Verstummte Seelen - Jürg von Ins - E-Book

Verstummte Seelen E-Book

Jürg von Ins

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Beschreibung

Religion ist ein individuelles Erlebnis. Als Empfängerin des religiösen Erlebnisses – sei es Offenbarung, Himmelsreise oder Besessenheit – tritt die Seele in den Vordergrund. Durch sie spricht das Heilige den Menschen an. Wo Religion von einer Organisation vereinnahmt und überformt wird, muss die Seele verstummen. Individuelle religiöse Erlebnisse würden die festgefügten Hierarchien und Dogmen durcheinanderbringen. In diesem Sinn haben Religionsorganisationen nur beschränkt mit Religion zu tun. Sie vermitteln bestenfalls secondhand religions, indem sie auf die religiösen Erlebnisse ihrer Gründer verweisen. Verstummte Seelen geht über diese Kritik hinaus religiösen Erlebnissen in verschiedenen Epochen und Kulturen nach und deckt so die Bedeutung kultureller Diversität für den modernen Menschen auf.

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Jürg von Ins

Verstummte Seelen

Kritik der organisierten Religionen

Impressum

© 2020 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlag und Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern

Bildkonzept:

Yves Schumacher, ys’c

Bild Umschlag vorne:

Jean Delville: Les Trésors de Satan, Öl auf Leinwand, 1895, 258 x 268 cm, Musées royaux de Belgique, Bruxelles

Bild Umschlag hinten:

funtumfunafu denkyemfunafu (twi); Dieses Adinkra Zeichen der Ashanti, (Ghana) symbolisiert Einheit in der Vielheit. Dargestellt sind zwei Krokodile, die gemeinsamen nur einen Magen haben, aber um Futter streiten.

Lektorat:

Manu Gehriger

ISBN 978-3-907146-91-0eISBN 978-3-907301-18-0

www.muensterverlag.ch

Inhalt

Dank

Der religionspsychologische Blick

Organisation und Gehorsam

Poesie und Überlegenheit

Aufbau und Sprache

Erlebnisse und Konzepte

Das religiöse Erlebnis

Die Vision des beseelten Kosmos

Überlegenheitswahn und Profitgier

Vom Gemeingefühl zum Kannibalismus

Konzept und Wirklichkeit

Der Rüpel begegnet Gott

Seelische und soziale Identität

Jenseits der Zeichen

Religion als Grundbedürfnis

Religionspolitische Konsequenzen

Zerrissenheit und Besessenheitsepidemie

Religiöse Erlebnisse im Ritual

Geglückte und misslungene Rituale

Umkehrung der Wirkung

Rituelle Besessenheit

Trance, Raserei, Zusammenbruch

Besessenheitsritual und Psychiatrie

Selbstschilderung

Rituelle Besessenheit als religiöses Erlebnis

Die Vielfalt der Religion

Die Seele

Die Gleichwertigkeit der Kulturen

Die Seele in Ouagadougou

Beseelte Gegenstände

Die Seele auf Island

Die Seele am Zürichsee

Die rassistische Brille Brasiliens

Religion und Wahnsinn

Literatur

Bildnachweis

Dank

Diese Arbeit entstand 2014 bis 2019 im Gespräch mit Franziska Reich von Ins.

Yves Schumacher danke ich für Bildkonzept, Manuskriptgestaltung und Beratung.

Namhafte Beiträge zum Text verdanke ich Khady Diouf, Stella Prott, David und Elisabeth Signer, Didier Sperling, Hermano Santos da Boa Morte und Joanny Tapsoba.

Der religionspsychologische Blick

«The blizzard,

the blizzard of the world

has crossed the threshold.

And it has overturned

the order of the soul.»

Leonard Cohen, The Future

Viele Mythen berichten davon, dass Kreativität zunächst keine menschliche, sondern eine göttliche Eigenschaft ist. Darin findet das Erlebnis Ausdruck, dass der kreative Prozess einen über sich selbst hinauswachsen lassen kann. In der Autobiografie eines visionären Naturwissenschafters heisst es:

Ich gehöre zur aussergewöhnlich privilegierten Klasse der Erfinder und die Ausübung meiner Kräfte beschert mir grösste Freude. Ich lebte über viele Jahre in ständiger Entrückung.1

Unsere frühkindlichen Handlungen entspringen rein instinktiven Impulsen, Eingebungen einer lebhaften, undisziplinierten Fantasie. Wenn wir älter werden, gewinnt der Verstand an Gewicht, wir handeln immer mehr mit System und beginnen zu planen. Doch jene frühen Impulse, mögen sie auch nicht unmittelbar produktiv sein, sind extrem wichtig und vermögen unser Schicksal zu prägen.2

Als Jugendlicher litt ich unter einem eigenartigen Gebrechen: Oftmals von starken Lichtblitzen begleitete Bilder erschienen vor meinen Augen, die mir den Blick auf die wirklichen Objekte verstellten und mein Denken und Handeln störten […] Es waren mit Sicherheit keine Halluzinationen.3

