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In Band 3 der »Ausgewählten Schriften« entwickelt Hall die bisherigen Grundlagen der Cultural Studies und setzt sich mit Fragen der Postmoderne, der Globalisierung und der Internationalisierung von CS auseinander. Der Band enthält auch ein ausführliches Interview, in dem Hall Auskunft gibt über die Beziehungen zwischen seinen persönlichen, politischen und theoretischen Entwicklungen. Der Autor: Stuart Hall, 1932 in Kingston, Jamaica, geboren, lebt seit 1951 in England. Als eine der führenden Personen in der "Neuen Linken" war er der erste Herausgeber der New Left Review, 1964 baute er an der Universität Birmingham das Centre for Contemporary Cultural Studies mit auf, dessen Direktor er bis 1979 war. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1997 war er Professor für Soziologie an der Open University.
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Seitenzahl: 275
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Stuart Hall
Ausgewählte Schriften 3
Herausgegeben und übersetzt von Nora Räthzel
Argument Verlag
Die Übersetzung des Textes wurde von der Europäischen Kommission, DGV finanziell unterstützt.
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Deutsche Erstausgabe
© Argument Verlag 2000
Eppendorfer Weg 95a, 20259 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Texterfassung durch die Übersetzerin
Korrektur: Franka Hesse
Satz: Martin Grundmann
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-86754-852-6
Dieser dritte Band mit Ausgewählten Schriften von Stuart Hall ist vor allem einem Thema gewidmet: der Entwicklung von Cultural Studies, oder besser, der Interpretation dieser Entwicklung durch Stuart Hall vor dem Hintergrund seines eigenen lebensgeschichtlichen und theoretischen Werdegangs. Die Texte sind einer Festschrift für Stuart Hall entnommen, die anlässlich seiner Emeritierung erschienen ist: Stuart Hall:Critical Dialogues in Cultural Studies1.
Die hier vorgenommene Auswahl soll den deutschen Leserinnen und Lesern eine Version der Entwicklung der Cultural Studies vermitteln, die hoffentlich hilfreich ist für die Nutzung dieses theoretisches Projekts in einer eingreifenden, auf Veränderung orientierten Perspektive. Wie Stuart Hall selbst sagt, geht es nicht um die authentische Fassung, schon gar nicht darum, das, was Cultural Studies sein sollen, zu definieren und zu kontrollieren. Es geht vielmehr um eine Linie in den Cultural Studies, die von Stuart Hall (aber natürlich nicht nur von ihm) repräsentiert wird. Für meine Arbeiten im Bereich der Rassismusforschung und der Jugendforschung sind die Texte von Stuart Hall immer in zweierlei Hinsicht inspirierend: 1. wegen der Perspektive des Eingreifens beim Betreiben von Theorie, 2. weil er sich auf neue Fragestellungen einlässt, ohne die »alten« Auffassungen und Begriffsbildungen über Bord zu werfen.
Früher mussten wir, die wir Theorie als eigenständige Praxis, aber doch als Praxis betrachteten, die für Befreiung nutzbar sein soll (das ist etwas anderes als Wissenschaft »im Dienste von« – hier geht es nicht darum, Wissenschaft politischen Interessen unterzuordnen, sondern darum, eine Wissenschaft zu betreiben, deren Fragestellung und Darstellungsweisen Herrschaftsstrukturen kritisieren und begreifen können), uns mit den Ansprüchen der so genannten »objektiven« Wissenschaft auseinander setzen, die leugnete, dass Wissenschaft von einem bestimmten Standpunkt aus und in einem bestimmten historischen Kontext gemacht wurde. Heute schlagen wir uns oft mit dem Gegenteil herum: mit einem Subjektivismus, der wissenschaftliche Ergebnisse nur noch für die drei Personen, die sie an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit untersuchen, gelten lässt. Stuart Hall ist einer der wenigen Theoretiker, der diese beiden Vereinseitigungen meidet. Er produziert »situiertes Wissen«, das dennoch über seine Zeit und seinen Ort hinausweist.
Wo die einen jede neue Begriffsbildung umarmen und bereit sind, alles, was sie bisher für richtig empfunden haben, mehr oder weniger rasch auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen, da rufen die anderen immer nur »modisch«, »Zeitgeist« und beharren darauf, dass die Dinge entweder so bleiben, wie sie sind, oder immer schon so anders waren, wie sie geworden sind. Auch in dieser Beziehung ist Stuart Hall einer der wenigen, der sich den neuen Fragestellungen stellt, der benennt, was er nicht mehr für richtig halten kann, und doch die noch brauchbaren Begriffe und Perspektiven, ja nicht beibehält, sondern entsprechend den neuen Anforderungen weiterentwickelt.
