Versteckerles - Harald Pflug - E-Book

Versteckerles E-Book

Harald Pflug

4,3

Beschreibung

Karlsruhe im August1945. Eine Mordserie beunruhigt die Bevölkerung. Die Leichen weisen Spuren von Blausäure auf. Da die Polizei keine Ergebnisse liefert, beauftragt Major Arlington seinen Freund Captain John Edwards mit dem Fall. Edwards ruft kurzerhand seine Scoutpatrouille zusammen und macht sich auf die Suche nach dem Täter. Die Spur führt zu Schwarzhändlern und schließlich bis in die eigenen Reihen …

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Harald Pflug

Versteckerles

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013–Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

»Man spürt den Kragen erst, wenn man ihn am Hals hat.«

(Fritz Schadt, 1899–1972)

Prolog

Etienne blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als die gerade geöffnete Stahltür hinter ihm ohne sein Zutun mit einem Knall zuschlug und das Geräusch durch die leeren Hallen echote. Sein Kumpan Ali zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.

Ein fahler Mond schien von draußen durch die schmalen Lichtschächte herein und belegte die Räume des leeren Kornspeichers mit einem kalten Licht und langen, grauen Schatten von zahllosen Deckenstützen.

Der russische Kontaktmann in der Mackensen-Kaserne hatte von Weizen, Mais und Hafer im Überfluss gesprochen. Tausende Säcke in endlosen Reihen. Die Räume bis unter die Decke gefüllt. Ein paar Zentner mehr oder weniger würden hier gar nicht auffallen. Hatte er sich vielleicht geirrt? Waren Etienne und Ali etwa in den falschen Speicher eingebrochen?

Dieser Speicher jedenfalls war leer. Trostlos leer. Hier war seit langer Zeit nichts mehr gelagert worden. Überall bröckelte der weiße Putz von den verwitterten, roten Ziegelsteinen ab, Wassertropfen erzeugten riesige Pfützen auf den Korridoren und Spinnennetze spannten sich in mehreren Schichten vor den schmalen Fenstern. Ali hatte extra noch einen Kuhfuß organisiert, um die Türen besser aufbrechen zu können. Aber bisher waren alle erstaunlicherweise unverschlossen gewesen. Ein weiterer Beweis für einen leeren Getreidespeicher.

Draußen waren sie über zerrissene Blechteile, Stahlschrott und ausgediente Elektromotoren gestiegen. Wohin sie traten, lagen Teile der metallenen Fassade und des Daches herum. Die Kaserne war kurz vor Kriegsende von den Franzosen beschossen worden, da nebenan auf dem Dachbalkon des Verwaltungsgebäudes eine Flugabwehrstellung der Wehrmacht die Sicherheit für das Mittelbecken des Karlsruher Rheinhafens garantieren sollte. Dass der Balkon schon lange nicht mehr besetzt war, hatte die französische Armee erst später gemerkt. Nebenbei hatten sie diese zwei Getreidesilos der Lagerei-Genossenschaft, den zufällig auf dem Hafenkai stehenden Entladebagger für die Lastschiffe und einige Güterwaggons, die mit Mais beladen werden sollten, zerstört. Der Bagger war damals von der Mole in das Hafenbecken gestürzt, zugleich hatte er einen der leeren Eisenbahnwaggons mit sich in die Tiefe gerissen.

Die beiden standen unschlüssig vor einer weiteren Stahltür, die genauso unverschlossen war. Allerdings befand sich kein Lagerraum hinter der Tür, sondern ein Treppenhaus. Ali hatte das schwere Brecheisen inzwischen geschultert und wechselte alle paar Minuten, auf Arabisch fluchend, die Seite.

Das weiß gekalkte Treppenhaus hatte kein Dach mehr. Weggebombt im Januar 1945. Stählerne Stufen in dem viereckigen Schacht führten an der Wand entlang nach oben und endeten etwa zwanzig Meter über ihnen in einem verbogenen, halb herunterhängenden Podest. Durch das Gitter hindurch konnten sie den Sternenhimmel sehen. In der Mitte des Treppenschachts war früher ein Kran angebracht, der vermutlich bei dem Beschuss heruntergefallen war. Ein paar bizarr verformte Stahlträger, ein endlos erscheinendes, verrostetes und an verschiedenen Stellen angebrochenes Stahlseil und ein maroder Flaschenzug bildeten einen mächtigen Schutthaufen an der Sohle der Treppe. Vorsichtig stiegen die zwei die bei jedem Schritt knarrende Treppe ins erste Obergeschoss hoch bis sie vor einer weiteren Doppeltür standen. Die dicken weißen Lettern ›TROCKENLAGER IIa‹ waren mit einer Schablone darauf gemalt worden. Vermutlich hatte ein Lagerarbeiter von Hand mit Kreide ›Licht aus?‹ darunter gekritzelt.

Wie der Franzose es bereits gewohnt war, vermutete er eine offene Tür, als er die Klinke drückte. Doch dieses Mal war abgeschlossen. Endlich!, dachte er sich. Ein voller Lagerraum.

Ohne Worte zu verlieren, setzte Ali das Brecheisen im Bereich des Türschlosses an und lehnte sich mit aller Kraft dagegen. Die Stahltür gab ein grausiges Knirschen von sich, das Schloss knackte dreimal laut und schließlich sprang die Tür einige Zentimeter auf, gleichzeitig gab es ein kurzes, zischendes Geräusch, als würde zu hoher Luftdruck aus dem Raum entweichen.

Ein kalter, muffiger Hauch, wie aus einem Kellerloch, waberte ihnen entgegen. Der Geruch von Stockflecken und abgestandener Luft mit einem eigenartigen Aroma stieg ihnen in die Nase.

Beide lehnten sich noch einmal mit voller Kraft gegen die Tür, irgendetwas blockierte, schließlich gab sie nach und sie konnten den Widerstand überwinden, die Tür halb aufschieben und in den stockfinsteren Raum hineinblinzeln.

Nach langem Suchen und Herumbasteln an dem verrosteten Blechgehäuse einer Vorkriegstaschenlampe hatte Ali diese endlich anschalten können. Der blassgelbe Lichtkegel stach in einen Vorraum und offenbarte sein furchtbares Inneres.

Die Fenster waren mit Metallplatten verschraubt. Eine weitere Doppeltür mit der Aufschrift ›TROCKENLAGER II‹ kam im Hintergrund zum Vorschein, als der helle Kreis über die Buchstaben hinwegstrich. Dann erschraken die beiden Einbrecher. Ein amerikanischer Soldat saß einige Meter von der Tür entfernt, links von ihnen mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und stützte sich mit der rechten Hand auf ein Gewehr. Die ganze Szene wirkte, als hätte die Zeit stillgestanden und das Leben wäre angehalten worden.

Etienne sah seinen arabischen Kumpanen kurz an. »Was macht der da?« Er nickte in dessen Richtung.

Ali zuckte mit den Schultern. »Warten?«

»Im Dunkeln?«

»Vielleicht.«

»Leuchte ihn noch mal an!«

Ali drehte die Lampe zu dem bewaffneten Mann. Er ließ das Licht langsam von oben nach unten wandern.

Etiennes Herz begann in seiner Brust laut zu klopfen, und ein Würgereiz machte sich in seinem Magen breit. Er musste ein paar Mal heftig schlucken.

Das Gesicht des Mannes war aschfahl und faltig, die Wangen eingefallen, die Augen aufgerissen und etwas in die Höhlen zurückgezogen. Das ganze Gesicht war vertrocknet. Der herunterhängende Unterkiefer gewährte den Blick auf ein tadelloses Gebiss. Er war geschätzte dreißig Jahre alt, mittelgroß, von kräftiger Statur und trug ein schäbig aussehendes amerikanisches Uniformhemd. Seine schlabberige, olivgrüne Hose bedeckte fast komplett die Stiefel. Nur deren Spitzen schauten hervor. Die Haut der rechten Hand, welche den Lauf des Garand-Karabiners umklammerte, war an einigen Stellen eingerissen und ließ weiße Knochen darunter erkennen.