[…] Ich merkte bald, dass ich mich am wohlsten fühlte, wenn ich mich einfach immer weiter auf meine Visionen einliess, wodurch ich ständig neue Eindrücke gewann. Und so begann ich zu reisen; natürlich nur in meinem Geiste […] Ich fuhr fort damit bis zum Alter von ungefähr 17 Jahren, als sich meine Gedanken ernsthaft der Erfindung zuwandten. Zu meinem Vergnügen stellte ich fest, dass ich mit allergrösster Leichtigkeit zu visualisieren vermochte: Ich brauchte keine Modelle, Zeichnungen oder Experimente. Ich konnte sie mir alle als Realitäten in meinem Geiste vorstellen. Auf diese Weise wurde ich unbewusst dazu veranlasst, etwas zu entwickeln, was ich als eine neue Methode betrachte, erfinderische Konzepte und Ideen zu verwirklichen […]4

Ich stand unter dem Einfluss abergläubischer Vorstellungen und lebte in stetiger Furcht vor dem Geiste des Bösen, vor Gespenstern, Ungeheuern und weiteren gottlosen Monstern der Finsternis. Doch dann, plötzlich, kam der Umbruch, der den Lauf meines ganzen Lebens veränderte.5 […] ich begann, mich in Selbstkontrolle zu üben.6

Mit diesem Bericht über religiöse Erlebnisse in Kindheit und Jugend beginnt die Autobiografie des genialen Physikers, Elektroingenieurs und Erfinders Nikola Tesla7. Er erweist sich in seiner Selbstschilderung als Meister der Poesie: Er erkannte visionär, wie die Dinge zusammengehören, damit etwas Neues entsteht. Und indem er seine Visionen Wirklichkeit werden liess, erlebte er, dass der Mensch das Ebenbild Gottes ist8. Zwei typische Züge religiöser Erlebnisse treten in seinem Text deutlich hervor:

–Die erste Erscheinungsform der Visionen ist von einzigartiger, lebensbestimmender Bedeutung. Danach setzt ihre Deutung im Kontext der je herrschenden Ideologien und Religionsorganisation ein.

–Da die Motive von Teslas Visionen nicht christlich waren, mussten sie – etwa aus der Sicht seines Vaters, der orthodoxer Priester war – antichristlich sein. Leicht hätte Teslas visionäres Talent wohl unter dieser negativen Interpretation verkümmern oder zur Störung werden können.

Nicht immer nimmt das kindliche Erlebnis der eigenen Religion so dramatische Formen an und lässt sich danach in berufliche Bahnen lenken. Aber seine Kraft ist oft bedrohlich, solange sie keine gesellschaftlich bestätigte Funktion erfüllt. Das religiöse Erlebnis vermittelt ein intensives Gefühl dafür, wer man ist, oft auch wozu man geboren ist. Es vermittelt Identität. Zugleich ist es in der modernen Gesellschaft vorab der Beruf, der Identität stiftet. So wird die Sehnsucht verständlich, beide Ebenen zur Kongruenz zu bringen. Eine 15jährige Schülerin schrieb in einem Aufsatz:

Und wenn ein Jeder, der nicht richtig an den kirchlichen Gott glaubt, ganz ehrlich mit sich selber ist, so findet auch er etwas Ähnliches, an das er glaubt. Ich denke, bei mir wäre es das Tanzen, das Ballett. Es ist mein liebstes Hobby, das, was ich am intensivsten betreibe. Mein Traumberuf ist Tänzerin. Ich glaube, wenn ich Tänzerin werde, könnte man sagen, (wie die Nonnen das nennen, was sie sind), ich sei eine Dienerin Gottes.9

Religion ist der Bereich intensivster Erlebnisse. Die meisten Menschen entdecken ihn früh, bevor sie von einer Religionsorganisation missioniert und vereinnahmt werden. Sie nennen ihn vielfach nicht Religion, sondern Hobby, Leidenschaft, Talent oder Berufung. Ihre Kritiker sprechen vielleicht von einer Pseudo- oder Ersatzreligion. Dies ist das Problem, das die vorliegende Schrift bearbeitet. Denn was, wenn nicht diese heisse Mitte des Lebens, sollten wir als Religion bezeichnen?

Welche Religion ich bekenne?

Keine von allen, die du mir nennst!

Und warum keine?

Aus Religion.10

Religion beschränkt Freiheit, doch es gibt keine Alternative zum Angebundensein an eine heilige Mitte des Lebens. Wer diese Besessenheit von einer Idee, was in Wirklichkeit wichtig ist, aufbricht, bezahlt es mit Instabilität, Desorientierung und Sinnverlust.

Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen Religion und den Religionen. Religion ist ein Erlebnis. Rudolf Otto hat dessen emotionale Facetten in ihrer Ambivalenz ausgelotet11: vom Tremendum bis zum Faszinosum, vom Schauer des Gottesschreckens12 bis zum Aussersichsein angesichts des Grossartigen und Wunderbaren. Die jüngere Bewusstseinspsychologie13 spricht von angstvoller Ich-Auflösung und ozeanischer Selbstentgrenzung.

Nachdem der französische Schriftsteller Romain Rolland in einem Brief an Sigmund Freud seine sensations océaniques geschildert hatte, schrieb dieser:

Ein Gefühl, das er die Empfindung der Ewigkeit nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam Ozeanischem. Dieses Gefühl sei eine rein subjektive Tatsache, kein Glaubenssatz; keine Zusicherung persönlicher Fortdauer knüpfe sich daran, aber es sei die Quelle der religiösen Energie, die von den verschiedenen Kirchen und Religionssystemen gefasst, in bestimmte Kanäle geleitet und gewiss auch aufgezehrt werde. Nur auf Grund dieses ozeanischen Gefühls dürfe man sich religiös heissen, auch wenn man jeden Glauben und jede Illusion ablehne.14

William James ist der lebensverändernden Wirkung religiöser Erlebnisse nachgegangen15. Das religiöse Erlebnis richtet sich nicht nach verbindlichen Konzepten. Es ist immer persönlich, verbindet aber die Menschen zugleich untereinander und mit ihrer Umwelt. Nur äusserst selten trifft es ganze Gruppen, und auch in diesem Fall gestaltet es sich für jedes Gruppenmitglied anders.16 Es stiftet eine verbindende Identität. Ich nenne sie seelische Identität.