Weil seine Arbeit situated knowledge ist, weil die Person, die dieses Wissen schafft, wichtig ist, deshalb beginnt dieser Band mit einem ausführlichen Interview zum Werdegang von Stuart Hall. Von seiner Kindheit und Jugend in Jamaika bis zu seiner Zeit an der Open University und zur Entwicklung seiner Fragen nach Ethnizität und Identität umfasst diese Erzählung seine persönliche, politische und theoretische Entwicklung und liefert den Kontext für die folgenden Aufsätze. Diese sind chronologisch geordnet und zeigen so noch einmal eine theoretisch-politische Entwicklung. Zum Beispiel werden in dem Text über »Neue Zeiten« einige gesellschaftspolitische Veränderungen als Herausforderung für eine neue Politik und Theoriebildung herausgearbeitet, die in dem Text über »Postmoderne und Artikulation« eher heruntergespielt werden. Das letzte Interview diskutiert die Internationalisierung der Cultural Studies, ihren Erfolg in den USA, in Australien und Asien. Das hier artikulierte Misstrauen gegen eine überaus erfolgreiche Institutionalisierung, die dazu führt, dass die Cultural Studies ihre politische Interventionsfähigkeit verlieren, mag auch für Aspekte der Verbreitung angebracht sein, die heute im deutschsprachigen Raum stattfindet.
Während der erste im Argument Verlag veröffentlichte Band mit Ausgewählten Schriften von Stuart Hall (1989) noch ziemlich zögerlich aufgenommen und Cultural Studies nur von wenigen rezipiert wurde, gibt es mittlerweile einen Boom. Allein 1999 sind zwei dickleibige Reader unter dem Titel Cultural Studies erschienen2. In beiden finden sich unterschiedliche Versionen der Entstehungsgeschichte der Cultural Studies (ich werde hier keine weitere hinzufügen, zumal Stuart Hall im Folgenden seine Versionen darstellt) und ihrer Rezeptionsgeschichte in der Bundesrepublik. In beiden wird die Rezeption im Argument-Zusammenhang nicht weiter erwähnt. Vielleicht waren wir ja unserer Zeit so weit voraus, dass die Nachkommenden uns aus dem Blick verloren haben? Vielleicht liegt es auch daran, dass unsere Arbeiten mit den Cultural Studies nicht so sehr im Bereich der Medienanalyse (oder Jugendkulturen) lagen, sondern vor allem der Analyse von Handlungsweisen im weiblichen Alltag, der Erforschung des Produktionsprozesses und der Untersuchung ideologischer Vergesellschaftungsformen galten? Wie es auch sei, ich will die Gelegenheit des Vorworts nicht dazu benutzen, uns als Opfer finsterer Machenschaften darzustellen oder den Autoren der anderen, so verdienstvollen Werke böse Absichten zu unterstellen. Es sollen nur die interessierten Leserinnen und Leser darauf aufmerksam gemacht werden, dass es auch noch diese Bereiche gab, in denen einige Paradigmen der Cultural Studies genutzt wurden.3
Ich hoffe, dass dieser Band wie die beiden anderen dazu beitragen wird, den politisch orientierten Strang der Cultural Studies zu stärken, und dass vor allem das Lesen ebenso viel Spaß macht wie es Spaß gemacht hat, die Texte zu übersetzen.
Nora Räthzel, Umea, September 1999
Anmerkungen
1 Herausgegeben von David Morley und Kuan-Hsing Chen, London/New York 1996. Wir danken Stuart Hall und Kuan-Hsing Chen für die Abdruckgenehmigungen.
2 Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1999. Jan Engelmann (Hg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader. Frankfurt am Main/New York 1999. Darüber hinaus veröffentlichte Jürgen Kramer 1997 einen Band mit dem Titel: British Cultural Studies, mit dem er diesen Bereich für die Anglistik öffnen will.
3 Als Beispiele seien genannt: In Theorien über Ideologie, Argument Sonderband 40 (Berlin 1979, 31986) erschien einer der ersten Texte von Stuart Hall auf Deutsch. Die Entwicklung der Ideologietheorie selbst nutzte Paradigmen des Centre for Contemporary Culture Studies (CCCS) ebenso wie die Arbeiten des Forschungsprojekts Automation und Qualifikation und die Arbeiten, die im Rahmen des Projekts Frauenformen von Frigga Haug, Kornelia Hauser u.a. veröffentlicht wurden (z.B. Frauenformen 2: Sexualisierung der Körper, Argument Sonderband 90, Berlin/Hamburg 1983, 31991, Subjekt Frau. Kritische Psychologie der Frauen 1, Argument Sonderband 117, Berlin/Hamburg 1986, 21988, und Der Widerspenstigen Lähmung. Kritische Psychologie der Frauen 2, Argument Sonderband 130, Berlin 1986, 21990). Die Entwicklung unserer Rassismustheorie ist ohne die Nutzung der Arbeiten von Stuart Hall, Phil Cohen und anderen aus den Cultural Studies nicht denkbar (s. Annita Kalpaka und Nora Räthzel: Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Köln 1986, 1990 und 1994). Siehe in diesem Zusammenhang auch Philip Cohen: Verbotene Spiele. Theorie und Praxis antirassistischer Erziehung. Argument Sonderband 214, Hamburg/Berlin 1994.
Interview mit Stuart Hall. Die Fragen stellt Kuan-Hsing Chen
KHC: In deinen jüngsten Arbeiten über »Rasse« und Ethnizität ist der Begriff der Diaspora zentral – es ist einer der entscheidenden Orte, von denen aus die Frage nach der kulturellen Identität gestellt wird. Zuweilen hast du Elemente deiner eigenen Diaspora-Erfahrung sehr überzeugend eingesetzt, um bestimmte theoretische und politische Problematiken zu untersuchen.2 Was mich interessiert, ist, wie die verschiedenen historischen Entwicklungen (trajectories) deine Diaspora-Erfahrungen und deine intellektuellen und politischen Positionen geformt haben.
