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Stuart Halls Vermächtnis: Lebensgeschichte als Politik des Kulturellen Stuart Halls Autobiografie ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich mit den Themen Race, Identität, (Post-)Kolonialismus und Diaspora befassen. Hall schuf Denkwerkzeug aus Widersprüchen. Er gründete die Cultural Studies, um das Alltagsleben als umkämpften Ort sichtbar zu machen, an dem um die Köpfe und Herzen der Menschen gerungen wird. Er wurde einer der einflussreichsten Denker zu den Themen Ideologie, Identität und Repräsentation, Hegemonie, Medien- und Massenkultur. Halls Jugend in Jamaika, der Wechsel nach England, das Studium in Oxford, die Aneignung von Literatur und Jazz, die Wurzeln seiner politischen Existenz, die politischen und kulturellen Entwicklungen im postkolonialen England: »Vertrauter Fremder« zeigt sein Leben zwischen zwei Inseln.
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Seitenzahl: 528
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Stuart Hall
Vertrauter Fremder
Ein Leben zwischen zwei Inseln
Deutsch von Ronald Gutberlet
Argument / InkriT
Titel der englischen Originalausgabe:
Familiar Stranger. A Life Between Two Islands Copyright © the Estate of Stuart Hall, 2017
Original English language edition first published by Penguin Books Ltd, London
Deutsche Erstausgabe
Alle Rechte vorbehalten
Eine Kooperation mit dem Institut für kritische Theorie Berlin e. V.
© Argument Verlag 2020/2022
Weitergabe und Vervielfältigung dieser Publikation oder von Teilen daraus, zu welchem Zweck und in welcher Form auch immer, bedürfen der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung des Verlags.
Lektorat: Else Laudan
ISBN 978-3-86754-831-1 (E-Book)
ISBN 978-3-86754-109-1 (Hardcover)
ISBN 978-3-86754-112-1 (Paperback)
Die deutschsprachige Ausgabe dieses Buchs wurde begleitet, redigiert und redaktionell betreut von einem mit Stuart Halls theoretischen Schriften vertrauten Editorial Board, um den Brückenschlag zu seinen wissenschaftlichen Texten zu gewährleisten und den hiesigen Stand der Diskurse zu berücksichtigen. Zum Team gehörten Victor Rego Diaz (Koordination) sowie Natascha Khakpour, Jan Niggemann, Ingo Pohn-Lauggas und Nora Räthzel.
Der Verlag dankt dem Editorial Board
sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung und weiteren Sponsor*innen der Übersetzung: Günter Bell, Herbert Dressbach, Richard Gebhardt, Peter Jehle, Karen Kramer, Ines Langemeyer, Dario Roman Paul, Jan Rehmann,
Rolf Stefaniak, Hansjörg Tuguntke, Thomas Weber, Egbert Wezel.
Stuart Hall, 1932 in Kingston (Jamaika) geboren, ab 1951 in England, war einer der führenden Kulturtheoretiker Großbritanniens und erster Herausgeber der New Left Review. Er gilt als Kopf des 1964 an der Universität Birmingham gegründeten »Centre for Contemporary Cultural Studies«. Bis 1997 Professor für Soziologie an der »Open University«, arbeitete er bis zu seinem Tod im Februar 2014 unermüdlich an aktuellen politischen Analysen. Die Autobiografie Vertrauter Fremder entstand in Gesprächen mit seinem Freund Bill Schwarz.
Für Catherine
»What do you call one’s self ? Where does it begin? Where does it end?«
Madame Merle in Henry James: The Portrait of a Lady (1881)
»… one simply cannot and will never be able to fully recuperate one’s own processes of thought or creativity self-reflexively …I cannot become identical with myself.«
Stuart Hall: »Through the Prism of an Intellectual Life«,
in Brian Meeks (Hg.): Culture, Politics, Race and Diaspora:
The Thought of Stuart Hall (2007)
Übersetzungsfragen umfassen begriffsspezifische und sprachpolitische Entscheidungen, die weit über sprachlich-stilistische Formulierungsprobleme hinausgehen. Angesichts dieser Herausforderung hat der Verlag mit uns eine Redaktionsgruppe ernannt, um Übersetzungsprobleme zu klären, die sich aus den verschiedenen Konnotationen und Gebrauchsweisen des für Stuart Hall wesentlichen Begriffsfeldes um Race ergeben.
Ebenso galt es Lösungen zu finden, wie das Englische als genusneutrale Sprache in das weitgehend genusdifferenzierende Deutsch übertragen werden kann. Die getroffenen Entscheidungen knüpfen an andernorts bereits angestellte Überlegungen an und schreiben vorhandene kritische Übersetzungsbeispiele fort. Das Editorial Board hat entschieden, dass genusmarkierte Begriffe mit einem * veruneindeutigt werden, sofern davon auszugehen ist, dass dies inhaltlich zulässig ist. Gerade in historischen Kontexten war diese Entscheidung nicht immer einfach: zum einen, weil das *innen suggeriert, dass Frauen, Männer und jene, die sich nicht heteronormativ zugeordnet haben, gleichberechtigt gehandelt haben oder in gleicher Weise beteiligt waren. Was emanzipatorisch sein soll, verdeckt dann unter Umständen Herrschaftsverhältnisse. Zum anderen war bei der historischen Quellensuche oft nicht rekonstruierbar, ob Geschlechter im Plural beteiligt waren, und manchmal auch nicht, ob dies von Hall gemeint war. In diesem Sinne sind die getroffenen Entscheidungen für vereindeutigte ›Pflanzer‹ oder eine veruneindeutigte ›Bürger*innenrechtsbewegung‹ zu verstehen. Die Ergänzungsform *innen selbst ist zudem textästhetisch gewöhnungsbedürftig. Aus diesen Diskussionen ergab sich die Aufforderung – über die Arbeit an diesem Buch hinaus –, geschlechterpolitische Sprachvarianten weiterzuentwickeln und zu einer verstärkten Sichtbarmachung von Geschlechterverhältnissen in der Geschichtsschreibung beizutragen.
Besondere Bedeutung bei der Übersetzung von Vertrauter Fremder haben die Begriffe im Kontext von ›Race‹. In einigen Publikationen wird Race immer noch mit ›Rasse‹ und racial mit ›rassisch‹ übersetzt. Die Begriffe ›Rasse‹ und ›rassisch‹ sind aber im Deutschen durch ihre besondere historische Definition im deutschen Faschismus bis heute unlösbar belastet. Im Angelsächsischen hingegen ist Race widersprüchlicher besetzt. Zum einen ist Race begrifflicher Bestandteil rassistischer Ideologien, von Ausbeutung und Versklavung seit dem Kolonialismus, zum anderen aber gibt es emanzipatorische Bewegungen, für die Race Teil der Selbstdefinition ist. Dementsprechend wird im Englischen ›racial consiousness‹ als ein Prozess begriffen, in dem Menschen sich politisch bewusst werden, dass sie aufgrund phänotypischer Merkmale – meist der Hautfarbe – als Rasse konstruiert und diskriminiert werden; dieses Bewusstsein wiederum ist Grundlage für Widerstandsprozesse gegen Rassismus. Mithin ist ›racial consciousness‹, wenn man so will, ein Akt der Subjektwerdung, auf jeden Fall einer des ›Aktiv-Werdens‹, ein Akt der Befreiung aus dem objektivierenden ›zur Rasse gemacht werden‹, der Identität stiftet und kollektive Praxen hervorbringt. Diese widersprüchliche Begriffsbesetzung ist auch in Stuart Halls Rassismusforschung nachzuvollziehen.
Die Schwierigkeit, diese race/racial-Bedeutungen zu übersetzen, liegt darin, dass sie in den entsprechenden deutschen Begriffen nicht artikuliert sind. Auch im Englischen wird davon ausgegangen, dass ›Rasse‹ keine analytische Kategorie ist, sondern eine ideologische Konstruktion. Das schwingt beim Gebrauch des Begriffs stets mit, ohne dass dies immer, zum Beispiel durch Anführungszeichen, kenntlich gemacht wird. Würde man aber Race mit ›Rasse‹ übersetzen, konnotierte man im Deutschen, dass es ›Rassen‹ tatsächlich gibt, es ginge um eine analytische Kategorie, der eine Realität entspricht, nämlich die Existenz verschiedener menschlicher ›Rassen‹. Entsprechend ist die widersprüchliche Bedeutung von ›racial politics‹ im Deutschen keine bewusste (sprach-)politische Praxis. Im anglophonen Raum werden damit zum einen rassistische Politiken bezeichnet, zum anderen auch rassismusbekämpfende Gesetzgebungen oder politische Maßnahmen*. Stuart Hall verwendet in Kapitel 9 ›Politics‹ für beide entgegengesetzten Bedeutungen denselben Begriff ›racial politics‹. Im Deutschen sprechen wir explizit von Rassismus bzw. Antirassismus, nicht jedoch von ›rassisierter Politik‹, da dieser Begriff nicht mit ›Politik gegen Rassismus‹ oder ›Politik zur Vermeidung von rassistischer Diskriminierung‹ konnotiert ist. Daraus folgte unsere Entscheidung, race/racial wie auch racial consciousness und race politics/racial politics nicht zu übersetzen, sondern englisch zu belassen. Wenn aber von Biologismen oder von rassistischen Ideologien bzw. Praxen die Rede ist, dann wird z.B. miscenigation mit ›Rassenmischung‹ in Anführungszeichen übersetzt. Wenn racial(ly) auf Unterdrückung, Diskriminierung, Stereotypisierung bezogen ist, wird ›rassistisch‹ übersetzt; bezieht es sich auf den Prozess der ›Rassekonstruktion‹, wird ›rassisiert‹ übersetzt.