James hebt die organisierten Religionen als «second-hand religions»17 vom religiösen Erlebnis ab. Zugleich bildet dieses den Ursprung aller Religionsorganisationen. Als erstes wird es dabei zur Sprache gebracht, formuliert – wie sehr es sich dagegen sperrt. Es wird zum Ursprung einer bestimmten unter anderen Religionen erklärt, und diese hat einen Namen. Es bilden sich komplexe Organisationsformen heraus und das religiöse Erlebnis wird zur Festigung von Herrschaft vereinnahmt. Dadurch wird es zugleich gelöscht und verbaut. Wo es sich erneut Bahn bricht, wird es von der Religionsorganisation bekämpft. Denn diese stiftet trennende Identität. Ich nenne sie soziale Identität.

Daher soll Religion in dem willkürlichen Sinne, in dem ich sie jetzt aufzufassen bitte, für uns bedeuten: die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Einsamkeit, sofern diese sich selber als Personen wahrnehmen, die in Beziehung zu etwas stehen, das sie in irgendeinem Sinne als das Göttliche betrachten. Weil diese Beziehung entweder moralisch, physisch oder institutionell sein kann, ist es evident, dass aus Religion in dem Sinn, in dem wir sie auffassen, Theologien, Philosophien und kirchliche Organisationen sekundär herauswachsen können.18

Wenigstens in einem Sinne wird die persönliche Religion sich selbst als grundlegender erweisen als Theologie und Kirchlichkeit. Kirchen leben, wenn sie einmal etabliert sind, aus zweiter Hand auf Grund von Tradition; aber die Gründer jeder Kirche verdankten ihre Macht ursprünglich der Tatsache ihrer direkten persönlichen Gemeinschaft mit dem Göttlichen.19

Der Psychiater Daniel Hell berichtet zum Beispiel von den Wüstenvätern des 3. bis 6. Jh. n. Chr., die religiöse Erlebnisse in der Einsamkeit und der eigenen Seelentiefe suchten. Ihre Seelenruhe fanden sie oft erst, nachdem sie eine Phase der Akedia, des Überdrusses, durchgestanden hatten. Die Seele sahen sie als göttlichen Keim im Menschen. Die ursprüngliche Lehre wurde «von amtskirchlicher Seite […] gesellschaftspolitisch instrumentalisiert. So mutierte die ursprüngliche Mönchskrankheit Akedia zu einer Todsünde der mittelalterlichen Kirchenlehre.»i

Organisation und Gehorsam

Kirchen sind Religionsorganisationen. Organisation ist die Ausrichtung der Vorstellungen und Handlungen einer Gruppe von Menschen auf die Erreichung eines bestimmten Ziels. Je älter eine Organisation ist, desto mehr tritt vielfach das Ziel der Selbsterhaltung in den Vordergrund. Die Phänomenologie organisierter Religionen umfasst in unterschiedlicher Gewichtung

–Kodifizierte, verbindliche Glaubensvorstellungen

–Kalendarisch oder lebenskritisch verbindlich festgelegte Rituale, weitgehend nach schriftlicher Vorlage (Liturgien)

–Verbindlich definierte heilige Orte

–Hierarchisch geordnete Ämter als Zugangsstufen zum Heil (Vermittler).

Religionen sind in unterschiedlich hohem Grad organisiert. An die Stelle des religiösen Erlebnisses tritt schrittweise eine kohärente Ideologie. An die Stelle der staunenden Frage tritt ein zunehmend festgefügtes System autoritativer Antworten. Im Kern wird das Erlebnis durch die Forderung nach Gehorsam ersetzt.20 Religion aber ist das Gegenteil von Gehorsam.

Umgekehrt gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen organisierten Religionen und anderen, ideologisch gestützten Organisationen. Es gibt keinen Unterschied zwischen organisierter Religion und Ideologie. So vertreten etwa viele Bünde und Vereine der White Supremacists eine harte, politische Ideologie, die sich nicht nur auf rassistische Fantasien, sondern auch auf altnordische Glaubensvorstellungen stützt. Auch zahlreiche bürgerliche politische Parteien wie CVP, CDU und CSU lassen sich klar im Spektrum der Ideologien verorten, während sie zugleich beanspruchen, christliche – in diesen Fällen römisch-katholische – Glaubensinhalte beziehungsweise aus diesen abgeleitete Werte zu vertreten. Kirchen und christliche Parteien unterscheiden sich nicht grundsätzlich. Ihre Differenz geht lediglich auf die unterschiedliche Selektion der Glaubensinhalte zurück; plakativ verkürzt: Die Kirchen halten die Bergpredigt hoch, die Parteien die zehn Gebote, darin wiederum selektiv jene betreffend den freien Samstag/Sonntag, die Familienideologie und die Ablehnung des Tötens. Letzteres wird dabei selektiv auf das Töten von Menschen hin gedeutet.

