.

»Steh auf, wir müssen verschwinden!«, schrie Parlan, ohne ihm aufzuhelfen. Er wusste, dass der Bengel seinen Befehlen gehorchen würde. »Nimm verdammt noch mal die Beine in die Hand und lauf!« Parlans Fingernägel wuchsen zu gefährlichen Waffen heran und er war bereit, sie gnadenlos einzusetzen.

Er spitzte die Ohren und lauschte den kleinen Luftwirbeln, die das Einzige waren, was ihre Feinde verriet. Dann stieß er seine Hand nach vorn und führte eine routinierte Geste aus, welche die Luft durchschnitt. Blut spritzte in alle Richtungen und war das Erste, was Parlan zu sehen bekam, ehe sich der Serpen aus einem Schatten heraus manifestierte.

Nicolas hatte die Gelegenheit genutzt und etwas an Vorsprung gewonnen. Ein wenig unbeholfen und eindeutig zu langsam für sein Alter, rannte er in den Wald. Er warf seinen Kopf panisch hin und her. Seine Gegner spielten mit ihm und würden sich ihm erst zu erkennen geben, wenn es für ihn zu spät wäre.

Der Serpen stürmte nach vorn, griff Parlan hitzköpfig an und fing sich einen Fausthieb ein. Parlan wartete nicht auf das Kontra, sondern wandte sich ab und folgte Nicolas in den Wald. Seine Entscheidung war gefallen. Lieber das Leben dieses kleinen Narren retten, als etwas zu riskieren, wovon er sich niemals erholen würde.

Nach wenigen Minuten hatte er Nicolas eingeholt, der mit einem schlecht gedrehten Feuerball die Schatten von sich fernhielt. Der Glutwürfel, den er für die Erzeugung der Flammen benötigte, entglitt seinen zitternden Fingern und fiel zu Boden. Das Moos federte den Aufprall ab.

»Nicolas!« Parlan legte die letzten Meter zurück, die sie voneinander trennten, aber der Serpen war wie immer schneller. Er packte Nicolas an der Kehle, drückte zu und hob ihn mit solch einer geballten Kraft empor, dass sich seine Füße vom Untergrund lösten.

Der Junge fuchtelte mit seinen Armen, versuchte, sich zu befreien – vergeblich. Es hätte den Serpen kaum Überwindung gekostet, Nicolas das Genick zu brechen. Viel lieber genoss er sein Spiel und musterte Parlan zufrieden.

Parlan hielt inne, er spürte das Vibrieren von Metall, ließ sich nach hinten fallen, rollte über das Moos und fand bei einem Baum Schutz, bevor sich eine weitere Sichelklinge in das Holz grub.

»Warum verwandelst du dich nicht und zeigst uns deine wahre Kraft? Oder ist dieser Bursche den Aufwand etwa nicht wert?« Der Serpen drückte fester zu und allmählich verlor Nicolas die Besinnung. Seine Gliedmaßen zuckten, Blut lief an seinem Rücken hinab und verriet, wie schwer man ihn verwundet hatte.

»Euch erledige ich auch in meiner menschlichen Gestalt«, knurrte Parlan und bleckte die Zähne wie ein wildes Tier. »Lass ihn los und kämpf mit mir.«

Bevor der Serpen zu einer Entscheidung kam, gruben sich Parlans Klauen in dessen Schulter. Nicolas hatte den Serpen langsamer gemacht. Mit dem zusätzlichen Gewicht konnte er einer Attacke keineswegs schnell genug ausweichen.

Der Serpen ließ Nicolas fallen und richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf Parlan. Sein Gegner verengte die Augen zu Schlitzen. Seine messerscharfen, hellweißen Zähne stachen hervor, als er erneut in den Schatten verschwand. Der nächste Hieb erfasste die Luft und Parlan geriet ins Straucheln, weil er seine ganze Wut und sein Gleichgewicht in den Schlag gesteckt hatte. Die Natur um ihn herum erschien ihm wie ein verschwommener Spiegel, während das Flackern der Morgensonne verriet, dass sie es mit mehr als einem Serpen zu tun hatten. Da wusste er, dass sie nicht siegen konnten.

Für ihn bestand Hoffnung, Nicolas hingegen würde diesen Tag ohne die Nutzung seiner Gabe nicht überleben. Von Panik ergriffen, packte er den Jungen unter den Achseln, zog ihn grob auf seine Füße zurück und warf ihn sich über die Schulter. Die Bestie in ihm stöhnte vor Erschöpfung und sehnte sich nach Freiheit, die er ihr nicht gewährte. Parlan fühlte sich hin und her gerissen zwischen seinem Instinkt und seinen Entscheidungen. Er musste besonnen handeln, andernfalls könnte er bei dem Versuch, seine Feinde zu vernichten, sein Leben verlieren.

Schließlich rannte er mit einem klaren Ziel durch den Wald: um das Leben des Jungen zu retten. Denn was keiner der Serpens ahnte, war, welch wundersame Gabe in Nicolas steckte. Diese Fähigkeit könnte ihn vor dem Tod bewahren und gleichzeitig Parlans einziger Hoffnungsschimmer in der bevorstehenden Gefangenschaft sein, auf die dieses Katz-und-Maus-Spiel hinauslief.

Die Serpens und ihn trennten wenige Augenblicke. Sobald er sie nicht mehr ausmachte, setzte er Nicolas im Schatten eines Baumes ab. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete ihn sorgenvoll. Das Leinenhemd hing feucht auf seinen Schultern, am Rücken verklebt von Blut, an der Seite zerrissen und an den Ärmeln schwarz vom Ruß des Feuers. Parlan fragte sich, ob er es schaffen würde; ob dieser Bengel, der ihm ans Herz gewachsen war, überleben könnte.

Er führte Nicolas' zitternde Hand hinter ihn an die Baumrinde. »Nutze deine Gabe und werde unsichtbar«, verlangte er von ihm.

Der Junge schüttelte seinen Kopf. »Wir kämpfen – gemeinsam!«

»Wir haben bereits verloren und jetzt tu verdammt noch mal, was ich dir gesagt habe!«

»Auf keinen Fall. Ich bin kein Feigling, ich kämpfe bis zum letzten Atemzug an deiner Seite.« Nicolas rappelte sich auf. Ihm entglitt ein Stöhnen, das er verzweifelt versuchte, mit einem Husten zu kaschieren. Seine Schmerzen verklärten seinen Verstand. Aber genau wegen dieses Verstandes hatte Parlan ihn zu Beginn unter seine Fittiche genommen und den Jungen liebgewonnen.