SH: Ich bin in Jamaika geboren und in einer Familie der Mittelklasse aufgewachsen. Mein Vater hat die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, in der United Fruit Company zu arbeiten. Auf jeder Stelle, die er hatte, war er der erste Jamaikaner, der je befördert wurde; vor ihm waren diese Stellen vor allem von Leuten besetzt, die von der Leitung in den USA heruntergeschickt wurden. Es ist wichtig, die »Klassenfraktionen« und die »Farbfraktionen« zu verstehen, aus denen meine Eltern kamen. Sowohl die Familie meines Vaters als auch die meiner Mutter gehörten zur Mittelklasse, aber sie kamen aus sehr verschiedenen Klassenformationen. Mein Vater gehörte zur farbigen unteren Mittelklasse. Sein Vater hatte eine Apotheke in einem armen Dorf auf dem Lande, außerhalb Kingstons. Die Familie war ethnisch sehr gemischt – afrikanisch, ostindisch, portugiesisch, jüdisch. Die Familie meiner Mutter hatte eine sehr viel hellere Hautfarbe; wenn du ihren Onkel gesehen hättest, hättest du ihn für einen englischen Auswanderer gehalten, fast weiß, oder was wir das »lokale Weiß« nannten. Sie wurde von einer Tante adoptiert, deren Söhne – einer ein Anwalt, einer ein Arzt – in England ausgebildet worden waren. Sie wuchs in einem schönen Haus auf einem Hügel auf, das über dem kleinen Besitz lag, von dem die Familie lebte. Meine Familie setzte sich also kulturell aus dieser unteren, jamaikanischen Mittelklasse zusammen, die vom Land kam und von dunkler Hautfarbe war und aus der hellhäutigen Fraktion, die sich auf England und auf die Plantage orientierte.
Was also in meiner Familie von Anfang an kulturell ausgetragen wurde, war der Konflikt zwischen dem lokalen und dem imperialen, kolonisierten Kontext. Diese beiden Klassenfraktionen standen im Gegensatz zur Mehrheitskultur der armen jamaikanischen schwarzen Menschen: sie hatten ein ausgeprägtes Klassen- und Hautfarbenbewusstsein und identifizierten sich mit den Kolonisatoren.
Ich war das schwärzeste Mitglied meiner Familie. Eine Geschichte darüber wurde immer als Witz erzählt: meine Schwester, die sehr viel heller war als ich, schaute nach meiner Geburt in die Wiege und sagte: »Wo habt ihr denn das Coolie-Baby her?« »Coolie« ist in Jamaika ein Schimpfwort für einen armen Ostinder, der als das Unterste vom Untersten galt. Mein Schwester hätte also nicht gesagt: »Wo habt ihr das schwarze Baby her?«, denn es war undenkbar, dass sie einen schwarzen Bruder haben könnte. Aber sie bemerkte doch, dass ich eine andere Farbe hatte als sie. Das ist in Mittelklasse-Familien in Jamaika sehr üblich, weil sie ein Produkt von Verbindungen zwischen afrikanischen Sklaven und europäischen Sklavenhaltern sind und sie daher Kinder verschiedenster Schattierungen hervorbringen.
In meiner Familie hatte ich also immer eine Identität als Außenseiter, derjenige, der nicht reinpasste, der schwärzer war als die anderen, »der kleine Coolie«, etc. Und diese Rolle spielte ich konsequent durch. Meine Schulfreunde, die alle von guten Mittelklasse-Familien kamen, aber schwärzer waren als ich, wurden zu Hause nicht akzeptiert. Meine Eltern meinten, ich würde mir nicht die richtigen Freunde aussuchen. Sie haben mich aufgefordert, mich mit Jugendlichen aus Familien anzufreunden, die mehr zur Mittelklasse gehörten, die eine hellere Hautfarbe hatten, aber ich tat es nicht. Stattdessen habe ich mich emotional von meiner Familie distanziert und mich mit meinen Freunden woanders getroffen. Während meiner Jugendzeit habe ich ständig diese kulturellen Räume ausgehandelt.
Mein Vater wollte, dass ich Sport treibe, dass ich in die Clubs eintrat, in denen er war. Aber ich dachte immer, dass er selbst eigentlich nicht so recht in diese Welt passte. Er erhandelte sich seinen Weg in diese Welt. Er wurde von den Engländern geduldet. Ich konnte sehen, wie sie ihn paternalistisch behandelten. Das hasste ich am meisten. Nicht nur, dass er zu einer Welt gehörte, die ich zurückwies, ich konnte einfach nicht verstehen, warum er nicht sah, wie sie ihn verachteten. Ich sagte ihm in Gedanken: »Merkst du denn nicht, dass die in dem Club denken, du seiest ein Eindringling?« Willst du mich da drin haben, damit ich genauso gedemütigt werde?«
Weil meine Mutter auf einer jamaikanischen Plantage aufgewachsen war, glaubte sie, sie sei praktisch »Englisch«. Sie hielt England für das Mutterland, sie identifizierte sich mit der kolonialen Macht. Sie hatte Ziele für uns, ihre Familie, die wir materiell nicht erreichen konnten, aber sie versuchte sie kulturell zu verwirklichen.