Insbesondere in der Minoritäten-Politik ist von grundlegender Bedeutung, dass alle ideologisch gestützten Organisationen als strukturell gleichartig behandelt werden. Denn diese haben denselben, im Vergleich zu biologisch bestimmten Minoritäten reduzierten Anspruch auf Toleranz.21 So darf man sie beispielsweise argumentierend in Frage stellen, sich über sie lustig machen und ihnen gegebenenfalls auch Toleranz entziehen und Legitimität absprechen. Gegenüber biologisch bestimmten Minoritäten wäre das alles verwerflich.

Jede bezahlte Mitgliedschaft in einer Religionsorganisation riecht etwas nach Ablasshandel. Erkauft wird nicht nur Anteil am Heil, sondern auch konkreter am religiösen Erlebnis des Stifters oder der Vorväter. Dabei lässt sich durchaus eine Synagoge, eine Tekke, eine Kirche oder eine Ordensgemeinschaft denken, die das je eigene religiöse Erlebnis der Mitglieder ins Zentrum stellt und vor organisatorischen Übergriffen schützt.

Vor allem aber gelingt das im weiten Feld unorganisierter Religion. Diese hat aufgrund der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen keinen Namen. Ein solcher wurde im 19. Jh. gesucht, um den Kolonisatoren und Missionaren die Arbeit zu erleichtern. Keiner der vorgeschlagenen Namen22 wurde der Religion in ihrer Vielfalt gerecht. Die meisten von ihnen markieren lediglich die Trennung vom Eigenen: Religion als Gegenstück zu den sogenannten Hochreligionen und Zielgebiet für deren Missionen.

Poesie und Überlegenheit

Das religiöse Erlebnis ist nicht organisierbar. Es entzieht sich der sprachlichen Erfassung und Kodifizierung. Leichter drückt es sich im Kunstwerk aus. Buddha und Jesus haben nichts aufgeschrieben; Laozi wenig in poetischer Form. Die Affinität zwischen Religion und Poesie zeigt sich zunächst darin, dass beide sich keinem Kode fügen. Sie bilden sich aus sich selbst heraus; autopoietisch.

Wenn je die Gottheit, tief und unerkenntlich,

in einem Wesen auferstand und sprach,

so sind es Verse […]23

Und Poesie ist – gerade als Äusserung der Gottheit – weit mehr als der Sprachgebrauch, der Melodie und Rhythmus der Sprache mitgestaltet. Poesie ist die Kunst, etwas Neues zum Ausdruck zu bringen. Sie ist das Wesen aller Kunst.24

Aber das religiöse Erlebnis ist kein Werk. Religiöse Menschen haben über die Jahrtausende einen bedeutenden Schatz an Wissen und Praktiken hervorgebracht, die dazu dienen, sich dem religiösen Erlebnis zu öffnen. Doch dieses verdankt sich nie durchwegs vorgängigen Übungen, Gebeten, Ritualen oder Techniken. Es bleibt immer auch Geschenk, ist manchmal ganz und gar Geschenk, das jedem Menschen beschieden sein kann: wunderbar, frisch und neu wie das erste Mal. Der US-amerikanische Philosoph C. S. Peirce25 hat für diese Erlebnisqualität den Ausdruck firstness, Erstheit geprägt. Der Überraschungscharakter ist für das religiöse Erlebnis konstitutiv. Dies ist der Einwand gegen alle Versuche, das religiöse Erlebnis technisch herbeizuführen. Vorbereiten kann man es hingegen wohl, etwa indem man eine religiöse Vorstellungswelt einübt.

Seelische Identität ist nicht das Privileg seltener Mystiker, aber es braucht etwas Mut, ihrer Löschung nicht tatenlos zuzusehen. Bis ins 19. Jh. hätte man gesagt: die Seele nicht zu verkaufen.

Aus der Sicht seelischer Identität erlebt sich der Mensch verbunden mit anderen Wesen und Erscheinungen. Verbundenheit erschöpft sich dabei nicht im märchenhaften Glücksgefühl ozeanischer Selbstentgrenzung, sondern fordert zum Handeln auf und wird so zur Grundlage sozialer und ökologischer Verantwortung. So zeigt sich seelische Identität als Kern sozialer Identität und bleibt doch zugleich deren externer Orientierungspunkt.

Erst werden Kinder mit Mythen und Märchen, Zwergen, Elfen und sprechenden Tieren in der Entfaltung ihrer seelischen Identität unterstützt. Später wird diese auf grausame und polemische Weise selbst als Teil des Märchens abgetan. Der Protest gegen diese Praxis wird als Pubertät biologisiert. Aber durch darstellende Kunst und Musik, Roman und Dichtung, Naturschönheit oder Schicksalsschlag wird die Erinnerung manchmal später wieder geweckt. Besondere Bedeutung gewinnen dabei heute Video und Film. Sowohl James Camerons Avatar26 als auch Filme nach den Romanen von J. R. R. Tolkien stiessen sogar die Bildung alternativer, na‘vibeziehungsweise elfish-sprachiger27 Kulturen an. Da verabschieden sich Jugendliche von der angestammten Kultur, die ihre Botschaft und ihr Leiden als biologisch bedingt, pubertär, also vorübergehend und bedeutungslos abtut. Dabei äussert oder formuliert sich vielstimmig eine Sozialkritik, die auf jene Verhaltensänderung drängt, die Hoffnung auf ein gutes Leben nährt.

