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Wertungsfrei und liebevoll widmet sich Karsten Dusse dem Thema, das literarische Figuren derzeit beschäftigt wie kein zweites: Kinderbuchhelden, die aus ihren eigenen Büchern verscheucht werden. Eine Meerjungfrau, ein Hase, ein farbiger Lokomotivführer-Junge und ein werdender Indianerhäuptling hadern mit dem sie einenden Schicksal, dass sie nicht mehr die Hauptpersonen ihrer eigenen Geschichte sind. Sie bitten einen Anwalt - der zufälligerweise auch erfolgreicher Schriftsteller ist - um Rat. Vor dem Kaminfeuer seines Hauses nimmt der Autor die ihn besuchenden Romanfiguren mit auf eine Reise in die Welt der Fantasie, der Realität und der die beiden verbindenden Kreativität. In die Welt der Kunst und der Zensur. Des Erfolges und des Neids. Der Nörgler und der Solidarität, hinter der sie sich verstecken. "Verscheuchte Helden" ist ein Buch über die Freiheit der Kunst, die Freude am Schreiben und den Zauber des eigenen Erfolges.
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Seitenzahl: 97
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Karsten Dusse
Karsten Dusse
Impressum
Copyright by Karsten Dusse
Grafik: Karsten Dusse unter Verwendung der AI von shutterstock.com
Covergestaltung: Sabine Starfinger
Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
ISBN: 979-8-9918524-0-1
eISBN: 979-8-9918524-1-8
www.balticlighthouse.com
Für
Hasenhans
Arielle
Jim Knopf
und
Winnetou
Helden meiner Kindheit
Eines vorweg:
Das folgende Märchen beruht auf wahren Begebenheiten.
Ähnlichkeiten mit erfundenen Figuren sind rein zufällig.
Jede Aufzeichnung wurde zerstört oder gefälscht, jedes Buch neu geschrieben, jedes Bild neu gemalt, jede Statue und jedes Straßengebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Und dieser Prozess geht Tag für Tag und Minute für Minute weiter. Die Geschichte hat aufgehört. Nichts existiert außer einer endlosen Gegenwart, in der die Partei immer Recht hat.
George Orwell
Der Humor rückt den Augenblick an die richtige Stelle. Er lehrt uns die wahre Größenordnung und die gültige Perspektive. Er macht die Erde zu einem kleinen Stern, die Weltgeschichte zu einem Atemzug und uns selber bescheiden.
Erich Kästner
VORWORT
KAPITEL 1 BESUCH
KAPITEL 2 PROBLEME
KAPITEL 3 HÄSCHEN
KAPITEL 4 MEERJUNGFRAU
KAPITEL 5 LOKOMOTIVFÜHRER
KAPITEL 6 INDIANER
KAPITEL 7 ANWALT
KAPITEL 8 PHANTASIE, REALITÄT UND KREATIVITÄT
KAPITEL 9 ZENSUR
KAPITEL 10 KUNST
DER NATURALISTISCHE KUNSTBEGRIFF
DER EXPRESSIONISTISCHE KUNSTBEGRIFF
DER FUNKTIONALISTISCHE KUNSTBEGRIFF
KAPITEL 11 ERFOLG
KAPITEL 12 NÖRGLER
KAPITEL 13 SOLIDARITÄT
KAPITEL 14 VERSCHEUCH’ DEN HELDEN
KAPITEL 15 RIESEN
Stell Dir vor, Du hättest etwas Großartiges, etwas Einzigartiges geleistet.
Etwas so Einzigartiges, dass Dich erst jemand erfinden musste, damit Du es überhaupt vollbringen konntest.
Etwas so Großartiges, dass jemand ein Buch darüber geschrieben hat.
Stell Dir vor, Du wärst eine Meerjungfrau und hättest aus einer tiefen Sehnsucht nach Liebe und Unsterblichkeit Dein bisheriges Leben hinter Dir gelassen.
Stell Dir vor, Du wärst ein abenteuerlustiger und tapferer Junge, der einmal zum nach Ausgleich und Gerechtigkeit strebenden Häuptling der Apachen wird.
Stell Dir vor, Du seist ein kleines, in Reimen sprechendes Häschen, das sich in der Schule für Hasen neugierig, ängstlich und wissbegierig auf das Leben vorbereitet.
