Verschieden - Brigitte van Hattem - E-Book

Verschieden E-Book

Brigitte van Hattem

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Beschreibung

Alle Welt schaut Krimis. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, einem Tötungsdelikt zum Opfer zu fallen, nicht sonderlich hoch. Zumindest nicht in Deutschland. Hier stirbt es sich eher an einem Herzinfarkt oder an einem Schlaganfall. Oder an einer Unachtsamkeit, einem Kuss oder an der Tatsache, dass man die falsche Hose oder sogar einen Reifrock anhat. Die Geschichten in diesem Buch wurden wahren Begebenheiten nacherzählt, sie faszinieren, sie ängstigen und sie verblüffen. Speckstein - Samurai - Wanted: Dr. House - Reverend Ralph Wilde schreibt an Sir William Wilde - Fisch - Der Brief - Keine Chance - Der Kuss - Das Horoskop - XXL: Zehn hochgradig spannende Geschichten um die natürlichste Sache der Welt - wie das Leben sie schrieb.

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Ich habe Ihnen über den Tod nur das Allerbeste zu sagen.

Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Storch (COS Centre for Organismal Studies, Universität Heidelberg)

Alle Geschichten in diesem Buch sind wahr: Diese Todesfälle hat es wirklich gegeben. Wo und wann, erfahren Sie im jeweiligen Anhang „Quellen und Anmerkungen“.

Sämtliche Namen sind geändert, die erzählerischen Details - soweit nicht bekannt - fiktional.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Kuss

Der Kuss: Quellen und Anmerkungen

Keine Chance

Keine Chance: Quellen und Anmerkungen

Fisch

Fisch: Quellen und Anmerkungen

Speckstein

Speckstein: Quellen und Anmerkungen

Das Horoskop

Das Horoskop: Quellen und Anmerkungen

Samurei

Samurei: Quellen und Anmerkungen

Der Brief

Der Brief: Quellen und Anmerkungen

Reverend Ralph Wilde schreibt an Sir William Wilde

Reverend Ralph Wilde schreibt an Sir William Wilde: Quellen und Anmerkungen

XXL

XXL: Quellen und Anmerkungen

Wanted: Dr. House

Wanted: Dr. House: Quellen und Anmerkungen

Epilog

Danksagung

Leseprobe aus: „Schabrackenblues“ Ein heiterer Frauenroman

VORWORT

Es gibt kaum etwas Abenteuerlicheres als die Theorien darüber, wie der Maler Vincent van Gogh ums Leben gekommen sein soll. Die meisten sprechen davon, dass er sich selbst in die Brust oder auch in den Bauch geschossen haben könnte, es ist aber auch noch eine interessantere Theorie im Umlauf.

Van Gogh ist demnach tatsächlich an einer Schussverletzung gestorben, die er sich allerdings nicht selbst beigebracht haben soll. Nachbarskinder haben zwei Tage zuvor in der Nähe mit einer Pistole gespielt und den Maler dabei versehentlich angeschossen. Angeblich wollte van Gogh die Kinder decken und nahm dafür seinen Tod billigend in Kauf.

Diese Lebensmüdigkeit klingt verständlicher, wenn man etwas über die Eisenmangelanämie weiß, an der van Gogh gelitten haben soll. Sie wurde wohl dadurch ausgelöst, dass er fast ausschließlich Brot zu sich nahm. Weizenbrot enthält sogenannte Phytate, die verhindern, dass Mineralien und Eisen resorbiert werden.

Manche Patienten mit einem Eisendefizit entwickeln das Pica-Syndrom. Namensgeber für diese Erkrankung ist Pica Pica, die Elster. Dieser Vogel nimmt und stiehlt sich, was er in den Schnabel bekommen kann, und baut damit sein Nest. Ein Mensch, der an Pica erkrankt ist, stopft sich ebenfalls wahllos Dinge in den Mund, auch wenn sie zum Verzehr nicht oder nur bedingt geeignet sind, wie Geld, Kosmetika oder Sand. Dahinter steckt der Nährstoffmangel, den der Betroffene unbewusst ausgleichen will.