Das Wiedererwachen seelischer Identität führt zur Wiederverzauberung28 der Welt. Einzelne Adepten von Tolkien und Cameron verbrachten dann allerdings eine Zeit in der psychiatrischen Klinik. Es stellen sich also unter den gegebenen Umständen die Fragen, wie seelische Identität gesellschaftlich integrierbar ist und in welcher Beziehung Religion und Wahnsinn stehen.29 Der religiöse Terror verschafft der Frage Aktualität. Denn nicht immer findet das religiöse Erlebnis seine integrierbaren Ausdrucksformen. Oft wird es als Symptom einer physischen oder psychischen Störung isoliert. Dabei wirken sich die verschiedenen Interpretationen des religiösen Erlebnisses unterschiedlich auf dessen Erscheinungsformen aus.

Aus der Sicht sozialer Identität markiert jede Identifikationsvorlage wie Nation, Familie, Zunft oder Firma eine wertende Differenz zu anderen. Allerdings bleibt der Anspruch brüchig und bildet daher Gegenstand endloser Debatten.30 Je mehr sich eine Kultur, eine Lebensform, eine Vorstellungswelt allen anderen überlegen fühlt, desto dringender ist ein objektivierendes Stufensystem gefragt, das die Positionen gegenüber den angeblich Unterlegenen und deren Hierarchie unter einander klarstellt. Als solches System hat sich in Europa und der gesamten modernen Welt seit dem 19. Jh. das Modell der kulturellen Evolution bewährt: Aus Nomaden wurden Sesshafte, aus Naturreligionen Hochreligionen, aus mündlichen Traditionen Schriftkulturen, aus Polytheisten Monotheisten, aus Stämmen Reiche und aus Reichen Staaten – bis eben die schwindelnde Höhe der modern-westlichen, globalisierten Nationalkulturen erreicht war. Geschwindelt ist das durch und durch. In der Kulturwissenschaft hat das evolutionistische Modell längst ausgedient. Im Volksglauben aber ist es unentbehrlich, um aus den Unterlegenen Unterentwickelte machen zu können: Kulturen, die auf einer früheren Entwicklungsstufe stehen geblieben sind: lebendige Zeugen unserer Vergangenheit und unserer Überlegenheit zugleich. Das ist Missbrauch, denn wir brauchen keine Zeugen: Wir tragen unsere Vergangenheit in uns und die Überlegenheit ist bloss eingebildet.

In der historischen Wirklichkeit haben die Europäer die Menschen anderer Kulturen dank überlegener Waffentechnik unterworfen und zwingen ihnen nun eine untergeordnete Rolle in ihrem inzwischen globalisierten Gesellschafts- und Wirtschaftssystem auf. Der eurozentrische Überwertigkeitskomplex und der American Supremacism (erst recht seine Steigerung zum American Exceptionalism)31 lassen für kulturelle Vielfalt keinen Raum. Aus der Sicht der Kultur, die sich für überlegen erklärt, können die anderen Kulturen ja nur minderwertige Varianten darstellen. Auf ihre Vielfalt kommt es dabei nicht an. Während die Erhaltung der Biodiversität den Weg in die internationale Agenda findet, sieht die moderne Welt dem Aussterben der Kulturen gelassen zu.32 Der schauderliche Tenor ist: Alle haben die Chance, zu werden wie wir. Wer es nicht schafft, war einfach nicht fit genug.

Wer sich aber vom Überwertigkeitskomplex befreit, ist auf die Vielfalt der Kulturen angewiesen. Denn wenn jede Kultur nur einen Teil der Wirklichkeit zugänglich macht, erschliesst die Vielfalt der Kulturen erst einigermassen verlässliche Erkenntnis von Mensch und Welt.

Aufbau und Sprache

Der vorliegende Text ist so aufgebaut, dass jedes Kapitel mit einem Abschnitt beginnt, der die theoretischen Überlegungen vertieft und weiterführt. Danach werden diese in mehr narrativem Stil an Beispielen konkretisiert. Diese basieren auf Selbstzeugnissen unterschiedlichster Autorinnen und Autoren. Die Auswahl fiel auf Fälle, in denen das eigene Erleben besonders differenziert und glaubhaft dokumentiert wird. Sie entstammen entsprechend meinem Kompetenzhorizont hauptsächlich europäischen, afro-amerikanischen und afrikanischen Kulturen.

Während sich die theoretischen Überlegungen in Begriffen entwickeln, können Erlebnisse nur in bildhafter, literarischer Sprache vermittelt werden. Die literarische Qualität zeigt sich in der Kraft des Textes, das Erlebnis im Leser zu evozieren. Erlebnisse lassen sich bestenfalls dank literarischem Talent und poetischer Inspiration adäquat beschreiben. Die Alltagssprache rutscht allemal in die blosse Beschreibung der Ereignisse ab.

Religionspsychologie nährt sich zunächst aus drei Quellen: Berichten, Beobachtungen und eigenem Erleben. Vielfach korrumpieren sie sich gegenseitig. Aber es kann auch gelingen. Das Erleben und die Methodik hinter Beobachtung und Reflexion öffnen sich für einander, wo Religionspsychologie möglich wird. Sie entwickeln einen gemeinsamen Bezirk, wo sie in Beziehung stehen. Manche wissenschaftlichen Methoden33 bleiben zunächst ausgeschlossen, und auch das Erleben kann nicht vollständig einbezogen werden. So könnte ich beispielsweise meine religiösen Erlebnisse nicht als Beispiele in diese Studie aufnehmen, ohne das Gefühl zu haben, das Beste, was das Leben mir geschenkt hat, zu missbrauchen. Andere Autorinnen und Autoren wie Rainer Maria Rilke, Maya Deren oder Siri Hustvedt trägt das literarische Genie weiter.