Die Leiche war komplett eingetrocknet. Als Etienne einen Blick hinter die Tür warf, erkannte er einen weiteren Mann, der genauso aussah wie der andere, im Gegensatz dazu nahezu nackt war und hinter der großen Stahltür kniete. Seine Uniformjacke, die Hose und das Hemd hatte er benutzt, um alles in den Schlitz zwischen Tür und Schwelle zu stopfen. Sie steckten noch teilweise dazwischen. Der Kniende war im verzweifelten Todeskampf gestorben.

Etienne hatte genug gesehen. Dieser leichte Mandelgeruch in dem Raum war ihm irgendwie verdächtig. Ein Gedanke der Erkenntnis blitzte in seinem Gehirn auf und ließ ihn vor Panik und Todesangst erzittern. Er drehte sich um, schrie zu seinem Kumpel: »Mann, lass uns hier bloß verschwinden! Die sind vergast worden!«, und rannte wie ein Irrer die Treppe hinunter, zurück durch die Hallen und Korridore des leeren Speichers, hinaus in die Nacht.

Ali folgte ihm wesentlich langsamer. Draußen in der Kälte lehnte Etienne sich an die Außenmauer und atmete hörbar die Nachtluft ein. Nach wie vor hatte sich sein Herzschlag nicht beruhigt. Er fasste Ali an der Schulter, sah ihm in das immer gleichgültige Gesicht und flüsterte: »Zu niemandem ein Wort! Hast du mich verstanden, Ali? Niemandem!«

Samstag, 18. August 1945

Sergeant Anthony Roebuck saß genüsslich in einem schweren Ledersessel und lauschte den schwungvollen Klängen von Bing Crosbys ›Swinging on a star‹. Während er ein kühles Bier trank, überlegte er, wie Bing bloß auf diesen Text mit dem Esel, dem Schwein und dem Fisch gekommen war. Das Lied war einfach genial. Er würde die Melodie sicherlich noch einige Zeit vor sich hin summen.

Als die Schallplatte zu Ende war, kratzte die Nadel minutenlang in der innersten Rille, bis Roebuck sich aus dem verschwitzten Sessel erhoben hatte und auf Socken zu dem Kofferplattenspieler schlurfte, der neben dem Radioempfänger stand. Die Drähte der Wurfantenne für Kurz- und Mittelwelle hatte er in Kopfhöhe an die Wand genagelt. Grinsend legte er den Tonarm erneut am Anfang der Single auf, um den Ohrwurm ein weiteres Mal zu hören.

›A pig is an animal with dirt on his face…‹

Seit er nach Heidelberg versetzt worden war, hatte sich einiges für ihn geändert. Er musste nicht mehr ständig in den zugigen Fahrzeugen sitzen, in irgendwelchen Landkarten herumkritzeln oder bei Schummerlicht Luftaufnahmen auswerten. Er war jetzt zusammen mit seinem Vorgesetzten für die Registratur und die Soldauszahlung in der Heidelberger Großdeutschland-Kaserne verantwortlich. Colonel Goddard von der ehemaligen Panzerkaserne in Schwetzingen hatte ihn vor einigen Wochen für diesen Posten vorgeschlagen.

Der Sergeant kontrollierte ein weiteres Mal das kleine Waschbecken in der Ecke des Raumes. Er hatte dessen Abfluss mit Toilettenpapier und einem Lappen verstopft und Leitungswasser hineinlaufen lassen, um die Bierflaschen zu kühlen. Denn er erwartete noch Besuch an diesem lauen Nachmittag. Sergeant Vickers hatte sein Kommen angekündigt und es würde ein sicherlich lustiges Wiedersehen mit dem Lkw-Fahrer und guten Freund nach über zwei Monaten geben.

Die komplette Scout-Einheit wurde damals nach dem Eintreffen in Karlsruhe durch das Oberkommando in Frankfurt aufgelöst und die Leute auf verschiedene Dienststellen in und um Karlsruhe verteilt. Lediglich Sergeant Amos Letchus, der Funker, und der Kanonier Corporal Wilbur van Bouren waren nicht mehr dabei. Letchus ging zurück nach Schwetzingen in seine alte Einheit, van Bouren wurde ein paar Tage später, wie 350000andere US-Soldaten auch, von Deutschland aus in den Pazifik versetzt, um von Iwojima, Okinawa und Pearl Harbor aus die letzten Schlachten gegen die Japaner zu kämpfen.

Captain Edwards kam in die Kommission zur Überwachung des Wiederaufbaus in Karlsruhe, Joey Vickers war als stellvertretender Leiter des Motor-Pools in der Stabskompanie und Corporal Mike Jonas musste jungen Soldaten Waffenkunde beibringen. Alle drei waren in der Blackhawk-Kaserne in Knielingen stationiert. Seit Mitte Juli 1945 war dort ein Panzerbataillon der 172.Infanterie-Brigade untergebracht. Dessen Spitzname ›Blackhawks‹ ging auf die Kaserne über. Specialist Jimmy Piece wurde nicht mehr als Fahrer und Sanitäter der Scouts, sondern als Kontrolleur im Schreibbüro eingesetzt, nun allerdings in der General-Forstner-Kaserne im Norden von Karlsruhe. Sein neuer Job war die Kontrolle von amtlichen Aushängen und Bekanntmachungen der Stadt Karlsruhe an die Bevölkerung. Sein geliebtes Scharfschützengewehr musste er schweren Herzens gegen eine alte Schreibmaschine und einen Stempel tauschen. Trotzdem ging er noch regelmäßig mit dem Gewehr zum Schießen, um nicht den Specialist aberkannt zu bekommen. Zumindest in Notfällen durfte er noch als Sniper tätig werden. Auch die regelmäßige Weiterbildung in Erster Hilfe kam bei ihm nie zu kurz.

Draußen auf dem Flur des Unteroffizier-Gebäudes klingelte das Wandtelefon. Der einstige Kartograf des Scout-Teams, der seine Zimmertür idealerweise direkt neben dem Apparat hatte, trat auf den gefliesten Gang mit den hölzernen Wandnischen und Haltern für die deutschen Gewehre und griff nach dem Hörer.

»Vertreter des Zahlmeisters, Sergeant Roebuck.«

»Hauptwache, Private Pisaggio, Sir. Zwei Besucher für Sie. Kommen Sie bitte zu uns und holen Sie sie ab?«

»Zwei?« Anthony kratzte sich verwundert am Kopf.

»Jawohl, Sir. Zwei Personen.«

»Ich bin gleich da, Private. Danke.« Er legte auf. Wen brachte Vickers denn mit? Mit Edwards hatte er erst gestern telefoniert, der hatte heute keine Zeit. Von Piece und Jonas hatte er lange nichts mehr gehört. Die alte Einheit war nach ihrer Auflösung wie ein saftiges Brathähnchen zerpflückt und zerteilt worden. Er zuckte mit den Schultern, krempelte sich die Ärmel nach unten, knöpfte die Manschetten des Diensthemds zu, griff nach seiner Kopfbedeckung und machte sich auf den Weg zur knapp zweihundert Meter entfernten Wache am Haupteingang der Kaserne. Die große Turmuhr auf dem Dach des Hauptgebäudes zeigte 15.30Uhr. Die vergoldeten Stundenstriche des mannshohen Zifferblatts glänzten in der Sonne, während er sich dem Durchgang unter dem Gebäude zuwandte.

Die wachhabenden Soldaten grüßten den Sergeant zackig, als er das Wachhaus betrat. Mit seiner Position, stellvertretender Zahlmeister, stellte er fast den wichtigsten Mann in der Kaserne dar. Momentan hatte die Wache allerdings noch mehr Respekt vor dem jungen Corporal Michael ›Mike‹ Jonas, der einen Silver Star an der Uniform trug. Dieser Orden allein ließ so manchen Offizier vor Neid erblassen.

»Corporal Jonas!«, rief Roebuck. »Das ist eine tolle Überraschung.«

Die drei Männer begrüßten sich herzlich.