So greifen Pica-Erkrankte mit einem Eisenmangel gerne zu Metall, Abfall, Steinen oder Erde. Bei van Gogh soll es Farbe und Lampenöl zum täglichen Brot gegeben haben, dazu Alkohol und Nikotin. Das führte wohl zu einer Bleivergiftung und damit zu Nervenschädigungen.

Diese Nervenschädigungen wiederum machten es ihm schwer, einen Pinsel zu halten. Das könnte eine Erklärung für den veränderten Pinselstrich seiner späten Werke sein. Möglicherweise war der Bleivergiftung auch seine Neigung zu selbstverletzendem Verhalten geschuldet - man denke nur an die Aktion mit seinem linken Ohr.

Interessant?

Ja, finde ich auch. Genauso interessant wie die vielen anderen Todesfälle, die im Rahmen meiner Arbeit als Medizinjournalistin auf meinem Tisch landen. Sie betreffen in den wenigsten Fällen Prominente, sind aber in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich und spektakulär. Oft haben sie selbst Rechtsmediziner zum Schwitzen gebracht. Diese Menschen starben an einer Unachtsamkeit, einem Kuss, aus Eitelkeit oder an der Tatsache, dass sie die falsche Hose anhatten.

Irgendwann habe ich angefangen, diese Todesfälle zu sammeln. Zunächst wusste ich nicht, was ich damit machen wollte. Aber 2017 begann ich, sie in Kurzgeschichten umzuschreiben.

Gleichzeitig startete ich ein ungewöhnliches Kurzgeschichten-Projekt. Nach amerikanischem Vorbild veröffentlichte ich jede Woche unter dem Motto „Und du bist weg! – Wahre Geschichten vom Sterben“ einen ganz besonderen, ungewöhnlichen Todesfall. Nach jeweils fünf Geschichten fasste ich sie zu einem Taschenbuch-Sammelband zusammen.

Doch nach zehn Geschichten brach ich das Projekt ab. Zum einen erwies es sich als zu ehrgeizig, eine Geschichte innerhalb einer Woche gut zu recherchieren, zu bewerten und dann niederzuschreiben. Zum anderen fanden sich keine Abonnenten für die wöchentlichen Geschichten. Vielleicht war Deutschland noch nicht reif oder ich nicht hartnäckig genug dafür.

Die „Und du bist weg!“-Bücher verkauften sich gut und kamen vor allem bei Lesungen gut an. Doch dann, Ende 2018, meinte ein großer Verlag, einen Kriminalroman mit gleichem Titel veröffentlichen zu müssen.

Eine Urheberrechtsverletzung? Ja, das sehe ich auch so.

Doch erst mussten ein paar Anwälte jene juristischen Boshaftig- und Spitzfindigkeiten austauschen, die dieser Berufsstand so meisterlich beherrscht, bevor ich mit einem halbwegs akzeptablen Vergleich abgefunden wurde.

Jetzt diese Bücher vom Markt zu nehmen und sie neu unter dem Titel „Verschieden!“ herauszugeben, ist meine Art, dem Verlag im Nachhinein zu zeigen, was ich von ihrer Vorgehensweise in dieser Sache halte.

Gleichzeitig sehe ich darin eine Möglichkeit, die Geschichten meiner Leserschaft neu zu präsentieren.

Das Geld aus dem Vergleich habe ich in ein neues Buchcover investiert. Ich hoffe, es gefällt.

Kandel im März 2019

Brigitte van Hattem

Man höre sich nur an, wie Menschen, die unverhofft Zeugen tödlicher Unfälle oder eines Mordes geworden sind, ihre Worte wählen. Sie sagen immer das Gleiche, es war vollkommen unwirklich, selbst wenn sie das Gegenteil meinen. Es war so wirklich. In dieser Wirklichkeit leben wir jedoch nicht mehr. Für uns ist alles auf den Kopf gestellt, für uns ist das Wirkliche unwirklich, das Unwirklich wirklich geworden. Und der Tod, der Tod ist das letzte Außerhalb. Deshalb muss er verborgen werden. Denn der Tod mag außerhalb des Namens und des Lebens sein, aber außerhalb der Welt ist er nicht.