Was ich sagen will ist, dass ich die klassischen kolonialen Spannungen als Teil meiner persönlichen Geschichte lebte. Meine eigene Formierung und Identität entstand zu einem großen Teil aus der Zurückweisung des dominanten individuellen und kulturellen Modells, das mir als Vorbild vorgehalten wurde. Ich wollte mir nicht, wie mein Vater, meinen Weg in die US-amerikanische oder englische Geschäftswelt der Auswanderer erbetteln, und ich konnte mich nicht mit dieser alten Plantagenwelt identifizieren, die ihre Wurzeln in der Sklaverei hatte, von der meine Mutter aber als dem »goldenen Zeitalter« sprach. Ich fühlte mich viel eher als unabhängiger jamaikanischer Junge. Aber wo war der Raum für diese Subjektposition in der Kultur meiner Familie?
Dies ist die Periode, in der die jamaikanischen Unabhängigkeitsbewegung sich entwickelte. Als junger Schüler war ich sehr dafür. Ich wurde ein Antiimperialist und identifizierte mich mit der jamaikanischen Unabhängigkeit. Aber meine Familie war nicht dafür. Sie identifizierten sich nicht einmal mit dem Wunsch der nationalen Bourgeoisie nach Unabhängigkeit. Sie waren in dieser Hinsicht sogar anders als ihre eigenen Freunde, die, als der Übergang zur nationalen Unabhängigkeit begann, dachten, »Mindestens werden wir an der Macht sein«. Meine Eltern, besonders meine Mutter, bedauerte das Ende dieser alten kolonialen Welt mehr als alles andere. Es gab eine riesige Kluft zwischen ihren Zielen für mich und meiner eigenen Identität.
KHC: Du meinst also, dein Impuls zur »Revolte« sei aus der jamaikanischen Situation entstanden? Kannst du das ausführen?
SH: Als ein kluger, vielversprechender Schüler wurde ich politisiert; ich war interessiert an dem, was politisch vor sich ging, insbesondere an der Formung jamaikanischer politischer Parteien, dem Entstehen der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung nach 1938, dem Beginn der nationalistischen Unabhängigkeitsbewegungen nach Kriegsende: alle diese Entwicklungen gehörten zur postkolonialen oder dekolonisierenden Revolution. Nach Kriegsende begann Jamaika sich in Richtung Unabhängigkeit zu entwickeln. Kluge Jugendliche wie ich und meine Freunde, Jugendliche verschiedener Hautfarbe und aus verschiedenen sozialen Positionen, waren in diese Bewegung involviert, wir identifizierten uns damit. Wir freuten uns auf das Ende des Imperialismus, darauf dass Jamaika sich selbst regieren würde, auf die Autonomie für Jamaika.
KHC: Wie war deine intellektuelle Entwicklung in jener frühen Zeit?
SH: Ich ging in eine kleine Grundschule und später auf eines der großen Colleges. Jamaika hatte eine Reihe von großen Mädchen- und Jungenschulen, die weitgehend nach dem Muster der englischen Privatschulen organisiert waren. Wir machten die englischen Gymnasialprüfungen, bekamen das normale Zeugnis der Cambridge School und machten die A-level-Prüfungen. Es gab keine lokalen Universitäten, wenn man also zur Universität gehen wollte, musste man ins Ausland, nach Kanada, die Vereinigten Staaten oder England. Das Curriculum war nicht lokalisiert. Nur in meinen letzten beiden Jahren auf der Schule lernte ich etwas über die karibische Geschichte und Geographie. Es war eine sehr »klassische« Erziehung; sehr gut, aber sehr formal und akademisch. Ich lernte Latein, englische Geschichte, englische Kolonialgeschichte, Europäische Geschichte, Englische Literatur, etc. Aber wegen meines politischen Engagements interessierte ich mich auch für andere Fragen. Um ein Stipendium zu bekommen, musste man über 18 sein und ich war ziemlich jung, also machte ich die letzte A-level Prüfung zweimal. Ich verbrachte drei Jahre in der sechsten Klasse. Im letzten Jahr begann ich T.S. Eliot, James Joyce, Freud, Marx, Lenin und einiges an Literatur drum herum sowie moderne Lyrik zu lesen. Ich las mehr als in der normalen, engstirnigen, akademischen, britisch orientierten Erziehung üblich. Aber ich wurde doch sehr wie ein Mitglied der kolonialen Intelligenz geformt.
KHC: Kannst du dich an irgendeine Person erinnern, die damals dein Denken beeinflusst hat?
SH: Es gab nicht eine einzelne Person, es gab eine ganze Reihe davon und sie halfen mir in zweierlei Hinsicht. Erst einmal vermittelten sie mir ein starkes Selbstbewusstsein, dass Gefühl, dass ich akademisch leistungsfähig war. Als Lehrer identifizierten sie sich mit den entstehenden nationalistischen Tendenzen. Obwohl sie sehr akademisch waren und sehr auf England orientiert, waren sie sehr offen für die aufkommende nationalistische Karibische Bewegung. Deshalb lernte ich eine ganze Menge von ihnen. Ein Lehrer aus Barbados, der am Codrington College studierte, brachte mir Latein und alte Geschichte bei. Ein schottischer ehemaliger Fußballer aus Corinth brachte mich dazu, in meiner Abschlussprüfung in Geschichte eine Arbeit über aktuelle moderne Politik zu schreiben. Sie handelte von der Nachkriegsgeschichte, dem Krieg und der Zeit danach, was offiziell nicht unterrichtet wurde. Zum ersten Mal lernte ich etwas über den kalten Krieg, die russische Revolution, amerikanische Politik. Ich begann mich für internationale Politik und für Afrika zu interessieren. Er machte mich mit einigen politischen Texten bekannt – obgleich das hauptsächlich geschah, um mich gegen gefährliche marxistische Ideen zu »immunisieren«. Ich verschlang sie. Ich war Mitglied einer Stadtbücherei, die sich »Institute of Jamaica« nannte. Wir konnten Samstag morgens dorthin gehen und lasen Bücher über Sklaverei. Das machte mich mit der karibischen Literatur bekannt. Ich fing an, karibische Schriftsteller zu lesen. Meistens las ich sie alleine, versuchte sie zu verstehen und ich träumte davon, eines Tages Schriftsteller zu werden.