Stell Dir vor, Du wärst ein farbiges Kind ohne Eltern, dass mutig und clever im weltweiten Personennahverkehr als Lokomotivführer Karriere macht.
Und wegen dieser einzig und allein von Dir vollbrachten Leistungen, bist Du der Held unzähliger Kinderbücher geworden.
Und dann kommt jemand, und verscheucht Dich aus Deiner eigenen Geschichte.
Mit den albernsten Begründungen:
Deine Liebe als Meerjungfrau zu einem Prinzen, wird plötzlich einer anderen zugeschrieben, weil Deine Haut zu hell ist.
Deine frei erfundene Kindheit als werdender Häuptling der Apachen wird gestrichen, weil sie nun mal frei erfunden ist.
Erwachsene tun so, als seist nicht Du als Häschen der Held in der Schule für Hasen, sondern dies solle jetzt ein Fuchs sein. Weil Füchse sonst traurig sein könnten.
Deine Lokomotive fährt nun ein anderer farbiger Junge, weil jemand gesagt hat, Deine Lippen seien zu dick.
Wie würdest Du Dich fühlen?
Na, wahrscheinlich wütend, enttäuscht, ungerecht behandelt.
Dieses Buch ist kein Buch über Wut, Enttäuschung und Ungerechtigkeit. Ganz im Gegenteil. Dieses Buch ist ein Buch über Gelassenheit, Selbstbewusstsein und Gerechtigkeit. Es ist ein Buch über die Kraft der Fantasie, die Freiheit der Gedanken und das beglückende Gefühl, erfolgreich zu sein.
Es war einmal ein wunderschöner Frühlingsmorgen. Die frische März-Luft floss aus einem blauen Himmel sanft und klar über den erwachenden Tag. Funkelnd schienen die ersten Sonnenstrahlen durch das zarte Grün der neuen Blätter der Bäume. Wie an jedem Tag, so war ich auch an diesem mit meinem Hund für eine gute Stunde im Wald unterwegs gewesen. Das hätte ich auch ohne wunderschönen Frühlingsmorgen getan. Ich mache das mit dem Wald nicht vom Wetter abhängig, sondern von den Bedürfnissen meines Hundes. Mein Hund muss auch bei Regen. Und diese natürliche Notwendigkeit schenkt mir jeden Tag das Erlebnis, unabhängig vom Wetter zu Tagesbeginn eine Stunde in der Natur verbringen zu dürfen. Frühling im Wald hat immer etwas Zauberhaftes: Tief in der Erde verwurzelte Bäume entfalten sich zart im ewigwährenden Rhythmus der natürlichen Veränderung. Der Wald ist jeden Tag derselbe. Aber an keinen zwei Tagen der Gleiche.
Auf meiner morgendlichen Runde lasse ich meinem Hund und meinen Gedanken freien Lauf. Und nach ungefähr einer Stunde komme ich mit einem glücklich erschöpften Hund und vielen Ideen für neue Geschichten zurück nach Hause. Für gewöhnlich setzen sich mein Hund, meine Ideen und ich mich dann vor den Kamin. Mein Hund macht auf dem Hocker vor dem knisternden Feuer erleichtert die Augen zu. Ich trinke im Sessel sitzend einen Espresso und fange an, die Ideen, die ich im Wald hatte, auf meinem Laptop auszuformulieren. Ich bin Schriftsteller. Ich bin auch Anwalt. Aber erfundene Probleme in der Fantasie zu lösen, finde ich viel befriedigender als für echte Probleme vor Gericht keine Lösung, sondern lediglich ein Urteil zu bekommen.
Doch morgens mit meinem Hund im Wald geht es in der Regel weder um Probleme, noch um Lösungen. Im Wald atme ich Ideen.
An diesem Morgen kam ich mit der wunderbaren Idee aus dem Wald zurück, dass mich auf der Treppe vor der Eingangstür unseres kleinen Häuschens am Waldrand vier kleine Gestalten erwarteten.
Auf der obersten Stufe saß ein Hase mit blauer Knickerbockerhose, rosa Baumwollhemd und einer Umhängetasche aus Jute.
Auf der nächsten Stufe saß eine junge Frau in blauem Ballkleid mit vornehm blasser Haut und knallroten Haaren.