Karl Ove Knausgård, "Sterben"

DER KUSS

„Wer bist du?“, flüsterte Alejandro Carlos, schlief mit dieser Frage ein und wachte mit ihr wieder auf. Dazwischen lag mehr als nur ein feuchter Traum und mehr als nur Sehnsucht und Begehren. Alejandro ahnte, dass das die Liebe sein musste, die ihn wie eine Sommergrippe erwischt hatte und die ihn so verwirrte, dass er Angst bekam. „Wer bist du?“, wiederholte er noch einmal in Gedanken und ließ sich wieder zurück in seinen Traum fallen, wo er mit der Schönheit und Anmut der fremden Frau verschmolz. Das Klopfen an der Tür hörte er nicht.

***

Rosalia Alexandra Garcia Hernández machte sich Sorgen um ihren Ältesten, und das nicht nur, weil er auf ihr morgendliches Klopfen nicht reagierte. Alejandro Carlos war immer ein hübscher, zarter Junge gewesen, aber der Gestank von Schweiß und Testosteron, der seit einigen Wochen durch seine Zimmertür quoll, sagte ihr, dass er nun unwiderruflich zum Mann reifte. Es war an der Zeit, dass jemand mit ihm über all die Dinge sprach, die nun auf ihn zukamen, insbesondere über ... Sie wagte selbst kaum, an Sexualität zu denken und es stand ihr auch nicht zu, darüber mit ihrem Jungen zu sprechen. Das wäre die Aufgabe seines Paten gewesen, aber José Luis war tot, gestorben an der Neuen Grippe, die 2014 in Mexiko City gewütet hatte.

Rosalia Alexandra hatte ihren Mann längst gebeten, dieses eine, wichtige Gespräch mit Alejandro zu führen, aber Juan Carlos fand immer wieder andere Gründe, es nicht zu tun. Einmal meinte er, die Zeit dafür wäre noch nicht gekommen, dann wieder behauptete er, dieses Internet hätte Alejandro sicher längst aufgeklärt. „Vermutlich weiß er bereits mehr als ich“, sagte Juan Carlos bei dieser Gelegenheit und tätschelte Rosalias Hand.

Sie war wütend gewesen. „Du willst dich nur drücken!“, hatte sie ihm vorgeworfen, aber daraufhin hatte er sie so böse angesehen, dass sie lieber wieder still war. Noch war Mexiko das Land der Machos und selbst in Mexiko-Stadt wurde noch nach traditionellen Mustern gelebt. Rosalia Alexandra hatte sich zuhause um die Mahlzeiten und um die Kinder zu kümmern, Juan Carlos war für die Finanzen zuständig. Lief es gut, konnte er recht gönnerhaft sein, aber wenn es Probleme gab, war er muy macho.

Rosalia Alexandra klopfte erneut an die Tür Alejandros. Langsam verlor sie die Geduld. Sie hatte die Chilaquiles bereits zubereitet: die frittierten Tortillas mit roter Mole übergossen und anschließend in einer Pfanne leicht aufgekocht. Sie würden kalt werden, wenn Alejandro nicht bald am Frühstückstisch erschien. Aber Rosalia wagte es auch nicht, die Tür einfach aufzumachen. Er mochte noch kein Mann sein, aber ein Kind war er schließlich auch nicht mehr. „Alejandro, aufstehen, du musst in die Schule“, rief sie mit einem letzten Klopfen durch die Tür, dann drehte sie sich um und ging zurück in die Küche. Ihr Sohn hatte zwei Vornamen, zwei Nachnamen, fünf Finger an jeder Hand und fünf Zehen an jedem Fuß, ganz so, wie es sich gehörte. Es würde schon alles gut gehen mit ihm, was machte sie sich nur für unnötige Sorgen!

