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Das Warten hat ein Prestigeproblem. Völlig zu Unrecht, findet Autor Thomas Meyer und nimmt sich in diesem minute book der unterschiedlichen Arten eines unterschätzten Zustands an – provokant und humorvoll. »Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann.« Leo Tolstoi
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Seitenzahl: 42
Thomas Meyer
Verschiedene Arten von Warten
Diogenes
Würde das Finanzamt seinen Rechnungen einen Prospekt beilegen, der aufzeigt, wofür öffentliche Gelder eingesetzt werden, bezahlten die Bürger ihre Steuern wohl nicht mit derartigem Widerwillen. Dann sähen sie, was sie eigentlich wissen, aber gern vergessen: dass mit ihrem Geld Schulen und Klärwerke gebaut, Polizeiautos und Rettungswagen beschafft und die Leute bezahlt werden, die damit herumfahren. Sie sähen, dass sie zwar etwas hergeben, aber ein Vielfaches dafür bekommen. Nämlich einen funktionierenden Staat.
Leider verzichtet die Steuerbehörde aber auf solche Broschüren und der Mensch für gewöhnlich auf solche Überlegungen. Lieber fühlt er sich ringsherum benachteiligt und hintergangen und wähnt darin das Werk finsterer Mächte, die sich gegen ihn verschworen haben. Das verschafft ihm aus rätselhaften Gründen die tiefere Befriedigung als sauberes Wasser. Darum betrachtet er seine Steuern auch nicht als Beitrag zum Gemeinwohl, sondern als vampireske Wegelagerei.
Mit dem Warten verhält es sich ganz ähnlich. Es verpflichtet uns in ebenso unabänderlicher Weise wie die Steuer, und wir sehen darin auch nur Nachteil und Zwang: Das Warten verdammt uns, an der Haltestelle zu stehen, bis der nächste Bus kommt, in der Eisenbahn zu sitzen, bis sie am Hunderte Kilometer entfernten Bestimmungsort eintrifft, und so lange allein zu schlafen, bis ein neuer Partner in unser Leben tritt. Das Warten hat in unseren Augen nur einen Sinn: der sofortigen Erfüllung unserer zahllosen Begehrlichkeiten im Weg zu stehen. Also verabscheuen wir es.
Doch das Warten beraubt uns nicht, es beschenkt uns, und zwar mit uns selbst: Der Bus, auf den wir warten, gönnt uns fünf Minuten, die wir ungestört mit uns allein verbringen dürfen, die Eisenbahn ermöglicht es uns, unsere Gedanken an das vorbeiziehende Land zu verlieren und sonst nichts zu tun, und der Partner, den wir noch nicht kennengelernt haben, erlaubt uns, ja fordert uns auf, uns bis zu seinem Erscheinen selbst ein liebevoller Gefährte zu sein. Das sind ziemlich kostbare Gaben.
Falls wir aber keine Ahnung haben, wie wir es mit uns selbst aushalten sollen, noch nicht einmal für ein paar Minuten, dann ist es nur konsequent, das Warten zu hassen. Nicht weil es langweilig ist, sondern unverschämt. Immer wieder stellt es sich uns in den Weg und fragt: »Wie geht es dir?«
Die Antwort auf die Frage nach unserem Befinden lautet üblicherweise »gut«, was üblicherweise gelogen ist. Viele von uns tragen alten Groll in sich herum, werden von unbefriedigten Bedürfnissen geplagt, sind zu Hause oder bei der Arbeit waschechten Tyrannen ausgeliefert, haben keine richtigen Freunde oder leben in glücklosen Beziehungen. Das erzeugt zwar alles gehörigen Druck auf die Seele, lässt sich aber bestens verstecken, namentlich vor einem selbst. Dabei hilft es, dass man doch recht häufig gefragt wird, wie es einem gehe, denn eine laufend wiederholte Lüge kommt irgendwann als etwas daher, das sich leicht mit der Wahrheit verwechseln lässt.
Zwischen der Behauptung, es gehe einem gut, und tatsächlichem seelischen Wohlbefinden liegt jedoch ein weiter Weg, und zwar ein senkrechter. Er führt hinab in die eigenen dunklen Tiefen, wo es gilt, sich den dort hausenden Dämonen zu stellen und diese einen nach dem anderen zu bezwingen:
Den Dämon, der einem einredet, man könne nichts, sei nichts wert und mache alles falsch.
Den Dämon, der einen glauben machen will, das Leben sei karg und freudlos, und wer sich anschicke, es zu genießen, ein liederlicher Egoist.
Den – vermutlich von der Kirche ausgebildeten – Dämon, der behauptet, man sei von Geburt an schlecht und sündhaft, weswegen es normal sei zu leiden, vor allem in der Liebe, und edel, dies zu erdulden.
Den Dämon, der verkündet, man müsse sich bis zum Umfallen verausgaben, um Anerkennung zu gewinnen.
Den Dämon, der sagt, ein guter Mensch sei nur der, dem alles wichtiger sei als er selbst.
Und natürlich den Dämon, der beteuert, es gebe gar keine Dämonen und folglich auch nichts zu ergründen oder gar zu reparieren; es sei alles in bester Ordnung, und wer es anders sehe, habe selbst ein Problem, weil er überall eines suchen müsse.
Das Warten ist die Stunde unserer Dämonen. Wann immer wir irgendwo aufgehalten und in unserem dauergeschäftigen Treiben unterbrochen werden, recken sie sich und schwadronieren vom Schmerz, den wir verdient hätten, und vom Glück, das uns nicht zustehe. Und das ist die noch viel größere Lüge als die Aussage, es gehe uns gut, wenn dies gar nicht stimmt.
Doch wie ein Blick auf die Politik zeigt, nehmen wir die frechsten Lügen am freudigsten entgegen. Umso schwieriger ist es, seine Dämonen zum Schweigen zu bringen. Ironischerweise besteht der erste Schritt darin, sie ausreden zu lassen; wirklich ausreden zu lassen, bis ihnen nichts mehr einfällt. Also nicht bei ihrem ersten Knurren zu rufen: »Ganz recht, Herr Dämon, ich bin ein Stück Scheiße!«, sondern nachzufragen: »Interessant, aber warum soll mein Leben so unbedingt eine Qual sein?«