»Willkommen in Heidelberg, Joey! Ich hatte gar nicht mit solch hochrangigem Besuch gerechnet.«

Joey klopfte Roebuck lachend auf die Schulter. »Kommt, lasst uns gehen.«

Die drei verließen das Wachhaus und liefen langsam zurück zu Roebucks Unterkunft. Dabei unterhielten sie sich mit viel Gelächter. Auf halbem Weg kamen sie an einem der großen Fahrzeuglager der Kaserne vorbei. Lauter ausgemusterte Fahrzeuge stellten den Innenhof beinahe komplett zu. Joey kletterte übermütig auf die offene Ladefläche eines Dodge WC63 Lastwagens, reckte den Hals und musterte die zahlreichen Rad- und Kettenfahrzeuge, die auf der riesigen Wiese mitten auf dem Kasernengelände standen. Plötzlich deutete er nach links und schrie: »Da! Da ist mein Baby! Hier ist sie also hingekommen. Ich werde wahnsinnig.« Wie ein kleines Kind lief er zu den abgestellten Fahrzeugen und verschwand dazwischen.

»Los, kommt her!«, brüllte er nach kurzer Zeit aus einer anderen Fahrzeugreihe herüber. »Hier steht unsere M3 Halbkette mit der Nummer21239614! Die MG-Lafette fehlt immer noch!« Er streichelte dem Fahrzeug zärtlich über die kantige Motorhaube mit der aufgemalten Kennnummer, als er es umrundete. Dann riss er die Fahrertür auf, schwang sich hinein und versuchte den Motor zu starten. Außer einem Klick passierte nichts.

Jonas war zwischenzeitlich zu Vickers gelaufen. Nachdenklich betrachtete er das Fahrzeug.

»Schau mal, Mike.« Joey öffnete die gepanzerte Fahrertür. »Sogar die beiden Beulen in der Tür von dem verrückten Frenchy aus Graben sind noch da! Erinnerst du dich? Wegen meiner weggeworfenen Zigarette hatte der auf uns geschossen. Hier! Eins, zwei, knapp nebeneinander. Jetzt muss ich mal schauen, warum der verdammte Motor nicht anspringt. Die haben sicherlich die Batterie abgeklemmt.« Er sprang aus dem Fahrzeug, öffnete mit einem Griff die Motorhaube und schrak zurück. Der rußgeschwärzte Motorraum war vollkommen leer, lediglich abgetrennte Schläuche, Stromkabel und das fettig glänzende, gezahnte Ende der Kurbelwelle, welches aus dem Verteilergetriebe heraus auf den Boden hing, waren sichtbar. Verwirrt blickte er zu dem danebenstehenden Halbkettenfahrzeug. Auch dort fehlte der Motor. Vickers sprang herab, machte ein paar Schritte zurück und sah vorsichtig unter die vor ihm stehende Reihe aus vierundzwanzig identischen Kühlern, Stoßstangen, Panzerplatten und Maschinengewehr-Lafetten. Überall lag die Kurbelwelle mit dem vorderen Ende auf dem trockenen Boden. Und überall fehlten die Motoren. Erst jetzt fiel ihm auf, dass viele der Fahrzeuge teilweise komplett ausgeschlachtet waren. Die Räder fehlten, ganze Achsen waren demontiert, Karosserien einfach auf Holzklötze aufgebockt. Es roch nach Benzin und Motorenöl. Die Demontageteams hatten sich nicht mal die Mühe gemacht, das Öl zu sammeln. Es wurde einfach auf den Rasen gekippt. Vickers stand mit hängenden Armen da und schaute sich wehmütig um.

Roebuck trottete langsam zu ihm, legte ihm den Arm um die Schulter und flüsterte: »Joey, alles was hier steht, wird bald verschrottet. Es tut mir leid. Die Fahrzeuge werden von überall eingesammelt. Unser Dodge steht etwas weiter hinten bei den anderen Lastwagen. Die Funkanlage haben sie ausgebaut und in den Pazifik geschickt. Die etwas besser erhaltenen Trucks wurden schon nach Afrika, Südamerika und in die Schweiz verkauft. Die stehen außerhalb der Kaserne und warten auf ihren Abtransport. Die Fahrzeuge sind angeblich technisch veraltet.«

»Quatsch, die sind fast alle noch gut! Wir haben uns den Arsch aufgerissen, um sie in Ordnung zu halten.«

»Ich weiß, Joey. Für die Landung an der Küste, die Invasion durch Frankreich und die Fahrt durch Deutschland bis Kriegsende waren sie gut. General Motors in Detroit hat jetzt bessere Fahrzeuge auf den Produktionsbändern stehen. Diese hier – und manchmal auch wir – sind teilweise überflüssig. Alt und verbraucht. Der Krieg ist vorbei. Die alte Kavallerie hat ihren Zweck erfüllt, Joey. Neuer Krieg, neue Technik.«

»Manchmal hasse ich die Armee!« Vickers riss sich aus Roebucks Griff und lief trotzig zurück zu der Straße, welche die Grünfläche einschloss. Unterwegs kickte er wütend eine Schraube davon, die im Weg lag. »Scheiße! Am liebsten würde ich jetzt sofort nach Hause fahren.«

»Ich verstehe deinen Frust, Joey, aber übertreib nicht!«

Eine Stunde später saßen die drei in Roebucks geräumigem Zimmer. Dieser hatte das Radio eingeschaltet und der Soldatensender American Forces Networkspielte gerade die beliebte Sendung ›Rock ’n‹ Roll Hits of the 40’s‹. Auf dem Boden lagen zwei Bierkartons und viele leere Flaschen. Das Bier konnte gar nicht so schnell im Waschbecken abkühlen, wie es getrunken wurde. Der laue Sommerabend in der Kaserne wurde mit Geschichten von vergangenen Abenteuern verbracht. Aufgrund des Alkohols zog Joey viele dieser Erinnerungen ins Lächerliche, er machte sich einfach über alles und jeden lustig. Als er Roebucks Affäre mit einem Mädchen durch den Kakao zog, wurde dieser wütend.

»Joey, jetzt reicht es! Ich habe keine Lust mehr, mir deinen Quatsch anzuhören. Halt’s Maul!«

»Aber die Kleine…«

»Wir sind immer noch ein Paar!«

»Ähem«, er setzte sich plötzlich aufrecht hin. »Wirklich? Ich dachte, du wolltest lediglich deinen Spaß haben?«

»Nein, wollte ich nicht! Sie tat mir anfangs wahnsinnig leid, so klein und zerbrechlich wie sie war.« Roebuck schluckte den Kloß im Hals herunter und wischte sich unbemerkt von den anderen über die Augenwinkel. Um sich abzulenken, öffnete er eine weitere Bierflasche, holte tief Luft, seufzte und strich sich über die blonden, kurzen Haare. »Es geht ihr wieder gut.« Er bekam eine Gänsehaut, als er an ihre weiche Haut denken musste.

»Du hast doch sicherlich schon mit ihr…ähem oder?« Vickers verdrehte die Augen und grinste.

»Ich weiß, was du meinst. Nein, haben wir nicht. Ich habe es nicht eilig«, entgegnete Anthony. »Ich glaube, das hier ist was anderes als sonst. Ich hatte mal eine Freundin in der Schule, da musste alles hopp, hopp gehen. Bei Christine und mir ist es irgendwie anders. Wir lieben uns, wir gehen manchmal mit dem Hund am Altrhein spazieren, wir treffen uns regelmäßig und es ist alles wunderbar. Bei uns hier im Offizierskasino gibt’s zweimal pro Woche einen Deutschkurs für Soldaten. Anfangs hatte sich Christine über meine Aussprache halb tot gelacht. Inzwischen traue ich mich, mit ihrem Vater zu sprechen.«

Vickers stützte inzwischen den Kopf in seine Hände und seufzte. »So gut wollte ich es haben.«

»Was willst du? Du hast eine große Autowerkstatt von deinem Vater bekommen, das wirft doch auch einiges ab.« Jonas schnippte den Metalldeckel seiner Flasche gezielt durch das halb geöffnete Fenster.