Er packte den Bengel an den Schultern und grub seine Finger in den Stoff seines Hemdes. »Lieber heute überleben und morgen die Rebellion anführen, als für ein sinnloses Vorhaben zu sterben.« Er lehnte seine Stirn an die von Nicolas und atmete ein. Ein letztes Mal schauten sie sich in die Augen, dann trennte sich Parlan von ihm und lenkte die Aufmerksamkeit der Serpens auf sich. Sie waren schließlich wegen ihm gekommen und würden Nicolas vermutlich der rauen Wildnis überlassen.

Parlan lief los, er hatte es nicht eilig, ebenso wenig wie die Serpens, die bereits Blut geleckt hatten und sich überlegen fühlten. Er vernahm Nicolas' Schreie, dessen Verzweiflung Parlans Magen rebellieren ließ. Er wollte umkehren, für ihn sorgen, sich versichern, dass er überlebte. Aber diese Möglichkeit bestand nicht.

Stille kehrte ein und Parlan hoffte, dass Nicolas seinem Befehl gefolgt war. In einiger Entfernung drehte er sich ein letztes Mal um und sah den Wald anmutig vor sich aufragen - ohne den Körper eines Jugendlichen freizugeben. Für das bloße Auge war Nicolas verschwunden, geradezu spurlos unter Rinde und Erde begraben, getarnt mit den Farben der Natur.

Parlan schmunzelte, denn diese Fähigkeit hatte Nicolas nie akzeptieren wollen. Die Flucht vor den Feinden war damals im Training seine erste Lektion gewesen. Das Überleben stand an vorderster Stelle – für jeden, außer für Parlan. Mit der Unsterblichkeit auf seiner Seite kümmerte ihn der Tod recht wenig, im Gegenteil, an manchen Tagen genoss er sogar dessen Gegenwart. Nur um sich der Kurzlebigkeit in dieser Welt bewusst zu werden und die Taten seiner Mitstreiter und Kameraden zu respektieren.

Das Licht der aufgehenden Sonne strahlte durch die Baumwipfel hindurch und gab den Blick auf den kleinen Glutwürfel mit den abgerundeten Ecken und dem unscheinbaren Äußeren frei. Parlan beugte sich nach vorn und nahm dieses Erinnerungsstück an sich. Er fühlte wie sich die Luft um ihn herum veränderte, wie die Serpens ihren Mut zusammennahmen. Er würde sich ihnen nicht widersetzen, denn sie hatten durch ihre Übermacht bereits gewonnen.

Ein dünnes Geschoss traf ihn am Hals und bohrte sich in seine Haut. Der stechende Schmerz zwang ihn in die Knie. Das Serum gewonnen aus der Vis drang in seinen Körper ein und lähmte seine Gliedmaßen. Unfähig sich zu bewegen oder gar zu wehren, war er den Serpens ausgeliefert.

Geschwächt glitt er auf den Boden hinab, dessen Aufprall von Moos gedämpft wurde. Nur benommen bekam er mit, wie sich seine Feinde um ihn herum versammelten und an ihrem Sieg ergötzten. Während seine Welt allmählich verblasste, wappnete er sich für seinen nächsten Kampf, den er vorerst allein bestreiten müsste. 

Kapitel 2

 

 

Valerian besaß kaum gute Erinnerungen an Portas Vyr, obgleich ihn der Reichtum, den diese Stadt ausstrahlte, immer aufs Neue beeindruckte. Doch neben dem Überfluss, der hier in jeder Hinsicht herrschte, gab es eine Schattenseite, über die keine Menschenseele je sprach – die Sklavenbucht.

Auf eben diese Bucht steuerten er und Maximo zu. In Maximos Blick lag Vorfreude und seine Schritte wurden merklich schneller, sowie er das Blau des Meeres zwischen den Gebäuden ausmachte. Eine salzige Brise lag in der Luft, trug den Geruch von Tod und Elend mit sich, der den unterschwelligen Gestank von menschlichen Exkrementen nicht verbergen konnte. Valerian sah sich um, musterte die Gassen, die Marktschreier, die Soldaten. Für jeden Außenstehenden mochte diese Stadt wie ein goldenes Paradies erscheinen. Sie war überhäuft mit Reichtum, bestückt mit architektonischen Meisterwerken der alten Baukunst. Die besten Mediziner ihrer Zeit leisteten hier ihre Dienste. Es gab die köstlichsten Speisen und die süßesten Sünden. Trotz allem hasste Valerian diese Stadt aus vollstem Herzen.

»Kommst du?«, fragte Maximo und blickte ihn geradewegs über seine Schulter hinweg an. Die dunklen Haare hatte er gepflegt zurückgekämmt. Seinen dichten Wimpern und blauen Augen verdankte er eine rege Bekanntheit in der Damenwelt.

»Jetzt trödle doch nicht so herum. Ich will nicht deinetwegen die neue Lieferung verpassen!« Mit diesen Worten lief er schneller, verschwand zwischen den Menschenmassen und ließ Valerian zurück. Für einige Minuten fragte er sich, ob er seinem Vetter folgen oder seine Zeit lieber in einem Buchladen verbringen sollte. Valerian seufzte genervt und passierte die letzten Häuser, bevor sie das Meer erreichten - unzähmbar und wunderschön. Die perfekte Kulisse um etwas so Schreckliches, wie dass, was sich vor ihm auftat, zu verharmlosen.

Auf einer quadratischen Anhöhe verharrten Frauen, Männer, Kinder und sogar Babys. Alte Menschen suchte man vergeblich, denn sie wurden weder für die Arbeit noch für die körperlichen Gelüste bevorzugt. Bei der Übernahme eines Dorfes entledigte man sich ihrer zuerst.

Die Frauen pressten ihre Kinder an ihre Busen, kosteten die letzten Momente der Verbundenheit aus, ehe sie ihnen durch den Höchstbietenden entrissen wurden. Was blieb, waren ihre Schreie, welche die Soldaten mit harten Schlägen und Peitschenhieben zu unterdrücken versuchten. Dabei hatten sie alle nur einen Makel, der sie zu einem solchen Schicksal verdammte und vom Plebs unterschied: Sie waren Vermis.

»Vetter, wie viele Arend hast du bei dir?«, fragte Maximo und legte Valerian eine Hand auf die Schulter.

