Verzeih, meine Liebe: 5 Unterhaltungsromane für den Sommer - Alfred Bekker - E-Book

Verzeih, meine Liebe: 5 Unterhaltungsromane für den Sommer E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Romane (499) Tränen in der Seeberg-Klinik (A.F.Morland) Mit dir dem siebten Himmel nah (A.F.Morland) Du sollst mich nicht vergessen (A.F.Morland) Zu stolz, um zu verzeihen (Alfred Bekker) Sommerseide (Freder van Holk) Dr. Christian Michaelis - der junge Assistenzarzt ist unsterblich in die schöne Solange verliebt, doch für sie ist viel zu oft die Karriere wichtiger als er ... Dr. Solange Albert - die attraktive Anwältin ist ungemein ehrgeizig. Wenn sie einen interessanten Fall hat, vergisst sie allzu oft ihren Freund, was verhängnisvolle Folgen hat ... Dr. Sören Härtling - der engagierte Klinikchef sieht voller Sorge, wie verzweifelt sein junger Kollege seit Tagen ist. Wird Christian eventuell sogar Fehler machen? Und - was hat ihn so aus der Bahn geworfen, dass er fluchtartig die Paracelsus-Klinik verlässt?

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A. F. Morland, Alfred Bekker, Freder van Holk

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Inhaltsverzeichnis

Verzeih, meine Liebe: 5 Unterhaltungsromane für den Sommer

Copyright

Tränen in der Seeberg-Klinik

Mit dir dem siebten Himmel nah

Du sollst mich vergessen

Zu stolz, um zu verzeihen

Sommerseide

Verzeih, meine Liebe: 5 Unterhaltungsromane für den Sommer

Alfred Bekker, Freder van Holk, A.F.Morland

Dieser Band enthält folgende Romane

Tränen in der Seeberg-Klinik (A.F.Morland)

Mit dir dem siebten Himmel nah (A.F.Morland)

Du sollst mich nicht vergessen (A.F.Morland)

Zu stolz, um zu verzeihen (Alfred Bekker)

Sommerseide (Freder van Holk)

Dr. Christian Michaelis - der junge Assistenzarzt ist unsterblich in die schöne Solange verliebt, doch für sie ist viel zu oft die Karriere wichtiger als er ...

Dr. Solange Albert - die attraktive Anwältin ist ungemein ehrgeizig. Wenn sie einen interessanten Fall hat, vergisst sie allzu oft ihren Freund, was verhängnisvolle Folgen hat ...

Dr. Sören Härtling - der engagierte Klinikchef sieht voller Sorge, wie verzweifelt sein junger Kollege seit Tagen ist. Wird Christian eventuell sogar Fehler machen? Und - was hat ihn so aus der Bahn geworfen, dass er fluchtartig die Paracelsus-Klinik verlässt?

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author / Cover Mara Laue

© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

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Tränen in der Seeberg-Klinik

Arztroman von A. F. Morland

Der Umfang dieses Buchs entspricht 101 Taschenbuchseiten.

Fassungslos sah Claudia Tinhoff ihren langjährigen Hausarzt an. Das durfte doch nicht wahr sein! So grausam konnte das Schicksal sie nicht strafen! „Nein“, flüsterte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Sagen Sie, dass es ein Irrtum ist, Dr. Kayser! Bitte!“ Sven Kayser biss sich auf die Lippen. Er hätte gern etwas anderes erwidert, doch die Diagnose, die er befürchtet hatte, war nun durch Untersuchungen in der Seeberg-Klinik bestätigt worden: Claudia, die gerade erst 25 Jahre alt geworden war, hatte einen Hirntumor ...

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

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1

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen ... Und das tat Renate Bonengel in Dr. Sven Kaysers Praxis ziemlich ausführlich.

„Wir waren überall“, erzählte sie mit leuchtenden Augen. „In Florenz, toll, diese Ponte Vecchio Lucca, Pisa, wie schief der Turm ist, ein Wahnsinn! Siena, da hat es mir am besten gefallen, San Gimignano, die vielen Türme, unglaublich, einfach unglaublich ...“

Der Grünwalder Arzt wollte nicht unhöflich sein, aber das Wartezimmer war voll, und Frau Bonengel fehlte mal wieder nichts. Sie war eine alleinstehende Frau, hatte ihren Mann vor zwanzig Jahren verloren und keinen andern mehr gefunden, deshalb ging sie immer zu ihrem Hausarzt, wenn ihr Mitteilungsbedürfnis sie dazu drängte. Und dem erzählte sie dann wortreich und ausführlich, was sie loswerden wollte, unter Hinzudichtung eines kleinen Leidens, das unbedingt behandelt gehörte, weil ihr Arztbesuch ja sonst nicht gerechtfertigt gewesen wäre.

Diesmal war es angeblich eine Magenverstimmung, die sie sich angeblich in der Toskana eingefangen hatte. Frau Bonengel sah aus wie das blühende Leben, doch wehe, Dr. Kayser hätte sie nicht ernst genommen!

Sie wäre bitterböse auf ihn gewesen, und da sie ihn ohne Rezept nicht verlassen hätte, verschrieb er ihr ein Placebo, ein Scheinmedikament ohne Nebenwirkung, aber auch ohne Wirkung, denn nur dann war sie zufrieden, und nur dann war er in ihren Augen ein guter Doktor.

Was ist denn das für ein Arzt, der nicht weiß, was er seinen Patienten verschreiben soll, wo die Apotheken doch so vollgestopft sind mit großartigen Produkten der Pharmaindustrie?

Im Interesse seiner anderen Patienten gab er Renate Bonengel das Rezept und wünschte ihr eine baldige Besserung, ehe sie dazu übergehen konnte, ihm weitschweifig von dem märchenhaft schönen Land, das sie gesehen hatte, und den vielen netten Leute, denen sie begegnet war, zu erzählen.

Es klopfte.

„Ja, bitte?“, rief Dr. Kayser zur Tür hin.

Schwester Gudrun trat ein. „Entschuldijung, Chef“, sagte die korpulente Berlinerin. „Draußen ist Frau Tinhoff mit ihrer Kleenen. Können Se dat Kind jleich drannehmen? Es hat sich an der Hand verletzt.“

Renate Bonengel erhob sich sofort. „Ich halte Sie nicht länger auf, Herr Doktor. Danke für das Rezept, und danke, dass Sie mir zugehört haben.“

Sven Kayser nickte freundlich lächelnd. Er konnte davon ausgehen, dass er Frau Bonengel wiedersehen würde, sobald sie aufs Neue schrecklich viel zu erzählen hatte und nicht wusste, wo sie es abladen sollte, und sie würde dann vermutlich über Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Verspannungen oder sonst was klagen, damit ihr Besuch auch medizinisch gerechtfertigt war.

Die mitteilungsbedürftige Patientin verließ das Sprechzimmer des Allgemeinmediziners, und Gudrun Giesecke holte Claudia Tinhoff und deren vierjährige Tochter Petra herein.

Das Kind, ein blondes Engelchen mit blauen Augen, war überhaupt nicht ängstlich. „Tag, Onkel Doktor“, sagte die niedliche Kleine.

„Na, mein kleines Püppchen“, sagte der praktische Arzt, der als Geburtshelfer dabei gewesen war, als Petra das Licht der Welt erblickt hatte. Er nickte Claudia Tinhoff zu. „Guten Tag, Frau Tinhoff.“

Die fünfundzwanzigjährige Mutter der Kleinen machte einen leicht besorgten Eindruck. „Guten Tag, Herr Doktor“, gab sie leise zurück.

Dr. Kayser wandte sich wieder an das Kind. „Nun, was haben wir denn angestellt, kleines Fräulein?“

„Verletzt hab’ ich mich“, antwortete Petra.

„Zeigst du mir, wo?“

„An der Hand. An der linken. Ist das die linke Hand, Mutti?“, fragte Petra.