Siri Hustvedt (*1955)

Rainer Maria Rilke (1875–1926)

Die Psychologie der Religion kann sich nur im Dialog mit den Psychologien der Religionen entfalten. Diese können in einer Sprache schriftlich verfasst sein, die – wie etwa im Fall buddhistischer Texte – dem Diskurs der akademischen Psychologie entgegenkommt.34 Sie können sich aber auch mythisch, rituell, literarisch oder filmisch formulieren. Das heisst nicht, dass sie bloss implizit vorliegen, also noch nicht recht entwickelt sind. Das heisst nur, dass wir das Zeichensystem, in dem sie sich darstellen, vielleicht erst entziffern müssen. Das ist die Aufgabe der beschreibenden Religionspsychologie. Insgesamt handelt es sich dabei nicht um einen Dialog auf Augenhöhe, sondern in wechselnder Rollenverteilung für alle Beteiligten um einen Lernprozess.

Alle Religionen haben – insofern sie mit der Seele oder der Lebenskraft beschäftigt sind – eine Psychologie hervorgebracht.35 Schon der deutsche Philosoph Max Scheler schrieb:

(Auch die) beschreibende […] Religionspsychologie ist nur sinnvoll und möglich innerhalb einer Glaubensgemeinschaft, nicht also auch zwischen verschiedenen Glaubensgemeinschaften oder Mitgliedern solcher – wenigstens nicht in Bezug auf die seelische Einwirkung solcher Gegenstände, die durch die Verschiedenheit der Glaubensstandpunkte betroffen werden. Der Religionspsychologien sind also so viele, als es Glaubensgemeinschaften gibt. Denn erst unter Einwirkung je verschiedener Metaphysiken und Dogmatiken entsteht ja der hier psychologisch zu erforschende seelische Tatbestand, die seelischen Erlebnisse, die sich in der Auffassung der religiösen Gegenstände einstellen.36

Scheler schiesst über das Ziel hinaus. Er dachte ja ausschliesslich über organisierte Religionen nach. In reifem Alter konvertierte er vom Judentum zum Katholizismus und glaubte, die Weimarer Republik würde zur Erneuerung der Kirche führen. Konvergenzen zwischen den Konfessionen, wie sie sich im Raum der Mystik oder in Notsituationen zeigen, entgingen ihm.

Hier geht es um «die seelische Einwirkung solcher Gegenstände, die durch die Verschiedenheit der Glaubensstandpunkte» nicht betroffen sind. Eine dieser Konvergenzen zeigt sich darin, dass alle religiösen Psychologien dem Menschen Wege zur grundlegenden Wandlung oder zur Entwicklung weisen. Das ist ihre hervorstechende Gemeinsamkeit. Sie beschreiben nicht nur, was der Mensch ist, sondern auch, was aus ihm werden kann. Sie entlarven soziale Identitäten in ihrer Vorläufigkeit.

Religionspsychologie findet ihre vierte Quelle in den Erkenntnisweisen, die mit dem religiösen Erlebnis einhergehen: den einen erscheinen diese visionär, den andern deliriös.

Das Studium des Deliriums lässt uns eine destabilisierende Rede vernehmen, ein Wort, das uns sagt, dass der Mensch radikal anderswo ist, dort sogar, wo die wissenschaftliche Untersuchung nicht hinreicht. Um dieses Wort zu hören, muss man über die Scheinsicherheiten der Psychologie hinausgehen. Als Psychologie bezeichnet Serge Tribolet jeden Versuch, den Menschen in ein System von Begrifflichkeiten einzuschliessen, jede Reduktion des Menschen auf eine sogenannt kognitive Mechanik, jede Konzeption psychischer Gegebenheiten, die auf einer kausalen Logik beruht.37

In diesem Sinn muss Religionspsychologie über die neuzeitlich westlichen Psychologien hinaus und ein paar Schritte auf die Welt der Visionen zugehen.

1Tesla 2005:5 ; alle Zitatedeutsch von Irène Stumm

2Tesla 2005:6

3Tesla 2005:11

4Tesla 2005:13

5Tesla 2005:18f.

6Tesla 2005:19

71856–1943

8Tesla 2005:95

9Vgl. von Ins 1979:25

10Schiller 2003:307

11R. Otto 1963

12Vgl. zum Beispiel Gen. 35,5

13Vgl. Tart 1978:292f.

14Das Unbehagen in der Kultur; Freud 2010:7–8, zit. n. Hustvedt 2015:176

15James 1979; umnebelt vom Kulturevolutionismus ist beiden die Universalität des Phänomens entgangen. Vgl. beispielsweise R. Otto 1963:72 und James 1979:431

16Vgl. etwa Apg. 2

17James 1979:18

18James 1979:41

19James 1979:40 vgl S. 448

20Vgl. die Entwicklung des Apostels Paulus von Apg. 9 zu 1. Kor. 13

21Vgl. Russell 2017 und zur Diskussion Frederick 2017. Ob es überhaupt ideologiefreie Organisationen gibt ist fraglich.