»Haben dir deine Eltern eigentlich damals auf den Brief geantwortet?«

Joey nickte. »Kurz nach der Auflösung unserer Einheit in Karlsruhe erhielt ich einen langen Brief von meiner Mum. Meine Eltern haben sich wahnsinnig über die Post gefreut. Sie haben mir außerdem die Football-Ergebnisse und Bilder von den Jungs geschickt. Mein Dad hat letztes Jahr ein weiteres Chevrolet-Autogeschäft in Gainesville eröffnet, zudem im Auftrag der dort ansässigen Universität die Marketing-Abteilung der Florida Gators übernommen. Seitdem kümmert er sich fast nur noch um die Organisation der Spielerfahrten. Er hat einen großen Greyhound-Bus gekauft und in den Vereinsfarben lackieren lassen. Die Universität hat nun Wimpel, T-Shirts und bedruckte Bälle für die Fans im Angebot. Irgendwo habe ich Bilder in der Tasche.« Vickers tastete seine Uniform ab. »Yeah, hier sind sie!« Das Bier zeigte inzwischen deutlich seine Wirkung bei ihm. Fast wäre er aus dem Sessel gefallen, als er versuchte aufzustehen. Roebuck und Jonas betrachteten beeindruckt die farbigen Fotografien. Sie zeigten eine Werkstatthalle mit vielen glänzenden Neuwagen davor, den grün-weißen Vereinsbus, einigen Fans, Bilder des Footballteams mit dem Vater, Schnappschüsse vom Training und ein Gruppenbild mit der Familie und allen Angestellten. Joey kommentierte jedes einzelne Foto.

»Wer ist denn das junge Mädchen da auf dem Bild?«, wollte Jonas wissen. Seine Augenlider hingen bereits auf halber Höhe und er musste sich sehr bemühen, die Frage für alle verständlich zu formulieren.

Der Mechaniker grinste Jonas an. »Das ist Hannah, die neue Sekretärin in der Werkstatt in Fort Lauderdale. Stellt euch vor, sie fährt morgens mit dem Motorrad zur Arbeit! Ich habe vor vier Tagen meine Mum angerufen, aber Hannah war dran. Ich glaube, ich muss mal endlich zu Hause nach dem Rechten sehen.« Er lachte und schmatzte genießerisch. »Da ich hier sowieso keine Freundin finde, kann ich eine in Dad’s Firma haben.« Er steckte schnell die Fotos ein und griff zu seinem Bier. »Und deine Christine? Was macht sie, wenn du nicht da bist?« Vickers schaute Roebuck erneut schelmisch an und trank die Flasche in einem Zug leer.

»Sie engagiert sich«, erwiderte dieser im optimistischen Tonfall, erhob sich und blickte wieder zum Fenster hinaus. »In Ketsch wurde ein Waisenhaus und ein Kindergarten gegründet. Dort arbeitet sie für die Einheimischen und die Flüchtlinge. Überall sind Flüchtlinge, in jedem Ort. Sie wohnen in Scheunen, Kellern, leeren Ställen oder teilen sich die Wohnungen mit den Besitzern. Ihr wisst ja, das Ganze passiert unter der Aufsicht der U.S. Army und der U.N.R.R.A. Christine liebt Kinder. Außerdem können die Bewohner ohne die ganz Kleinen besser ihre Feldarbeit machen oder sich um den Wiederaufbau der Häuser kümmern. Die flüchtenden Krauts haben einen Teil des Dorfes beim Rückzug sogar selbst zerstört.« Anthony Roebuck drehte sich zurück zu den Kameraden, betrachtete aber weiterhin seine Flasche, während er sprach. »Im Gegenzug erhalten die Kinder warmes Essen und lernen nebenbei noch etwas. Wir bekommen Kartoffeln, Eier, Gemüse und Fleisch. Da andere Kindergärten und Waisenhäuser in Hockenheim oder Schwetzingen nichts hatten, mussten wir anfangs alles rationieren. Jetzt kümmern wir uns von Heidelberg aus um die Kinder. Ich finde das richtig gut. Wir haben für sie Bücher besorgt. Und Spielzeug. Das war ganz wichtig. Leute aus Heidelberg und Mannheim haben das gespendet. Vormittags ist eine pensionierte Köchin aus Hockenheim da. Der Kindergarten hat sogar ein eigenes Stück Acker erhalten. Dort pflanzen sie Gemüse, Karotten, Gewürze, Kartoffeln und Erdbeeren an. Drei riesige Apfelbäume und ein Pflaumenbaum stehen da. Die kleinen Kinder lieben es, Gärtner zu spielen. Ich habe ein paar Männer beauftragt, ein Baumhaus zu bauen. Und das Beste ist, einmal im Monat machen wir mit dem Pferdewagen einen Ausflug. Wir fahren in die Rheinauen oder nach Schwetzingen oder zum Baden an einen See. Manchmal besucht ein Bauer mit einem Pferd das Waisenhaus, dann dürfen die Kinder darauf sitzen und im Kreis reiten. Letzte Woche haben wir gemeinsam einen Streuselkuchen gebacken. Manche Kinder haben noch nie in ihrem Leben Kuchen gegessen. Oder Schokolade. Könnt ihr euch das vorstellen? Das ist doch toll.« Als er seinen Monolog beendete und aufsah, bemerkte er, dass die beiden Kameraden inzwischen mehr oder weniger eingeschlafen waren. Jonas‹ Kopf drohte langsam nach hinten zu kippen, immer im letzten Moment richtete er ihn wieder auf und versuchte, die schweren Augenlider zu öffnen. Schließlich sank sein Kopf auf die Brust und blieb dort. Vickers stützte den Kopf mit den Händen, hatte die Ellenbogen auf den Tisch gelegt und schlief in dieser äußerst unbequemen Position.

Ein wenig beleidigt, trotzdem froh über den Besuch der Freunde, öffnete Roebuck beide Fensterflügel. Er sog die frische Abendluft in seine Lungen und atmete tief durch. Gerade berührte der untere Rand der Sonne die Berge am Horizont auf der anderen Rheinseite, der Himmel verfärbte sich in helles Orange. Über den Dächern der Kasernengebäude hörte er das Pfeifen der Schwalben, die auf der Jagd nach Insekten waren. Gerne wäre er jetzt zu Christine gefahren und hätte sie einfach nur umarmt und festgehalten. Er seufzte, griff nach der Zigarettenpackung in der Brusttasche und ließ gekonnt eine Chesterfield daraus hervorschnellen. Fünf Minuten stand er da und rauchte.

Bei Glenn Millers gedämpften ›Pennsylvania 6-5000‹ ging er leise in den Flur zum Telefon und bestellte an der Hauptwache zwei kräftige Soldaten und ein Fahrzeug, welche die beiden Kameraden zurück zu ihren Einheiten bringen sollte.

Nach knapp zehn Minuten meldeten sich zwei übermütige Privates aus der Wachmannschaft bei dem Zahlmeister. Zusammen mit diesen wurde erst Vickers, dann der laut schnarchende Jonas unten im Hof in den Jeep geladen. Danach setzte sich Roebuck als Beifahrer neben den jungen Mann, der sie nach Karlsruhe bringen sollte, der andere Wachsoldat spurtete bereits zu dem Fahrzeug, mit dem Joey aus Karlsruhe gekommen war.

Statt über die Dörfer fuhr der Private direkt auf die Autobahn und beschleunigte auf Maximalgeschwindigkeit. In knapp hundert Meter Abstand folgten ihnen die zwei zitternden Lichter des neuen Scout-Car. Auf der scheinbar verlassenen Autobahn vor ihnen hatte sich ein leichter Bodennebel gebildet.

Auf der Höhe von Hagsfeld, einige Meter vor der Autobahnausfahrt Durlach, sah Roebuck plötzlich in den Augenwinkeln rechts einen Hirsch aus dem Wald neben der Autobahn herauskommen und auf die Fahrbahn hinter ihnen laufen. Lediglich Sekundenbruchteile wurde er vom Licht der Jeep-Scheinwerfer angestrahlt. Der Private in dem anderen Wagen erkannte die Gefahr viel zu spät, versuchte dem Damwild mit knapp fünfzig Meilen auszuweichen, geriet heftig ins Schleudern, kollidierte mit dem Hirsch, der in hohem Bogen in den Graben flog und verschwand daraufhin selbst nach rechts von der Betonpiste. Mit einer gewaltigen Wucht krachte das Fahrzeug durch das Unterholz, nur wenig gebremst von dünnen Fichten am Waldrand. Er durchfuhr fast ungehindert den Unterbau eines Jägerhochsitzes und prallte anschließend gegen den massiven Stamm einer Pappel.