„Nein, Liebes, das ist die rechte Hand“, gab Claudia Tinhoff zur Antwort.

„An der rechten Hand“, sagte Petra zu Dr. Kayser.

„Lässt du mich mal sehen?“, bat Dr. Kayser.

„Kriege ich ein Bonbon?“

„Nachher. Als Belohnung.“

„Du hast doch Bonbons, ja?“

„Selbstverständlich“, versicherte Sven Kayser. „In der Lade hier, wie du weißt.“ Er zeigte auf die entsprechende Lade.

Dr. Kaysers konnte hervorragend mit Kindern umgehen, und mit der kleinen Petra Tinhoff kam er ganz besonders gut aus. Er hatte das süße Kind in sein Herz geschlossen. Ein Sonnenschein wie Petra war ein Geschenk des Himmels. Es war nur schade, dass Petras Vater das nicht so sah.

„Und wie viele darf ich mir nachher nehmen?“, fragte das Kind couragiert.

„Petra!“ Claudia Tinhoff schüttelte ermahnend den Kopf.

„Eines“, antwortete Dr. Kayser. „Vielleicht auch zwei. Mal sehen, wie tapfer du bist.“

„Ich bin sehr tapfer.“

Dr. Kayser lächelte. „Das muss sich erst noch herausstellen. Behaupten kann man viel.“ Er sah sich die Hand der kleinen Patientin an. Ein hässlicher schwarzer Holzsplitter steckte in ihrem Handballen.

Claudia Tinhoff sagte: „Ich habe selbst versucht, ihn herauszuziehen, aber es ist mir nicht gelungen.“

„Na, mal sehen, ob ich das besser kann“, sagte Sven Kayser lächelnd.

„Ganz bestimmt“, sagte Petra voller Zuversicht.

„Sie hat ja nicht stillgehalten“, beschwerte sich ihre Mutter.

„Wirst du bei mir stillhalten?“, fragte Sven Kayser.

Petra nickte fest. „Klar, Onkel Doktor. Und hinterher kriege ich zwei Bonbons. Abgemacht?“

„Abgemacht“, sagte der Grünwalder Arzt lächelnd.

Claudia Tinhoff schüttelte wieder ermahnend den Kopf. „Kind, mit dir muss man sich schämen.“

„Ach, lassen Sie nur, Frau Tinhoff“, meinte Dr. Kayser verständnisvoll. „Ich finde, meine kleine Freundin verhält sich völlig richtig.“

Er sagte Schwester Gudrun, was er benötigte, und die grauhaarige Arzthelferin legte alles für ihn bereit. Dr. Kayser bestrich die Hand des Mädchens behutsam mit einer bräunlichen Flüssigkeit.

„Was ist das?“, fragte Petra neugierig.

„Eine Desinfektionslösung“, erklärte Dr. Kayser seiner kleinen Patientin.

„Was ist eine Defekionslösung?“, wollte Petra wissen.

„Sie macht, dass dir der Schmutz nichts anhaben kann. Und es heißt richtig Desinfektionslösung.“

„Kind, frag doch nicht so viel“, warf Claudia Tinhoff ein. Sie trug ein elegantes, gutsitzendes Kostüm aus lindengrüner Seide. „Der Onkel Doktor kann sich doch nicht konzentrieren, wenn du fortwährend den Mund offen hast.“

„Also, mich stört das überhaupt nicht“, versicherte Dr. Kayser. „Meine kleine Freundin darf fragen, was immer sie möchte. Das hier zum Beispiel ist eine Spraydose. Du weißt, was eine Spraydose ist, nicht wahr?“

„Natürlich weiß ich das. Wenn man oben draufdrückt, macht es zischschsch.“

„Sehr richtig. Und wenn ich es jetzt gleich zischen lasse, brauchst du keine Angst zu haben.“

„Ich habe keine Angst.“

„Da, wo ich hin sprühe, wird deine Hand ganz kalt werden“, erklärte Dr. Kayser.

„Tut das weh?“

„Überhaupt nicht. Man nennt das vereisen. Ich werde die Stelle, wo dieser böse Holzsplitter steckt, vereisen, damit du nicht spürst, wenn ich ihn herausziehe. Alles klar?“

Petra nickte. „Alles klar.“

Dr. Kayser vereiste die kleine Hand und stellte die Spraydose anschließend beiseite.

„Kalt“, sagte Petra.

„Die Kälte sorgt dafür, dass du nichts spürst“, sagte Dr. Kayser. „Dies hier ist eine Pinzette.“ Er hielt das Instrument hoch. „Damit werde ich den Splitter entfernen, ohne dass du es merkst.“

„Wenn er draußen ist, kriege ich dann die Belohnung?“

„Das versteht sich ja wohl von selbst“, sagte Dr. Kayser. Er schob ein dickes Vergrößerungsglas von zehn Zentimetern Durchmesser über das kleine Händchen, der Splitter wurde riesengroß, und Sven sah ganz genau, wo er ihn mit der Pinzettenspitze fassen und herausziehen konnte. „So“, sagte er, als es vollbracht war. „Da ist der Übeltäter.“ Er zeigte dem Kind den Splitter.

„Er ist so klein und hat so weh getan“, sagte Petra.

„Kleine Ursache, große Wirkung“, sagte Sven Kayser, „so ist das oft im Leben.“ Er gab etwas Heilsalbe auf die kleine Wunde, Schwester Gudrun verband die Hand des Kindes fachgerecht, und dann durfte sich Klein Petra zwei Bonbons aus der Lade des Onkel Doktors nehmen.

„Wie sagt man?“, fragte Claudia Tinhoff ihre Tochter.

„Danke“, sagte Petra.

„Na also“, sagte ihre Mutter.

Dr. Kayser deutete auf die nunmehr verbundene Hand des Kindes. „Wo ist dir das denn passiert?“

Petra wickelte das erste Bonbon aus dem Papier und steckte es sich in den Mund. Schwester Gudrun nahm ihr das Papier ab und warf es in den Korb, der neben Dr. Kaysers Schreibtisch stand. „Bei Oma“, sagte Petra.

Oma war Barbara Wegenscheid, auch eine Patientin von Dr. Kayser. Eine Fuhrwerkunternehmerin auf dem Papier. In Wirklichkeit schmiss der achtundzwanzigjährige Geschäftsführer Lothar Schaller nach dem Tod ihres Mannes den Laden.

Ohne Lothars wertvolle Hilfe hätte Frau Wegenscheid die Firma schließen müssen. Sie wusste, was sie an ihm hatte. Er nahm ihr fast die ganze Arbeit ab, kümmerte sich um alle betrieblichen Belange, stellte Fahrer ein, besuchte säumige Zahler, sorgte laufend für neue Aufträge, setzte Gehälter, Preise und Rabatte fest, war einfach unentbehrlich.

Dadurch, dass Lothar Schaller seine Arbeitgeberin so sehr entlastete, konnte Barbara Wegenscheid sich sehr gut um Petra kümmern.

Das Kind war von Montag bis Freitag bei Oma, damit die Mutter der Kleinen, Claudia Tinhoff war Sekretärin in einem kleinen Eheanbahnungsbüro, keinen Stress hatte. Sie war gezwungen zu arbeiten, weil sie keinen Ehemann mehr hatte. Horst Tinhoff war ihr davongelaufen.

Einfach so. Als Petra noch ganz klein, noch nicht mal ein Jahr alt gewesen war. Weil er das Geschrei des Kindes nicht ausgehalten hatte, war er gegangen. Das nahm Claudia an.

Jedenfalls hatte er, nachdem Petra mal wieder die ganze Nacht über gebrüllt hatte, gemurmelt: „Irgendwann ist mir das zu viel.“

„Und was tust du dann?“, hatte Claudia wissen wollen.