***

Nach der Schule – er hatte es gerade noch geschafft, nicht allzu spät zu kommen – ging Alejandro Carlos in den Palacio de bellas artes. Er war nur wenige hundert Meter von seiner Schule entfernt und für Schüler war der Eintritt frei. Vor etwas über zwei Jahren hatte ihn José Luis, sein mittlerweile verstorbener Pate, mit in diesen Palast der Schönen Künste genommen und ihm vor allem die Gemälde nähergebracht. Alejandro gefielen besonders die Werke von Diego Rivera und José Clemente Orozco: Sie waren wie mit Feuer gemalt und so riesig, so eindrücklich!

Alejandro war auch nach Josés Tod immer wieder in das Museum gekommen, hatte die eine oder andere Stunde vor den Bildern gesessen und sich die einzelnen Bildszenen eingeprägt. Sie hatten seine Fantasie beflügelt – in letzter Zeit zugegebenermaßen vor allem seine sexuelle Fantasie. Es waren die nackten Frauenleiber, die es Alejandro angetan hatten, ihre prallen Brüste, die runden Schenkel. Natürlich hatte sein Vater recht, wenn er dachte, „dieses Internet“ hätte ihn längst aufgeklärt. Aber es hatte Alejandro nur Worte und Fakten gebracht, keine Poesie und keine Romantik. Und schon gar nicht die Wucht und die Lebendigkeit dieser Gemälde!

So sehr ihn diese Bilder auch faszinierten, seit einigen Tagen war Alejandro abgelenkt. Er hatte hinter der Touristenkasse ein Frau entdeckt, die alle Gemälde dieses Hauses in sich zu vereinen schien. Alejandro hatte sie angestarrt wie ein hungriger Teenager und musste sich später eingestehen, dass er schließlich auch nichts anderes war. Aber so wollte er nicht sein. Er war ein Mann, ein Macho, wie alle anderen auch!

Als er das nächste Mal in den Palacio de bellas artes kam, richtete sich Alejandro auf, strich sich sein pechschwarzes Haar aus der Stirn und sah sie an, als wären sie auf einer Auktion und als wäre sie ein Pferd, das zu verkaufen war und er derjenige, der es vielleicht kaufen wollte. Ganz konnte er die Bewunderung nicht aus seinem Blick nehmen und in seinem Kopf formte sich nur eine Frage: „Wer bist du?“, und dieses echte Interesse an ihr verriet ihn.

Er war kein Macho, das sah Daniela Mariana auf den ersten Blick, zumindest noch nicht. Aber er war hübsch, sehr attraktiv. Jung noch, ein wenig zu jung. Daniela sah ihm direkt in die Augen und lächelte. Statt sich hochnäsig abzuwenden, lächelte Alejandro beglückt und ein wenig schüchtern zurück.

Das war vor vier Tagen gewesen und seither war kein Tag vergangen, an dem er nicht hierhergekommen war. Meist setzte er sich vor die Bilder Riveras, fand dort aber keine Ruhe. Immer wieder stand er auf und ging in die Nähe der Touristenkasse. Er wollte sie sehen, aber er wollte auch von ihr gesehen werden.

Daniela Mariana sah ihn tatsächlich. Was Alejandro nicht ahnte: Sie erwartete ihn sogar. Daniela Mariana sah auch, wie sich der junge Mann von Tag zu Tag veränderte. War er am ersten Tag noch jungenhaft und nachlässig erschienen, so war er jetzt immer sorgsam gekleidet und frisiert. Meist trug er ein bis zur Brust geöffnetes weißes Hemd, eine hautenge, schwarze Hose und dazu glänzende, landestypische Stiefeletten. Wie ein Torero sah er aus, ein kleiner, zierlicher Torero. Und immer musste Daniela Mariana lächeln, wenn sie ihn sah und immer, wirklich immer, lächelte Alejandro zurück. Macho hin oder her, er musste sie einfach anlächeln.