Der Krieg war für mich sehr wichtig. Während des Krieges war ich ein Kind; der Krieg war die alles beherrschende Erfahrung. Ich war mir dessen sehr bewusst. Ich spielte Kriegsspiele und lernte viel darüber, wo diese Orte sich befanden und was es für Orte waren. Ich lernte etwas über Asien, indem ich den US-amerikanischen Krieg auf den Philippinen verfolgte. Ich lernte etwas über Deutschland. Ich folgte den Berichten über die historischen und tagespolitischen Ereignissen während des Krieges. Wenn ich daran zurückdenke, so lernte ich eine Menge einfach dadurch, dass ich auf die Landkarten schaute, die es über den Krieg gab, über die Invasion im fernen Osten und bei den Kriegsspielen mit meinen Freunden. (Ich war oft ein deutscher General und trug ein Monokel!)
KHC: Wie wichtig war Marx oder die Tradition der marxistischen Literatur?
SH: Ich las Texte von Marx – das Kommunistische Manifest, Lohnarbeit und Kapital; ich las Lenin über Imperialismus. Das war für mich mehr im Kontext des Kolonialismus wichtig, als um etwas über den westlichen Kapitalismus zu erfahren. Klassenfragen waren in den politischen Diskussionen über Kolonialismus in Jamaika natürlich präsent. Die Frage der Armut, das Problem der ökonomischen Entwicklung, usw. Viele meiner jungen Freunde, die zur gleichen Zeit zur Universität gingen wie ich, studierten Ökonomie. Ökonomie wurde für die Antwort auf die Frage der Armut gehalten, die Länder wie Jamaika als Konsequenz des Imperialismus und des Kolonialismus erlebten. Ich war vom Standpunkt der Kolonie an der Frage der Ökonomie interessiert. Wenn ich zu jener Zeit ein Ziel hatte, dann nicht, Geschäftsmann zu werden wie mein Vater, sondern Anwalt: Anwalt zu werden war in Jamaika schon der üblichste Weg in die Politik. Oder ich könnte Ökonom werden. Aber ich war mehr an Literatur und Geschichte interessiert als an Ökonomie.
Als ich siebzehn war, bekam meine Schwester einen schweren Nervenzusammenbruch. Sie hatte ein Verhältnis mit einem jungen Studenten, der aus Barbados nach Jamaika gekommen war. Er kam aus der Mittelklasse, war aber schwarz, und meine Eltern erlaubten die Beziehung nicht. Es gab einen riesigen Familienkrach und sie flüchtete daraus in einen Zusammenbruch. Plötzlich wurden mir die Widersprüche der kolonialen Kultur klar, wie man als Individuum die koloniale Abhängigkeit von Farbe und Klasse durchlebt und erlebt und wie einen dies als Subjekt zerstören kann.
Ich erzähle diese Geschichte, weil sie sehr wichtig ist für meine persönliche Entwicklung. Sie hat für mich die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten für immer aufgehoben. Ich habe etwas über Kultur gelernt: dass sie einerseits zutiefst subjektiv und persönlich ist und zugleich eine Struktur, die man lebt. Ich sah wie alle diese abwegigen Erwartungen und Identifikationen, die meine Eltern auf uns, auf ihre Kinder, projizierten, meine Schwester zerstörten. Sie war das Opfer, auf ihr lasteten die widersprüchlichen Ambitionen meiner Eltern in dieser kolonialen Situation. Seitdem kann ich nicht mehr verstehen, warum Leute denken, diese strukturellen Fragen seien nicht mit der Psyche verknüpft, mit Emotionen und Identifikationen. Denn für mich sind diese Strukturen Dinge, die man lebt. Ich meine nicht nur, dass sie persönlich sind, das auch, aber sie sind auch institutionalisiert, sie haben wirkliche strukturelle Eigenschaften, die dich zerbrechen, die dich zerstören.
Das war eine sehr traumatische Erfahrung, weil es damals kaum psychiatrische Hilfe in Jamaika gab. Meine Schwester bekam von einem Arzt eine Reihe von Elektroschock-Therapien, von denen sie sich nie vollständig erholt hat. Sie ist danach nie von zu Hause weggegangen. Sie hat meinen Vater gepflegt bis er starb, sie hat meine Mutter gepflegt bis sie starb. Sie hat meinen Bruder, der blind wurde, gepflegt, bis er gestorben ist. Das war eine furchtbare Tragödie, die ich mit ihr durchlebte, und ich entschied, dass ich das nicht ertragen wollte. Ich konnte ihr nicht helfen, ich konnte sie nicht erreichen, obwohl ich verstand, was das Problem war. Ich war siebzehn, achtzehn.