„Weiß ich noch nicht.“

,,Wenn du dem Baby etwas antust ...“

„Wofür hältst du mich? Dem Würmchen krümme ich kein Haar“, hatte Horst Tinhoff gesagt, und eine Woche danach war er weg gewesen.

Unauffindbar. Nur mal eben Zigaretten holen hatte er wollen, und dann hatte seine Familie nie wieder von ihm gehört. Drei Jahre lang ...

Drei Jahre kam Claudia Tinhoff nun schon allein zurecht. Sie vermisste Horst nicht. Oder ... Nun ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben, manchmal vermisste sie ihn schon. Es gab keine Schulter mehr, an die sie sich lehnen konnte, keinen Mann mehr, der sie streichelte, küsste, liebkoste. Sie meisterte ihr Leben zwar recht gut, hatte es total umstrukturiert, darauf ausgerichtet, dass es auch ohne Horst funktionierte, hatte es seit drei Jahren bestens im Griff, aber ihre Nächte waren leer, einsam und ohne jede Erfüllung.

Sie war nicht geschieden, hatte nichts unternommen, war nach wie vor Horst Tinhoffs Frau, und wenn er zu ihr zurückgefunden hätte ...

Sie glaubte nicht, dass sie ihm die Tür gewiesen hätte. Vor allem dann nicht, wenn er Reue gezeigt hätte. Und wegen Petra. Ja, sie wäre bereit gewesen, ihm eine zweite Chance zu geben, es noch einmal mit ihm zu versuchen.

Schließlich vertrat sie den Standpunkt, dass ein Kind nicht nur seine Mutter brauchte, sondern auch seinen Vater. Petra war kein unglückliches Kind, das bestimmt nicht. Sie war gern bei ihrer geliebten Oma, und sie genoss die Wochenenden mit ihrer Mutti, aber man konnte nicht sagen, dass sie in „normalen Verhältnissen“ aufwuchs, so gut es ihr auch ging.

„Oma macht sich deswegen bitterste Vorwürfe“, sagte Claudia Tinhoff zu Dr. Kayser. „Sie ist ganz aus dem Häuschen, weil Petra sich bei ihr verletzt hat. Ich habe ihr gesagt, sie solle sich wegen dieser Kleinigkeit doch nicht verrückt machen, aber sie ist nicht davon abzubringen, dass sie nicht gut genug auf ihren Augenstern aufgepasst hat.“

„Sie kann Petra nicht unter einen Glassturz stellen“, sagte der Grünwalder Arzt.

„Eben.“ Claudia Tinhoff nickte. „Das habe ich ihr auch gesagt, aber das würde sie am liebsten tun.“

„Wie war sie bei Ihnen?“, erkundigte sich Dr. Kayser, während Schwester Gudrun wegräumte, was er nicht mehr benötigte.

„Bei mir?“ Claudia Tinhoff sah ihren Arzt fragend an.

„Hätte sie Sie auch am liebsten unter einen Glassturz gestellt?“, wollte Sven Kayser wissen.

Petras Mutter schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Warum möchte sie es dann mit Petra tun?“

„Ich bin ihr eigenes Kind“, erklärte Claudia Tinhoff. „Petra hingegen ist ‘nur’ ihre Enkelin und ihrer Obhut anvertraut. Da will sie auf gar keinen Fall versagen.“

Dr. Kayser wandte sich an seine kleine Patientin. „Ich sehe mir deine Hand in ein paar Tagen an, okay?“

Das Kind nickte. „Okay.“

„Also dann bis demnächst“, sagte der Grünwalder Arzt.

„Tschüs, Onkel Doktor“, sagte Petra.

„Tschüs, meine Kleine“, sagte Sven Kayser. „Du warst wirklich sehr tapfer, hast dir die Belohnung echt verdient.“

Nachdem Mutter und Tochter das Sprechzimmer verlassen hatten, sagte Dr. Kayser. „Schicken Sie bitte den nächsten Patienten herein, Icke.“

2

Sie waren kaum zu Hause, da läutete auch schon das Telefon.

„Tinhoff“, meldete sich Claudia.

„Endlich“, kam es aufseufzend durch die Leitung.

„Mutter ...“

„Ich habe bereits dreimal angerufen“, sagte Barbara Wegenscheid mit belegter Stimme. „Wieso wart ihr so lange weg?“

„Man muss hinfahren, man muss zurückfahren“, antwortete Claudia Tinhoff. „Auf der Rückfahrt musste ich tanken, und Petra durfte sich ein kleines Spielzeug aussuchen.“

„Mein armes Mädchen“, stöhnte die Großmutter der Kleinen. „Wie geht es ihr?“

„Sehr gut“, behauptete Claudia.

„Sehr gut?“ Das schien Barbara Wegenscheid nicht glauben zu können.

„Möchtest du mit ihr sprechen?“, fragte Claudia.

„Ja. Ja, gib sie mir.“

Claudia Tinhoff hielt ihrer Tochter den Telefonhörer hin. „Oma will mit dir reden.“

Petra nahm ihn mit der linken Hand. „Hallo, Omi.“

„Wie geht es dir, mein armes Mäuschen?“, fragte Barbara Wegenscheid besorgt.

„Mutti hat mir was gekauft“, berichtete Petra.

„So? Was denn?“

„Pocahontas.“

„Was ist Poca...“

„Ein Indianermädchen aus einem Zeichentrickfilm“, erklärte Petra. „Ach so.“

„Und vom Onkel Doktor habe ich zwei Bonbons gekriegt, weil ich so tapfer war“, berichtete Petra. „Ich habe kein bisschen geweint, hatte gar keine Angst.“

„Hat der Onkel Doktor dir weh getan?“

„Ich habe überhaupt nichts gespürt.“

„Da bin ich aber froh“, sagte Petras Großmutter aufatmend.

„Ich habe jetzt einen schönen weißen Verband an meiner linken Hand, Omi. Wenn ich zu dir komme, zeige ich ihn dir.“

Claudia Tinhoff sagte: „An der rechten ...“

Petra fragte: „Was?“

„Du hast den Verband an der rechten Hand“, sagte ihre Mutter.

„An der rechten Hand habe ich den Verband, Omi“, gab Petra an ihre Großmutter weiter.

„Aha“, sagte Barbara Wegenscheid. „Gibst du mir Mutti noch mal?“ Petra überließ ihrer Mutter den Telefonhörer und spielte mit Pocahontas.

„Was hat Dr. Kayser gesagt?“, wollte Barbara Wegenscheid wissen.

„Er meint wie ich, du solltest aus einer Mücke keinen Elefanten machen.“

„So ein Holzsplitter ist keine Mücke. Eine Blutvergiftung hat man sich ganz schnell eingefangen.“

„Menschen verletzen sich nun mal hin und wieder, Mutter. Vor allem Kinder. Das lässt sich nicht vermeiden.“

„Ich werde in Zukunft besser auf unser Schätzchen aufpassen.“

„Aber lege sie bitte an keine goldene Kette“, sagte Claudia Tinhoff.

Tags darauf zeigte Petra ihrer Großmutter stolz den blütenweißen Verband. Und Lothar Schaller, Onkel Lothar, wie sie ihn nannte, zeigte sie ihn auch.

Barbara Wegenscheid wohnte in einem schönen großen Haus, das von einem großzügig angelegten Garten umgeben war, am Rande des Firmengeländes.

Die Büros der Firma Wegenscheid waren im selben Haus untergebracht und hatten einen separaten Eingang. Onkel Lothar verstand sich blendend mit der kleinen Petra.

Er bewunderte ausgiebig den tollen Verband und meinte schmunzelnd: „So einen hätte ich auch gern.“

„Dann geh doch zum Doktor und lass dir einen machen“, empfahl ihm das Mädchen.

„Es ist besser, wir kommen alle ohne Verbände aus“, sagte Petras rundliche Oma.