»Vielleicht zehn Arend und einige Terze? Warum, willst du etwas erstehen?«

Maximo grinste breit und nickte. »Nicht etwas, sondern jemanden. Siehst du diese bezaubernde Schönheit mit dem blonden Haar und dem Muttermal am rechten Unterschenkel?« Er deutete auf ein zierliches Mädchen, das etwa so alt wie seine Schwester Licinia war. Das Gesicht von Dreck und getrocknetem Blut entstellt, die Haare wirr über eine Schulter gekämmt, stand sie mit zitternden Gliedmaßen vor dem Volk dieser Stadt und erwartete ihr Urteil.

»Ich werde sie kaufen«, sagte Maximo entschlossen und sein Lächeln wurde finsterer, sodass selbst Valerian ein Schauder über den Rücken lief.

»Wie wäre es stattdessen mit einer netten Hure um deine Gelüste zu befriedigen, Vetter?«

»Wo denkst du hin. Ich mache die Kleine zu meinem Spielzeug, wer braucht da schon eine Hure?«

Valerian verzog abschätzig sein Gesicht. Sobald Maximo damit begann auffordernd seine Hand in die Höhe zu strecken, um alle anderen Männer zu überbieten, wandte sich Valerian ab. Er würde seinem Vetter keinen einzigen Arend überlassen, um die Seele der Kleinen zu kaufen und sie bei der nächsten Gelegenheit zu schänden. Valerian empfand Mitleid mit den Sklaven und Hass auf die Primori. Das Verhalten seiner Leute ekelte ihn an. Früher hatte er nie begriffen, warum sein Verstand anders funktionierte als bei den Primori, den göttlichen Anführern dieses Landes, denen die Chrestus mit Ehrfurcht huldigten. Wozu den Schein wahren, um hinter verschlossenen Türen schlimmere Taten zu vollführen, als in jedem Krieg?

Hätte er sie kaufen können? Natürlich. Hätte das ihr Leben verbessert? Wohl kaum. Denn alles in seiner Nähe gehörte nicht ihm selbst, sondern der Mistress, der höchsten der Primori – seiner Mutter Mireen.

Valerian verfolgte einige Minuten das Treiben auf dem Sklavenmarkt und drängte sich bis zur Küste nach vorn, damit die aufbrausenden Wellen seine Gedanken klärten. Das Wissen, dass es mehrere Erhöhungen dieser Art am gesamten Ufer der Stadt gab, ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Er vernahm Rufe, Pfiffe und das Schluchzen einiger Sklaven. Dann blendete er all das aus.

Das Meer war an diesem Tag klar und berauschend. Valerian dachte an die einzige Person in seinem Leben, für die er alles opfern würde. Er stellte sich ihr Lächeln vor, das über jede harte Realität hinwegtäuschen konnte.

»Warum so nachdenklich, mein Herr?« Die liebliche Stimme einer Dame unterbrach das Rauschen der Wellen. Valerian betrachtete die Frau. Sie war jung, dürr und mit den sonderbaren Katzenaugen für einen Außenstehenden gewiss keine Schönheit. Valerian musterte die feinen Züge ihres Gesichtes, den ausgefransten Stoff ihrer Kutte und den kleinen Stand direkt vorm Meer, abgegrenzt vom Treiben des Marktes. Sie bot Muscheln, Steine und Fisch zum Verkauf an, womit sie offenbar ihren Lebensunterhalt verdiente. Die zerschlissene Kleidung sprach keinesfalls vom Mittelstand, sondern vielmehr von der Unterschicht. Etwas, womit sich Valerian nie hatte auseinandersetzen müssen.

Schweigsam ließ er seine Finger in die Tasche seines weißen Mantels gleiten und holte einige Arend und Terze hervor.

»Was möchtet Ihr kaufen, Herr?«, fragte sie förmlich.

Valerian ließ seinen Blick über die ausgestellte Ware gleiten und blieb an einer schlichten Muschelkette mit einem schwarzen Lederband hängen. Er legte ihr fünf Arend auf den Tresen und nahm die Kette an sich. Eine Verbeugung seinerseits schloss den Handel ab.

»Aber Herr, das ist zu viel. Diese Kette kostet nur 45 Terze. Ihr gabt mir versehentlich fünf Arend.« Sie streckte ihm hastig das Geld entgegen und suchte verzweifelt die Umgebung nach Soldaten ab. Offenbar vermutete sie, dass Valerians Güte sie den Kopf kosten könnte.

Er machte einen Schritt auf sie zu, sah ihr dabei tief in die Augen, die braun und grün leuchteten. Er legte seine Finger um die ihren und schloss ihre Hand. »Ein Handel ist ein Handel und der Wert eines Gegenstandes kann durch eine emotionale Bindung wachsen. Ich habe diese Kette für eine Freundin erstanden, die mir viel bedeutet, entsprechend teuer muss diese Kette auch sein. Ihr braucht Euch nicht sorgen, ich bezeuge meine Aussage auch vor den Soldaten, sofern es Probleme geben sollte.«

Die Dame presste ihre zur Faust geballte Hand fest an ihre Brust, die Arend sicher darin verwahrt. »Habt Dank, mein Herr. Ihr seid gütig, darum will ich Euch noch etwas über diese Kette erzählen. Sie hat mir und meiner Familie viel Glück gebracht und fand stets zurück zu den Besitzern, die sie zu jener Zeit von Herzen benötigten. Die Kette wird Eure Freundin beschützen und vor Schlimmerem bewahren.«

Valerian bedankte sich mit einem Nicken und vergrub die Hände in seinen Hosentaschen. Er hatte es nicht eilig, als er den Weg zurück zur Sklavenbucht antrat, um seinen Vetter abzuholen. Trotz allem verging seine gute Laune recht schnell, sowie er das in Ketten gelegte Häufchen Elend neben Maximo erblickte. Wimmernd ließ sie seine Berührungen über sich ergehen, spielte mit ihren Fingern am Rask ihres Oberschenkels, der ihre angeborenen Gaben unter Verschluss hielt und sie somit ihrem Peiniger auslieferte.

»Sieh nur was ich erstanden habe«, protzte er und schob ihr Kinn nach oben, um ihr Gesicht zu präsentieren. Eine Wange war gerötet, was für mindestens eine Ohrfeige sprach. Allein die Vorstellung, dass dieses junge Mädchen wie ein Gegenstand in Maximos Besitz überging, widerte Valerian an. Doch sein Mitleid würde nichts an ihrer Situation ändern.

»Und was hast du in der Zwischenzeit getrieben?« Er hob eine Augenbraue und starrte Valerian selbstsicher an.