Ähnlich stellt sich das Problem mit ›colour‹ bzw. ›coloured‹. Der Begriff Colour ist in seiner Begriffsgeschichte tatsächlich komplexer als der Begriff Race. Einerseits war es ein Euphemismus wohlmeinender Weißer, die ›Schwarz‹ beleidigend fanden – vor allem in den USA, weswegen die Bezeichnung coloured in der ›Black is beautiful‹-Bewegung vehement abgelehnt wurde. In Jamaika wiederum ist coloured ein Begriff, mit dem sich die Menschen mit hellerer Hautfarbe stolz von ›den Schwarzen‹ absetzen: Wir sind coloured, wir sind etwas Besseres. Heute ist ›People of Colour‹ eine – aus dem US-amerikanischen Raum stammende – etablierte Selbstbezeichnung für jene, die sich als nicht-Weiß verstehen bzw. von der Mehrheitsgesellschaft als nicht-Weiß gesehen werden. Die Übertragungspraxis von ›coloured‹ ins Deutsche ›farbig‹ ist nicht haltbar, obwohl mit dem Begriff oftmals versucht wird, weniger verletzend über Race zu sprechen. Im Unterschied zu ›of Colour‹ handelt es sich jedoch um keine politische Selbstbezeichnung, über die auch Gemeinsamkeit hergestellt wird. Im Gegenteil wird mittels ›farbig‹ erneut eine skalierte Abstufung von Hautfarben hergestellt. Aus diesem Grund wird Colour hier englisch belassen. Wenn explizit, also materiell Hautfarbe gemeint ist, dann wird im Deutschen auch ›Hautfarbe‹ verwendet. Auch hierzu entstanden kontroverse Diskussionen im Editorial Board, denn es war nicht in jedem Fall trennscharf zu klären, wann Colour eher als materielle Hautfarbe und wann kategorial gebraucht wird.
›Weiß‹ und ›Schwarz‹ selbst sind keine Identitätskategorien oder Farben, sondern richten den analytischen Blick auf rassisierte Unterscheidungen, deshalb werden sie großgeschrieben. ›Negro(es)‹ wird englisch belassen. An einer Stelle verweist Hall auf die Gleichzeitigkeit von rassistischem Schimpfwort und freundschaftlicher Ansprache unter Black Brothers in der ironischen Bezeichnung ›Nigger‹ – diese haben wir so übernommen. Es gibt andere aktuelle Übersetzungen, die ›Negroes‹ weitgehend synonym mit ›Schwarze‹ übersetzen. Diesem Weg sind wir nicht gefolgt, da Hall den Begriff sehr selektiv verwendet und nicht einfach synonym zu ›Schwarz‹.
Bei dieser ›Begriffsarbeit‹ wurde jede Stelle im Text situativ geprüft, daher gibt es statt einer statischen Vereinheitlichung auch sinnvolle Abweichungen von den gefundenen Lösungen. Sprache ist kein neutrales Werkzeug, sondern ein Kampfplatz um hegemoniale Bedeutungen und ihre begriffliche Fassung. Hall verwebt in Vertrauter Fremder biografische Erfahrungen, politische Praxisverhältnisse, kulturelle Kontexte und theoretische Ansätze, um die gesellschaftlichen Auswirkungen des Kolonialismus bis heute aufzuzeigen. Damit wird nachvollziehbar, welch materielle Gewalt in Race und Colour und ihren hegemonialen Bedeutungen enthalten ist. Das gilt folglich auch für die Übersetzung dieser Begriffe. Insofern ist es schon erstaunlich, wie oft in anderen Übersetzungen Race/Rasse und racial/rassisch reproduziert werden, ohne dies zu erklären oder zu begründen. Unsere Vorschläge, die stets auf die historischen und politisch-kulturellen Kontexte bedacht sind, verstehen sich damit auch als Beitrag zu einer kritischen Reflexion solcher Übersetzungsarbeit – sowie als Aufforderung, sie kritisch weiterzuentwickeln.
Natascha Khakpour (Wien), Jan Niggemann (Wien),
Ingo Pohn-Lauggas (Wien), Nora Räthzel (Umeå),
Victor Rego Diaz (Hamburg)
Dies ist Stuart Halls Buch, es erzählt seine Geschichte. Aber wer seine Schriften kennt, weiß auch, dass er sein ganzes Leben am liebsten in Kooperation mit anderen gearbeitet und geschrieben hat, häufig mit Menschen, die viel jünger waren als er selbst. Keins seiner Werke hat er im Alleingang verfasst. Und so sind auch in diesem Buch Spuren anderer zu finden.
Hall hat nie ausdrücklich beschlossen, seine Memoiren zu schreiben oder ein ähnlich geartetes Projekt in Angriff zu nehmen, jedenfalls nicht in der hier jetzt vorliegenden Größenordnung. Vor etwa zwanzig Jahren bekamen wir beide das Angebot, ein kurzes Manuskript in Form einer Unterhaltung einzureichen, das die wesentlichen Konturen seines intellektuellen Werdegangs beleuchten sollte. Da ihm die Kürze und die dialogische Form dieses Projekts gefielen, willigte Stuart Hall ein. Wir unterschrieben den Vertrag und begannen – nach einigen vorhersehbaren Verzögerungen – mit der Aufnahme der Interviews. Ich verbrachte den Sommer damit, die Gespräche zu transkribieren. Was dann vorlag, hatte mehr oder weniger den geforderten Umfang. Die Abschrift, die ich ihm übergab, enthielt längere Anmerkungen, Rückfragen und Anregungen sowie eine Handvoll zusätzlicher Fragen, die noch beantwortet werden mussten. Wir waren, so dachten wir, fast fertig.
Wie sich herausstellte, war das keineswegs der Fall. Hall begann den Text umzuschreiben, fügte neue Passagen hinzu, eine Praxis, der er nie widerstehen konnte, weil sich neue Ideen in seinem Kopf bildeten und er die daraus resultierenden intellektuellen und politischen Kontroversen schon vor sich sah. Andere Dinge – wichtige und dringende Verpflichtungen – kamen ihm dann dazwischen. Aber wir sprachen regelmäßig darüber, und wenn es seine Zeit erlaubte, nahm er sich das Manuskript wieder vor. Dennoch ging es nur langsam voran.
In seinen letzten Lebensjahren forderte die Krankheit ihren Tribut. Größere Projekte waren nicht mehr zu bewältigen. Seine Mobilität war eingeschränkt, er war zunehmend ans Haus gebunden. Ihm fehlte es, in der Welt aktiv zu sein. Aber auch wenn seine körperlichen Kräfte nachließen, seine intellektuelle Rastlosigkeit blieb bestehen. Es drängte ihn, sich zu Tagesereignissen zu äußern. Wenn seine Gesundheit es erlaubte, arbeitete er wie ein Besessener am Manuskript. Es bekam eine ganz neue Bedeutung, es wurde zum Rettungsanker. Optimismus des Willens.
In dieser Zeit sprachen wir endlos über dieses Projekt. Er befragte mich und zahllose andere zu allem, was ihm gerade in den Sinn kam, je nachdem, an welcher Stelle im Manuskript er gerade angekommen war. Er machte sich schnell Notizen, setzte sich wieder an den Computer und führte die dialogische Struktur fort, während er weiterarbeitete. Seine intellektuelle Klarheit behielt er bis zum Schluss. Als er im Februar 2014 starb, hatte das Manuskript einen Umfang von über 300 000 Wörtern angenommen.
Auch wenn seine geistige Klarheit nicht gelitten hatte, war es für ihn nur phasenweise möglich, das komplexe Manuskript, das inhaltlich weit über die intellektuelle Entwicklung eines einzelnen Menschen hinausreichte, intensiv zu bearbeiten. Er hatte ein sehr genaues Bild davon, wie das Werk, das er sich immer als einen einheitlichen Band vorgestellt hatte, am Ende aussehen sollte. Sein Konzept umfasste die Teile, die hier veröffentlicht sind. Außerdem weitere Kapitel zum Thema Kultur, mit einem Überblick über die Breite der theoretischen Debatten; einen langen Text über die Eigenschaften ›des Politischen‹ und die Entstehung des Neoliberalismus; und schließlich einige Kapitel, die sich mit Schwarzer Subjektivität, Ästhetik und Politik befassen sollten. Einige Texte waren geschrieben oder halb fertig, einige existierten nur in Form von Notizen, andere als Entwürfe im Kopf.
Wegen seiner nachlassenden Sehkraft musste vieles ausschließlich aus der Erinnerung zusammengesetzt werden. Es war ihm nur selten möglich, die entsprechenden Quellen zu konsultieren. So könnten Leserinnen und Leser zum Beispiel bemerken, dass manche Geschichten, die hier erzählt werden, auch anderswo auftauchen. Mitunter stimmen die Versionen nicht ganz überein. Ich entschied mich, in solchen Fällen nicht einzugreifen. Darüber können sich die Gelehrten in der Zukunft den Kopf zerbrechen, falls sie es für nötig halten. Wie Hall irgendwann einmal erklärte, war er am Ende »gezwungen, Geschichte mit Erinnerungen und Sehnsüchten zu vermengen – eine Kombination, der künftige Historiker mit gebührender Skepsis begegnen werden«.
Meine Aufgabe war es, aus dem umfassenden Manuskript jene Passagen zu extrahieren, die nun hier vorliegen. Die einen befassen sich mit der Schilderung seiner Kindheit und Jugend, die anderen erörtern die Zusammenhänge von Kultur und Politik. Die Leser werden nachvollziehen können, dass das Buch unter diesen Umständen keine reine oder unbearbeitete Wiedergabe von Stuart Halls Aussagen sein kann. Der vorliegende Text basiert auf den Transkriptionen der geführten Interviews, den anschließenden schriftlichen Veränderungen und Erweiterungen von seiner Hand, die in verschiedenen Stadien der Bearbeitung vorlagen, sowie auf zahllosen Diskussionen und Gesprächen, die im Laufe von zwei Jahrzehnten stattfanden. Manche Teile sind wortgetreu seine Texte, andere wurden aus Fragmenten rekonstruiert. Das Manuskript auf diese Weise zusammenzusetzen war harte Arbeit.