Auf der dritten Stufe saß ein dunkelhäutiger Teenager mit Latzhosenjeans, der eine Lokführermütze auf dem Kopf und zwischen seinen auffällig dicken Lippen eine Pfeife im Mund trug.
Und auf der untersten Stufe saß ein vielleicht zwölfjähriger Indianer in Wildleder-Outfit, dessen Pony in Kampfbemalung gerade die Blumen aus einem Topf vor meinem Eingang fraß.
Irgend etwas an den Vieren kam mir in sehr positivem Sinne ungewöhnlich vor. Versteht mich nicht falsch: Mein Haus steht sehr nah am Wald. Es ist überhaupt nichts Ungewöhnliches daran, wenn sich ein Hase in meinen Garten verirrt. Aber Knickerbocker Hosen trägt selbst in dem kleinen Dorf, in dem ich mit meinem Hund wohne, seit ungefähr einhundert Jahren niemand mehr.
Ich habe auch schon oft gesehen, dass Jungs hinter der Schutzhütte im Wald am Nachmittag heimlich das Rauchen üben. Aber ich habe noch nie einen kleinen Jungen Pfeife rauchen sehen. Schon gar nicht auf den Stufen meiner Eingangstür. Am frühen Vormittag.
Das rothaarige Mädchen wirkte sehr gepflegt, trotzdem umwehte es ein Hauch von Fischgeruch. Als es mich entdeckte, gab es den anderen merkwürdige Handzeichen.
Der einzige Junge, der ziemlich normal wirkte, war der kleine Indianer mit Kampfbemalung im Gesicht. Er sah genau so aus, wie ich mir einen kleinen Indianer vorstellte. Dass sein Pferd meine Blumen fraß, störte mich nicht. Dies ersparte ihnen den Tod durch Vertrocknen.
Ich persönliche esse ungern Topfpflanzen. Sie sind mir in der Regel zu bitter.
Aber ich hatte vor allem das vertraute Gefühl, dass ich alle vier von irgendwo her kannte.
Als der kleine Indianer die Zeichen des rothaarigen Mädchens bemerkte, schaute er in meine Richtung, stand auf und kam auf mich zu.
»Du bist doch Schriftsteller und Anwalt, oder?«, fragte er mich höflich.
»Ja …«, antwortete ich verwundert, »… und ihr seid …?«
»Ich bin der junge Häuptling der Apachen. Der Typ auf der Treppe über mir ist der kleine Lokomotivführer. Dahinter sitzt unsere Freundin, die Meerjungfrau, im Moment aber bebeint. Und da auf der obersten Stufe hat Hans, das Häschen, Platz genommen.«
»Ihr seid Winnetou, Arielle, Hasenhans und Jim Knopf!«, entfuhr es mir begeistert. »Ihr seid die Helden meiner Kinderbücher!« – Bis auf die Lappalie, dass mein Gesprächspartner, der Indianer, in meiner Kindheit offensichtlich wesentlich älter war als heute.
»Nein, diese vier literarischen Figuren sind wir ganz ausdrücklich nicht«, ermahnte mich der junge Häuptling in einer für eine Fantasiefigur überraschend sachlichen Art. »Wir mögen für Dich Deine Idee von den Helden Deiner Kinderbücher verkörpern – wir sind es aber nicht. Um jeglichem Urheberrechtsstreit aus dem Wege zu gehen, stellen wir hiermit klipp und klar fest, dass wir nicht den Anspruch erheben, die von Dir aufgezählten Figuren zu sein.«
»Also frei nach Goethes Faust: Ihr gleicht lediglich dem Geist, den ich begreif«, fasste ich enttäuscht, aber mit literarischem Wissen prahlend, zusammen.
»Das kann man so sehen«, gestand mir der kleine Indianer zu.
»Wie soll ich Euch denn nennen?«, fragte ich höflich.
»Um meinerseits auch Deinen verehrten Herrn Goethe zu bemühen: Wir haben keinen Namen. Gefühl ist alles. Name ist Schall und Rauch«, zitierte der kleine Indianer relativ klassikerfest. Dieses Zitate-Battlen brachte uns indes offensichtlich nicht weiter.
»Aber mit irgendeinem Namen würde ich Euch schon gerne ansprechen, jetzt wo Ihr schon mal da seid«, stellte ich fest.