Aber nicht an diesem Tag. Als er in den Palacio de bellas artes kam, stand hinter dem Touristenschalter eine andere Frau. Auch sie war schön, zweifellos, doch es war nicht seine schöne Unbekannte. Alejandro war von einem Moment auf den anderen in heller Panik. Doch was hatte er erwartet? Er war sich so sicher gewesen, seine Angebetete hier anzutreffen, dass er an keinen Plan B gedacht hatte. Verzweifelt drehte sich Alejandro um. Wo war sie? Ein Anflug von Machismo ließ ihn wütend werden: Wie konnte sie es wagen, ihn hier sitzen zu lassen?! Aber es war nicht viel dahinter, mit dem nächsten Atemzug war der Dampf verpufft.

Unruhig streifte Alejandro durch die Räume, doch er konnte sie nirgends entdecken. Entmutigt, fast schon verzweifelt, ließ er sich auf der Bank vor seinem Lieblingsbild „Katharsis“ von Orozco nieder. Das gewaltige Durcheinander von Leibern auf der Leinwand entsprach seinen Gefühlen, die sich wie eigenständige Wesen in seinem Inneren zu winden schienen. Wieso war sie nicht hier? War sie ganz weg? Für immer? Vielleicht, so keimte plötzlich ein Gedanke in ihm auf, hatte sie einfach nur einen Tag frei? Vielleicht hatte sie am Sonntag gearbeitet und durfte daher heute zuhause bleiben? Er würde also morgen wiederkommen. Dann wäre sie wieder da. Bestimmt. Alejandro seufzte erleichtert auf.

„¡Hola“, sagte plötzlich eine weiche Stimme hinter ihm. Alejandro drehte sich langsam um und seine eben noch so sorgenvolle Miene wich einem Strahlen. Da stand sie, seine Unbekannte, hübscher noch, als er sie in Erinnerung hatte. Statt der blauen Museumsuniform trug sie ein helles Kleid, das über und über mit bunten Blumen bestickt war. Eine weitere Blume steckte in ihrem dunklen Haar, das heute nicht zu einem Knoten im Nacken gebunden war, sondern in weichen Wellen über ihre Schultern fiel.

„¡Hola“, antwortete er, wobei ihm das kurze Wort fast im Hals stecken blieb. Er war so erleichtert, sie zu sehen, dass er fast geweint hätte.

***

Daniela Mariana war mit ihren vierundzwanzig Jahren sieben Jahre älter als Alejandro. Sie studierte Spanisch an einer privaten Hochschule in Mexiko-Stadt und arbeitete nur aushilfsweise im Museum, daher war sie Alejandro früher niemals aufgefallen. Als moderne Frau, die sich die teuren Hochschulgebühren erarbeitete, fand sie den in ihrem Land gängigen Machismo lachhaft. Dieser wunderschöne Jüngling hingegen, der nicht mehr Kind aber auch noch kein Mann, geschweige denn ein Macho war, faszinierte sie und seine Bewunderung schmeichelte ihr. Nachdem sie ihm verraten hatte, wer sie war und dass sie tatsächlich ihren freien Tag hatte, übernahm sie bei allem, was nun folgte, ganz selbstverständlich die Führung.

Und Alejandro folgte ihr. Sie schlenderten zusammen durch den Alameda Central und setzten sich schließlich auf eine Parkbank. Sie hatten sich viel zu erzählen und ihr Gespräch entwickelte sich mit einer Leichtigkeit, die schnell Vertrauliches zuließ. Als sie seine Hand nahm, geschah es ganz selbstverständlich und genauso selbstverständlich führte er mit seiner Hand die ihre an den Mund und küsste sie, ganz so, als hätte er das schon hunderte Male zuvor gemacht. Irgendwie passte alles, auch das schwül-warme Augustwetter und dass es dann doch nicht regnete, obwohl alle Regen vorausgesagt hatten.

Von diesem Nachmittag an sahen sich die beiden täglich. Alejandro besuchte Daniela nach der Schule im Palacio und wartete, bis sie Feierabend hatte. Dann gingen sie zusammen in den Alameda Central, der ihr zweites Zuhause wurde. Selbst wenn Daniela frei hatte oder wenn es regnete, trafen sie sich dort. Sie redeten viel, sie lachten und - sie küssten sich. Der erste Kuss der beiden war vorsichtig gewesen, doch Alejandro hatte den Bogen schnell heraus und die Küsse wurden stürmischer. Bald war klar: Beim Küssen würde es nicht lange bleiben können.