Zunächst wollten wir die ursprüngliche dialogische Struktur beibehalten, da Hall es wünschenswert fand, den Text zwei unterscheidbaren Stimmen zuzuordnen: dem fragenden ›Bill‹ und dem antwortenden ›Stuart‹. Allerdings war das Zusammenspiel der beiden Stimmen unweigerlich sehr viel weniger transparent, als dieses Vorhaben nahelegte. Das Buch entwickelte sich zum gemeinsamen Manuskript, das jahrelang zwischen Stuart und mir hin- und herging, dabei ständig revidiert und verändert wurde. Mit der Zeit geriet die Urheberschaft etlicher Passagen völlig aus dem Blick. Die Gesprächsform war der Grundgedanke des Buchs, und durch die ersten Bearbeitungsprozesse hindurch behielten wir sie bei. Aber in einem späteren Stadium trafen wir bei einer Besprechung mit dem Verlag die Entscheidung, das ganze Manuskript doch als Erzählung in der Ich-Form anzulegen. Anfangs hegten wir noch Bedenken. Binnen kurzem überzeugten uns jedoch die Vorzüge dieser Lösung. Sie macht Stuart Halls Stimme viel deutlicher vernehmbar. Und auch wenn die Frage-Antwort-Form verschwunden ist, hat die dialogische Inspiration die innere Organisation der Erzählung strukturiert. Wir haben uns zudem bemüht, den Gesprächston beizubehalten.
Paul Thompson stellte uns freundlicherweise einen bedeutenden Ausschnitt seines eigenen Interviews mit Stuart Hall zur Verfügung, mit dessen Hilfe wir eine inhaltliche Lücke schließen konnten. Stuart war sich bewusst, wie viel er seinen Freundinnen Sally Alexander, Beatrice Campbell und Jacqueline Rose verdankte, die ihm, als es immer schwieriger wurde, die Materialien vorlasen, auf die er andernfalls nicht mehr hätte zugreifen können. Nick Beech war in der Endphase eine wichtige Hilfe für Stuart und hat zur Vervollständigung des Bandes beigetragen, indem er mich mit jeder Menge Artikeln, Papieren und Referenzen versorgte, wann immer ich sie benötigte, selbst wenn er anderweitig sehr in Anspruch genommen war. Michael Rustin, Stuarts Schwager und alter Weggefährte, steuerte wichtige Zusatzinformationen zur wechselhaften Geschichte der New Left bei.
Von Anfang an sah Stuart Hall in der Duke University Press den idealen Verlag für die US-Veröffentlichung seiner Arbeiten. Duke hatte sich mit der engagierten Publikation der Werke von Marcus Garvey und C. L. R. James hervorgetan, und die Aussicht, dass seine Schriften neben den ihren erscheinen würden, freute ihn sehr. Ken Wissoker von Duke University Press verpflichtete sich bereitwillig, eine Ausgabe von Halls Schriften ganz nach unseren Vorgaben zu publizieren – ein außergewöhnlich kühnes und generöses Angebot von einem Verlag in Zeiten, da das Verlegen immer riskanter wird. Geplant ist nun eine Werkausgabe in mehreren Bänden, größtenteils thematisch geordnet – mehr, als wir, oder Stuart, von Ken und seinem Team erwarten durften. Sie tun alles, was wir uns nur wünschen konnten. Wir sind Ken Wissoker und Elizabeth Ault zutiefst dankbar.
Auf Anraten von Neil Belton wandten wir uns für die UK-Ausgabe an Tom Penn bei Penguin, der von dem Projekt auf Anhieb begeistert war. Tom, der Halls Arbeit seit jeher wertschätzt, hat sich unermüdlich für dieses Buch starkgemacht, wir sind ihm und Chloe Currens sehr verpflichtet. Dank ihrer beider Einsatz ist es mit Gewissheit ein besseres Buch geworden. Auch Linden Lawson, die als Lektorin großartige Arbeit geleistet hat, verdanken wir viel.
Für die Zusammenstellung und Vervollständigung des Manuskripts gewährte mir die Rockefeller Foundation dankenswerterweise ein FellowshipamNational Humanities Center in North Carolina. Das verschaffte mir nicht nur Raum und Zeit für die Fertigstellung des Buchs, das Center ist auch selbst in diesen schweren Zeiten ein grandioser Hort für die Souveränität des Geistes. Ich werde alle dort stets in wärmster Erinnerung behalten.
Großer Dank gebührt Caroline Knowles, die dieses Projekt aus nächster Nähe und gelassen begleitet hat, als es sich der Fertigstellung näherte und ich immer panischer wurde. Ihr Beistand war mir kostbar.
All dies wäre niemals möglich geworden ohne den Großmut, die umsichtige Unterstützung und das nimmermüde Wohlwollen von Stuarts Familie. Diesen persönlichsten seiner Texte bis zu seiner Publikation zu begleiten war nicht immer einfach. Seine Kinder Becky und Jess haben das Projekt mit Begeisterung, Hingabe und Sorgfalt unterstützt. Seine Frau Catherine hatte stets mein Wohlbefinden im Blick, sogar als sie selbst so vielen anderen Verpflichtungen nachkommen musste. Sie war in jede Phase der Bearbeitung des Manuskripts einbezogen. Ich verdanke ihr mehr, als ich in Worten ausdrücken kann.
Das Schwierigste war für mich, dass Stuart die endgültige Fassung nicht mehr selbst zur Veröffentlichung freigeben konnte. Ich kann mir seine vielen Einwürfe gut vorstellen. Wann immer er seine eigenen Texte durchging, war er versucht, alles nochmals auseinanderzunehmen und die Argumentation weiterzutreiben oder in eine neue Richtung zu führen. Dieses Buch wäre gewiss keine Ausnahme gewesen. Es schmerzt mich enorm, dass er nicht mehr lesen konnte, was am Ende unter seinem Namen in Druck gegangen ist.
Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich das letzte koloniale Subjekt. Geboren wurde ich 1932 als Sohn einer Mittelschichtsfamilie of Colour auf Jamaika, damals noch britische Kolonie. Meine Weltsicht wurde zuerst von meiner Perspektive als kolonialisiertes Subjekt geprägt, und große Teile meines Lebens bestanden daraus, mich an den Normen abzuarbeiten, in die ich hineingeboren wurde und mit denen ich aufwuchs. Dieser lange, kontinuierliche Prozess der Entidentifizierung hat mein Dasein bestimmt. Als Kind und Jugendlicher verbrachte ich meine ersten neunzehn Lebensjahre in Kingston auf Jamaika. 1951 reiste ich nach England, um im Rahmen eines Rhodes-Stipendiums in Oxford zu studieren, und da ich mich entschloss, nicht mehr heimzukehren, lebe und arbeite ich seitdem in Britannien.
Die Geschichte, die ich erzähle, konzentriert sich vor allem auf die Endphase des Kolonialismus, mit Blick auf Kingston wie auch auf London. Ich habe mich entschieden, meine Schilderungen mit dem Beginn der 1960er Jahre abzuschließen, als ich die dreißig überschritt. Da war ich aus den Vorgaben der unmittelbaren Prägung durch die koloniale Unterwerfung herausgetreten und fand die Möglichkeit, eine andere Art Mensch zu werden. Ich hatte Catherine1 kennengelernt und geheiratet. Mein Leben als politischer Aktivist in London ging zu Ende. Wir zogen nach Birmingham, wo sich mir im Centre for Contemporary Cultural Studies neue Betätigungsfelder boten. Die Unsicherheit, die mir in einer rassisierten, subordinierten Position im kolonialen Jamaika eingeimpft worden war, verschwand bei diesen Veränderungen nicht wie durch Zauberhand. Sie löste sich nicht in Wohlgefallen auf wie am Ende eines viktorianischen Romans. Aber damals wurde mir klar, dass mein Leben in meine eigenen Hände gehörte und dass ich weder dem kolonialen Jamaika noch dem metropolitanen Britannien zwingend Ehrerbietung schuldig war. Es taten sich neue Möglichkeiten auf. Solche Möglichkeiten, so erkannte ich, mussten aktiv geschaffen werden.
Im Jahr 2011 feierte ich – falls man das so nennen kann – den sechzigsten Jahrestag meines Lebens in der Schwarzen britischen Diaspora. Tatsächlich bin ich das Produkt zweier Diasporas. Das mag Leser*innen überraschen, die meine ursprüngliche Herkunft in der afrikanischen Diaspora sehen. Aber auch Jamaika ist nicht einfach ein Teil Afrikas in der Neuen Welt, es ist auf seine spezielle Art ebenfalls eine Diaspora, ein Ort verschiedenster Menschen und Traditionen, die sich dort angesiedelt haben. Keine der großen Bevölkerungsgruppen, aus denen sich die jamaikanische Gesellschaft zusammensetzt, stammt von dort. Jede*r Jamaikaner*in ist migrantischer Herkunft, ob freiwillig eingewandert oder dorthin verschleppt. Alle kommen ursprünglich woandersher.
Mein Vater Herman, ein liebenswerter, stämmiger Brauner Mann aus der unteren Mittelschicht mit freundlichen Augen und einem kleinen Bauchansatz unter dem Jackett seines hellbraunen Tropenanzugs, war Buchhalter. Er hatte das Glück, trotz seiner bescheidenen Herkunft einen Job bei der United Fruit Company in Port Antonio zu ergattern, jenem in Boston ansässigen US-Konzern, der den Bananenmarkt in Mittelamerika und der Karibik dominierte. Im gesamten zwanzigsten Jahrhundert war United Fruit berüchtigt für seine unheilvolle Einflussnahme auf die Politik Mittelamerikas. Mein Vater, der sich darüber wohl nie irgendwelche Gedanken gemacht hat, stieg die Karriereleiter empor und wurde zum ersten einheimischen – und damit ›coloured‹ – Hauptbuchhalter in der jamaikanischen Filiale des Konzerns.
Meine Mutter, die Ehrfurcht gebietende ›Miss Jessie‹, war eine hübsche, stets gut gekleidete Braune Frau von beeindruckendem Auftreten. Sie entstammte einer hellhäutigen, aber nicht wohlhabenden Familie – der Vater Lehrer an der Landwirtschaftsschule, die Mutter Postangestellte –, wuchs jedoch bei einem vermögenden Onkel auf, einem bekannten Anwalt, der ein kleines Anwesen am Rand von Port Antonio besaß. Dort lebte sie quasi als Adoptivkind in einem recht stattlichen Haus, das ›Norwich‹ genannt wurde, am Ende einer von Palmen gesäumten Zufahrt auf einem Hügel mit Blick aufs Meer. Für die Produktion der letzten Folge der Serie Redemption Song, die ich 1991 für die BBC drehte, suchte ich das inzwischen heruntergekommene Anwesen auf. Die Sängerin Eartha Kitt hatte es gekauft, aber nichts daran machen lassen. Ein schwuler Mann, der vormals fürs Theater und in der Modebranche gearbeitet hatte, kümmerte sich darum. Er bewohnte ein einziges Zimmer mit Schränken voller Show-Kostüme, das übrige Haus stand leer. Wie der Lebensstil, den es repräsentierte, war das ›Norwich‹ im Niedergang und verfiel.