»Ich habe einen Spaziergang gemacht, um dem Geschrei des Plebs zu entkommen und mir keine Schuld aufzuerlegen.«

»Schuld? Etwa wegen meinem neuen Haustier?« Er stutzte, dabei war Maximo nicht leicht zu verärgern. »Ich biete ihr ein Haus, ein Heim, eine Aufgabe. Das ist immer noch besser, als auf der Straße, in der Arena, im Steinbruch oder im Palast zu enden. Ich meine, wir wissen doch beide, was im Palast mit Vermis passiert.«

Valerian schluckte nervös und verengte seine Augen zu Schlitzen. Seine Gedanken kreisten um seine Freundin, die er in eben diesem Palast zurückgelassen hatte, um diese Reise anzutreten.

»Vielleicht lebt dein Haustier ja auch noch, sofern es nicht zufällig den Weg mit deiner Mutter kreuzt. Bin ich nicht wahrlich ein gütiger Mann, dass ich dieser Frau ein solches Schicksal erspare? Ich werfe sie nicht blind den Hyänen vor, sondern vergnüge mich mit ihr. Wenn sie mich lange genug bei Laune hält, wird es ihr an nichts fehlen. Kein anderer darf Hand an sie legen, sie züchtigen oder verletzten.« Er wandte sich ihr direkt zu, legte einen Arm um ihre Hüfte und zog sie fest zu sich. »Nein, sie gehört mir ganz allein.«

Übelkeit stieg in Valerian auf. Zum einen, weil Maximos Ansprache schlimme Erinnerungen und Vorahnungen weckte, auf das, was ihn zuhause erwartete und zum anderen, weil er dem ernüchternden Liebesspiel seines Vetters in den Abendstunden nicht unbedingt beiwohnen wollte. Abermals griff er nach der Kette, denn aus einem unerfindlichen Grund verlieh sie ihm Halt. »Ich werde heute noch abreisen«, sagte er und machte kehrt. Die Einwände von Maximo verblassten im Getümmel der Bürger, die sich in Richtung Bucht an ihm vorbeidrängten.

Valerian hasste diesen Ort, diese verfluchte Stadt und es war endlich an der Zeit, das Gefühl der Schuld hinter sich zu lassen.

Kapitel 3

 

 

Die laue Sommernacht trug den Geruch von Blut in der Luft. Keine einzige Vogelstimme erklang am Abendhimmel, stattdessen waren die Schreie eines Neugeborenen zu vernehmen. Ein jeder wusste, was diese kleine Seele hinter den Mauern des Palastes erwarten würde, trotz allem kannte niemand Erbarmen.

Dalaria fröstelte, als sie nur mit einem hauchdünnen Stofffetzen bekleidet an die Wachen herantrat. Sie zitterte am ganzen Leib und hauchte in ihre zu Fäusten geballten Hände, um die ungewöhnliche Kälte zu vertreiben. Sowie sich das Tor öffnete und die hellblau leuchtenden Laternen ihren Blick auf die Straße freigab, erkannte sie die Silhouetten zweier Frauen. Sie waren schmächtig und, ihrer Kleidung nach zu urteilen, arm. Es handelte sich um Caprea – Bürgerinnen, die ihrer Pflicht nachkamen und das erstgeborene Kind den Primori darbrachten. Die Mutter hielt wankend den Säugling in ihren Armen. Frisches Blut lief an den Innenseiten ihrer Schenkel hinab. Den Zustand ihrer Freundin ignorierend, verneigte sich die zweite Dame vor den Wachen und kam den allgemeinen Höflichkeiten nach.

»Wir sind sofort gekommen, um dem Willen der Primori zu gehorchen und ihnen Respekt zu zollen. Dies sind eine große Chance und ein bedeutsamer Augenblick für meine Schwester.« Die Frau deutete neben sich auf die junge Mutter, deren stilles Leid in Dalaria Emotionen weckte.

»Gib ihnen das Kind und sie werden es segnen. Auf dass es einen Hauch Unsterblichkeit erlangen und mit den Göttern speisen darf«, sagte die Frau und ermutigte ihre Schwester.

Die Mutter streckte Dalaria das Kind entgegen. Das Baby schrie, als wüsste es, welches Schicksal ihm drohte. Tränen liefen an den Wangen der Mutter hinab. Der Stoff ihres Kleides klebte an ihrer Haut, durchtränkt von Schweiß und Blut. Sie stellte sich in diesen Minuten einem inneren Kampf mit sich selbst, den sie nicht gewinnen konnte, denn alle Blicke waren auf sie gerichtet und die Schwerter der Soldaten würden kein Zögern zulassen. Mit dem Baby im Arm die Flucht zu ergreifen, würde ihr beider Leben riskieren und so blieb ihr keine andere Wahl, als ihr Erstgeborenes zu übergeben.

Dalaria nahm das Kind an sich und drückte es behutsam gegen ihre flache Brust. Mit ihren sechzehn Jahren konnte sie dem Baby keine Mutter sein. Sie vermochte lediglich das Gewicht des Kindes in ihren Armen zu tragen und sich hastig von der Frau abzuwenden, damit die Bindung der beiden schnell an Stärke verlor.

Wimmernd wehrte sich das Baby gegen die Entführung, doch es konnte seinem Schicksal nicht entkommen.

Niemand konnte das ...

 

Dalaria legte ihren Mantel sorgfältig über das Baby, bedeckte es vor der Kälte der Nacht und den Blicken des Adels. Dieses Kind würde zu einem Sklaven heranwachsen, einem treuen Diener, der keine Widerworte kannte, und seine Entführer lieben würde wie Eltern. Es handelte sich um gestohlene Seelen, die als Chrestus bekannt waren, über keinerlei Gaben verfügten und ihr trostloses Leben hinter diesen Mauern verbrachten. Für sie gab es keine Welt, keine andere Heimat, keine Sehnsucht. Sie teilten nicht das Gefühl des Verlustes, welches Dalarias Herz mit jedem Atemzug erbeben ließ. Die Chrestus wuchsen in dem Irrglauben auf, dass ihr Leben perfekt sei und ihre bedingungslose Liebe aus reichlich Entfernung genügte.

Dalaria blickte in die halb offenen Augen des Säuglings und erkannte Furcht, die bald dem Vertrauen weichen würde. Furcht, die Dalaria tagtäglich verspürte, gepaart mit dem Wunsch nach Freiheit, den die Ketten des Palastes unerreichbar erscheinen ließen.