22Naturreligion, Fetischismus, Spiritismus, Animismus, Totemismus; heute Stammesreligion, Schamanismus, Spiritualität. In solchermassen vergröberter Optik würde man Sikhismus, Judentum, Islam und Christentum als Monotheismus zusammenfassen.

23Gottfried Benn, Verse, in Benn 1978:299

24Vgl. Platon 1985:205c

251839–1914

26James Cameron 2009

27Diese wiesen allerdings auf historische Erscheinungsformen der eigenen Kultur zurück: in diesem Fall die alte angelsächsische. Tolkien hielt sein Leben lang Vorlesungen über Beowulf.

28Der Ausdruck «Entzauberung der Welt» wurde durch Max Weber bekannt. (1919)

29Vgl. Verhagen 2010

30Vgl. Name, date of birth, migration background, in: Economist online, 26.5.2016. Hervé le Bras, L’identité française, in: Libération 22.–23.4.2017:24. Daniel Meier und Anja Burri, Wie man Schweizer wird, in: NZZ am Sonntag, 23.7.2017:16–17

31Im Transhumanismus schliesslich wird die als naturgegeben vorgestellte Überlegenheit durch die technisch selbst gemachte abgelöst.

32Der menschenverachtende Fatalismus formuliert sich in Kurzmeldungen wie dieser vom 18.2.2018: «Nach gängigen Prognosen wird bis Ende des 21. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der heute gesprochenen rund 6000 Sprachen ausgestorben sein.» Als ob es automatisch so käme, ohne menschliches Zutun.

33So beispielsweise der Behaviorismus und biologistische Ansätze.

34Im Dialog mit der buddhistischen Psychologie entwickelte sich schon die Philosophie A. Schopenhauers. Chr. Scharfetter ging aus diesem Dialog heraus in der Psychiatrie neue Wege. Vgl. die Arbeiten des Neurophilosophen Thomas Metzinger.

35Auch die Religionspsychologien von F. Schleiermacher, W. James und R. Otto sind in den Horizont des je eigenen religiösen Erlebens der Autoren eingebettet. Dasselbe gilt auch von G. Th. Fechners Spätwerk.

36Scheler 1921:372

37Tribolet 2013, Auszug aus dem Klappentext; deutsch von Jürg von Ins

Erlebnisse und Konzepte

Das religiöse Erlebnis

Im Unterschied zum Französischen und Englischen fällt es im Deutschen leicht, zwischen Erlebnis und Erfahrung zu unterscheiden. Erfahrung bezieht sich auf Folgen von kognitiv verarbeiteten Erlebnissen, resümiert und relativiert diese. Der österreichisch-israelische Religionsphilosoph Martin Buber hörte seine Seele sagen: «[…] vielleicht ist das Erlebnis eben das, was jenseits der Erfahrung steht: weil es vor der Erfahrung steht.»38

Der Religionsphilosoph Friedrich Schleiermacher beschreibt das religiöse Erlebnis als Ziel der Religion:

[…] was das Ziel der Religion ist […] Erinnert Euch, wie in ihr alles darauf hinstrebt, dass die scharf abgeschnittenen Umrisse unserer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche, dass wir durch das Anschauen des Universums so viel als möglich eins werden sollen mit ihm39.

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834)

Da alles Teil des Universums ist, kann alles den Funken schlagen, der das religiöse Erlebnis zündet. Konzepte wie Dogmen und Lehrsätze rücken dabei aus dem Blickfeld. Wurden sie aber zuvor eingeübt, wirken sie auf die Erscheinungsformen des religiösen Erlebnisses ein. Dadurch wird die Radikalität des Wandels, den das religiöse Erlebnis auslöst, gebrochen. Ob und wie schnell sich die Konzepte und Rahmen der sozialen Identität («die abgeschnittenen Umrisse unserer Persönlichkeit») wieder zusammenziehen und verschliessen, hängt von vielen Faktoren ab. Die Konzepte können direkt oder inversiv einwirken. Im ersten Fall vergewissert das religiöse Erlebnis den Menschen seiner zuvor schon gelebten Religion – der eher passive Christ wird vielleicht zum Mönch oder Missionar – im zweiten Fall löst es eine Konversion aus. In beiden Varianten führt die Prägung des Erlebnisses durch zuvor schon geglaubte Inhalte zu strukturellen Konstanten zwischen vorher und nachher. Paulus zum Beispiel war vor und nach dem religiösen Erlebnis auf dem Weg nach Damaskus40 ein religiöser Fanatiker.

Aber die durch das religiöse Erlebnis gerissene Öffnung kann auch fortdauern, ohne durch Einwirkung deutender Konzepte gleich wieder vernäht zu werden. Die frühchristlichen Wüstenväter kultivierten solche Offenheit, indem sie Einsiedler wurden. So verblassen soziale Einflüsse und selbst die Grenzen zwischen den Religionsorganisationen können sich auflösen. Mystiker der verschiedensten Religionen haben das erlebt. Guru Nanak zum Beispiel, der Stifter des Sikhismus, soll nach seiner Erleuchtung als Erstes gesagt haben: «There is no Hindu, no Mussalman.» Fortan zog er mit einem Muslim als Gefährten durchs Land. Abraham ben Samuel Abulafia, ein sephardischer Kabbalist des 13. Jahrhunderts, stellte die von ihm entwickelte Meditationsmethode in den Mittelpunkt seiner religiösen Praxis und empfahl sie den Angehörigen aller Religionsorganisationen gleichermassen. «Er verfasste sogar eine ganze Reihe von Handbüchern, […] deren Anweisungen in der Tat durchaus anwendbar sind. […] Sie sind nämlich nicht nur für einen orthodoxen Juden ausführbar, […] sondern ihre Anweisungen können im Wesentlichen von jedermann […] ausgeführt werden.»41