Die Onkel meiner Mutter waren Anwälte oder Ärzte und schickten ihre Kinder zur Ausbildung nach England. Wäre meine Mutter keine Frau gewesen, hätte man sie wahrscheinlich ebenfalls dort studieren lassen. Ich glaube, sie hatte zeitlebens das Gefühl, darum betrogen worden zu sein. Ihre Vorfahren waren einst Sklavenhalter gewesen. Ein angeheirateter Verwandter von mir, ein gewisser John Rock Grosset, erwies sich peinlicherweise als prominenter und streitbarer Befürworter der Sklaverei. Für meine Mutter wurde das Leben auf einer Plantage der Inbegriff sozialen Aufstiegs, was ihre Hoffnungen und Ängste prägte, die sie dann an ihre eigene Familie weitergab. Diese Linie ihrer Verwandten unterwies sie in ihren Dünkeln und machte sie zu einer von ihnen. Sie genoss ihre Fähigkeit, andere zu beherrschen, übernahm gern die Führungsrolle und spielte Grande Dame. Mit ihrer ganzen Haltung und Positur verkörperte sie furchtlose Zielstrebigkeit – beziehungsweise selbstsicheren Starrsinn. Ihre Tragödie war, dass sie als eine so hochgradig kompetente Person nach der Heirat nie mehr außerhalb des eigenen Hausstands tätig war. Haushalt und Familie waren ihr Beruf, dort herrschte sie – im Gegensatz zu vielen anderen jamaikanischen Familien der Mittelschicht, wo zu dieser Zeit eindeutig die Männer das Sagen hatten. Ich glaube, dass sie in der Öffentlichkeit keine bedeutende Position einnehmen konnte, war eine von vielen Ursachen für ihre ständige Unzufriedenheit.
Meine Geschwister, George und Patricia, waren etliche Jahre älter als ich. Pat musste ihre Arbeit als Privatsekretärin aufgeben, als sie einen schweren Nervenzusammenbruch erlitt. Den Rest ihres Lebens verbrachte sie größtenteils damit, für George und meine Eltern zu sorgen. Sie lebt heute in einem Altersheim auf Jamaika, wo meine Cousine, Schwester Maureen Clare, sich um sie kümmert.
Kingston, die Stadt, in der wir wohnten, war damals eine ganz typische, lebendige, überbordende und zum Teil baufällige Kolonialstadt. Sie breitete sich über einem ringförmigen Hafen aus, der als einer der schönsten und sichersten der ganzen Welt galt, fast vollständig eingefasst von einer schmalen Landzunge, Palisadoes, an deren Ende die Überreste der alten Stadt Port Royal lagen. Dies war einst der wichtigste Stützpunkt der britischen Piratenflotte, die in der Elisabethanischen Zeit Jagd auf spanische Galeonen machte, welche die Ausbeute der süd- und mittelamerikanischen Silberminen nach Europa brachten. Obwohl Piraterie auch damals illegal war, wurde sie zu beidseitigem Nutzen von der britischen Krone geduldet. Einer der berüchtigtsten Piraten, Sir Henry Morgan, war sogar eine Zeitlang Gouverneur von Jamaika. Port Royal wurde 1692 von einem Erdbeben weitgehend zerstört, was man damals als gerechte Strafe für den verruchten, zügellosen Lebenswandel, die Lasterhaftigkeit und den unanständigen Reichtum ansah. Im Volksmund hieß es, wenn man ganz genau horchte, könne man noch immer die Glocken der Kathedrale unter Wasser läuten hören – vielleicht erflehten sie ja Vergebung?
Jamaika selbst, die tropische Insel, ist tief in mir verankert. Der größte Teil des Südens und Teile des Nordens sind relativ flach, ideal für den Anbau von Zuckerrohr. In den übrigen Regionen ist das Land bergiger, dort gedeihen Bananen, Zitrusfrüchte und eine ganze Reihe regionaler Spezialitäten. Die Plantagen und die Farmen der Rinderzüchter liegen in der Ebene. Kaffee ist eine Pflanze des Hochgebirges. Das Landesinnere ist waldig, subtropisch und strotzt vor wild wucherndem Leben. Hinter Kingston erheben sich die höchsten Gipfel der Blue Mountains, die die ganze Insel wie eine Wirbelsäule der Länge nach durchziehen. Überall winden sich schmale Straßen waghalsig die steilen Berghänge hinauf und führen auf der anderen Seite wieder in die tiefliegenden Täler hinab.
Im Inneren der Insel war die ›Landbevölkerung‹ ansässig, größtenteils bäuerliche Familien, die in den Bergdörfern subsistent von ihren kleinen Feldern lebten. Außerdem wohnten dort Tagelöhner, Zuckerrohrschneider und Bananenerntehelfer sowie andere, die dem Dorfleben Dienste leisteten. Auf kleinen Familienparzellen bauten sie alles Mögliche an, für den eigenen Bedarf oder den Verkauf auf dem Wochenmarkt. Sie handelten mit dem täglichen Krimskrams lokalen Landlebens: geflickte Reifen, klapprige Autoteile, mehrfach reparierte Elektrogeräte. Die armen Bauern und Bäuerinnen lebten oftmals in Hütten aus Wellblech oder Holz, die sie an die terrassierten Berghänge gebaut hatten, jeder Zentimeter Besitz wurde produktiv genutzt.
Bis auf wenige ganz abgelegene Orte lagen die meisten kleinen Dörfer an Straßenkreuzungen und bestanden aus nichts als ein paar Hütten, die sich um eine improvisierte Kneipe oder einen Laden für Haushaltswaren angesammelt hatten. Stellenweise, wie in den entfernten Lagen des Cockpit Country, zerfällt die Landschaft jäh in zerklüftete Gipfel und tiefe Talmulden. In regelmäßigen Abständen führen die Landstraßen durch dicht besiedelte, drückend heiße kleine Städtchen. Die Straßen strebten, wo immer es möglich war, zum Meer oder verliefen parallel zur Küste mit ihren breiten, von Kokospalmen gesäumten Stränden. Durch schmale Pfade im Gestrüpp gelangte man hinunter zum grellweißen sandigen Ufer, wo sich die erhabenen grünblauen Wellen der Karibik brachen. Die ganze Küste entlang gab es kleine Fischerdörfer. Die hübschesten davon wurden von der Tourismusbranche entdeckt und als ›Ferienparadiese‹ vermarktet.
Die frühen spanischen Konquistadoren machten Spanish Town zum Regierungssitz, dort sind im Zentrum noch beeindruckende Zeugnisse früher Architektur erhalten. Die Briten verlegten die Hauptstadt nach Kingston. Heute lebt die Hälfte der jamaikanischen Bevölkerung in oder um Kingston. Es ist das bedeutendste urbane Zentrum und dominiert das soziale, politische und kulturelle Leben Jamaikas. Als ich dort aufwuchs, führten alle Straßen zum Hafen und zu den Docks. In den engen Seitengassen gab es Unmengen winziger Läden und Betriebe: Schneider, Barbiere, Schuhmacher, selbständige Mechaniker, Tagelöhner, Haushaltshilfen, Gärtner, Wäscherinnen, freischaffende Gelegenheitsjobber, Leute, die Kleidung und Schuhe flickten, Damenschneiderinnen in einer Wirtschaft, die noch nicht von Konfektionsware abhängig war, ungelernte Handwerker und Legionen von Reparaturdienstleistern aller Art. Diese improvisierten Geschäfte existierten neben den großen, protzigen Kaufhäusern, die teure, vor allem ausländische Markenprodukte verkauften. Dies war das Zentrum der Wirtschaft und der Verwaltung Jamaikas. Hier befanden sich außerdem das House of Assembly genannte Parlament, die Gerichte, die Anwaltskammer, die Kathedrale, zahlreiche Firmenzentralen, das alte Ward Theatre, einige Ministerien, das Stadion, das Kulturzentrum Institute of Jamaica, die Kunstgalerie und – eher am Rand – der Markt der Kunsthandwerker, die lautstark um die Gunst der durchreisenden Touristen wetteiferten. Eine Straße führte zur Rockfort-Festung – wo die Gefangenen im Kalksteinbruch buddelten – und weiter zu den heißen Quellen, zur Anlegestelle der Wasserflugzeuge und zum Flughafen.
In jüngster Zeit hat sich das Gleichgewicht der Metropole deutlich verschoben. Fährt man bergan in Richtung St. Andrews, Kingstons Villenviertel, so erstrecken sich die manikürten Rasenflächen der ›Oberstadt‹-Kingstonians über die Landschaft. Die Gärten sind gut gepflegt (hier oben hat jeder einen Gärtner) und die Häuser prächtig (jeder hat hier Dienstboten, heute Servicepersonal genannt), wobei die prächtigsten oft prahlerisch vom schlechten Geschmack ihrer Besitzer*innen zeugen. Die richtig begüterten Kingstonians haben sich weiter nach oben verzogen und auf den umliegenden Bergen ihre Refugien eingerichtet, von denen sie auf die Stadt hinabschauen. Die Hope Road führt aus der Innenstadt hinaus und hoch zum Campus der University of the West Indies in Mona, zum Botanischen Garten, zum großen Wasserreservoir und meiner alten Schule, dem Jamaica College. Dann, an der Papine Corner, endet die breite Straße abrupt, und man gelangt über schwindelerregend steile Pfade hinauf nach Mavis Bank und weiter in die Nebel der Blue Mountains.
Downtown Kingston, früher die wichtigste Einkaufsgegend, konnte man mit dem Bus oder der Tram erreichen. Inzwischen sind diese Läden von Shopping-Malls im US-amerikanischen Stil abgelöst, die überall in Uptown aus dem Boden gestampft wurden. Die schmalen Straßen in Richtung Hafen führten ins Herz der Ghettoviertel, wo Gelegenheitsarbeiter*innen und Arbeitslose in extrem ärmlichen Verhältnissen lebten, oft in rostigen Blechhütten, die sich um schäbige Mietskasernen drängten, wo es fließendes Wasser nur aus gemeinschaftlich genutzten Pumpen gab. Ein paar dieser Viertel wurden zu berüchtigten Ghettos wie Trench Town und Tivoli Gardens: No-go-Areas, territorial aufgeteilt zwischen den rivalisierenden politischen Parteien, Kleinkriminellen und organisiertem Verbrechen – das ist die Welt, von der Bob-Marley-Songs erzählen.