Aber diese Erfahrung verdichtete meine Gefühle über den Raum, in den meine Familie mich stellen wollte. Ich würde dort nicht bleiben, Ich würde mich davon nicht zerstören lassen. Ich musste raus. Ich hatte das Gefühl, dass ich dorthin nie mehr zurückkehren konnte, weil mich das vernichten würde. Wenn ich Schnappschüsse von mir als Kind und als Jugendlicher anschaue, dann sehe ich das Bild einer depressiven Person. Ich will nicht sein, was sie sind, aber ich weiß nicht, wie ich jemand anders sein kann. Und das alles deprimiert mich. Das ist der Hintergrund, der erklärt, warum ich schließlich auswanderte.
KHC: Hast du seitdem eine sehr enge Beziehung zu deiner Schwester aufrecherhalten, hast du dich, psychoanalytisch gesprochen, mit ihr identifiziert?
SH: Nein, das habe ich nicht. Obwohl dieses ganze System ihr Leben zerstört hat, hat sie nie rebelliert. Also habe ich sozusagen an ihrer Stelle rebelliert. Ich bin aber auch schuldig, weil ich sie zurückgelassen habe, sie musste damit fertig werden. Ich beschloss auszuwandern, um mich selbst zu retten. Sie blieb.
Ich ging 1951, und bis 1957 wusste ich nicht, dass ich nicht zurückkehren würde; ich hatte nie wirklich die Absicht, zurückzugehen, aber das wusste ich nicht. In gewisser Weise kann ich jetzt darüber schreiben, weil ich am Ende eines langen Weges stehe. Nach und nach fing ich an zu begreifen, dass ich ein schwarzer Westinder war, wie jeder andere auch, ich konnte mich dazu verhalten, ich konnte von dieser Position aus, aus ihr heraus schreiben. Es hat eine sehr lange Zeit gedauert, bis ich so schreiben konnte, persönlich. Zunächst konnte ich darüber nur analytisch schreiben. Wenn man so will, habe ich fünfzig Jahre gebraucht, um zu Hause anzukommen. Das Problem war nicht so sehr, dass ich irgendetwas zu verheimlichen hatte. Es war der Raum, den ich nicht besetzen konnte. Ich musste lernen, diesen Raum einzunehmen.
Es wird vielleicht deutlich wie diese Formierung – diese ganze destruktive Kolonialerfahrung gemacht zu haben – mich auf England vorbereitete. Ich werde nie vergessen, wie ich hier landete. Meine Mutter brachte mich her – mit meinem Fellhut, meinem Mantel und meinem Seemannskoffer. Sie brachte mich, wie sie dachte, auf dem Bananenschiff »nach Hause« und lieferte mich in Oxford ab. Sie übergab mich dem erstaunten Collegediener und sagte: »Dies ist mein Sohn, sein Koffer, seine Sachen. Pass auf ihn auf.« Sie lieferte mich mit Unterschrift und Siegel ab, brachte mich dorthin, wohin ihr Sohn ihrer Meinung nach schon immer hingehört hatte – nach Oxford.
Meine Mutter war eine unglaublich dominante Person. Meine Beziehung zu ihr war eng und antagonistisch. Ich hasste das, wofür sie stand, was sie für mich zu repräsentieren versuchte. Aber wir hatten alle eine enge Bindung zu ihr, weil sie unser Leben dominierte. Sie dominierte das Leben meiner Schwester. Hinzu kam, dass mein Bruder, der älteste, der sehr schlecht sehen konnte, schließlich blind wurde. Von frühester Kindheit war er sehr von meinen Eltern abhängig. Als ich geboren wurde, war dieses Muster der Mutter-Sohn-Abhängigkeit fest etabliert. Sie versuchte es mit mir zu wiederholen, Als ich begann, meine eigenen Interessen und meine eigenen Auffassungen zu haben, entstand der Antagonismus. Gleichzeitig war die Beziehung intensiv, weil meine Mutter immer sagte, ich sei die einzige Person, die mit ihr kämpft. Sie wollte mich beherrschen, aber sie hasste auch diejenigen, die sich von ihr beherrschen ließen. Sie verachtete meinen Vater, weil er ihr nachgab. Sie verachtete meine Schwester, weil sie ein Mädchen war und meine Mutter meinte, Frauen seien nicht interessant. Während der Pubertät bekämpfte meine Schwester sie die ganze Zeit, aber sobald meine Mutter sie gebrochen hatte, verachtete sie sie. Also hatten wir diese antagonistische Beziehung. Ich war der Jüngste. Meine Mutter meinte, ich sei dazu bestimmt, ihr Widerstand zu leisten, aber sie respektierte mich deshalb. Als sie schließlich wusste, was ich in England geworden war – dass ich alle ihre paranoiden Phantasien über den rebellischen Sohn verwirklicht hatte – wollte sie nicht, dass ich nach Jamaika zurückkomme, weil ich mittlerweile meine eigene Sache repräsentierte und nicht mehr ihr Bild von mir. Sie erfuhr von meiner politischen Haltung und sagte: »Bleib drüben, komm nicht zurück und mach uns mit deinen komischen Ideen keinen Ärger hier.«
Meine Beziehung zu Jamaika wurde einfacher, nachdem meine Eltern tot waren. Wenn ich vorher zurückkam, musste ich Jamaika immer durch sie hindurch wahrnehmen. Nachdem sie tot waren, war es möglich, eine neue Beziehung zu dem neuen Jamaika aufzubauen, das sich in den siebziger Jahren entwickelte. Es war nicht das Jamaika, in dem ich aufgewachsen war. Es war kulturell eine schwarze Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft jenseits der Sklaverei, jenseits der Kolonialzeit. Ich dagegen hatte dort am Ende der kolonialen Ära gelebt, ich konnte also meine Beziehung als die eines »bekannten Fremden« bestimmen.