»Junge oder Mädchen?«, hörte sie aus der Finsternis eine freundliche Stimme fragen. Ihre Freundin Towa, ebenfalls eine Chrestus, hatte sich offenbar aus dem Palast gestohlen, um das Kind zu begrüßen.

»Ein Mädchen«, presste Dalaria hervor und versuchte, zuversichtlich zu klingen, denn sie würde es nie wagen, an Towas perfektem Weltbild zu rütteln.

»Also bekommen wir eine neue Schwester«, trällerte sie und übertönte das Wimmern des Kindes, um ihrer Freude mehr Ausdruck zu verleihen. »Wir sollten ihr einen Namen geben.«

»Das ist nicht unsere Aufgabe.«

Towa schob sich in Dalarias Sichtfeld. Ihr aschblondes Haar war zu Zöpfen geflochten und ließ ihr Gesicht rund erscheinen. »Wirsollten ihr den Namen geben, denn wir werden sie lieben wie Schwestern.«

Dalaria strich behutsam über den Rücken des Kindes. Die Aufregung war zu viel für diese kleine Seele. Sie wollte gerade etwas erwidern und Towas Bitte abweisen, als sich zum zweiten Mal in dieser Nacht die Tore unerwartet öffneten.

Towa sprang beiseite, um den hereinpreschenden Soldaten auf ihren Pferden auszuweichen, die mit Sklaven nicht sonderlich zimperlich umgingen. Es handelte sich um Männer der Leibgarde und Serpens – die Meuchelmörder des Adels.

Einer der Männer übernahm die Führung eines mit Laternen ausgestatteten, gepanzerten Wagens, der einen großen Käfig transportierte. Darin saß ein Mann, der recht teilnahmslos zu den beiden hinübersah.

»Was haben wir denn da? Ein Chrestus in einer solchen Nacht?« Der Serpen sprang vom Rücken seines Pferdes und kam erheitert näher. Die dunklen Rauchschwaden, die seinen Körper umgaben, vermochte Dalaria selbst in der Finsternis zu erkennen. Der Mann war ein Meister des Tötens. Er hätte Towa die Kehle durchschneiden können, ohne zu blinzeln. Zögern war ein Fremdwort für ihn und junges Leben wie ein Schmetterling, dem er die Flügel ausriss.

Er zog Dalarias Mantel zur Seite, um das Baby in Augenschein zu nehmen. »Was für ein süßer Fratz.« Der Serpen streichelte väterlich an der Wange des Kindes entlang. »Das perfekte Opfer, um den Primori für unseren Fang zu danken.«

Auf einmal riss er das Kind aus Dalarias Armen, wandte sich ab und ließ das aufgebracht schlagende Herz ersterben. Knack. Eine Handbewegung hatte genügt, um das Genick des Babys zu brechen. Schlaff hing es in seinem Griff, während er es durch die Gitterstäbe des Käfigs hindurchschob und dem Gefangenen vor die Füße warf.

Dalaria senkte ihren Blick. Übelkeit stieg in ihr auf, gefolgt von Trauer, Verzweiflung und Wut.

Dann sah sie zu Towa, die sich auf ihre Knie fallen ließ und bitterlich weinte. Um das Kind – um die Schwester, der sie niemals einen Namen geben durfte; um ihr perfektes Weltbild, dessen Fassade allmählich bröckelte.

Schluchzend rollte sich Towa wie eine Katze zusammen und erbebte unter Dalarias tröstender Berührung. Sie waren beide jung, hatten viel gesehen und weit mehr erduldet, trotzdem war in diesen Moment der Unterschied zwischen ihnen so eindeutig wie nie zuvor. Dalaria beneidete Towa dafür, denn sie besaß das Recht Emotionen zu zeigen, durfte für das Kind Tränen vergießen. Für sie jedoch, bedeutete schon ein Wimmern die Peitsche.

»Was für eine niederträchtige Weise, ein so junges Leben derart wegzuwerfen.« Der Gefangene entledigte sich seiner Weste und bedeckte damit den Leib des Kindes, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

»Wer hat dir erlaubt zu sprechen, dreckiger Schakal?!«, schrie der Serpen und schlug mit der flachen Hand gegen die Gitterstäbe, ehe er sich zu Towa und Dalaria umdrehte.

Dalaria verneigte sich, presste ihre geballten Fäuste in ihren Bauch und wartete auf die Reaktion des Serpen. Rasch verringerte er den Abstand zwischen sich und der schluchzenden Towa. Er packte sie bei den Schultern und zog sie zurück auf ihre Füße. Was folgte, war die bekannte Wiederherstellung eines verlorenen Lächelns. Der Serpen nutzte einen unbedeutenden Teil seiner Gabe, um Towa die Erinnerung, an den soeben stattgefundenen Mord, vergessen zu lassen. Das Schluchzen erstarb und Stille kehrte ein.

Dalaria wollte ihren Blick abwenden, aber sie fragte sich jedes Mal, wie viel Towa geraubt wurde und ob sie eines Tages sogar Dalaria für eine Fremde halten könnte.

»Verschwinde und mach dich irgendwo nützlich«, sagte der Serpen und gab ihr einen Klaps auf den Hintern.

Towas Lippen blieben versiegelt, ihre Augen leer. Schweigsam zog sie von dannen. Wie eine Puppe, die dem Willen ihres Meisters gehorchte – fremdgesteuert, ja regelrecht leblos. Einzig die feuchten Wangen waren der letzte Hinweis auf eine grauenerregende Tat, die nicht zum ersten Mal ihr Weltbild aus den Fugen brachte.

Nun schenkte der Serpen Dalaria seine Aufmerksamkeit und nickte ihr zu. Sie war so schnell auf den Beinen, dass er vor Belustigung lachte. »Und was genau stelle ich mit dir an?« Eine Frage, die Dalaria zu oft gehört hatte.

Der Serpen musterte sie und schien sich unschlüssig, ob ihr Wert seine Neigung zu Töten überstieg. Im Gegensatz zu Towa konnte er ihre Erinnerungen nicht löschen oder ersetzen. Diese Tatsache stellte den Serpen kaum vor eine Herausforderung, sondern schien seine Kreativität zu wecken.

Klatsch. Seine Ohrfeige erfasste Dalarias rechte Wange und einen Teil ihrer Oberlippe. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrer Gesichtshälfte aus. Sie blieb eisern stehen, in Erwartung einer weiteren Bestrafung, weil sie unfähig war, etwas so Grauenvolles zu vergessen. Dass dieser verachtenswerte Mistkerl nicht die Faust genutzt hatte, bezichtigte Dalaria in ihrem Verdacht, dass er ihren Wert kannte und ihr Leben für die Primori von Bedeutung war.