An die Landschaft erinnere ich mich am deutlichsten, wenn ich an Jamaika zurückdenke, seltsamerweise nicht so sehr an die dort lebenden Menschen, über die die Zeit längst hinweggegangen ist. Aber ich weiß noch genau, wie ich oft am Rand der mit Schlaglöchern übersäten Straßen in die Berge hinaufstieg, immer bedrohlich dicht am Abgrund entlang, bis es dann auf der anderen Seite wieder bergab ging, hinunter zur Nordküste, wo das blaue Meer zwischen den Baumwipfeln verführerisch glitzerte. Frühmorgens, bevor die Sonne aufgeht und ihre Gluthitze verbreitet, weht dort ein sanfter, wohltuender Wind. Mit dem Wärmerwerden entfaltet sich der ganze Körper von innen heraus. (An die Kälte in Britannien konnte ich mich nie gewöhnen, ich friere eigentlich immer.) In meiner Erinnerung ist der Ozean eine mächtige, verführerische Präsenz: Schwimmen vor dem Frühstück, das Meer still und gläsern; oder um die Mittagszeit durch das immergrüne Dickicht der Discovery Bay schlüpfen, das Tag für Tag sein Aussehen verändert; oder nachmittags am Boston Beach auf den schaumgekrönten – und furchteinflößenden – Wellen reiten, um anschließend Jerk-Pork oder Festival Barbeques zu verspeisen. Ein Festival, das sollte ich vielleicht erklären, ist eine Mischung aus Brot und Knödel.
Ich erinnere mich, wie ich unten in der Schlucht stand und zur Bog Walk Bridge hinaufschaute (über die damals immer nur ein Auto nach dem anderen fahren konnte), zu den gewaltigen Bambusfeldern, die im Wind wogten, den orangen und gelben Blüten der Pfauensträucher und Palisanderbäume. Auch an die üppige subtropische Bergvegetation entlang der kurvenreichen Junction Road, die nach Port Antonio zu meiner Lieblingsgegend an der Küste führte, erinnere ich mich gut. Oder an die Kletterei über die felsigen Wasserfälle, wenn wir in Castleton Gardens haltmachten, um frisches Kokosnusswasser direkt aus der Schale zu trinken. Mir ist seitdem klar geworden, wie viele Erinnerungen an das ›alte Land‹ Migrant*innen mit ihrem Essen und ihrer Landesküche in die Fremde mitnehmen. Ich bin nach wie vor versessen auf jamaikanische Spezialitäten, ich liebe die kreolischen Gewürze und Zutaten – Knoblauch, Thymian, Piment, Frühlingszwiebeln, Scotch-Bonnet-Pfefferschoten. Ich lechze noch immer nach den typisch jamaikanischen Gerichten, so einfach und volkstümlich sie auch sein mögen: fricassee chicken, rice and peas (Reis mit Kidneybohnen), plantain (Kochbanane), salt-fish and ackee (Klippfisch mit Akee), curry-goat (Ziegencurry), fish fritters (frittierter Fisch), pig-tails and stewed peas (Kidneybohneneintopf mit Schweineschwänzen), escovitched fish (sauer eingelegter Fisch), callaloo (Eintopf mit Blattgemüse), Krabben, conch soup (Meeresschneckeneintopf), ›run down‹ patties (Teigtaschen) – normalerweise aus Salzmakrele und Kokosmilch – und so weiter. Diese Gerüche und Geschmäcker bringen ein ganzen Leben zurück, das hier in London nicht länger das meine ist.
Eine besonders lebhafte Erinnerung gilt der Vielfalt der Lebensmittel, die auch heute noch samstagvormittags auf den Wochenmärkten zu finden sind. Ich sehe vor mir, wie die Händlerinnen ihre Ernte den Berg herunterbrachten, in großen Körben, die sie auf dem Kopf trugen. Beim Aufbauen des Marktes verbreiteten sie eine Stimmung aus geschäftigem Durcheinander und schallendem Gelächter, wenn sie sich begrüßten und die Ereignisse der vergangenen Woche in Geschichten und Anekdoten austauschten, genüsslich alten Klatsch und skandalöse Vorfälle aufwärmten oder altbekannte Klagen durchspielten. Ein typisch jamaikanisches Szenario: hochdramatisch, mit lauten Auseinandersetzungen, Späßen und Hänseleien, voller Freude an Übertreibung und Verzerrung, mit gelegentlichen (oft künstlich inszenierten) Wutausbrüchen – die Jamaikaner*innen lieben derartiges Schauspiel und nutzen dafür jede sich irgend bietende Gelegenheit. Tatsächlich entging den wachsamen Augen dieser Frauen keine noch so geringfügige Kleinigkeit. So entspannt sie auch hinter ihren improvisierten Verkaufsständen wirkten, sie waren in ständiger Alarmbereitschaft, hielten permanent Ausschau nach Dieben, die die lockere familiäre Atmosphäre ausnutzten, um sich im Vorübergehen kostenlos zu bedienen.
Heute repräsentieren diese Erinnerungen für mich weniger die Rückbesinnung auf bestimmte Ereignisse als vielmehr ein generelles Verlustgefühl – wobei ich den Verlust jetzt besonders stark empfinde, da ich wohl nie mehr gesund genug werde, um all das nochmals zu sehen. Sie stellen sicher, dass ich mein Leben lang Jamaikaner bleibe, egal wo ich lebe. Doch was dies in Bezug auf meine Lebenspraxis und mein Zugehörigkeitsgefühl tatsächlich bedeutet hat, war wesentlich problematischer.
Ich spüre diese Zwiespältigkeit, während ich hier sitze und schreibe. Das Gefühl wirft seinen Schatten auf die Worte, die sich in meinem Kopf formen. Ich habe mich nicht aus nostalgischen Gründen entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Natürlich geht es auch ums Sich-Erinnern – so verlockend, quälend und unvermeidlich das nun mal ist. Aber ich glaube nicht, dass ich je ein Erinnerungsprojekt im Sinn hatte. Was ich hier aufschreibe, sollen ganz bestimmt keine herkömmlichen Memoiren werden und auch nicht der Grundstein dazu. Mir geht es um etwas anderes, genau wie beim beruflichen Schreiben akademischer Texte interessieren mich an diesem Projekt die Beziehungen zwischen ›dem Leben‹ und ›der Theorie‹. Ich wollte nie meine Lebenserinnerungen zu Papier bringen. Ich habe auch nur sehr wenig von den Korrespondenzen aufbewahrt, die als Grundlage für ein solches Vorhaben unbedingt nötig wären. Ich bin jetzt über achtzig, mein Gedächtnis ist bestenfalls unbeständig, episodenhaft, unzuverlässig und zweifellos recht versponnen. Hinzu kommt, dass ich aufgrund meines in letzter Zeit schwindenden Augenlichts nicht mehr imstande war, Dokumentiertes zu Rate zu ziehen, um meine Sicht des Vergangenen kritisch zu hinterfragen. Dafür habe ich reichhaltige und sehr informative Gespräche mit Freund*innen geführt, die selbst in dieser Geschichte vorkommen oder mehr über bestimmte Ereignisse wissen als ich. Allerdings war es mir nicht möglich, alle Darstellungen zu überprüfen, und so bin ich allein verantwortlich für Fehler in der Chronologie, Abweichungen von historischen Tatsachen und falsche Schlussfolgerungen.
Ich habe nie angenommen, mein Leben mit seinen diversen Episoden wäre Stoff für eine interessante Autobiografie, so bedeutsam war es nun auch wieder nicht. Trotzdem habe ich – wie eine chinesische Redensart sagt – »in interessanten Zeiten gelebt«. Und so denke ich, meine Reflexionen über meine Erfahrungen und theoretischen Ideen, über Ereignisse und Erinnerungen könnten für andere doch gewinnbringende Lektüre sein, erzählt aus dem Blickwinkel eines Menschen, der sein Leben lang eine randständige Position innehatte.
Ich wurde in den letzten Tagen der alten kolonialen Welt geboren und geformt. Dieser Umstand bestimmt meine Existenz. Das ist meiner Ansicht nach der Anfangspunkt, von dem aus ich mein Leben erzählen muss, und die Quelle eines merkwürdigen, schwer fassbaren, beständigen Unbehagens. Mein Leben als Erwachsener habe ich in der Metropole des niedergehenden Empire verbracht. Wie der große Theoretiker C. L. R. James aus Trinidad einmal über die karibischen Immigrant*innen im Vereinigten Königreich sagte: »Wir sind in, aber nicht aus Europa.« ›Europa‹ bezeichnete nicht bloß einen anderen Ort und eine andere Zeit, sondern buchstäblich das Gegenteil der Lebensumstände, in die ich durch meine Geburt und meine frühe Prägung eingelassen war. In Jamaika war ich natürlich kein Exilant. Und doch machte mich Jamaika, auch wenn ich dazugehörte, in gewisser Weise zum ›Anderen‹. In der Folge erfuhr ich mein Leben als deutlich gespalten in zwei ungleiche, aber ineinander verschlungene Hälften, die in einem Missverhältnis zueinander standen. Metaphorisch ausgedrückt könnte man sagen, ich lebte an der Schwelle zwischen der kolonialen und der postkolonialen Welt. Wegen meines radikalen Ortswechsels gehörte ich in verschiedenen Phasen meines Lebens und auf ganz unterschiedliche Weise beiden Bereichen an, aber keinem jemals vollständig.
Ich wechselte von einer Welt in eine andere, von der Kolonie in die Metropole – und zwar unwiderruflich, wie sich herausstellen sollte. Deshalb kam mir die Auffassung, es gäbe überhaupt keine Verbindungen zwischen den beiden, immer völlig undenkbar vor. Andere tendierten dazu, beide Welten als abgeschlossene Einheiten zu betrachten. Wenn man das innere Leben und die Orte der kolonialen Formierung nicht kennt und nicht weiß, wie ihre Antinomien geschmiedet wurden, mag die Vorstellung einer engen Verbindung beider Welten nicht sofort einleuchten, jedenfalls nicht so wie mir. Für mich liegt diese Wechselbeziehung auf der Hand, ja sie definiert ihre Besonderheiten, denn sie hallen im jeweils anderen wider. Wie genau das geschieht, ist nicht leicht zu erklären, deshalb kann ich niemanden verurteilen, der sich da – wie ich meine – falsche Vorstellungen macht.