Das Fahrzeug wickelte sich um den dicken Baum, als wolle es ihn umarmen. Der Fahrer wurde von dem Armaturenbrett und dem Lenkrad regelrecht zerquetscht und starb sofort an seinen Verletzungen. Die Rücklichter des Dodge Scout-Car erloschen, aus der Pappel rieselten Blätter und Äste nach unten. Vögel flatterten kreischend im Blindflug durch die Baumwipfel.

Der Fahrer neben Roebuck starrte in den Rückspiegel und schrie »Oh Scheiße!«, dann trat er mitten auf der Piste auf die Bremse und brachte den Jeep mit quietschenden Reifen zum Stehen. Sergeant Vickers purzelte bei der Vollbremsung von hinten gegen Roebucks Sitz, wurde schlagartig wach und schrie vor Schmerzen auf, als sein Kopf gegen die Fahrersitzaufhängung schlug. Kurz darauf wurde er nochmals heftig dagegen gepresst, als der schlafende Jonas auf ihn fiel und sich über dessen Schulter erbrach.

Roebuck sprang als Einziger aus dem Jeep. »Lassen Sie die verdammten Lichter an!«, brüllte er den Fahrer an, der hinter dem Steuer saß und am ganzen Körper zitterte.

»He, Private! Wir sind hier auf einer Autobahn! Wir wollen hier nicht parken! Sollen uns die nachfolgenden Autos übersehen? Licht an!« Er griff ans Armaturenbrett und schaltete das Licht selbst an.

Der Soldat wich erschrocken zurück und blickte sich mehrmals um. Er starrte Roebuck mit glasigen Augen an. »Er…er…er ist weg. D… da war ein Tier. Ein Elch! Haben Sie den Elch gesehen, Sir? Rob war gerade eben noch hinter uns. Haben Sie ihn abbiegen sehen, Sir? Ich habe die Abfahrt gar nicht bemerkt.«

»Da war keine Abfahrt, Sie Idiot! Ihr Kamerad hatte gerade einen Unfall mit dem Vieh!«, belehrte ihn Roebuck.

Der Fahrer umkrallte das Lenkrad, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. Einige Male sah er sich unsicher nach seinem Kameraden um. Er stand anscheinend unter Schock.

»Tony, hol mich hier raus! Ich ersticke gleich! Jonas liegt auf mir drauf und hat mir aufs rechte Ohr gekotzt!«, keuchte es plötzlich aus dem Fond des Jeeps.

Der Sergeant klappte genervt den Beifahrersitz nach vorn, bückte sich und fühlte den Armeepullover von Corporal Jonas. Obwohl dieser stark angetrunken war, hatte er ihn sich noch im Jeep angezogen, da es im Fahrzeug sehr zugig war. Roebuck roch Schweiß und Erbrochenes. Kaum hatte er Jonas zurück auf die kleine Sitzbank gewuchtet, sah er durch das hintere Folienfenster des Jeeps hindurch, wie sich ihnen auf ihrer Spur der stockfinsteren Autobahn zwei Lichter langsam näherten. Er packte den schnarchenden Corporal erneut am Pullover, zerrte ihn aus dem Fahrzeug und schubste ihn in Richtung Randstreifen der Piste. Jonas stolperte durch das hohe Gras und fiel schließlich hin. Dann griff Roebuck hektisch nach Vickers Beinen und zerrte auch ihn aus dem Fußraum hinter den Sitzen heraus. Singend und auf allen vieren kroch der Mechaniker von dem Fahrzeug weg, um auf Jonas Schuhen sein Nickerchen fortzusetzen.

Die Lichter waren inzwischen sehr viel näher herangekommen, verschwanden aber immer wieder in den tief stehenden Nebelschwaden. Ausgerechnet in diesem Moment erlosch die Beleuchtung des Jeeps erneut.

»Wollen Sie uns umbringen, Soldat? Schalten Sie die Lichter an! Sofort! Da kommt ein Auto, das muss uns auf jeden Fall sehen!«

Doch der Private reagierte überhaupt nicht auf Roebucks Geschrei, er saß noch immer verwirrt hinter dem Steuer und starrte teilnahmslos auf seine Füße.

»Ich habe jetzt eingeparkt«, bemerkte er mit zitternder Stimme. »Ich muss warten bis Rob zurückkommt. Rob ist schließlich mein Kumpel. Wir haben heute zusammen Wache.«

Kopfschüttelnd griff Roebuck ihm ins Lenkrad, drehte es hektisch eine drei viertel Umdrehung nach rechts, betätigte abermals den Schalter des Abblendlichts, warf einen Kontrollblick auf den schemenhaft erkennbaren Handbremshebel zwischen den Sitzen und kuppelte gleichzeitig den Gang aus. Schließlich hastete er zum Heck des Jeeps und lehnte sich mit dem Rücken gegen das dort befestigte Ersatzrad. Heftig schnaufend schob er den Geländewagen Zentimeter für Zentimeter von der Fahrbahn. Kaum holperte das rechte Vorderrad in den Grünstreifen, raste ein schlecht beleuchteter Armeelastwagen mit nur wenigen Zentimetern Abstand an seinem rechten Schuh vorbei. Und der Private hatte das Licht erneut ausgeschaltet!

Tony Roebuck blieb hinter dem Jeep auf der Straße sitzen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Der Schweiß lief ihm am Rücken herunter und seine Beinmuskulatur brannte von der Anstrengung. Außerdem kochte er vor Wut. Stünde der Private nicht unter Schock, hätte er jetzt eine Tracht Prügel bekommen.

Sonntag, 19. August 1945, 3.30 Uhr

»Sie haben den Hirsch aus dem Wald kommen sehen, Sir?«, fragte der Militärpolizist und machte sich eine Notiz auf einem zerfledderten Schreibblock. Seine weißen Stulpen-Handschuhe hatte er sich unter den rechten Arm geklemmt, die Motorradschutzbrille auf den Helm hochgeschoben. Am Horizont dämmerte bereits das erste bläuliche Licht des Tages hinter den nördlichen Ausläufern des Schwarzwalds hervor. Es hatte sich endlich wieder etwas aufgeklart und die Nebelbänke hatten sich bis auf ein paar verzogen.

Nach über drei Stunden des Wartens war endlich ein Fahrzeug der Militärpolizei aufgetaucht. Zufällig vorbeikommende Wachsoldaten auf der einige hundert Meter entfernten Brücke der Durlacher Allee hatten die stillstehenden Fahrzeuglichter auf der ehemaligen Reichsautobahn entdeckt und Hilfe geholt.

Nun standen wenigstens ein beleuchteter Jeep und ein Motorrad mit tuckerndem Motor und Standlicht auf der Autobahn, zusätzlich wurde eine rote Laterne auf die Fahrbahn gestellt, um den Gefahrenpunkt zu kennzeichnen.

Vickers und Jonas saßen mit Brummschädel seitlich der Straße im Gras und rauchten schweigend eine Zigarette. Von dem Drama mit dem Hirsch hatten sie nichts mitbekommen.

Zwei übermüdete und mürrisch dreinblickende Militärpolizisten begutachteten erst den Jeep und dann das zerfetzte Wrack mit den sterblichen Überresten des Privates. Anschließend baten sie den einzig glaubhaften Augenzeugen, Sergeant Roebuck, zum Gespräch.

»Da haben Sie verdammtes Glück gehabt, dass Sie nicht einige Sekunden früher hier waren.«

»Mmh, der Private mit Sergeant Vickers Auto hinter uns hatte leider kein so großes Glück.« Roebuck starrte traurig zurück auf die Betonoberfläche, wo sicherlich bei Tagesanbruch noch schwarze Bremsspuren sichtbar werden müssten. Das Scout-Car hatte eine Schneise in den kleinen Wald gebahnt.

Der Polizist nickte. »PFC Telansky hatte keine Chance. Das Auto hat sich um den Baum gewickelt. Den Motor hat’s dreißig Fuß weggeschleudert und der Hirsch liegt tot im Straßengraben dahinten.«

»Er hatte auch keine fünfzig Meilen drauf«, antwortete Roebuck sarkastisch.