Ein zweiter Schlag folgte. Er war dermaßen deplatziert, dass ihre Lippe aufplatzte und Blut aus ihrem rechten Nasenloch floss. Sie leckte mit ihrer Zunge über die geschundene Lippe. Der salzig-metallische Geschmack ihres Blutes war unverkennbar, sodass sie gern eine Ladung vor die Füße des Serpen gespukt hätte. Doch dazu fehlte ihr der Mut. Außerdem war es sinnlos, ihrer aufflammenden Wut nachzugeben.

»Du wirst schweigen wie die Toten«, sprach er im Befehlston.

»Ja, Serpen.« Sie biss die Zähne zusammen, erwartete einen weiteren Hieb, aber der Serpen wandte sich zufrieden ab. Er wies seine Männer an, den Gefangenen abzuführen, und entledigte sich beim Betreten des Palastes seiner Rüstung.

Dalaria sah ihm nach, rührte sich keinen Millimeter von der Stelle. Es war ihr erst erlaubt zu gehen, wenn jeder Soldat in das Gebäude eingetreten war. Sie wartete und schluckte den pochenden Schmerz tapfer hinab. Die aufkommende Stille war nicht gut für sie, denn ihr rebellisches Herz verlangte nach Rache und ihre Gedanken wurden düster. Sowie sie bemerkte, welche Worte durch ihren Kopf geisterten, ließ sie zaghaft ihre Finger hinab zu ihrem linken Oberschenkel gleiten. Dort saß der Rask, ein Parasit, der sich an ihrer Haut festgesaugt hatte und keinen Ungehorsam zuließ. Schon ein Impuls von Widerstand genügte, damit das Untier seine messerscharfen Zähne in ihr Fleisch grub. Für den Außenstehenden sah der Rask wie ein schlichtes Sklavenband aus. Doch dieses Wesen kontrollierte all jene, die mit Gaben geboren und in den Kriegen und Schlachten ihren Eltern geraubt worden waren.

Vor sechs Jahren kam auch Dalaria als Kriegsbeute in den Palast. Seither stand sie die schmerzhaften Versuche der Züchtigung durch ihre Peiniger aus. Niemals hatte sie nur eine Erinnerung an ihr zerstörtes Zuhause verdrängt. Sie wusste, wie sanft die Berührung ihres Vaters war, wie warmherzig das Lächeln ihrer Mutter und wie schrill die Stimme ihrer kleinen Schwester. Die Namen der Toten auszusprechen war nur den Primori gestattet. Erst recht, wenn es sich bei den Verstorbenen um deren Feinde handelte. Wann immer Dalaria fürchtete, eine der Seelen zu vergessen, flüsterte sie vor dem Schlafengehen ihre Namen: »Mama, Papa, süße, kleine Marla.«

Sie blickte zu den majestätischen Toren des Palastes, hinter denen sich Luxus und Wollust verbargen. Die letzten Soldaten huschten ins Gebäude und schließlich war Dalaria allein in der Finsternis des Innenhofes, allein mit der Kälte, die sie frösteln ließ. Sie löste sich aus ihrer Starre und steuerte den Kerker an, wo ihr eine der Zellen als Schlafplatz diente.

Ihre Gedanken waren erfüllt von dem Baby, das nie wieder die Liebe der eigenen Mutter spüren würde und der Mutter, die an eine ehrenhafte Zukunft für ihren Spross glaubte. Dabei wusste jeder, dass niemand seinem Schicksal entkam, sobald man hinter den Mauern gefangen war. Niemand, erst recht nicht Dalaria.

Kapitel 4

6 Jahre zuvor

 

 

Dalaria vernahm das Wispern ihrer Schwester Marla und der typische zimtige Geruch umfing sie. Allein die Tatsache, dass sich Marla in ihrer Nähe befand, beruhigte sie. Doch die Stimme von Marla verblasste immer mehr in ihren Gedanken, bis allmählich ihr Gesicht in Vergessenheit geriet.

Panisch riss sie ihre Lider auf und erblickte eine graue Decke mit abgeblätterter Farbe. Sie erschauderte. Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper. Mit dem Ende ihres Traumes wurde ihr auch die vermeintliche Sicherheit entrissen, sodass sich Dalaria unweigerlich mit ihrer neuen Realität konfrontiert sah.

Sie richtete sich auf und sprang überhastet von der Pritsche. Ihr erster Instinkt war es, aus dieser Zelle zu fliehen, doch ihre Beine knickten geschwächt ein. Sie landete auf ihren Knien. Hastig ließ sie sich auf ihren Hintern sinken und wischte mit den Fingerspitzen über die gerötete, von einigen Schürfwunden überzogene Haut. Die Stelle an ihren Knien strahlte eine sonderbare Wärme aus, begleitet von einem sanften Pochen, das sie zu mehr Vorsicht anhielt. Erinnerungen an ihre tote Schwester drangen in ihre Gedanken wie Bilder eines Buches, das man viel zu schnell überflog. Der Name ihrer Schwester lag unausgesprochen auf ihren Lippen und sie bekam das dringende Bedürfnis, ihn in die Welt hinauszuschreien. Ihre Gefühle eroberten mit einem aufbrausenden Kribbeln ihren Körper. Bevor sie sich versah, brach ihre Gabe aus ihr heraus, wie eine abgefeuerte Waffe, die an der Zellenwand abprallte und im Nichts verpuffte.

»Marla!« Ihr Schmerz war groß und sie glaubte, er würde nie vergehen. Erst viel zu spät erkannte sie, dass nicht ihr gebrochenes Herz die Qual erzeugte, sondern ein seltsames Band, das ihren Oberschenkel schmückte. Blut lief warm über ihre Haut. Das Stechen fühlte sich an, als würden sich spitze Zähne in ihr Fleisch bohren. Wieder und wieder, bis sie schließlich erschöpft verstummte und ihre Gabe abebbte.

Die Zellentür öffnete sich und zwei identisch gekleidete Damen traten ein, gefolgt von Wachen, die offenbar für deren Sicherheit verantwortlich waren.

Dalaria blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an und schluckte ihre Wut hinunter. Sie konnte ohnehin nicht viel ausrichten.