Paradoxerweise hatte ich genau die gleiche Beziehung zu England. Vorbereitet durch meine koloniale Erziehung kannte ich England von innen. Aber ich bin nicht und werde nie »englisch« sein. Ich kenne beide Orte genau, aber ich gehöre zu keinem Ort völlig. Und das ist genau die Diaspora-Erfahrung: genügend Entfernung, um das Gefühl des Verlustes und des Exils zu erleben und genügend Nähe, um das Rätsel einer auf ewig aufgeschobenen »Ankunft« zu verstehen.
Das ist das Interessante in meiner Beziehung zu Jamaika. Die Freunde, die ich zurückließ, machten Erfahrungen, die ich nicht machte. Sie erlebten 1968 dort, die Geburt des schwarzen Bewusstseins und das Aufkommen des Rastafarianismus, mit seinen Erinnerungen an Afrika. Sie erlebten diese Jahre dort anders als ich in Britannien, also gehöre ich auch nicht ihrer Generation an. Ich ging mit ihnen zur Schule und bin mit ihnen in Kontakt geblieben, aber sie haben eine völlig andere Erfahrung als ich. Diese Kluft lässt sich nicht füllen. Man kann nicht wieder »nach Hause« gehen.
Du bist also in der Situation, von der Simmel sprach: die Erfahrung drinnen und draußen zu sein, du bist der »bekannte Fremde«. Wir nannten das früher »Entfremdung« oder Entwurzelung. Aber heutzutage ist das zum archetypischen spätmodernen Zustand geworden. Es beschreibt zunehmend die Art und Weise, in der alle leben. So denke ich die Artikulation des Postmodernen und des Postkolonialen. Auf merkwürdige Weise bereitet einen die Postkolonialität darauf vor, in einer »postmodernen« Gesellschaft zu leben, bzw. auf eine Diaspora-Beziehung zu Identität. Paradigmatisch ist das eine Diaspora-Erfahrung. Da die Migration weltweit das historische Geschehen der Spätmoderne geworden ist, ist die Diaspora-Erfahrung zur klassischen postmodernen Erfahrung geworden.
KHC: Aber wann wurde die Diaspora-Erfahrung bewusst?
SH: In der Moderne, seit 1492, mit dem Beginn des euro-imperialen Abenteuers, und in der Karibik seit der europäischen Kolonialisierung und dem Sklavenhandel. Seitdem hat sich die Kultur in den »Kontaktzonen« der Welt in Form einer Diaspora entwickelt. Als ich in den sechziger Jahren über Rastafarianismus und Reggae schrieb, als ich über die Rolle der Religion im Leben der Karibik nachdachte, hat mich die »Übersetzung« zwischen Christentum und afrikanischer Religion interessiert oder die Mischungen in der karibischen Musik. Ich war sehr lange schon an dem interessiert, was jetzt zum Thema der Diaspora geworden ist, ohne dass ich es so genannt habe. Lange Zeit habe ich den Begriff nicht benutzt, weil er im Wesentlichen in Bezug auf Israel gebraucht wurde. Das war der dominante politische Gebrauch und damit habe ich Probleme wegen des palästinensischen Volkes. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs »Diaspora« ist eingebettet in einen heiligen Text, fixiert in einer ursprünglichen Landschaft, und sie verlangt, dass man alle anderen vertreibt, ein Land beansprucht, das schon von mehreren Völkern besiedelt ist. Dieses Diaspora-Projekt der »ethnischen Säuberung« war für mich nicht haltbar. Aber ich muss auch sagen, dass es sehr enge Beziehungen gibt zwischen der schwarzen Diaspora und der jüdischen Diaspora – zum Beispiel die Erfahrung des Leidens und des Exils und die Kultur der Erlösung und Befreiung, die daraus erwachsen. Deshalb benutzt der Rastafarianismus die Bibel, deshalb benutzt Reggae die Bibel, weil sie die Geschichte eines Volkes im Exil ist, das von einer fremden Macht beherrscht wird, eines Volkes, das weit weg von »zu Hause« und der symbolischen Macht des Erlösungsmythos ist. Die ganze Geschichte des Kolonialismus, der Sklaverei und der Kolonisierung wird neu in die jüdische eingeschrieben. Und in der postemanzipatorischen Periode gab es viele afrikanisch-amerikanische SchriftstellerInnen, die die jüdische Erfahrung sehr wirkungsvoll als Metapher benutzten. Für die schwarzen Kirchen in den USA waren die Flucht aus der Sklaverei und die Erlösung von »Ägypten« parallele Metaphern.