»Schon klar. Wir nehmen ihn erst mal mit und schauen, was wir noch retten können«, erwiderte er.

»Sie wollen das Wrack mitnehmen? «

»Nicht das Wrack, sondern den Hirsch. Hirschrücken mit Kartoffelchips und einer Paprikasauce, das ist was Feines. Und den Schädel mit dem Geweih hängen wir ins Büro. Zu den anderen.«

Roebuck starrte den Mann entsetzt an. »Sie wollen das Beweisstück aufessen?«

»Ja. Wäre schade drum. Letzte Woche hatten wir drei Wildschweine aus einem Unfall mit einem Panzer.«

»Von einem Panzer überfahren?«

»Nein, nur eins war platt. Die anderen sind anschließend vor Schreck gestorben.« Der MP lachte und klopfte gegen seine Pistolentasche, die am Hosengürtel hing.

»Wollen Sie sich nicht mal um den Private aus unserem Jeep bemühen?« Roebuck wies mit dem Kopf in Richtung des Geländewagens. »Mit dem stimmt was nicht, hat nach dem Unfall ständig das Licht am Fahrzeug ausgeschaltet und machte den Eindruck, als wäre er total benebelt, genauso wie die Autobahn.«

»Das interessiert uns nicht. Dafür sind Sanitäter zuständig. Wir sagen denen Bescheid, falls wir welche sehen. Wir machen hier lediglich den Wildunfall.«

»Ich verstehe«, sagte Roebuck missmutig. »Das Abendessen ist gesichert.«

»Genau. Jetzt gehen Sie beiseite und lassen uns unsere Arbeit machen, Sergeant Roebuck. Und fahren Sie das nächste Mal auf der Autobahn mit Licht, sonst müssen wir Ihnen ein Ticket schreiben.«

»Aber wir…« Roebuck resignierte.

Der Polizist behielt seine stoische Ruhe und kritzelte noch ein paar Dinge auf seinen Block, während sein Kollege erfolglos versuchte, den Hirsch allein zum Auto zu schleifen. Zehn Minuten später fuhren sie kommentarlos und ohne Verabschiedung davon.

Sonntag, 19. August 1945, 4.55 Uhr

Wie bestellt und nicht abgeholt stand der Sergeant fröstelnd in der Morgendämmerung auf der Autobahn. Einige amerikanische Fahrzeuge rasten hupend an ihnen vorbei. Manche gestikulierten wild. Schließlich kam ein Sanitätsfahrzeug in Sicht und hielt neben Roebuck an, nachdem dieser wild mit beiden Armen und der Laterne gewinkt hatte. Der Beifahrer, ein stämmiger, schwarzer Corporal mit kurzem, gelockten Kraushaar kurbelte das Fenster herunter, lehnte den Ellenbogen hinaus und ließ die halb gerauchte Zigarette fallen. »Gibt’s Probleme, Sergeant?«, fragte der Kaugummi kauende Mann im breiten Südstaaten-Slang.

»Schön, dass Sie auch endlich kommen. Wir hatten gar nicht mehr mit Ihnen gerechnet.« Roebuck schaute die beiden grimmig an.

»Sorry, Sir. Uns hat keiner benachrichtigt. Wir sind hier zufällig lang gefahren. Wir haben in Bruchsal die Abfahrt verpasst. Jetzt fahr’n wir halt ’nen Umweg, Sir. Da es hier scheinbar ’n Notfall ist, schalten wir erst mal Blaulicht ein. Nicht dass uns irgend so ’n Penner übersieht.« Der Beifahrer lachte und schaltete das Licht ein. »Hier sind morgens viele Blindfische unterwegs! Erst letzte Woche wurde ’n Lieutenant von ’nem Lastwagen getötet. Er hatte mit ‹m Radpanzer ’ne Rotte Wildschweine überrollt.«

»Wir kennen die Story«, ergänzte Roebuck. »Die Polizei war vorhin da. Die haben uns die Geschichte erzählt. Die haben die Tiere mitgenommen und aufgegessen. Ich dachte, sie sagen Ihnen Bescheid, dass wir Hilfe brauchen.«

Der Fahrer des Sanitätswagens war inzwischen ausgestiegen. »Nein, Sergeant, die MP ist anscheinend nicht mehr das, was sie mal war.« Seine Uniform wies ihn als Major und Oberstabsarzt aus. Er öffnete die rechte Schiebetür des Krankenwagens und entnahm eine große Ledertasche mit der er zu dem Fahrer ging, der nach über vier Stunden noch immer apathisch hinter dem Steuer saß und seinem Kameraden nachweinte. Der Doc zog eine Taschenlampe hervor und leuchtete dem Soldaten in die Augen.

»Seit wann sind Sie im Dienst, Private?« Der Mediziner blickte auf das aufgenähte Namensschild. »Private Hartman?«

»Um 4Uhr, Sir. Ich muss pünktlich sein. Wir parken hier und ich habe das Fahrzeuglicht ausgemacht. Sonst ist die Batterie morgen leer«, stammelte dieser.

»Okay, Private. Steigen Sie jetzt aus und in unseren äh…Mannschaftswagen ein. Wenn wir in der Kaserne sind, melden Sie sich sofort bei Wilson. Alle weiteren Befehle erhalten Sie von ihm! Verstanden?«

Der Fahrer gehorchte, salutierte, kletterte unbeholfen aus dem Jeep und stolperte zum Mannschaftswagen. Der dunkelhäutige Sanitäter half ihm beim Einsteigen.

Roebuck stutzte. »Sagten Sie gerade Wilson, Master Sergeant Brian Wilson, den Waffenspezialisten?«

»Ja, Sir. Er ist inzwischen zum First Sergeant ernannt worden. Kennen Sie ihn?«

»Natürlich kennen wir Wilson. Wir waren vor einigen Monaten in Schwetzingen in der Kaserne. Ein patenter Mann, sehr professionell. Und Colonel Goddard wird sich sofort an uns erinnern.«

Der Sanitäter, der sich inzwischen den Zustand der beiden Kameraden ansah und deren Puls am Handgelenk überprüfte, schüttelte den Kopf. »Goddard ist nicht mehr in Schwetzingen«, antwortete er. »Er wurde vor vier Wochen in den Generalsstab nach Frankfurt versetzt. Dort werden solche Leute wie er gebraucht. Unser neuer Kommandeur ist Colonel Hubert Tomlinson der Dritte.«

»Der Dritte?«

»Ja, Sir. Sein Vater hieß Hubert – wie sein Großvater. Eine berühmte Offiziersfamilie aus New Brunswick, New Jersey. Die Tomlinsons dienten angeblich schon unter Abraham Lincoln.«

»New Brunswick ist aber nicht gerade eine Garnisonsstadt. Da sehen Sie schon mittwochs, wer sonntags zu Besuch kommt.«

Die beiden Sanitäter sahen sich an und lachten laut.

»Wenn das der Colonel hört, lässt er Sie sofort verhaften und erschießen!«

»Kann sein«, kicherte Roebuck. »Ich behalte es für mich, versprochen.« Er zwinkerte dem Major freundlich zu.

Corporal Jonas erhob sich währenddessen mühsam aus dem Gras, einige plattgedrückte Halme klebten noch an seiner Wange. Er streckte sich, strich sich die zerknitterte Jacke glatt, und sah mit zusammengekniffenen Augen und einem unverständlichen Brummeln an sich herunter. Langsam trottete er zurück zum Jeep und warf einen Blick in den Fußraum und auf die Rückbank. Schließlich entdeckte er unter dem zerknüllten Pullover, was er gesucht hatte. Während er seinen Brustkorb nach vorn schob, heftete er sich vorsichtig den Orden an die Uniform.