»Wie schön, du bist erwacht«, sagte eine der Frauen und schenkte ihr ein müdes Lächeln, das deutliches Desinteresse an der eigentlichen Aussage bewies. »Dein Leben gehört fortan den Primori.« Ein Satz der Dalaria entgegenschlug wie eine Ohrfeige und offenbar zu den allgemeinen Gepflogenheiten hinter diesen Mauern gehörte. »Du solltest wissen, dass es hier gewisse Regeln zu beachten gibt, die über dein Weiterleben bestimmen. Halte dich daran und du wirst eine gute Ausbildung erlangen, verstoße dagegen und du wirst bestraft.« Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen und neigte ihren Kopf leicht zur Seite. Misstrauisch musterte sie Dalaria und schien abzuwägen, ob sie verstanden hatte, was von ihr erwartet wurde.

Dalaria nickte und zog ihre Knie fest an ihren Bauch heran. Sie fühlte sich elendig klein, unfähig etwas gegen die aktuelle Situation zu unternehmen.

»Gut, du scheinst ein denkendes Individuum zu sein, das zumindest unsere Sprache beherrscht. Kommen wir zu den Regeln.« Sie ging einige Schritte auf Dalaria zu. In ihrem Schatten folgte eine der Wachen, die Finger nervös um den Knauf einer Peitsche gelegt, um für alle Eventualitäten bereit zu sein. »Regel Nummer eins: Du wirst den Primori deine Treue schwören und nichts tun, was sie in irgendeiner Weise gefährdet oder ihren göttlichen Stand untergräbt. Regel Nummer zwei: Die Benutzung deiner Gabe ist strengstens verboten. Solltest du es dennoch wagen, wird dich der Rask daran hindern und uns informieren.« Sie deutete auf das Band an ihrem Oberschenkel, was ihr Minuten zuvor beinahe die Luft zum Atmen abgeschnitten hatte. Noch jetzt brannte ihre Haut und das Blut lief daran hinab, als hätte sie sich eine tiefe Wunde zugezogen. Keinen der Anwesenden schien dieser Umstand zu kümmern. »Regel Nummer drei: Ab heute trägst du keinen Namen mehr, sondern reagierst fortan auf die Bezeichnung Vermis. Hast du alles verstanden?«

Dalaria löste sich aus ihrer Starre, wischte sich die Tränen von den Wangen und berührte zaghaft den sogenannten Rask, mit dem sie offenbar in Koexistenz leben sollte. »Wo bin ich? Was ist ein Vermis? Warum darf mich niemand bei meinem Namen nennen und wieso sollte ich diesen Mördern huldigen, die gerade mein ganzes Dorf ausgelöscht haben?«

Eine der Frauen seufzte und wandte sich im nächsten Moment ab. Die Wachen reagierten sofort und kamen näher, trieben Dalaria in die Enge wie ein gefangenes Tier, dem kein Ausweg blieb. Sie griffen unter ihre Achseln und halfen ihr auf die Beine, nur um sie aus der Zelle zu zerren und mit ihrem neuen Leben zu konfrontieren.

»Nein, lasst mich los! Wohin bringt ihr mich?«

»Halts Maul.« Die barsche Antwort des Soldaten genügte ihr, um zu verstummen.

Die Frau hatte ihr Regeln genannt, mit denen sie wenig anfangen konnte. Sollte das wirklich ihr neues Leben sein? Dalaria erkannte den Ort ihrer Gefangenschaft nicht wieder, suchte vergeblich den Gang vor sich nach einem vertrauten Gesicht ab. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete und fürchtete sich vor dem Ungewissen. Ein Zittern jagte durch ihre Gliedmaßen. Ihre Gedanken drehten sich um ihre Eltern und ihre Schwester, um den schrecklichen Anblick ihrer Leichen, die brennenden Häuser des Dorfes und die Schreie ihrer Freunde und Nachbarn. In ihren Wimpern sammelten sich Tränen, verklärten ihre Sicht. Ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen und für einen kurzen Moment glaubte sie, ihr Herz könnte ihr seinen Dienst verwehren. Es schlug langsamer, fühlte sich schwerer an und verband sich mit einem merkwürdigen Taubheitsempfinden, das Dalaria ihren Qualen vorerst entriss.

Sie schleiften ihren geschwächten Körper aus dem Keller, die Treppe bis ins Erdgeschoss hinauf, vorbei an anderen Zellen, in denen weitere Kinder mit trostlosen Mienen auf ihre Befreiung warteten. Licht flutete die Halle vor ihnen als die Wachen sie unsanft zu Boden gleiten ließen. Sie sank abermals auf ihre Knie hinab. Bunte Punkte tanzten vor ihren Augen.

»Geh zu den anderen Kindern und füge dich in dein Schicksal, Vermis«, sagte die Frau und nickte den Wachen ein letztes Mal zu, ehe sie mit ihrer Kumpanin verschwand. Dalarias Fragen blieben unbeantwortet. Der Schmerz nach dem Verlust von Marla und ihren Eltern ließ ihren Magen rumoren. Galle stieg in ihr auf, sie beugte sich vornüber und erbrach ihre Sorgen auf den steinernen Untergrund, direkt vor die Füße der Wachen.

»Dreckige Vermis«, knurrte einer von ihnen. »Das wirst du schön alleine bereinigen!« Er packte sie mit einer Hand im Nacken und drückte ihren Kopf hinab. Sie sah, wie sie dem Erbrochenen näher kam, kämpfte gegen den starken Griff des Mannes an, versuchte, ihm zu entkommen. So viel war geschehen, so viel Kraft verloren gegangen. Und nun behandelte man sie schlimmer als so manches Tier. Sie war zu schwach, konnte kaum etwas ausrichten und bohrte trotz allem ihre Nägel in die Hand der Wache. Niemals würde man sie zähmen, niemals würde sie aufgeben und sich schweigsam fügen.

»Aufhören! Behandelt man so etwa Neuankömmlinge?« Die Stimme eines Jungen brannte sich in Dalarias Ohren und ließ sie zusammenfahren. Der Schock nach all den Erlebnissen saß tief und sie bemerkte erst durch ihren Zwischenfall mit ihrem Magen, wie sehr sie von ihrer Trauer übermannt wurde.

Der Griff lockerte sich und Dalaria fiel auf ihren Hintern. Starr vor Angst blickte sie dem Jungen entgegen, der sein Wort gegen die Wachen erhoben hatte.

Weitere Kinder und Jugendliche strömten in die Halle, zu viele, um einen Aufstand zu proben oder sich dem Verlangen der Masse zu widersetzen.