Unterdessen ahnte Rosalia Alexandra, was ihren Sohn in so kurzer Zeit so sehr verändert hatte. Am Anfang war ihr nur aufgefallen, dass er anfing, sich öfter zu duschen und seine Hemden häufiger zu wechseln. Dann benutzte er auf einmal Rasierwasser und ein Haargel. Tagsüber war er kaum noch zuhause und zum gemeinsamen Abendessen kam er oft zu spät. Rosalia sammelte diese Indizien und wurde schnell schlau daraus. Nun gab es keine Ausrede mehr für Juan Carlos: Er musste mit Alejandro reden. Vielleicht gab es schließlich in Sachen Verhütung doch noch das eine oder andere, das der Vater besser wusste als der Sohn.

Als Juan Carlos das längst überfällige Gespräch über die Liebe und ihre möglichen Folgen mit seinem Sohn führen wollte, ging es gründlich daneben. Daniela hatte schon Tage zuvor die Befürchtung geäußert, Alejandros Familie könne sich gegen die Beziehung stellen, weil sie so viel älter war als er. Alejandro war daher entsprechend gewappnet in das Gespräch mit dem Vater gegangen. Zwar hatte Juan Carlos überhaupt nichts dagegen, dass Alejandro sich mit einer Frau traf, er sollte nur darauf achten, dass er sie nicht aus Versehen schwängerte. Doch dabei sprach er so herablassend über die ihm unbekannte Geliebte seines Sohnes, dass ihm Alejandro wütend die Stirn bot. Der Streit begann, als Alejandro seinem Vater verbat, so über Daniela zu denken, geschweige denn zu reden und er endete, als Juan Carlos nichts Besseres mehr einfiel als „dann verschwinde doch zu deiner Puta.“

Und Alejandro verschwand in den Alameda Central.

In Danielas Armen kam er wieder zur Ruhe. Er erzählte, wer wann was im Vater-Sohn-Gespräch gesagt hatte, und Daniela, die Kluge, erkannte, dass hier nur zwei Machos aneinander vorbei geredet hatten: Hier der alte, der seinen Sohn eigentlich anfeuern wollte wie einen Torero, dort der junge, der blind etwas verteidigte, was gar nicht verteidigt werden musste. Sie war belustigt und gerührt zugleich.

An diesem Nachmittag schlenderten sie wie von alleine in Richtung Coyoacán, wo sich Daniela in der Real de los Reyes eine Wohnung mit zwei weiteren Studenten teilte. Alejandro hatte zwar gewusst, wo seine Liebste wohnt, war aber noch nie dort gewesen. Ihr kleines, möbliertes Zimmer gefiel ihm, es war üppig mit vielen bunten Teppichen, Kissen und Decken in unterschiedlichen Mustern dekoriert, was zu seiner Bewohnerin passte. Vorsichtig setzte sich Alejandro auf das riesige Bett, das von einer roten Tagesdecke mit orange-braunen Streifen bedeckt war.

„Was möchtest du trinken?“, fragte Daniela.

„Was hast du denn da?“, fragte Alejandro zurück.

„Agua de Jamaica?“

„Okay!“

Daniela ging zum Kühlschrank, der in einer Ecke stand, öffnete ihn und entnahm ihm eine Karaffe, die bis zum Rand mit einer blutroten Flüssigkeit gefüllt war. Dann nahm sie ein Glas, schüttete den kalten Hibiskusblütentee hinein, brachte es Alejandro und legte sich zu ihm.

„Möchtest du nichts?“, fragte er.

„Brauchen wir zwei Gläser?“

Alejandro schluckte. Nein. Sie brauchten keine zwei Gläser. Sie waren schließlich eins. Alejandro stellte das Glas ab, beugte sich über Daniela und begann, sie zu küssen.

***