»Nenn uns doch einfach Häschen, Indianer, Lokomotivführer und Meerjungfrau«, bot mir der Indianer an. Darauf ließ ich mich gerne ein.
»Freut mich, Euch persönlich kennen zu lernen. Wie kommt es, dass Ihr hier seid?«
»Wir sind zusammen auf dem Pony geritten«, erklärte der kleine Lokomotivführer und blies eine Rauchwolke an der zwischen seinen Zähnen steckenden Lokomotivführerpfeife vorbei aus seinem Mund.
»Ich meine …: Warum seid Ihr hier?«
»Weil jemand seine Lokomotive geklaut hat«, ergänzte der junge Häuptling.
»Was ich gerne in Erfahrung bringen würde: Was ist der Grund dafür, dass Ihr überhaupt zu mir gekommen seid? Lokomotive hin, Pony her.«
Der kleine Lokomotivführer nahm die Pfeife aus dem Mund uns sah mich ernst an.
»Wir sind aus unseren eigenen Geschichten verscheucht worden«, erklärte er mir mit trauriger Stimme, während die Glut in seiner Pfeife erlosch. Betroffen nickte das Häschen. Die Meerjungfrau wischte sich ein nicht vorhandenes Tränchen aus dem Auge. Der Indianer fragte mich mit einem kaum unterdrückten Seufzen in der Stimme:
»Kannst Du uns helfen?«
Die Traurigkeit meiner vier kleinen Besucher rührte mich. Ich hätte sie auch hereingebeten, wenn sie einfach nur mal hätten ›Hallo‹ sagen wollen – ich bin ein gastfreundlicher Mensch. Aber den – nach meinem Verständnis – Helden meiner Kindheit obendrein vielleicht sogar bei einem Problem behilflich sein zu können, war mir Ehre und Ansporn zugleich.
»Ich werde es gerne versuchen, Euch zu helfen. Kommt doch erst mal rein und erzählt mir genauer, was passiert ist.«
Ich öffnete die Haustür. Mein Hund rannte freudig als erster hinein und sprang auf seinen Hocker vor dem Kamin. Auch meine Besucher schienen erfreut zu sein, bei mir auf offene Ohren zu stoßen. Ich hielt meinen Besuchern die Tür auf und ließ Häschen, den kleinen Lokomotivführer und die Meerjungfrau an mir vorbei ins Haus. Als letztes trat der junge Häuptling durch meine Türe. Ich hielt ihn kurz an seiner Wildlederkleidung zurück, die sich erstaunlich sanft und weich anfühlte.
»Müsste eine Meerjungrau nicht eine Flosse haben …?«, fragte ich den Indianerjungen leise in Bezug auf die vor uns laufende Nixe.
»Hast Du schon mal jemanden mit einer Fischflosse auf einem Pony reiten sehen?«, gegenfragte mich der junge Häuptling und schaute zwischen dem rothaarigen Mädchen und seinem Pony hin und her.
Ich nickte verstehend und schloss die Tür. Das Pferd blieb draußen.
In meinem Wohnzimmer befindet sich vor dem Kamin eine kleine Sitzgruppe: eine alte Chesterfield-Couch mit zwei Sesseln und einem Hocker. Letzterer dient meinem Hund gerne als Schlafplatz. Ich nutze ihn als Fußablage, wenn ich in einem der beiden Sessel sitze, auf das Kaminfeuer schaue und schreibe.
Jetzt saß ich zwar ebenfalls im Sessel und schaute auf das frisch entfachte Kaminfeuer, aber um mich herum saßen die vermeintlichen literarischen Helden meiner Kindheit. Auf der Couch hatten die bebeinte Meerjungfrau und das Häschen Platz genommen. Im Sessel neben mir lümmelte der kleine Lokomotivführer und entzündete seine erloschene Pfeife. Auf dem Hocker saß der kleine Indianer im Schneidersitz und kraulte meinen Hund.
»Also, Ihr seid aus Euren eigenen Geschichten verscheucht worden, habe ich das richtig verstanden?«, fragte ich interessiert in die Runde.
»Wir sind nicht mehr die Hauptfiguren unserer eigenen Abenteuer«, empörte sich der Lokomotivführer hinter einer Wolke aus Pfeifenrauch.