Dieses Missverständnis ist weit verbreitet. Kürzlich wies Catherine mich darauf hin, dass enge Freund*innen und politische Weggefährt*innen aus der New Left zwar in den 1950er und 1960er Jahren bekennende Antiimperialist*innen waren und sich in antikolonialistischer Theorie gut auskannten, in mir jedoch nie ein von Rassismus und Kolonialismus betroffenes Subjekt sahen. Dazu passt, dass Freund*innen, die mich aus Jamaika kannten, sich mein jetziges Leben nie recht vorstellen oder nachvollziehen konnten, wie aus diesem Jamaikaner ein Anderer wurde. Jamaikanische Doktorand*innen, die in den 1980er Jahren in Nordamerika studierten, entdeckten die mit mir eng verbundenen Cultural Studies als Errungenschaft einer englischen Universität, der University of Birmingham – und staunten nicht schlecht, wenn ich zu einer Vorlesung eingeladen wurde, dass von Anfang an ein Schwarzer Jamaikaner dabei mitgemischt hatte! Die Cultural Studies blieben an der University of the West Indies völlig unbekannt, bis Pioniere wie Carolyn Cooper und Rex Nettleford sie sich aneigneten. Es gibt Medienwissenschaftler*innen in der Karibik, die auf meinen Essay »Encoding/Decoding« Bezug nehmen und bis heute nicht wissen, dass ich Schwarz bin.
Diese Kuriosität betrifft nicht etwa mich im Besonderen. Daran kann man eine ganze Geschichte festmachen, nämlich die der Migration aus der Karibik in die britische Metropole. Schon vor über fünfzig Jahren, 1960, erzählt der aus Barbados stammende Schriftsteller George Lamming in seinem Buch The Pleasures of Exile die Grundzüge dieser Geschichte. Die verschiedenen Begriffe, die wir heute benutzen, um die Dynamik der Begegnung zwischen Kolonisiertem und Kolonisator, zwischen Schwarz und Weiß auf dem Terrain der Metropole zu erfassen – Vergessen, Verleugnung, Verkennung, Amnesie –, sind nicht nur bezeichnend für die Komplexität dieses Phänomens. Sie sind auch ein Alarmsignal und machen uns aufmerksam auf die eigenartigen Zwänge und Normen, die es immer wieder fertigbringen, die Erinnerung an die Geschichte des Kolonialismus in ihrer ganzen Tragweite aus dem kollektiven Gedächtnis der Metropole verschwinden zu lassen.
In den 1950er Jahren, als ich noch neu in England war, schien es, als wären die Immigrant*innen aus Westindien2 durch einen unerklärlichen Zaubertrick hierher versetzt worden. Die lange historische Verflechtung zwischen der Karibik und Britannien war aus der Geschichtsschreibung getilgt – vergessen, verleugnet, verkannt. Britische Menschen mussten an diese unangenehme Tatsache erinnert werden. Nach dem Krieg breitete sich in Britannien eine postkoloniale Amnesie aus. Nur wenige Menschen, auch auf Seiten der Linken, hatten – und haben bis heute – eine Ahnung von der Kolonialgeschichte ihres Landes. Oder, um es persönlicher zu fassen, die wenigsten erkennen überhaupt, was für Verbindungen es zwischen meinem damaligen und meinem jetzigen Leben geben könnte. Mit Sicherheit lernte man in der Schule rein gar nichts darüber, bis ein paar mutige Lehrer*innen das Thema aufgriffen und durchkämpften, so dass man ihm jetzt im Rahmen des Black History Month gerecht zu werden versucht.
Ich erinnere mich noch, wie ich mit übertriebenem Zorn auf meinen ersten Rezensenten reagierte, einen intelligenten und überaus sympathischen englischen Soziologen, der erklärte, er verstünde nicht, wieso ich ständig darauf herumreiten müsse, dass ich coloured sei (oder diesbezüglich solche Komplexe hätte, wie es in The Pleasures of Exile heißt). Immerhin käme ich doch aus einer gut situierten Mittelschichtsfamilie, hätte an einer Schule englischen Typs eine gute Ausbildung genossen und sogar in Oxford studiert. Mit anderen Worten, worüber hat gerade er sich eigentlich zu beklagen? Damit bekam dieser Rezensent, fraglos ohne böse Absicht, einen grundlegenden Widerspruch meines Lebens zu fassen, was in mir das vielleicht ungerechte Gefühl erzeugte, dass einer, der dies nicht kapierte, mich sowieso nie verstehen würde.
Genau diese Geschichte ist es, die mich veranlasst hat, dieses Buchprojekt anzugehen. Mir wurde klar, dass ich meine Zeit dafür nutzen sollte, meiner Sicht der gewachsenen Verbindungen wie auch der Unstimmigkeiten zwischen beiden Welten nachzuspüren: der kolonialen und der postkolonialen. Wie diese Welten einander ständig verdrängen, sich wiederholen, aber immer auf verschiedene Weise, wie sie voneinander widerhallen, sich aneinander reiben, einander spiegeln, sich wechselseitig zerrütten. Anders ausgedrückt hoffe ich, dieses Buch kann vielleicht einen Einblick liefern in die widersprüchlichen Stationen des Wandlungsprozesses dieser uralten Geschichte – des langen, verworrenen, qualvollen und nie vollendeten Weges aus der kolonialen Subalternität.
Auch bei mir gab es natürlich ein paar Fehlstarts. Als ich noch ein Junge war, dachte ich, ich sei zum Dichter geboren, aber diese Illusion hielt sich nicht lange. Mir fehlte das eigenständige Talent, meine Gedichte waren letztlich nur Derivate. Dann wollte ich unbedingt Romanautor werden. Dieser Wunsch hielt sich bis in meine Studentenzeit, in der ich einsehen musste, dass ich auch auf diesem Feld nicht sonderlich begabt war. Die Geschichte eines Jamaikaners über einen entwurzelten polnisch-jüdischen Intellektuellen, thematisch beeinflusst von Isaak Babel und stilistisch von Henry James, das ging einfach nicht! Heute bezeichnet man mich üblicherweise als Akademiker, aber damit verdiente ich meinen Lebensunterhalt, es ist keine Berufung. Ich selbst sehe mich als Lehrer, aber das scheint den meisten Menschen nicht erhaben genug zu sein. Ich wollte ein Schwarzer Intellektueller werden, doch um zu diesem Entschluss zu kommen, brauchte es einen beträchtlichen Angang – und gewiss nicht bloß eine plötzliche Eingebung. Der Begriff ›Intellektueller‹, in Frankreich ganz normal und respektvoll verwendet, ist für die spießigeren Kreise der britischen Intelligenzia noch immer eher ein Witz, das gilt erst recht für die breitere Öffentlichkeit. Das Bild eines Intellektuellen suggeriert zu viel Pose, für bodenständige Empfindungen beruht das Intellektuelle zu wenig auf Erfahrung und ist zu weit vom Alltag entfernt. Die Politik ist meine Leidenschaft, aber ich bin nie im formalen Sinne ›in der Politik‹ gewesen. Heutzutage bezeichnet man mich als Kulturtheoretiker. Aber auch wenn Theorie mir ein unverzichtbares Werkzeug der Kritik ist, hatte ich nie viel Interesse daran, ›Theorien aufzustellen‹, und ich bin auch kein nennenswerter Theoretiker in dieser Zeit großer Theorien, daher halte ich die Bezeichnung Kulturtheoretiker eher für eine höfliche und bequeme Zwischenlösung, mehr Provisorium als durchdachte Einordnung. Immerhin kommt es der Wirklichkeit nahe genug, um sich zu halten.
Es gab auf diesem Entwicklungsweg keinen einzigen Augenblick, der nicht von meiner Race-Positionierung gesteuert war. Im Detail wie auch im Gesamtbild war so gut wie alles unvorhersehbar, aber dies war ein konstanter, grundlegender Faktor, der alles bestimmte. Anders als die meisten afrokaribischen Einwanderer, die heute in der britischen Schwarzen Diaspora leben, hatte ich meinen marineblauen britischen Pass schon bei mir, als ich nach England kam. Dieses Dokument belegte definitiv, dass ich zwar nicht direkt ein richtiger Bürger war, sehr wohl aber ein ›Staatsangehöriger‹ – im Sinne von Untertan – des britischen Empire und der Krone. So betrachtet erwies sich der Besitz dieses Passes als geheimnisvoll mehrdeutige Angelegenheit, ein Gefühl, das auch der Nigerianer Chinua Achebe in seinen Erinnerungen The Education of a British-Protected Child beschreibt. Erst später, als die Migration nach Britannien stark zunahm, wurde ›Schwarz‹ zum Politikum. In dieser Zeit kam für uns aus der Karibik unser Zugehörigkeitsgefühl zur erweiterten British Family auf den Prüfstand. Daraus wurde eine relevante politische Frage, als wir – die karibischen Migrant*innen in der Metropole – mehr und mehr in Verdacht gerieten, Illoyalität zu verbreiten.
Der Versuch, mich von einem Leben als Kolonisierter zu befreien, weckte in mir nie den Ehrgeiz, ein waschechter Engländer zu werden, und ich wurde auch nicht englisch. Englisch-Sein erschien mir nicht als Quelle identifikatorischer Aufgehobenheit – eher als unwillkommenes Ergebnis schicksalhafter historischer Verstrickung. Im richtigen Leben besaß das keinerlei Anziehungskraft. Britisch-Sein wäre als zugeschriebene Identität vielleicht noch annehmbarer gewesen, weil da immerhin das Weltreich mitschwang, aber auch darin war ich nur eins von vielen unterworfenen Subjekten. Faktisch war das Colonial Office in London unsere Regierung. Aber die Briten wirkten wie eine sehr andere, fremdländische Race.