Fünfzig war sie und seit fünf Jahren Witwe. Ihr tüchtiger Mann hatte ein gesundes Unternehmen aufgebaut, und sie fühlte sich nun verpflichtet, es in seinem Sinne weiterzuführen, obwohl sie nicht allzu viel Ahnung davon hatte, und sie wusste, dass sie mit Sicherheit Schiffbruch erlitten hätte, wenn Lothar Schaller, dieser strebsame, zuverlässige, gutaussehende Geschäftsführer, nicht so kräftig zugepackt hätte.

Er gehörte irgendwie zur Familie, dieser liebe, nette Onkel Lothar, der Petras Mutti freundschaftlich duzte, ihre Oma aber respektvoll siezte. Petra war gern mit ihm zusammen. Er wusste immer so lustige Spielchen (manchmal musste sie so viel lachen, dass ihr der Bauch weh tat), und mit Mutti und Omi verstand er sich auch ganz prima.

Nachdem alle ausgiebig den Verband und Pocahontas („Ach, so sieht Pocahontas aus!“, hatte Oma gesagt), bewundert hatten, trank man zusammen eine Tasse Kaffee.

Petra bekam, wie es sich gehörte, Kakao. Und Lothar erklärte, er würde gern mal wieder mit Claudia ausgehen, zuerst ins Kino, dann essen.

„Darf ich mitkommen, Onkel Lothar?“, fragte Petra.

„Selbstverständlich nicht“, warf Barbara Wegenscheid rasch ein. Sie sah es gern, wenn Lothar sich ein wenig um ihre Tochter kümmerte. Da war überhaupt nichts dahinter. Die beiden waren lediglich gute Freunde, obwohl Petras Oma absolut nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, wenn aus dieser netten Freundschaft mehr geworden wäre.

Aber das würde wohl ein geheimer Wunschtraum von ihr bleiben, denn Claudia fühlte sich nach wie vor mit Horst Tinhoff verheiratet, und Lothar hatte seinen eigenen Freundes- und Bekanntenkreis, was ihn jedoch nicht daran hinderte, auch hin und wieder mit Claudia auszugehen.

„Warum nicht?“, fragte Petra ihre Großmutter.

„Warum nicht, was?“, fragte Barbara Wegenscheid zurück.

„Warum darf ich nicht mitkommen?“

„Erstens“, erklärte Barbara Wegenscheid, „weil deine Mutti und Onkel Lothar auch mal etwas allein unternehmen möchten, und zweitens, weil kleine Kinder schon lange im Bett liegen müssen, wenn die Erwachsenen ausgehen.“

„Und drittens lässt man Kinder in deinem Alter zu so später Stunde gar nicht mehr ins Kino rein“, fügte Lothar Schaller lächelnd hinzu. Er hatte dichtes braunes Haar, männliche Züge und ein recht energisches Kinn. Er gefiel Claudia, als brüderlicher Freund.

„Aber fernsehen darf ich schon“, tönte ihre kleine Tochter.

„Nicht so spät. Nicht bei mir“, sagte Petras Oma sofort.

Lothar Schaller schlug den Sonnabend als Ausgehtag vor. Claudia Tinhoff sah ihre Mutter fragend an, denn normalerweise hatte diese das Wochenende für sich.

Barbara Wegenscheid nickte sogleich. „Kein Problem. Wenn ihr am Sonnabend ausgehen wollt, passt Oma selbstverständlich auf unser Sonnenscheinchen auf.“

„Danke, Mama.“

Petras Großmutter lächelte. „Ich liebe meine Tochter, und ich liebe meine Enkelin, also stehe ich zur Verfügung, wenn sie mich brauchen.“ Petra war hin und wieder anstrengend (sie war nie schlimm, aber doch manchmal recht kräftezehrend), deshalb erholte sich Barbara Wegenscheid am Wochenende ganz gerne von ihr, um Kraft zu tanken für die nächste Woche, aber wenn Claudia und Lothar sich einen schönen Abend machen wollten, stellte sie diesem begrüßenswerten Unternehmen kein unvernünftiges Nein entgegen, weil man nie wissen konnte, ob es bei den beiden nicht gerade diesmal funkte.

Die Liebe geht oft seltsame Wege und beschreitet manchmal die verschlungensten Pfade ...

3

Sie gingen miteinander aus und verbrachten einen sehr angenehmen, gemütlichen Abend. Über den Film lachten sie noch lange danach, und das Essen war hervorragend.

„Ich habe mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten“, versicherte Lothar Schaller, als sie beim Kaffee angelangt waren.

Claudia strich sich eine Strähne ihres langen blonden Haares aus dem hübschen Gesicht. „Ich auch nicht“, gestand sie.

„Vielleicht sollten wir es öfter tun.“

„Ich weiß nicht, ob das gut wäre.“

„Wieso nicht?“

„Im Moment ist es noch etwas Besonderes“, meinte die junge Frau. „Wenn wir jede Woche miteinander ausgingen, würde es rasch zur Gewohnheit werden.“

„Mich würde das nicht stören. Ich fühle mich in deiner Nähe sehr wohl.“

„Ich mich in deiner auch, aber ... Wir gehen eigentlich getrennte Wege, finden nur gelegentlich zusammen, und das finde ich gut so, daran sollten wir nichts ändern. Ich mag dich, Lothar. Ich mag dich wirklich sehr, aber ...“

„Aber du bist eine verheiratete Frau. Ist es das, was du sagen möchtest?“

„Nun ...“

„Du führst seit drei Jahren eine recht komische Ehe“, sagte Lothar.

„Das weiß ich.“

„Hast keine Ahnung, wo dein Mann ist, unternimmst aber auch keinerlei Anstrengungen, ihn zu finden, aber ... du bist eine verheiratete Frau.“

„Horst ist Petras Vater.“

„Ich finde es toll, wie sehr er sich um seine Tochter kümmert“, sagte Lothar Schaller zynisch. „Ich bin mehr für sie da als er, und ich wage zu behaupten, dass ich sie auch viel mehr liebe als er. Aber du betrachtest dich dennoch weiterhin als Horst Tinhoffs Frau.“

„Ich trage nach wie vor seinen Namen.“

„Das ließe sich ganz leicht ändern“, meinte Lothar. „Du solltest dich von Horst Tinhoff scheiden lassen und dir einen neuen Lebenspartner suchen.“

„Denkst du dabei an dich?“, fragte sie.

„Ich denke dabei in erster Linie an dich. Du solltest dich nicht für alle Zeiten vor den Schönheiten des Lebens verschließen. Es gibt eine ganze Menge Männer, die dich mit großer Freude glücklicher machen würden, als es Horst Tinhoff jemals konnte.“

„Was weißt denn du ...“

„Ich habe Phantasie, ich kann es mir vorstellen.“

„Ich schlage vor, wir wechseln das Thema“, erklärte Claudia, und jetzt klang ihre Stimme spröde.

Lothar trank einen Schluck Kaffee. „Na schön. Neues Thema: Wie läuft es für dich in Marie-Christine Gardens Eheanbahnungsinstitut?“

„Ich kann nicht klagen.“

„Viel zu tun?“

„Sehr viel. Du ahnst nicht, wie viele heiratswillige Menschen es gibt.“

„Obwohl einem von allen Seiten zugetragen wird, dass die Ehe überholt ist, dass man heute nicht mehr heiratet?“

„Wir merken nichts von diesem angeblichen Trend“, sagte Claudia.

„Wie viele Kunden bringt ihr in einer Woche durchschnittlich unter die Haube?“

„Das ist schwer zu sagen. Mal sind es mehr, mal sind es weniger. Mal überhaupt niemand.“

„Nehmt ihr jeden in eure Kartei auf?“

„Nicht jeden.“

„Welche Kriterien müssen erfüllt werden?“, wollte Lothar wissen.