»Wir bereinigen es«, sagte der Junge knapp und nickte einigen Kindern zu, die sofort Lappen und Eimer zusammensuchten.

»Meinetwegen.« Der Soldat zuckte mit den Schultern. Danach wandte er sich mit seinem Kameraden ab und überließ Dalaria den Fremden.

»Du bist jetzt eine von uns.« Nur langsam drangen die Worte des Jungen zu Dalaria durch. Sie hörte das Rauschen ihres Blutes und spürte Nervosität in sich aufsteigen.

Er streckte ihr seine Hand entgegen und sie nahm seine Güte an. Zaghaft zog er sie zurück auf ihre Füße, bot ihr eine Schulter zum Anlehnen und führte sie hinaus aus der Halle, quer durch einen großen Speiseraum, der, ausgestattet mit ovalen Fenstern, langen Tafeln und vielen Stühlen, erstaunlich einladend wirkte.

»Wohin bringst du mich?«, fragte sie, aber er antwortete ihr nicht. Stattdessen zog er sie sanft zu sich heran und legte einen Arm um ihre Hüfte, damit sie nicht das Gleichgewicht verlieren konnte.

Augenblicke später fand sie sich in einem Zimmer mit grauen Wänden, zu vielen Betten und einer harten Matratze wieder, auf die er sie fallen ließ. Geradezu brüderlich deckte er sie zu und stellte ihr einen Krug mit Wasser auf das kleine Holzschränkchen, dass sie sich offenbar mit einigen anderen Kindern teilte.

»Du solltest etwas trinken und dich ausruhen. Bestimmt ist in den letzten Stunden viel passiert.«

Dalaria richtete sich auf, schob die Decke beiseite und sah ihn an. »Nicht bevor ich Antworten erhalte. Wo bin ich und zu welchem Zweck wurde ich hierhergebracht?«

Der Junge mit dem hellbraunen Haar lächelte. »Du befindest dich im Waisenhaus von Catana, um zu einer Buteo oder Serpen ausgebildet zu werden. Nur wenigen wird diese Ehre zuteil, du solltest stolz darauf sein.«

Dalaria dachte an die Serpens, die in ihr Dorf gekommen und alle niedergemetzelt hatten – die blutige Befehle befolgten, ohne von ihrem Gewissen gerichtet zu werden. »Nein, ich möchte zu keinem Instrument der Primori werden!« Aufgebracht versuchte sie ihrem Bett zu entkommen, aber ihre Beine knickten ein. Der Junge fing sie nicht auf, sodass ihr Körper schwer auf dem Boden aufschlug. Der Schmerz überwältigte sie zum zweiten Mal an diesem Tag und führte ihr vor Augen, dass sie nicht entkommen konnte. Ein Blick in das Gesicht des Jungen genügte, um zu verstehen, dass sie seine Träume soeben mit Füßen getreten hatte.

»Ich glaube, du hast mich nicht recht verstanden. Dir obliegt keine Wahl, die Entscheidung wurde für dich getroffen, als man dich leben ließ.« Der Junge betrachtete sie skeptisch und schien abzuwägen, ob sie den Aufwand wirklich wert war. Er seufzte sichtlich genervt von ihrer Reaktion, danach verließ er das Zimmer, ohne sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen oder ein weiteres Wort an sie zu richten. Er hatte ausgesprochen, was sein Herz bewegte und Dalaria die Chance gegeben, über ihre Zukunft nachzudenken. Doch wie könnte sie jemals einen Primori schützen und in ihrer Nähe akzeptieren, wo sie für so viel Leid und Elend sorgten?

Dalaria kletterte zurück ins Bett, rollte sich zusammen und weinte sich in den Schlaf, bis die Erschöpfung siegte und sie wieder in ihren Albträumen versank.

 

Eiskaltes Wasser traf auf ihr Gesicht und riss Dalaria unsanft aus dem ohnehin unruhigen Schlaf. Sie blinzelte gegen die Tropfen in ihren Wimpern, wischte mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Das gehässige Gekicher einiger Mädchen ganz in ihrer Nähe drang an ihre Ohren heran und bewies, dass sich ihre Ansichten zu den Primori offenbar herumgesprochen hatten. Hastig setzte sie sich auf. Die Matratze war klatschnass, ebenso wie das dünne Kleid, das an ihren Schultern hing wie ein schwerer Kartoffelsack. »Was soll das?«

Wie zu erwarten erhielt Dalaria keine Antwort. Stattdessen verschwanden ihre Peinigerinnen im Gang und ließen sie einsam zurück.

Für einen kurzen Moment erlangte ihre Wut die Oberhand. Das Kribbeln in ihren geballten Fäusten floss bis in ihre Oberarme hinauf. Lediglich die einnehmende Kälte der nassen Kleidung brachte sie zurück in die Realität und machte ihr bewusst, dass sie gegen diese Mädchen keine Chance hatte. Sie tupfte ihr Gesicht mit einer trockenen Ecke ihres Kleides ab, fuhr durch ihr strähniges Haar und reckte ihr Kinn stolz empor. So einfach ließ sie sich nicht unterkriegen.

Barfuß suchte sie den Speisesaal auf. Der Geruch nach Kräutertee und frisch gebackenem Brot lag in der Luft. Dalaria leckte sich in freudiger Erwartung über die Lippen und betrachtete das Essen, welches auf einer schmalen Tafel präsentiert wurde.

Schon beim Betreten des Speisesaals ignorierte sie die anderen Kinder und bahnte sich ihren Weg direkt zum Tisch mit den überschaubaren Köstlichkeiten. Ihre Mutter hatte ihr frühzeitig beigebracht, dass eine warme Suppe und ein Stück Brot einen himmelweiten Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuteten. In ihrem Fall würde die klare Hühnerbrühe, die sie durch den halb geschlossenen Topf erspähte, in erster Linie Genesung und Stärke bedeuten. Dalaria hielt verkrampft an dem Glauben fest, dass ein Gefühl der Sättigung ihr den Mut verleihen könnte, die Sticheleien der Kinder zu überstehen. Vielleicht würden der Tee oder der warme Haferbrei sie auch für einige Stunden erfolgreich vom Tod ihrer Familie ablenken.

Die Kinder musterten Dalaria missbilligend. Ihre bloße Anwesenheit ließ jegliches Kinderlachen ersterben.

Dalaria umklammerte die Holzkelle, die im Haferbrei steckte und schnappte sich eine Schüssel. Der Brei tropfte zähflüssig mit einem schmatzenden Geräusch in die Porzellankuhle.