Hautfarbe war eindeutig ein großes Thema. Doch auch wenn alle genau wussten, was ›Schwarz‹ bedeutete, war dieses Wort absolut tabu, durfte nicht ausgesprochen werden, vor allem in den jamaikanischen Mittelklassen der 1930er und 1940er Jahre. Es verriet viel zu offensichtlich die herrschenden Vorurteile. Race erforderte damals einen beschönigenden, kodierten Diskurs. Tatsächlich wurde der Begriff ›Schwarz‹ noch gar nicht allgemein verwendet, nicht einmal von Menschen, die ganz offensichtlich Schwarz waren. Per Eigendefinition waren die Halls und ihr Umfeld coloured. Strenggenommen waren wir Braun, von daher wäre ›mixed-race‹ präziser gewesen, denn diese Herkunft galt für beide Zweige meiner Familie. Doch auch diese Bezeichnung wurde kaum je benutzt. Mixed-race hätte das Augenmerk auf den Umstand gerichtet, dass es neben unserem afrikanischen Stammbaum Weiße Spuren gab, was ja auch der Fall war. Aber über viele Jahrzehnte galten in den Sklavenhalterstaaten der USA und in der englischsprachigen Karibik die versklavten Menschen als separate Race: als Negroes.
In meinem Fall war das europäische Element mit ziemlicher Sicherheit schottisch. Woher sonst sollten meine Vorfahren Nachnamen wie Stuart oder, noch lächerlicher, McPhail gehabt haben? Das erinnert mich an Edward Said und sein Hadern mit diesem Vornamen und der im Dunkeln liegenden, sperrigen Seite seiner Identität: Edward, der Andere in ihm, der ihm viel Kummer bereitete. Aus welchem Zweig der Familie diese historischen Spuren stammen, ist ungewiss. Aber im Gegensatz zu ihrem heutigen nationalen Selbstbild waren die Schotten an den Unternehmungen des britischen Empire massiv beteiligt, als Plantagenaufseher, Anwälte, Buchhalter, Händler, Mediziner und Soldaten. Neal Ascherson bezeichnet sie in seiner typischen präzisen Ausdrucksweise als »die Unteroffiziere des Empire«.
Das Melanin in meinem Blut und meine Hautfarbe bekundeten klar meine afrikanische Herkunft, auch wenn meine Familie dies nur ungern zugab. Trotzdem sah ich mich nie als Afrikaner, jedenfalls nicht in einem aussagekräftigen, zeitgemäßen Sinn. Versklavung, gewaltsame Umsiedlung, körperliche Misshandlung und Ausbeutung der Arbeitskraft, soziale Entwurzelung, kulturelle Entwertung und eine Art vorsätzliches Vergessen der erniedrigenden Vergangenheit – dies alles zusammengenommen hatte uns unserer historischen Bindungen beraubt. So war in der volkstümlichen jamaikanischen Vorstellungswelt bereits ein grundlegendes Gefühl von Unaufgehobenheit verankert, was die Identifikation mit Afrika für viele völlig ungreifbar machte. Dem Begriff ›afrokaribisch‹, den sich die frühen westindischen Migrant*innen zulegten, die kurz nach dem Krieg ins Vereinigte Königreich kamen, folgte eine lange Reihe vornehmerer Bindestrich-Kategorisierungen wie ›Schwarz-karibisch‹. Ich persönlich (auch wenn dieses Bekenntnis die Leute immer überrascht) identifizierte mich mit meinem Schwarzsein erst spät, dazu brauchte es die Entkolonisierung, den Busboykott in Alabama, die Unruhen in Notting Hill, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, Martin Luther Kings »I Have a Dream«, Sharpeville, Malcolm X, Stokely Carmichael, Angela Davis sowie die Schwarze Oppositionsbewegung in den 1970ern in Britannien, Rock Against Racism, Roots Music, Reggae, Bob Marley …
Entgegen der vorherrschenden Auffassung sind Wandlungen in der eigenen Identität keineswegs nur eine individuelle Angelegenheit. Historische Veränderungen ›da draußen‹ liefern die gesellschaftlichen Existenzbedingungen für persönliche und psychische Veränderungen hier drinnen. Entscheidend war, wie ich mich auf der anderen Seite positionierte – oder mich positionierte, um die andere Seite einzubeziehen: Ich wurde ungefragt von einem breiteren gesellschaftlichen Diskurs betroffen und vereinnahmt. Erst als mir das klar wurde, begann ich zu verstehen, wie sehr eine Schwarze Identität soziale, politische, historische und symbolische Zusammenhänge umfasst, dass sie nicht einfach nur etwas Persönliches ist und schon gar nicht etwas simpel Genetisches.
Dies führte mich zu der Erkenntnis, dass Identität nicht bloß eine Kombination festgelegter Eigenschaften ist, die unveränderliche Essenz des innersten Selbst, sondern ein sich beständig verändernder Prozess der Positionierung. Wir neigen dazu, Identität als etwas zu betrachten, das uns zu unseren Wurzeln zurückbringt, als einen Teil unseres Selbst, der über die Zeit im Wesentlichen gleich bleibt. Tatsächlich aber ist Identität ein nie abgeschlossener Prozess des Werdens – ein Prozess veränderlicher Identifizierungen, nicht eine einzelne, vollständige, fertige Daseinsform.
Als Kind war ich vielleicht in meinem Kopf noch nicht Schwarz, aber wie der Zufall so spielt, war ich in meiner Familie einer der Schwärzesten. Stark unterschiedliche Hautfarben innerhalb der Familien sind in Jamaikas uneindeutigem Farbspektrum ganz normal. Meine Großmutter mütterlicherseits, die zum auffallend hellhäutigen Teil der Familie gehörte, war Expertin in der Klassifizierung von Races – Claude Lévi-Strauss, diesem Meister der strukturalistischen Anthropologie, hätte das sehr gefallen. Sie rühmte sich, stets die komplexe Genealogie der ›hellsten‹ Jamaikaner*innen zu durchschauen, besonders wenn sie als Weiße ›durchzugehen‹ versuchten.
Angeblich gab es in unserer Familie einen ›leichten Einschlag‹ ostindischer Herkunft. Falls das wahr ist, habe ich keine Ahnung, wie es dazu kam. Tatsächlich, was ganz typisch ist, weiß darüber niemand etwas Genaues. Ich weiß noch, wie der angesehene nordamerikanische Schwarze Intellektuelle Henry Louis ›Skip‹ Gates mir erzählte, er hätte durch seine genealogischen Forschungen festgestellt, dass es bei afroamerikanischen Berühmtheiten, die besonders stolz auf ihre ›authentisch‹ afrikanische Herkunft waren, nicht selten irgendwo ›weit in der Vergangenheit‹ Weiße oder Mixed-Race-Vorfahren gab. Bei sich selbst stieß er, glaube ich, auf holländische Einflüsse, eine auf den ersten Blick unerwartete Verbindung. Darauf angesprochen, fabulierten manche der Befragten von ihrer Verwandtschaft mit indigenen Prinzessinnen, was offenbar einer Verknüpfung mit Weißen vorzuziehen war.
Ich habe keinerlei Beweise für ostindische Wurzeln in unserer Familie, auch wenn meine geliebte Großmutter väterlicherseits, so Braun wie eine Nuss, vielleicht danach aussah. Die Ostindien-Geschichte könnte ebenso gut eine Variation der nordamerikanischen Indianerprinzessinnen-Legende sein, nur dass eine solche Behauptung in Jamaika nicht viel hergemacht hätte, denn arme Inder*innen wurden womöglich noch mehr verachtet als arme Schwarze. Andererseits wurde nach dem Ende der Sklaverei aus Hongkong eine beachtliche Anzahl ostindischer und chinesischer Vertragsarbeiter*innen ins Land geholt, wenn auch in Jamaika deutlich weniger als in Trinidad oder Britisch-Guayana, wo deren Nachfahren heute den größten Teil der Bevölkerung ausmachen. Die Kampagne gegen Vertragsknechtschaft – also Sklaverei unter einem anderen Namen – war auf Jamaika relativ erfolgreich, die Mehrheit der Ostinder*innen wurden eingegliederte, arme, aber ›freie‹ umherziehende Gemüsebäuer*innen, die ihren Ertrag aus dem Fahrradkorb verkauften. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Familie eine Verwandtschaft zu ihnen geltend gemacht hätte. Aber wer kennt schon alle ›Verwandtschaften‹ einer Plantagengesellschaft?
Der familiären Überlieferung zufolge weist die Geschichte unserer Vorfahren noch ganz andere ethnische Schlenker auf, darunter auch portugiesisch-jüdische Einflüsse. Das kam uns seinerzeit recht weit hergeholt vor, zumindest für eine Braune Mittelschichtsfamilie. Doch es gab eine Zeit, in der Portugies*innen Zuflucht auf Jamaika suchten, ihre Nachfahr*innen gehören bis heute zu den angesehensten Familien. Das war mir keineswegs klar, bis vor kurzem unser Freund Julian Henriques, Sohn des bedeutenden Anthropologen Fernando Henriques, der einige bahnbrechende Texte verfasste, darunter Family and Colour in Jamaica, mir diesen Hintergrund zurückverfolgen half. Die Geschichte der jüdischen Einwanderung ist faszinierend und höchst spannend.
Die Anzahl jüdischer Migrant*innen, die im sechzehnten Jahrhundert vor der Inquisition geflohen waren, erhöhte sich später beträchtlich durch Flüchtlinge aus anderen Kolonien – so während der Haitianischen Revolution, als die französischen Sklavenhalter verjagt wurden, oder als in Lateinamerika in den 1820er und 1830er Jahren Revolutionen gegen die Kolonialherrschaft ausbrachen. Ihre Nachfahren blieben in der jamaikanischen Bevölkerung eine Minderheit. Doch trotz ihrer verhältnismäßig kleinen Zahl wird ihnen kulinarisch die Einführung einer der beliebtesten jamaikanischen Spezialitäten zugeschrieben: Patties. Viele Jamaikaner*innen essen vor allem mittags Patties, ohne die leiseste Ahnung von ihrer Herkunft zu haben.