„Nicht besonders viele. Wir versuchen Menschen wie du und ich zu vermitteln, ganz normale Leute, die aus irgendeinem verrückten Grund ihren Partner fürs Leben nicht finden können.“

„Würdet ihr mich in eure Kartei aufnehmen?“

„Selbstverständlich.“

„Hältst du mich für vermittelbar?“

„Auf jeden Fall.“

„Wie findet ihr heraus, ob einer eine Macke hat?“, wollte Lothar wissen.

„Wir unterhalten uns sehr ausführlich mit unseren Klienten, und wenn wir den Eindruck gewinnen, dass es nicht zumutbar ist, mit jemandem aus unserer Kartei zusammenzubringen, schicken wir ihn wieder weg. Wir sind ein seriöses Unternehmen, haben einen erstklassigen Ruf, den wir uns von keiner faulen Frucht verderben lassen.“

„Das ist sehr vernünftig“, sagte Lothar Schaller. Er leerte seine Kaffeetasse und verlangte die Rechnung. „Getrennt?“, fragte der Kellner. Lothar schüttelte den Kopf. „Zusammen.“

„Danke für die Einladung“, sagte Claudia, nachdem er bezahlt hatte.

„War mir ein Vergnügen“, gab der tüchtige Geschäftsführer ihrer Mutter lächelnd zurück. „Ein Glück, dass eure Kunden nicht hinter die Kulissen sehen können.“

„Wieso? Wir haben nichts zu verbergen.“

Lothar Schaller hob die Schultern. „Nun ja, du weißt seit drei Jahren nicht, wo dein Mann ist, und Marie Christine Garden, die Chefin des Eheanbahnungsinstituts, weiß zwar, wo und mit wem sich ihr Mann herumtreibt, ist aber froh, wenn er sich bei ihr nicht blicken lässt.“

„So ist das Leben“, gab Claudia Tinhoff seufzend zurück. „Man kann sich nicht immer aussuchen, wie die Dinge laufen sollen.“

Sie wurde von einem ganz kurzen Schwindel erfasst, der aber gleich wieder vorbei war. Lothar Schaller bekam überhaupt nichts davon mit.

„Na, kleene Maus, wie sieht dein Händchen aus?“, fragte Gudrun Giesecke das süße blonde Mädchen.

„Hier“, sagte Petra und zeigte der Schwester ihre rechte Hand.

„Sehr schön! Es ist ja alles gut verheilt.“

„Hier.“ Petra streckte auch Marie Luise Flanitzer ihr Händchen entgegen.

„Sieht wie neu aus ‘, stellte die junge Arzthelferin, die nicht einmal halb so alt war wie Gudrun, lächelnd fest. „Da wird der Onkel Doktor sich aber freuen.“

Sven Kayser freute sich tatsächlich wenig später darüber, dass kaum noch zu sehen war, wo der Holzsplitter im Handballen gesteckt hatte. Und es gab auch wieder ein ... na ja, zwei Bonbons.

„Von nun an achtest du besser darauf, wo du hingreifst, ja?“, sagte Dr. Kayser.

„Ja, ist doch klar“, gab das Kind lächelnd zurück.

Dr. Kayser wandte sich an Claudia. „Und was ist mit Ihnen?“

Sie sah ihn verwirrt an. „Mit mir? Wieso? Mit mir ist alles in Ordnung.“

Sven kniff die Augen ein wenig zusammen. „Sind Sie sicher?“

„Aber ja. Wie kommen Sie darauf ...“

„Sie kommen mir ein bisschen müde vor.“

„Ich bin müde“, gab Claudia Tinhoff zu.

„Schlafen Sie nicht genug?“

„Doch. Eigentlich schon, aber im Büro ... Na ja, es ist halt sehr viel zu tun, an manchen Tagen geht es drunter und drüber. Die Hektik kann einen hin und wieder ganz schön schaffen. Faxe, Telefonate, Briefe, ungeduldige Klienten ... Und immer muss man freundlich sein und höflich bleiben.“

„Wenn ich groß bin, werde ich nicht arbeiten“, redete Petra dazwischen.

„Ach nein?“, sagte Sven Kayser und warf Petras Mutter einen belustigten Blick zu. „Und wovon willst du leben?“

„Ich werde arbeiten lassen, wie Oma das macht“, erklärte Petra. „Ich brauche nur Onkel Lothar zu bitten, dass er das für mich macht, dann tut er das auch. Onkel Lothar hat mich nämlich ganz doll lieb. Und ich mag ihn auch sehr, sehr gerne.“

Mutter und Tochter verabschiedeten sich von Dr. Kayser. Draußen fragte Gudrun Giesecke: „Na, haste’n Bonbon vom Onkel Doktor jekriecht?“

„Nicht bloß eines, sondern zwei“, sagte Klein Petra stolz.

„Jleich zwee, also da musste beim Onkel Doktor ja ’nen besonders jroßen Stein im Brett haben.“

„Wieso sprichst du eigentlich so komisch?“, fragte das Kind verwundert.

„Petra!“, sagte Claudia mit rügendem Blick.

Gudrun Giesecke lächelte. „Is schon in Ordnung, Frau Tinhoff.“ Sie wandte sich an das Kind. „Weeßte, kleenes Fräulein, da, wo ick uffjewachsen bin, in Berlin, spricht man so. Aber wenn es dir stört, kann ick ooch anders parlieren.“ Und in bestem Hochdeutsch fuhr sie fort: „Pass gut auf dich auf, Liebchen, damit wir dich hier nicht so bald wiedersehen, als Patientin, meine ich.“ So gewählt drückte sie sich für gewöhnlich nur aus, wenn jemand sie kräftig geärgert hatte.

4

„Alles in Ordnung?“, fragte Marie-Christine Garden, die schwarzhaarige Chefin des „Eheanbahnungsinstituts Garden“, eine attraktive Frau Mitte dreißig, die immer tipptopp gekleidet und frisiert war und der man ihre Vorliebe für deftige Hausmannskost überhaupt nicht ansah. Sie war groß und schlank und war schon von einigen Klienten gefragt worden, ob sie nicht auch zum Angebot des Instituts gehörte.

„Ja“, sagte Claudia Tinhoff, „alles in Ordnung.“ Sie stellte die Handtasche auf ihren Schreibtisch. „Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht allzu sehr gefehlt, Frau Garden.“

Das Telefon läutete. „Eheanbahnungsinstitut Garden“, meldete sich Claudia. Sie lauschte kurz, dann sagte sie: „Ja ... ja, Frau Garden ist hier. Einen Augenblick, ich verbinde.“ Sie sah ihre Arbeitgeberin an und legte die Hand auf die Sprechmuschel. „Walpurga Müller für Sie.“

„Walli Müller.“ Marie-Christine Garden rollte die Augen. „Wie klingt sie?“

„Locker und gelöst.“

„Na, dann hat sie vielleicht endlich den Richtigen gefunden, und ich kriege nicht schon wieder von ihr zu hören, welchen Schrott wir in unserer Kartei haben.“

Sieben Kontakte hatte man Walli Müller bereits vermittelt, und sie war jedes Mal ziemlich unzufrieden gewesen, hatte erbost angerufen und sich über die indiskutablen Kandidaten beschwert, die man ihr zugemutet hatte. Beim letzten Mal hatte sie sogar gedroht, ihr Geld zurückzuverlangen und rechtliche Schritte gegen das Institut, das sie inzwischen nicht mehr für seriös hielt einzuleiten, wenn sich das Angebot nicht erheblich verbessern sollte, und nun schien endlich ein Partner nach ihrem Geschmack dabei gewesen zu sein.

Marie-Christine Garden zog sich in ihr Allerheiligstes zurück, die Tür ließ sie offen. Sie hatte keine Geheimnisse vor ihren Mitarbeitern.

Schon gar nicht, wenn sie mit Walli Müller telefonierte. Sie nahm das Gespräch entgegen. „Hallo, Frau Müller, hier ist Marie-Christine Garden.“

„Frau Garden, ich möchte Sie beglückwünschen“, sagte Walpurga Müller überschwänglich.