Das heute am ehesten konsensfähige, religiöse Erlebnis ist das Nahtoderlebnis. Oft liefern die Berichte der Betroffenen ausführliche, narrative Darstellungen des Erlebten. Der kanadische Schriftsteller William Paul Young42 füllt einen ganzen Roman mit der Schilderung einer mehrtägigen Begegnung mit Gott, die sich hinterher als Nahtoderlebnis herausstellt. Die Pointe überzeugt mehr als die vorangehende Geschichte. Genau dasselbe Motiv findet sich im Spielfilm Seven Days in Coma des nigerianischen Broadcast Designers Kennedy Ifeanyi Ukaire Ozoneh. Young ist auf einer Missionsstation in Papua aufgewachsen. Und Ozoneh dreht im Stil der Missionsfilme der Pfingstkirchen. Es handelt sich offenbar bereits um einen gängigen Topos der Mission. Seine Überzeugungskraft gewinnt dieser dadurch, dass er das religiöse Erlebnis mit einem körperlichen, auch aus säkularer Sicht realen Geschehnis verknüpft.

Oft ist das religiöse Erlebnis an heilige Objekte oder Orte gebunden, oft offenbart es diese erst43, und immer hat es seine eigene Zeit. Die Chronologie ist ein Konzept der Zeit, das auf Unabhängigkeit vom Erleben angelegt ist. Der chronometrische Standard löscht die Zeit des Erlebens und damit das Erlebnis selbst. Deshalb können wir uns – zurück am Arbeitsplatz – so schlecht an die Ferien erinnern. Besonders beredt leitet der US-amerikanische Kulturphilosoph David Henry Thoreau dazu an, sich der Geissel der Chronologie zu entziehen:

Die Zeit ist nur ein Fluss, in dem ich fischen will. Ich trinke daraus, aber während ich trinke, sehe ich seinen sandigen Grund und entdecke, wie seicht er ist. Seine schwache Strömung verläuft, aber die Ewigkeit bleibt. Ich möchte in tieferen Zügen trinken, im Himmel fischen, dessen Grund mit Sternen bestreut ist.44

Das religiöse Erlebnis verdankt sich einer Interaktion. Das Gegenüber – bald Gottheit oder Geist, bald Seele, Fluss und Himmel – ist nie Konzept, sondern erlebte Präsenz. Es ruft auf und spricht an und gewinnt dadurch personhafte Züge, die sich im Erlebnis der Verschmelzung wiederum verlieren können. Die Seele ist das Ensemble der Vorstellungen, die sich Menschen aller Kulturen von ihr machten und machen.

Max Scheler schrieb, erst durch die Einwirkung von Glaubensvorstellungen («Metaphysiken und Dogmatiken») entstehe der «seelische Tatbestand», den man psychologisch untersuchen könne. Aber es geht da eben nicht um Tatbestände. Die Wüstenväter verstanden die Seele als göttlichen Keim im Menschen. Der deutsche Psychologe Gustav Theodor Fechner sah die Seele einer Wasserlilie gestalthaft aus dem Blütenkelch steigen:

Es […] ging mir erst nur in flüchtigen Zügen durch die Seele, als ich am Wasser stehend die Blume betrachtete […] Und es war mir, als sähe ich die Seele der Blume selbst in leisem Nebel aus der Blume emporsteigen, und immer mehr lichtete sich der Nebel, wie sich die Betrachtung bestimmter gestaltete, und endlich stand die feine Gestalt der Seele klar, ja verklärt, über der Blume […]45

Der japanische Pflanzenpathologe Masanobu Fukuoka stellt sich die Seele als wissende Lebenskraft vor, und der Görlitzer Schuster Jakob Boehme verglich sie einmal mit einem lebensspendenden göttlichen Saft.46

Seelische Identität gestaltet sich in erlebter Resonanz mit einer Vorstellung von Seele aus; soziale Identität durch gesellschaftliche Interaktion in konventionellen Bahnen.

In Europa hat die Aufklärung zu einer Wucherung der Konzepte auf Kosten des Erlebens geführt. Seit Sturm und Drang und Romantik brandet eine Protestwelle nach der anderen gegen dieses konzeptuelle Bollwerk an.

Menschen, die Sterbende begleiten, berichten davon, dass diese oft bedauern, nicht ihr eigenes Leben gelebt zu haben. Oft machen sie dafür gesellschaftliche Einflüsse verantwortlich. Diese Botschaft aufzunehmen heisst, das Erleben gegenüber Konzepten aufzuwerten – nicht als Aufstand gegen die Aufklärung, sondern als Heilmittel für ihren wunden Punkt.

Das eigene Leben leben – das bedeutet, der Poesie des Erlebens zu folgen, wie sie zusammenfügt und trennt, ordnet und auflöst. Und wie sie seelische Identität zur Entfaltung bringt. Das heisst weder unter den Dingen zu verkehren wie ein Tier47, noch «durch die plötzlichen Ereignisse, die Anschauungen fortgerissen zu werden»48. Das heisst, das Leben als das Kunstwerk geschehen lassen, das die Seele aus ihm macht.

Die Vision des beseelten Kosmos