Der Major, der gerade den Fahrer des Jeeps in den Sanitätswagen verfrachtet hatte, bemerkte dies und sprach daraufhin Jonas an. »Sie haben gestern den Silver Star verliehen bekommen, Corporal?«

Dieser lächelte verlegen und versuchte, seine Alkoholfahne zu verbergen. »Nein, nicht gestern. Ende Mai habe ich ihn bekommen, Sir.« Jonas machte eine Pause, währenddessen trat Sergeant Roebuck zu den beiden. »Major, ich hörte, Sie sind aus Schwetzingen. Wir waren Ende Mai zufällig mit einem Scout-Squad in der Panzerkaserne. Hatten ein paar Probleme draußen auf der Straße. Haben Sie eigentlich inzwischen einen neuen Namen für diesen Standort gefunden? Colonel Goddard hatte da mal was erzählt.«

»Nein, Sir.« Der Oberstabsarzt packte die Erste-Hilfe-Utensilien wieder ein. »Momentan laufen sehr umfangreiche Sanierungsarbeiten, verschiedene Einheiten sind jetzt dort untergebracht. Die Kaserne wird vermutlich erst mal in unserer Hand bleiben. Nachdem vor einigen Monaten der letzte Blindgänger entfernt wurde, können bald alle Gebäude genutzt werden. Es werden noch weitere Baracken hingestellt, sogar an eine neue Bowlingbahn und einen Friseur wurde gedacht. Außerdem werden zusätzlich zum Offizierskasino ein NCO-Club, ein kleiner Einkaufsmarkt und eine Snackbar gebaut. Später vielleicht eine Tankstelle. Der Stab denkt darüber nach, auf der anderen Straßenseite eine weitere Kaserne zu bauen.«

»Sie sind wirklich gut informiert, Major.«

»Mein Name ist Dr. Cassell, Sergeant, ich bin der Leibarzt des Colonels, wenn ich das sagen darf. Ich kriege so einiges mit.« Der Doc lächelte.

»Der Colonel hat einen Leibarzt?«

»Ich muss für ihn Tag und Nacht erreichbar sein. Eigentlich sollten wir für ihn in Mannheim ein spezielles Medikament holen. Er wird sicherlich schon auf uns warten und den ganzen Stab verrückt machen.«

»Worunter leidet er denn, wenn ich fragen darf?«

»Er hat ständig Probleme mit der Verdauung. Er ist viel zu dick und hat Wasser in den Beinen. Weil er viel Süßes und Fettiges isst und keinen Sport machen will.«

Roebuck musste grinsen. Er stellte sich gerade einen feisten, glatzköpfigen Wicht vor, der ständig auf der Toilette saß und sich abmühte.

Sonntag, 19. August 1945, 7.30 Uhr

Der gar nicht feiste und erst recht nicht glatzköpfige Colonel saß in diesem Moment gerade aufrecht in seinem Bett und brüllte quer durch das Unterkunftsgebäude der Stabsoffiziere: »Wo ist Major Cassell, verdammt noch mal? Ich brauche ihn! Mir geht es schlecht! Sergeant Myers! Ich habe Hunger und ich will meine Medizin!«

Ein übereifriger Second Lieutenant, der vor einigen Wochen über eine andere Einheit von der Offiziersschule in Fort Bragg, Missouri, gekommen war, meldete sich daraufhin bei Colonel Tomlinson. Dieser warf ihn umgehend wieder aus seinem Zimmer, allerdings nicht ohne ihn vorher anzuschnauzen: »Was wollen Sie denn hier, Lewis? Sie sind weder Cassell noch Myers! Wer hat Ihnen erlaubt, einfach so mein Schlafzimmer zu betreten? Mann, verschwinden Sie auf der Stelle! Und hören Sie auf, mich ständig zu grüßen, Sie Schleimbeutel!«

»Aber Sir, Major Cassell hat sich noch nicht bei der Wache zurückgemeldet«, konterte dieser beleidigt.

»Das ist mir egal! Ich sterbe und mein Arzt ist nicht da! Geben Sie sofort einen Funkspruch an alle raus!«

»Heute ist allerdings Sonntag, Sir. Die meisten Leute haben dienstfrei.«

»Das ist mir scheißegal! Lassen Sie sich etwas einfallen, Sie Pfeife! Sie wollen doch schließlich mal First Lieutenant oder Captain werden. Also, Finger lang, Ehrgeiz gezeigt! Lassen Sie sich bloß nicht mehr ohne Cassell hier blicken! Sagen Sie meinem Adjutanten, dass ich endlich mein Frühstück haben will, sonst lasse ich ihn erschießen. Und jetzt verpissen Sie sich!« Ein Buch flog in dessen Richtung und knallte neben ihn gegen die Wandvertäfelung. »Hauen Sie bloß ab, Mann!« Das Gesicht des Colonels war dunkelrot gefärbt und er atmete schwer. Er stopfte sich zwei Kissen hinter seinen Rücken und brüllte: »Myers!«

Der junge Offiziersanwärter schlich leise davon, sein Herz raste und er war schweißgebadet, als er die Tür schloss. Was sollte er jetzt bloß tun, um mehr Informationen zu bekommen? Auf der Treppe nach unten kam ihm Sergeant Major Myers, der Adjutant des Colonels, mit einem gut gefüllten Kaffeetablett entgegen.

»Ist der Chef gut gelaunt, Lewis?«, raunte dieser den jungen Mann an.

»Er hat mich rausgeschmissen«, antwortete er und knabberte verlegen auf seiner Unterlippe. »Er schrie nach Major Cassell, der leider noch nicht aus Mannheim zurück ist.«

»Wirklich? Er ist vor über drei Stunden losgefahren. Und er ist noch nicht zurück?« Myers stöhnte innerlich. Das würde ein sehr unangenehmer Sonntagmorgen werden. Doc Cassell nicht da, ein nerviger Second Lieutenant platzte ahnungslos ins Zimmer des Kommandeurs und zuletzt die fehlenden Medikamente! Es gab Tage, da hätte Myers den Colonel erwürgen und im Wald gegenüber verscharren können. In Washington würde er sich um diese Zeit von Frau und Kindern verabschieden, in den Ford steigen und eine gepflegte Runde Golf mit seinen Freunden aus dem Golf und Country Club spielen. Dankeschön, U.S. Army.

Wenigstens den Ford hatte er sich für seinen absehbar längeren Aufenthalt in Old Germany bestellen dürfen. Als rechte Hand eines Colonels hatte er diverse Möglichkeiten, sich das Leben zu versüßen. Er wartete bereits ungeduldig auf Nachricht aus Bremerhaven, wo die Limousine direkt mit dem Schiff aus den Vereinigten Staaten ankommen würde.

Vorsichtig klopfte er an die mit goldenen Ornamenten verzierte Holztür. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er ein und säuselte: »Guten Morgen, Sir. Es ist ein wunderschöner Sonntag, die Sonne scheint und ich bringe Ihnen das Frühstück! Gesüßter Kaffee, sieben Eierkuchen mit Sirup, Marmelade und gebratenen Speck. Ich wünsche einen guten Appetit.« Während dieser Worte stellte er das Tablett auf ein Tischchen neben dem Bett, zog daraufhin die Jalousie einige Finger breit nach oben, sodass die Sonne ein wenig mehr hineinschien, und verließ das Zimmer ebenso leise, wie er gekommen war.

Sonntag, 19. August 1945, 9 Uhr

»Mein Gott! Hat’s das schöne Scout-Car zerlegt!« Sergeant Vickers schüttelte fassungslos den Kopf und zündete sich eine weitere Zigarette an. Die drei ehemaligen Scouts, der Oberstabsarzt Major Cassell und der schwarze Sanitäter standen ratlos vor dem dampfenden Wrack.

»Meine Papiere sind da noch drin«, Joey deutete auf den Blechhaufen und kratzte sich am Kinn. »Hatte ich gestern Abend auf dem Beifahrersitz liegen lassen. Die Zweitschlüssel auch. Kann ich wohl alles vergessen. Wie gut, dass ich mein Feuerzeug in die Jackentasche gesteckt habe. Das Auto bekam ich vorgestern Mittag als neuen Dienstwagen.«

»Wenn die Ersatzschlüssel drin sind, fährt ihn wenigstens niemand weg«, kommentierte Corporal Jonas die Situation, worauf er von Anthony Roebuck einen kräftigen Klaps auf den Hinterkopf erhielt.