„War die Verabredung mit Herrn Plauensteiner ein Erfolg?“

„Ein voller Erfolg.“

„Das freut mich.“

„Jo Plauensteiner ist so lieb, so nett, so sympathisch, so gebildet ... Ein wahrer Gentleman ist er. Wo findet man das heute noch? Ein Bild von einem Mann. Ein Musterexemplar. Warum haben Sie uns nicht schon früher zusammengebracht, dann wäre mir der ganze Ärger mit den anderen Kandidaten erspart geblieben und ich hätte mich nicht so oft beschweren müssen.“

„Nun, Frau Müller“, entgegnete Marie-Christine Garden freundlich, „Sie wollten ursprünglich keinen blonden Mann, und Herr Plauensteiner ist blond.“

Walli Müller seufzte selig. „Er ist eine Seele von einem Menschen, so gütig, so sanftmütig, so geduldig, so verständnisvoll ... Ich bin von ihm ganz hin- und hergerissen. Ich werde diesen Mann so bald wie möglich heiraten.“

„Freut mich, dass wir Ihnen helfen konnten“, sagte Marie-Christine Garden. „Bitte empfehlen Sie uns weiter.“

„Das werde ich.“

„Unsere beste Werbung sind zufriedene Klienten.“

„Ich bin zufrieden. Sehr zufrieden. Unbeschreiblich zufrieden. Tausend Dank, Frau Garden. Sie wissen nicht, wie sehr Sie mir geholfen haben.“

„Na, wunderbar“, versicherte Marie-Christine Garden. „Ich hoffe, Sie werden mit Herrn Plauensteiner sehr glücklich.“

„Das bin ich schon“, jubelte Walpurga Müller. „Das bin ich schon.“ Marie-Christine Garden legte auf. „Gott“, seufzte sie, „was bin ich froh, dass bei Walli Müller endlich der Blitz eingeschlagen hat. Ich dachte schon, es würde überhaupt nicht mehr dazu kommen. Dabei haben wir doch so ein großartiges Angebot.“

Claudia Tinhoff lächelte. „Endlich können wir sie abhaken.“ Sie sah ihre Chefin einen Augenblick unscharf, aber das war nach dem nächsten Herzschlag schon wieder vorbei.

5

Ein neuer Klient kam ins Büro. Marie-Christine Garden war nicht da.

Claudia setzte sich mit dem Mann, er hatte gewelltes rotes Haar, eine breite Boxernase und vernarbte Augenbrauenzusammen, sagte ihm, was er von dem „Eheanbahnungsinstitut Garden“ erwarten dürfe und was nicht, dass man sich hier zwar sehr bemühen würde, alle Klienten zufriedenzustellen, aber leider keine Wunder vollbringen könne, und hörte sich dann erst mal seine Lebensgeschichte an, ehe sie ihren Fragebogen holte und diesen Punkt für Punkt durchging.

Nachdem Claudia befunden hatte, dass Herr Lars Kaminski als Klient für das „Eheanbahnungsinstitut Garden“ in Frage kam, erklärte sie sich bereit, ihn in die Kartei aufzunehmen. Sie erläuterte ausführlich die allgemeinen Geschäftsbedingungen, gab ihm ein Merkblatt mit und vereinbarte mit ihm für den nächsten Vormittag einen Termin, zu dem er pünktlich und gut gekleidet erscheinen sollte, und sie ließ ihn außerdem wissen, welche Summe morgen im Voraus zu entrichten sei.

Er hatte alles verstanden und war mit allem einverstanden.

Tags darauf erschien er in seinem besten Anzug, weißes Hemd, dezent gemusterte Krawatte, blankgeputzte Schuhe. Er lernte auch Marie-Christine Garden kennen, küsste ihr galant die Hand und zog sich anschließend mit Claudia (sie hatte heute starke Kopfschmerzen) in jenen kleinen Raum zurück, in dem von allen Klienten Videoaufnahmen gemacht wurden.

Auf dem Merkblatt, das Claudia ihm mitgegeben hatte, stand in etwa, wie er sich vor der Videokamera vorstellen solle, und er hatte sich zu Hause einen entsprechenden Text zurechtgelegt.

Claudia bereitete die Videokamera vor. Diese Kopfschmerzen – schlimm ... Lars Kaminski kämmte sein feuerrotes Haar. Dieses intensive Rot tat ihr in den Augen weh.

Sie legte das Band in die Kamera. In ihrem Kopf pochte und hämmerte es. Kaminski memorierte seinen Text. Er las ihn mehrmals von einem Blatt ab, das er aus der Innentasche seines Jacketts geholt hatte.

Er wollte den allerbesten Eindruck machen und im Film so optimal wie möglich wirken.

„Sind Sie dann soweit, Herr Kaminski?“, fragte Claudia. Es hämmerte und bohrte.

„Ja “, antwortete Lars Kaminski unsicher. „Ich glaube schon.“

„Wir machen jetzt mal die Aufnahme ...“

„Als Laie ist man vor einer laufenden Kamera ziemlich befangen“, sagte Kaminski gepresst.

„Versuchen Sie sie zu vergessen.“

„Wie kann ich das?“, seufzte Lars Kaminski. „Ich muss ja direkt in die Linse sprechen. Ich werde steif und gekünstelt wirken. Vielleicht hält man mich beim Betrachten der Aufzeichnung für arrogant, was ich überhaupt nicht bin. Ich bin kontaktfreudig und weltoffen und gehe auf meine Mitmenschen mit spürbarer Wärme und aufrichtiger Herzlichkeit zu.“

Mein Kopf ... gleich wird er bersten, dachte Claudia. „Wir machen jetzt mal eine Aufnahme und sehen sie uns hinterher gemeinsam an“, schlug sie laut vor. „Sollten Sie damit nicht zufrieden sein, löschen wir sie und fangen noch mal von vorne an, so lange, bis Sie damit einverstanden sind, bis Sie meinen, dass Sie das Optimum erreicht haben.“

Lars Kaminski nickte. Er richtete seine Krawatte, zupfte an den Manschetten, räusperte sich.

„Kann es losgehen?“, fragte Claudia.

Der Klient nickte noch einmal, und Claudia ließ die Videokamera laufen. Kaminski, die erste dachte sie.

„Ist es schon soweit?“, fragte Lars Kaminski mit belegter Stimme. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. „Ja, die Kamera läuft.“

Lars Kaminski riss erschrocken die Augen auf. „Sie läuft?“

„Wenn das rote Lämpchen leuchtet, läuft sie.“

„O mein Gott, und ich rede solchen Quatsch“, stöhnte Kaminski.

„Wir können das später schneiden.“

„Und jetzt fällt mir vor lauter Aufregung der Text nicht ein“, sagte der Mann verzweifelt.

„Ganz ruhig, Herr Kaminski. Es gibt überhaupt keinen Grund für Sie, sich aufzuregen.“

Lars Kaminski holte ein Taschentuch aus seiner Hose und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Schalten Sie ab!“, verlangte er. „Schalten Sie das Ding bitte ab. Ich möchte noch mal. Noch mal von vorn. Lassen Sie das Band zurücklaufen. Wären Sie so freundlich, ja?“

„Kein Problem.“ Claudia schaltete die Kamera ab und ließ das Band zurücklaufen, wie der Klient es wünschte.

Er musterte sie unsicher. „Sie ärgern sich doch nicht etwa über mich?“ Sie zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. „Aber nein. Sie sind nicht der erste, der Schwierigkeiten mit der Kamera hat.“

„Sie sehen irgendwie ärgerlich aus“, sagte Lars Kaminski.