Jedenfalls war weder die Vorstellung, wir hätten ostindische Vorfahren, noch das portugiesisch-jüdische Erbe annähernd so abwegig wie die mit Verve vorgetragene, aber natürlich frei erfundene Überzeugung meiner Mutter, ihr Mädchenname Hopwood sei eine Anglisierung von Habsburg und damit ein sicherer Hinweis auf die Verbindung unserer Familie mit dem österreichischen Königshaus. Derartige Tagträume sind nun wirklich Stoff für einen Freud’schen Familienroman.
Rückblickend ist vielleicht schwer zu verstehen, warum mich meine Race-Positionierung so überforderte. Ich suchte nach Gewissheit in einer ohnehin bedrohlich unübersichtlichen Welt. Ethnische Vielfalt war nichts, wonach ich strebte oder womit ich etwas anfangen konnte. Damals erschienen mir diese komplexen Verhältnisse irrelevant für die Frage, wer ich war. Die koloniale Verquickung war einfach zu übermächtig. Sie beherrschte alles.
Die Fragen von Race und Ethnizität waren nie weit entfernt von denen nach der gesellschaftlichen Klasse. In der frühen Kindheit stand ich, wie alle anderen, dem Konzept einer Klassengesellschaft völlig ahnungslos gegenüber. Doch sobald ich mir der Welt dort ›draußen‹ bewusst wurde, war klar, dass meine Familie zwischen der wohlhabenden Weißen Elite und der Masse der armen und arbeitslosen Jamaikaner*innen eine Art Mittlerposition innehatte. Mein Vater hatte eine feste Arbeitsstelle und verdiente damit ein respektables Einkommen, auch wenn meine Mutter sich ständig beschwerte, es sei nicht genug. Wir besaßen einen gut ausgestatteten Wohnsitz und beschäftigten Hausangestellte. Die Freund*innen meiner Eltern entstammten der gleichen gehobenen Mittelschicht.
Rein begrifflich war ich ein Kreole, ein Produkt gemischter Herkunft, hineingeboren und durch und durch integriert in die lokale Gesellschaft. Allerdings war der Begriff Kreole immer mehrdeutig und wurde eher auf den von Franzosen oder Spaniern besiedelten Inseln benutzt als auf Jamaika. In seinem Buch Development of Creole Society in Jamaica, 1770– 1820 vertritt der Dichter und Historiker Edward (Kamau) Brathwaite die These, das Wort Kreole sei eine spanische Hybridkonstruktion aus zwei Wörtern, nämlich crear (schaffen/erschaffen) und colono (Kolonist), verbunden zu criollo, was sowohl engagierte Siedler bezeichnet als auch stark von einheimischer Kultur geprägte, dabei nicht unbedingt indigene Menschen. Die kreolische Gesellschaft war in Bezug auf Race und Hautfarbe unspezifisch. Auf den Inseln der Neuen Welt wurden die Nachkommen Weißer Siedler oft als Kreolen bezeichnet, aber auch versklavte Afrikaner*innen wurden so genannt, wenn sie im Land ihrer Gefangenschaft geboren waren, in Abgrenzung zu den erst kürzlich direkt aus Afrika in die Sklaverei verschleppten Neuankömmlingen.
Kreole ist also ein wandel- und formbarer Begriff, der vielleicht beschreiben mag, wer ich war – und mit mir eine Vielzahl anderer Jamaikaner*innen. Doch angesichts all dieser historischen Prozesse bedarf er noch einiger Präzisierung.
Ähnliche Unklarheiten treten bei der Definition von Kolonisten auf. Als ich jung war, neigten wir dazu, Weiße Angehörige des Empire aus Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika, Rhodesien oder Kenia als die ›eigentlichen‹ Kolonisten anzusehen. Auf Jamaika gab es sehr viel mehr Schwarze als Weiße. Die relative Seltenheit Weißer Frauen machte es Weißen Männern schwerer, standesgemäß zu heiraten. Das führte dazu, dass die Weiße Bevölkerung Jamaikas in eine ernste Reproduktionskrise geriet und sich tatsächlich nicht mehr fortpflanzte.
Politisch wurden die frühen Siedlerkolonien vom Colonial Office regiert und konnten nur wenige lokale Freiräume geltend machen. Immerhin gab es in Jamaika bereits ab den 1660er Jahren repräsentative politische Institutionen wie das Parlament, die allerdings nur sehr begrenzte Einflussmöglichkeiten hatten. Die jamaikanischen Weißen hatten darum gekämpft, als ›freie Engländer‹ eingestuft zu werden, und dieses Vorrecht lautstark verteidigt, bis zwei Jahrhunderte später der Morant-Bay-Aufstand stattfand und sie aus Angst vor Ansprüchen der Schwarzen ihr eigenes Parlament abschafften. Damals machte Britannien Jamaika zur Kronkolonie, die direkt von Whitehall aus regiert wurde. Von da an gab es ständig Spannungen zwischen London und den Plantagenbesitzern, das wurde ein Merkmal der kolonialen Beziehung. Als schließlich das Legislative Council als gesetzgebende Versammlung einberufen wurde, bestanden die Mitglieder aus einer Mischung von Einheimischen und Expatriates. Unter diesen Umständen kann man sich leicht vorstellen, wie enorm widersprüchlich der Begriff ›Kolonist‹ im Empire besetzt war.
Ich werde an anderer Stelle darauf zurückkommen, wie dies gelebt wurde. Hier möchte ich nur kurz feststellen, dass wir eine deutliche Trennlinie zogen zwischen uns, den beherrschten kolonialen Untertan*innen, und denen. Wir erkannten soziale Hierarchien, wenn wir sie vor der Nase hatten.
Im Privaten sorgten die Engländer*innen auf Jamaika für widerstreitende Gefühle. Man musste sich ihnen beugen, wegen ihrer Macht, ihrer Hautfarbe, ihres Wohlstands und ihrer gehobenen sozialen Position sowie gemäß ihrem Führungsanspruch in allen Bereichen unseres Lebens. Zugleich waren sie für uns ›Eingeborene‹ auch ein Witz, eine nie versiegende Quelle für zwangloses, sogar herablassendes Gefrotzel, durch das wir uns überlegen fühlten. Mit ihrer Kleidung, ihrem Auftreten und Gebaren kamen sie uns so fremd und unpassend vor, so verklemmt, so völlig fehl am Platz!
Sich in der komplexen kolonialen Gesellschaft zu positionieren, war in sozialer Hinsicht ebenso wie in der subjektiven Wahrnehmung ein riskantes Unterfangen. Dagegen ist das heutige Bild von der einstigen kolonialen Gesellschaft versimpelt und polarisierend, eingeengt auf den Schwarz-Weiß-Gegensatz, vor allem in Britannien. Das ganze widersprüchliche Nebeneinander von Klasse, Race, Colour und kulturellen Spaltungen in der alten Kolonialgesellschaft ist aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden.
Einige revisionistische Historiker vertreten neuerdings sogar wieder die These, der Imperialismus habe letztlich wohltätige Wirkung gehabt. Der erzreaktionäre Historiker Niall Ferguson unterstellt, ohne die Expansion britischer Herrschaft besäßen die kolonisierten Völker nichts von dem, was heute ihre wertvollsten Errungenschaften und Einrichtungen ausmacht. Pankaj Mishra hat in einem scharfen Konter diesen Rückfall in koloniale Denkweisen als Blendwerk und Rechtfertigungsstrategie entlarvt und aufgezeigt, wie sehr noch immer solche archaischen Denkmuster die Gegenwart prägen.
Der Kolonialismus hat all die diversen weltweiten Vielschichtigkeiten und je verschiedenen zeitlichen Prozesse zu einer einzigen Erzählung eingedampft und damit effektiv sämtliche Alltagsgeschichten kolonisiert, was bewirkte, dass die eine alles beherrschende Erzählung (»der unaufhaltsame Aufstieg des Westens«) die Oberhand gewann. Ein Großteil der Menschheitsgeschichte wurde gewaltsam in dieses Diskursschema gepresst, womit sich die koloniale Ordnung rechtfertigen ließ. Diese Erzählung wurzelte in der unerschütterlichen Überzeugung von der natürlichen, gottgegebenen Überlegenheit der Kolonisatoren über das unwürdige Leben, das den Kolonisierten zugedacht war.
Auch wenn seine Hinterlassenschaften nicht immer so simpel sind, gründete der Kolonialismus niemals auf Geben, sondern immer auf der Eroberung von Land und Rohstoffen, auf der gewaltsamen Ausbeutung von Arbeitskraft, dem Aufzwingen fremder Gesetze, der Unterwerfung von Völkern und der Vernichtung und Marginalisierung sämtlicher kulturellen Traditionen, die der kolonialen Herrschaft abträglich sein könnten. Und so funktioniert er immer noch. Durch seine Einmischung wurden alte, geschichtsträchtige Zivilisationen zerstört. Er stellt einen der einschneidendsten Brüche in der Geschichte der Neuzeit dar, dessen Auswirkungen dem Holocaust gleichkommen, auch wenn dieser Vergleich – überraschenderweise? – nicht oft gezogen wird. Er hat Gesellschaften wie Individuen unwiderruflich verformt. Er hinterließ uns ein entsetzlich geisttötendes Erbe: den widersprüchlichen und verzerrten Zustand der Entfremdung, den Frantz Fanon »Schwarze Haut, Weiße Masken« genannt hat. Der Kolonialismus hat sich alle Mühe gegeben, uns, die unterjochten Kolonisierten, umzumodeln und zu Abziehbildern seiner selbst zu machen. Er machte uns zu ›Anderen‹, entfremdete uns von uns selbst. Hoffentlich hat Ferguson auf seiner Liste ›wertvoller Errungenschaften‹ hierfür noch Platz gelassen. Ja, auch in diesen postkolonialen Zeiten sind die Empfindlichkeiten rund um den Kolonialismus immer noch mächtig. Wir – wir alle – sind nach wie vor Erben dieser entsetzlichen Hinterlassenschaft.
Indem ich mich also als ein koloniales Subjekt definierte, erkannte ich an, in die Historie3 eingelassen zu sein – allerdings verkehrt herum, auf den Kopf gestellt, durch Negation. Für uns transportierte der Begriff ›colonial‹ den unauslöschlichen Makel des Zweitrangigseins, das wir, auch wenn es auf einer bestimmten Ebene nur allzu genau zutraf, nicht hinnehmen konnten. Und damit war das Empire als Fundus positiver Identifizierung unmöglich.