»Das hätte dir genauso passieren können, Mike. Private Telansky konnte nichts dafür, dass ihm der Hirsch ins Auto lief. Wären wir drei Sekunden früher an der Stelle gewesen, säße das Vieh jetzt vielleicht bei euch auf dem Rücksitz. Und mit dem Geweih wollte ich keine Bekanntschaft machen.«

»Wir müssen weiter«, sprach Cassell, der sich schulterzuckend abwandte. »Hier ist für uns nichts mehr zu tun. Ich gebe über Funk durch, dass die Pioniere das Wrack abholen sollen. Brauchen Sie noch unsere Hilfe, Vickers?«

»Nein, Sir. Wir fahren nun endlich nach Karlsruhe zu unserer Einheit. Die werden uns schon vermissen. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Die Männer gaben sich die Hände und bestiegen die Fahrzeuge. Nach einem kurzen Hupsignal trennten sich ihre Wege. Vorerst.

Mit über neun Stunden Verspätung fuhren die drei ehemaligen Scouts stark übermüdet und teilweise mächtig verkatert im Jeep die Autobahn herunter in Richtung Karlsruher Innenstadt. Über die Durlacher Allee, vorbei an den Ruinen von Wolff & Sohn, der zerstörten Gaskokerei, dem Gaskessel und den traurigen Resten des Straßenbahndepots an der Tullastraße. Trotz der frühen Morgenstunde des sommerlichen Sonntags waren bereits einige Flüchtlinge mit vollgepackten Kutschen oder zu Fuß zwischen den größtenteils in Trümmern liegenden Häusern unterwegs. Kurz vor der Karl-Friedrich-Straße, direkt vor dem Schuttberg des ehemaligen Eckhauses, erregte eine Menschenansammlung auf dem recht schmalen Fußweg ihr Interesse. Vermutlich auf dem morgendlichen Gang zur Kirche am Gottesauer Platz war eine Person gestürzt oder hingefallen. Schemenhaft ließ sich zwischen dunklen Mänteln und Hosenbeinen etwas auf dem Gehweg erkennen.

Als der amerikanische Jeep anhielt, drehten sich Passanten erschrocken zu ihnen um. Joey Vickers und Tony Roebuck sprangen aus dem Fahrzeug und liefen vorsichtig zu der Gruppe.

»Was ist hier passiert?«

Die Menschen bildeten sofort eine Gasse. Eine junge Frau im Sommerkleid lag stöhnend auf dem Pflaster, wand sich hin und her und presste beide Hände auf ihren Unterleib. Sie war hochschwanger. Ein älterer Mann mit einem riesigen Schnauzbart kniete neben ihr und sprach auf sie ein. Als er die Amerikaner erblickte, verstummte er. Die schwarzhaarige, etwa zwanzig Jahre alte Frau war kreidebleich im Gesicht, hatte die Augen geschlossen, wimmerte und krümmte sich, eine erneute Wehe bereitete ihr starke Schmerzen.

»Mein Gott, das Kind kommt!«, keuchte sie, drehte ihren Kopf und starrte Sergeant Vickers an. »Heinrich, sag den Amis, ich muss sofort ins Krankenhaus! Den Gottesdienst können wir heute vergessen.« Sie schrie vor Schmerzen und prustete rhythmisch. »Das Kind kommt! Ich spüre es.«

Immer mehr Kirchgänger versammelten sich auf dem Gehweg und starrten untätig auf die werdende Mutter herab.

Vickers zog seine schmuddelige Uniformjacke aus, legte sie hastig zusammen und stopfte sie der Frau unter ihren Kopf, um diesen vor dem harten Pflaster zu schützen. Dann lief er mit beiden Armen wedelnd auf die Straße und hielt das erste Auto, einen Kleinlaster mit Holzgasanlage, an.

»Bringen Fraulein suh Hospital, Herr!«, schrie er den Fahrer des schrottreifen Fahrzeugs an. »Snell, snell! Baby kaommt.«

Der verdutzte Handwerker sprang aus dem Fahrerhaus und half, ohne zu zögern, zusammen mit den Soldaten der stöhnenden Frau auf den Beifahrersitz. Vickers kletterte auf die Ladefläche und klopfte dem Fahrer auf das verbeulte Dach. Dieser gab Gas, bog am Gottesauer Platz in die Wolfartsweierer Straße ein und tuckerte rauchend Richtung Rangierbahnhof davon. Roebuck und Jonas wollten mit dem Jeep die Verfolgung aufnehmen, mussten jedoch noch eine im Schneckentempo durchfahrende Straßenbahn in der Mitte der Durlacher Allee abwarten. Jonas spielte nervös mit dem Gaspedal, bis das ratternde Gefährt an ihnen vorbeigeschaukelt war.

Der alte Mann, der kurz zuvor noch in Begleitung des Mädchens auf dem Weg zur Kirche war, starrte den Soldaten mit offenem Mund hinterher. Ohne den Blick von den sich entfernenden Fahrzeugen abzuwenden, bückte er sich und hob die grüne Uniformjacke des Amerikaners auf. Als er den Straßenstaub von ihr abklopfte, fiel ihm ein vergilbtes Schildchen innen am Kragen auf:

SGT. JOEY VICKERS

FORT LAUDERDALE, FL, USA

In der linken Jackentasche fand er eine halb leere Packung Chesterfield-Zigaretten sowie ein Feuerzeug mit der geschwungenen Prägung ›Florida Gators 1939‹.

Die Frau auf dem Beifahrersitz schrie wie eine Wahnsinnige, als der Laster über die von Schlaglöchern übersäte Stuttgarter Straße rumpelte. Endlose zehn Minuten später bogen sie erneut von der Straße in ein Wohngebiet ab und blieben vor einem trutzigen Gebäude stehen. ›Städt. Kinderheim‹ war an dem Gebäude zu lesen. Mit Kreide hatten vermutlich die Mitarbeiter des Heimes ›Säuglingsstation 1. OG‹ an die Tür geschrieben. Der Fahrer stieg aus, rannte um sein Fahrzeug herum, half der Frau aus dem Auto, nahm sie auf den Arm und trug sie die breite Treppe hoch, dicht gefolgt von Joey Vickers, der nicht wusste, was er machen sollte.

»Was machen Sie, Herr? – Das sieht nickt wie Hospital aus«, schrie Vickers den Handwerker an.

»Das ist das Geburtskrankenhaus, Mister! Seien Sie froh, dass es nicht so weit von uns weg war. Vor fünf Minuten ist der Frau die Fruchtblase geplatzt. Kommen Sie, es ist allerhöchste Zeit!«

Ein weiß bekittelter Mann hatte bereits die große Holztür am oberen Treppenabsatz geöffnet und redete ununterbrochen auf Joey ein, der nicht verstand, was dieser von ihm wollte. Schließlich wurde er an eine Empfangstheke geführt, während die junge Frau auf einer Rolltrage in einen hell erleuchteten Raum gebracht wurde.

»Sind Sie der Vater, mein Herr?«, fragte ihn die Frau mit der Haube, die hinter der Theke saß. »Hallo? Sind Sie der Vater?« Zwei geradezu giftspritzende Augen betrachteten den Soldaten durch die dicke Hornbrille.

»U.S. Army, Sergeant Joey Vickers, Ma‹am.«Das war die falsche Antwort. Die Frau schrieb, legte eine Karte auf ein Häufchen und sah den Soldaten erneut an.

»Wickers mit W?«

Keine Antwort.

»Ihre Frau wird jetzt entbunden, Herr Wickers. Wo wohnen Sie?«

»Bitte? Ick nicht verstehen.«

»Typisch Amerikaner.« Die Schwester schüttelte den Kopf. »Er hat keine Ahnung. Schwängert ein Mädchen und meint, sich anschließend um nichts mehr kümmern zu müssen. Gehen Sie eine Zigarette rauchen, Mister, in einer Stunde rufen wir Sie wieder rein. Dann können Sie zu Ihrer Frau.«

Joey betrachtete die Schwester verständnislos und schwieg.

»Typisch Soldatenliebchen.« Die Schwester verzog das Gesicht und deutete mit dem Zeigefinger Richtung Tür. »Gehen Sie an die frische Luft! Smoking!«