„Ich bin nicht ärgerlich“, ließ Claudia den Klienten wissen. „Ich habe nur sehr starke Kopfschmerzen.“

Er nickte. „Das Wetter. München ist ein ganz schlimmes Föhnloch. Ich habe auch manchmal so heftige Kopfschmerzen, dass ich glaube, mir zerreißt es gleich den Schädel. Heute zum Glück nicht, aber ich kenne das. Hören Sie, wir müssen die Aufnahme heute nicht machen. Ich kann morgen wiederkommen.“

„Kümmern Sie sich nicht um mich.“

„Ich möchte nicht, dass Sie sich meinetwegen so abquälen“, sagte Lars Kaminski mitfühlend.

„Ich stehe das schon durch“, versicherte ihm Claudia und begann mit Kaminski, die zweite!

Viermal musste sie die Aufzeichnung löschen. Erst mit der fünften war er einigermaßen zufrieden. Lieber Himmel, war das eine schwere Geburt, dachte Claudia und atmete erleichtert auf.

Sobald Kaminski sich verabschiedet hatte, ließen die starken Kopfschmerzen nach, und als Claudia am Abend nach Hause ging, fühlte sie sich wieder gut.

Was war das gewesen? Der Föhn? Zuviel Stress? Sie wusste es nicht. Sie hoffte nur, dass sie nie wieder so grässliche Kopfschmerzen haben würde.

Sie ging früh zu Bett, kein Fernsehen, kein Buch. Abschalten, Ruhe, Erholung ...

Während sie im Bett lag und auf den Schlaf wartete, tauchten vor ihrem geistigen Auge Bilder aus glücklicheren Tagen auf. Horst war vor der Ehe anders gewesen. Hatte er sich verstellt, um sie für sich zu gewinnen? Warum war er dann nicht bei ihr geblieben? War es ihm mit der Zeit zu anstrengend geworden, sich zu verstellen?

Claudia erinnerte sich an ihren gemeinsamen Urlaub an der türkischen Riviera. In Marmaris waren sie gewesen. Pamukkale hatten sie gesehen und Efesus, und mit dem Ausflugsschiff waren sie zur Turtle Beach gefahren. Unbeschwerte Tage. Tage und Nächte voller Liebe, Glück und Zärtlichkeit.

Und nun hatte Claudia das Gefühl, das alles würde so weit zurückliegen, als wäre es in einem anderen Leben passiert.

„Ach, Horst“, flüsterte sie in die einsame, dunkle, bedrückende Stille ihres Schlafzimmers. „Warum? Warum? Warum? Ich verstehe das noch immer nicht. Wie konntest du Petra und mich so einfach verlassen? Haben wir dir denn plötzlich gar nichts mehr bedeutet?“ Sie seufzte. „Der Platz an meiner Seite ist noch immer nicht vergeben. Ich habe mich entschlossen, ihn für dich freizuhalten. Komm zu uns zurück. Wo immer du jetzt sein magst – komm zurück. Du gehörst hierher. Wir brauchen dich, und ich bin sicher, wir können dir vergeben.“

6

Der rothaarige Lars Kaminski hatte Glück. Er war nur vier Tage im Angebot, und schon interessierten sich zwei Damen für ihn. Er traf sich mit beiden, und sie waren ihm beide so sympathisch, dass er nicht wusste, für welche er sich entscheiden sollte.

Schließlich gab er Jolanda Berg den Vorzug.

Claudia Tinhoff wollte wissen, warum Frau Berg das Rennen gemacht hatte, und Lars Kaminski fragte: „Können Sie schweigen, Frau Tinhoff?“

„Wie ein Grab“, antwortete Claudia. „Ich bin die Verschwiegenheit in Person. Es ist sehr wichtig in meinem Beruf, dass man jederzeit weiß, was man sagen darf und was man für sich behalten muss. Nur so lässt sich ein Vertrauensverhältnis zu den Klienten aufbauen.“

„Warum Jolanda Berg und nicht Rita Sommer ...“ Lars Kaminski nickte bedächtig. „Sie sind beide annähernd gleich alt, sehen beide nicht übel aus, haben beide ein Häuschen im Grünen, sind beide gebildet, haben beide keinen Anhang ... Da fällt es einem nicht leicht, sich zu entscheiden. Jolanda oder Rita? Rita oder Jolanda? Ich wusste es nicht. Einer von beiden musste ich absagen, aber welcher? Ich musste meine Wahl treffen.“

„Und wie haben Sie’s getan?“, fragte Claudia.

„Sie kochen auch noch beide gleich gut, das habe ich vorhin zu erwähnen vergessen.“

„Haben Sie es umgekehrt gemacht? Haben Sie die Damen entscheiden lassen? Vielleicht unbewusst? Etwa so: Welche von beiden mich zuerst anruft, die nehme ich?“

„Nein.“

„Also wie ...“

Lars Kaminski senkte seine Stimme. „Ich habe Ihr Wort, dass Sie es nicht weitererzählen?“

Claudia Tinhoff nickte. „Das haben Sie.“

„Sie dürfen mich auch nicht auslachen oder entrüstet sein“, stellte Lars Kaminski zur Bedingung.

„Ich werde Sie nicht auslachen, und warum sollte ich entrüstet sein?“

„Weil ich eine Münze geworfen habe“, ließ Kaminski endlich die Katze aus dem Sack. „Kopf oder Zahl. Jolanda oder Rita. Der Zufall hat entschieden.“

Claudia lachte ihn nicht aus, und sie war auch nicht entrüstet. Sie sagte nur schmunzelnd: „Das hatten wir noch nie.“

7

Dr. Kayser hatte in der Seeberg-Klinik eine Besprechung mit seinem Freund, dem Klinikchef. Sven Kayser, Belegarzt der Seeberg-Klinik, erörterte mit Ulrich Seeberg die verschiedenen Therapiemöglichkeiten, die für eine seiner langjährigen Patientinnen in Frage kamen, und sobald die medizinische „Marschrichtung“ festgelegt war, legten sie das Thema ad acta.

Sven Kayser konnte sich darauf verlassen, dass eins zu eins umgesetzt werden würde, was er zusammen mit Ulrich Seeberg festgelegt hatte.

Nun fragte er, wie es Ulis Familie ging, und Dr. Seeberg antwortete: „Die weiß schon bald nicht mehr, wie du aussiehst.“

„Unsinn.“

Dr. Seeberg hob die Augenbrauen und wiegte mit vorwurfsvoller Miene den Kopf. „Du hast dich in letzter Zeit ziemlich rar gemacht, mein Junge.“ Dr. Kayser spielte den Zerknirschten. „Ich streue Asche auf mein Haupt.“

Ulrich Seeberg stach mit dem Zeigefinger in Sven Kaysers Richtung. „Du solltest dich mal wieder bei uns blicken lassen.“

„Das werde ich.“

„Ruth und die Kinder würden sich freuen.“

Sven grinste. „Und du?“

Dr. Seeberg feixte. „Nun ja, ein paar Stunden könnte ich dich ohne schädigende Nebenwirkungen mit Sicherheit ertragen.“

„Dann werfe ich mal einen Blick in meinen Terminkalender und rufe dich an, sobald ich weiß, wann ich Zeit habe“, versprach der Grünwalder Arzt.

Dr. Seeberg nickte. „Tu das, aber lasse dir damit nicht zu lange Zeit, sonst kündigen wir dir die Freundschaft auf.“

Dr. Kayser verabschiedete sich und verließ das Büro des Klinikchefs. Im Vorzimmer saß Ute Morell, die attraktive Chefsekretärin, Anfang vierzig, Arztfrau und Mutter von Zwillingstöchtern, die beide in Amerika verheiratet waren.

Leise und ladylike dirigierte sie von ihrem Schreibtisch aus die Geschicke im Chefarzt Büro, und eines der Gesichter, die sie am liebsten, sah, war das von Dr. Kayser.

„Ihr Kaffee war wieder einmalig“, sagte Sven, „und das Kleid, das Sie heute tragen, macht Sie zehn Jahre jünger.“

Ute Morell lächelte dankbar. Wer hört ein solches Kompliment nicht gern. „Schmeichler“, sagte sie mit ihrer wohlklingenden Stimme.