Moses ist für die schwarze Sklavenreligion wichtiger als Jesus, weil er sein Volk aus Babylon herausgeführt hat, aus der Gefangenschaft. Deshalb hat mich dieser doppelte Text, diese doppelte Textualität immer interessiert. Paul Gilroys Buch The Black Atlantic3 ist eine wundervolle Studie der »schwarzen Diaspora« und der Rolle dieses Konzepts im afrikanisch-amerikanischen Denken. Ein anderer Meilenstein auf diesem Weg ist für mich Bachtins The Dialogic Imagination4, das eine Reihe verwandter Konzepte über Sprache und Bedeutung entwickelt: Heteroglossia, Karneval oder der Begriff Multiakzentualität, von Bachtin-Vološinov. Diese Begriffe haben wir in Cultural Studies theoretisch im Kontext von Sprache und Ideologie entwickelt. Sie sind inzwischen zu den für die klassische Diaspora typischen diskursiven Tropen geworden.
Momente der Neuen Linken
KHC: Was geschah als du 1951 nach England gingst?
SH: Mit meiner Mutter auf einem Schiff in Bristol angekommen, fuhr ich in einem Zug Richtung Paddington durch diese westliche Country-Landschaft. Ich hatte sie nie gesehen, aber ich kannte sie. Ich hatte Shakespeare, Hardy, die romantischen Dichter gelesen. Obgleich ich diesen Raum nie bewohnt hatte, war es als würde ich, wie in einem Traum, eine schon bekannte, idealisierte Landschaft wiederfinden. Trotz meiner antikolonialen politischen Haltung hatte ich immer den Wunsch gehabt, in England zu studieren. Ich wollte immer hier studieren. Es hat eine ganze Weile gedauert, mit Britannien zurechtzukommen, insbesondere mit Oxford, denn Oxford ist der Gipfel des Englischen, es ist das Zentrum, der Motor, der das Englische produziert.
Es gab zwei Phasen. Bis 1954 war ich von der westindischen Exil-Politik absorbiert. Fast alle meine Freunde waren Exilanten und gingen später zurück, um eine politische Rolle in Jamaika, Trinidad, Barbados oder Guayana zu spielen. Unsere Leidenschaft galt der kolonialen Frage. Wir feierten den Hinauswurf der Franzosen aus Indochina mit einem riesigen Festessen. Wir entdecken zum ersten Mal, dass wir »Westinder« waren, wir lernten zum ersten Mal afrikanische Studenten kennen. Im Zuge der entstehenden postkolonialen Unabhängigkeit träumten wir von einer karibischen Föderation, die alle diese Länder zu einer größeren Einheit zusammenfasste. Wäre das geschehen, wäre ich in die Karibik zurückgekehrt.
Einige westindische Studenten lebten eine Zeit lang in dem Haus zusammen, das auch die Neue Linke hervorbrachte. Sie waren die erste Generation der schwarzen, antikolonialen oder postkolonialen Intelligenz, die in England studierten, promovierten und Ökonomen wurden. Viele wurden von ihren Regierungen geschickt und gingen zurück, um die leitenden Kader der Post-Unabhängigkeitsperiode zu werden. Politisch und persönlich wurde ich von diesen Debatten in den frühen Jahren in Oxford stark geprägt.
Damals dachte ich noch daran, nach Jamaika zurückzugehen, eine politische Karriere zu verfolgen, mich in die westindische Föderationspolitik einzumischen oder an der Universität Westindiens zu unterrichten. Dann bekam ich ein zweites Stipendium und beschloss, in Oxford zu bleiben und zu promovieren. Zu diesem Zeitpunkt gingen die meisten aus dem unmittelbaren karibischen Zirkel zurück. Damals lernte ich auch Leute von der Linken kennen, meist aus der Kommunistischen Partei und dem Labour Club. Ich hatte sehr enge Freunde, z.B. Alan Hall, dem ich ein Essay über die Neue Linke widmete: Out of Apathy.5 Er war Schotte, ein klassischer Archäologe, der an kulturellen und politischen Fragen interessiert war. Gemeinsam lernten wir Raymond Williams kennen. Wir standen damals einigen Leuten in der Kommunistischen Partei sehr nahe – Leuten wie Raphael Samuel oder Peter Sedgwick –, waren aber nie Mitglieder. Ein anderer enger Freund war der Philosoph Charles Taylor. Wie Alan Hall und ich war auch er jemand von der »unabhängigen Linken«. Wir waren am Marxismus interessiert, aber wir waren keine dogmatischen Marxisten, keine Verteidiger der Sowjetunion, sondern Antistalinisten. Deshalb wurden wir nie Mitglieder der Kommunistischen Partei, obwohl wir im Dialog mit ihr standen. Wir weigerten uns, uns in Kalter-Kriegs-Manier zu distanzieren, wie es die Regeln des Labour Clubs jener Zeit vorschrieben. Wir gründeten diesen Verein, die »Sozialistische Gesellschaft«, ein Ort, an dem sich unabhängige Geister der Linken treffen konnten. Sie versammelte postkoloniale Intellektuelle und britische Marxisten, Leute von der Labour Party und andere linke Intellektuelle. Perry Anderson war zum Beispiel Mitglied dieser Gruppe. Das war vor 1956. Viele von uns waren Ausländer oder interne Migranten: Viele der Briten waren aus der Provinz, aus der Arbeiterklasse, Schotten, Iren oder Juden.