Dr. Kayser legte die Hand auf sein Herz und beteuerte: „Ehrlich.“

8

Lars Kaminski hatte sich also für Jolanda Berg per Münzwurf entschieden, und Rita Sommer blieb weiter im Angebot des „Eheanbahnungsinstituts Garden“.

Claudia Tinhoff betrachtete Frau Sommer weiterhin als gute Kundin. Eine Klientin mit so vielen Vorzügen, wie Rita Sommer sie aufzuweisen hatte, war nicht schwierig zu vermitteln.

In der Mittagspause ernährte sich Claudia Tinhoff sehr gesund: Sie aß einen Apfel und trank ein Glas Sauermilch. Dann arbeitete sie weiter, schrieb Briefe und Rechnungen, heftete Belege ab und versuchte mit dem Papierwust fertigzuwerden, der sich auf ihrem Schreibtisch türmte.

Das Telefon läutete. Claudia meldete sich. Am anderen Ende war ihre Mutter. „Stören wir dich?“, fragte Barbara Wegenscheid.

„Nein“, versicherte Claudia. Für ein Gespräch mit ihrer Mutter und ihrer Tochter musste immer Zeit sein.

„Petra hat dir etwas ganz Wichtiges zu erzählen“, sagte Frau Wegenscheid.

„So? Was denn?“

„Augenblick, ich gebe sie dir.“

Der Hörer wechselte von der Großmutter zu Petra. „Hallo, Mutti?“, rief die Kleine so laut in die Sprechmuschel, dass Claudia den Hörer ein wenig von ihrem Ohr weghalten musste.

„Ja, mein Schätzchen?“, antwortete Claudia.

„Wie geht es dir?“

„Mir geht es gut. Und wie geht es dir?“

„Auch gut.“

„Das freut mich. Oma sagt, du möchtest mir etwas ganz Wichtiges erzählen?“

„Ja.“

„Lass hören.“

„Ich habe mit Onkel Lothar gespielt.“

„Na, das finde ich aber sehr schön“, sagte Claudia Tinhoff.

„Er hat mich auf seinen Schultern getragen.“

„Hat es dir Spaß gemacht?“

„Ganz großen“, schrie Petra. „Und hochgeworfen und aufgefangen hat er mich auch.“

Das hörte Claudia weniger gern. „Er spielt hoffentlich nicht zu wild mit dir“, sagte sie. „Sag ihm, du bist kein Junge, sondern ein Mädchen.“

„Aber Mutti, das weiß Onkel Lothar doch.“

„Na“, meinte Claudia zweifelnd, „da bin ich mir nicht so ganz sicher. Hast du schon gegessen?“

„Ja. Einen ganzen Teller voll. Alles aufgegessen habe ich. Sonst hätte Oma mich nicht mit dir telefonieren lassen.“

Claudia lachte. „Also unsere Omi, die hat dich doch glatt erpresst. Was hast du denn gegessen?“

„Milchreis.“

„Hat er dir geschmeckt?“

„Nicht so besonders.“

„Du weißt, man muss alles essen.“

„Ja, man darf nicht heikel sein“, sagte Petra. „Nur so wird man groß und stark.“

„Du sagst es, mein Engel.“

„Ich hab’ dich lieb, Mutti.“

„Ich dich auch. Gibst du mir noch mal Omi?“

Der Hörer wechselte von Petra zu Barbara Wegenscheid. „Ja, Claudia?“, sagte die Großmutter der Kleinen.

„Lothar übertreibt es mit dem Spielen hoffentlich nicht“, sagte Claudia Tinhoff.

„Keine Sorge, darauf achte ich schon“, beruhigte Frau Wegenscheid ihre Tochter.

Als Claudia Tinhoff den Hörer auflegte, erschrak sie. Ein Mann stand plötzlich vor ihr. Sie hatte ihn nicht eintreten gehört. Er war groß und kräftig, hatte einen grausamen Mund (das fand Claudia jedenfalls) und starrte sie mit glasigen Augen an.

„Hallo, Schätzchen!“, grüßte er.

Claudia Tinhoff fand, dass der Mann recht brutal wirkte. Einer wie er hätte niemals Aufnahme in die Kartei des „Eheanbahnungsinstituts Garden“ gefunden. Aber er war nicht hier, um sich als Kandidat zu bewerben. Er brauchte keine Frau. Er hatte eine, war verheiratet, und zwar mit Claudias Brötchengeberin – Marie Christine Garden.

Sein Name war Friedbert Garden. So ziemlich alle schlechten Eigenschaften, die ein Mensch haben kann, vereinigten sich in seiner Person.

Er war trunksüchtig, unzuverlässig, aggressiv, hinter jeder Frau her, hatte nie Geld ... Die Liste seiner „negativen Tugenden“ hätte sich beliebig lange fortsetzen lassen.

„Herr Garden“, sagte Claudia heiser.

„Habe ich dich erschreckt, Schätzchen?“, fragte er mit hohntriefender Stimme.

„Ein wenig“, gab Claudia zu. Ihr Herz klopfte etwas schneller.

„Das freut mich“, sagte Friedbert Garden grinsend. „Ich hatte gehofft, dich aus deinem erquickenden Mittagsschlaf wachküssen zu können, aber du hast telefoniert. Sind in dieser Firma eigentlich Privatgespräche erlaubt?“

„Ich nehme an, Sie möchten zu Ihrer Frau“, sagte Claudia Tinhoff spröde, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.

„Erraten. Wie bist du nur so schnell darauf gekommen?“

„Sie ist nicht hier.“

„Das macht nichts. Ich habe Zeit. Ich kann warten.“

Klar hast du Zeit, dachte Claudia. Du gehst ja keiner geregelten Arbeit nach. Alle, die das tun, sind in deinen Augen Idioten, nicht wahr?

„Ich weiß nicht, wann sie wiederkommt“, log Claudia. Sie wusste es sehr wohl und sie wusste auch, dass Marie-Christine Garden keinen Wert darauf legte, ihren Mann zu sehen. Schon gar nicht, wenn er in einer solchen Verfassung war. „Es kann Stunden dauern, bis sie ...“

„Dann leiste ich dir ebenso lange Gesellschaft, Schätzchen“, erklärte Friedbert Garden betont lässig und setzte sich auf die Kante ihres Schreibtisches.

Claudia konnte ihn nicht ausstehen. Er war selbstgefällig, hielt sich für den größten Schürzenjäger aller Zeiten und bildete sich ein, jede Frau müsse vor Freude fast in Ohnmacht fallen, wenn er sich für sie interessierte.

„Vielleicht, vielleicht kommt sie heute überhaupt nicht mehr ins Büro“, sagte sie.

„Umso besser, dann bleiben wir beide ungestört und können uns einen schrecklich netten Nachmittag machen.“ Er beugte sich zu ihr hinunter. „Weißt du, dass du sehr hübsch bist, Schätzchen?“

„Bitte lassen Sie das.“

„Was soll ich lassen, Schätzchen?“

„Ich möchte nicht, dass Sie mich so nennen.“

„Was gefällt dir nicht an Schätzchen, Schätzchen?“

„Wenn Sie eine Nachricht für Ihre Frau hinterlassen möchten ...“

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wunderschöne Augen hast?“

„Das bekomme ich jeden Tag zu hören“, erwiderte Claudia Tinhoff harsch.

„Von wem?“, wollte Friedbert Garden wissen. „Soviel ich weiß, ist dir dein Mann abhandengekommen.“

„Ich wüsste nicht, was Sie das anginge! Und jetzt belästigen Sie mich bitte nicht mehr, ich habe zu tun.“

Er stand auf, trat zurück, gab sich auf einmal friedlich. Er verblüffte Claudia damit. Sie hätte nicht geglaubt, dass es so einfach sein würde, ihn loszuwerden.

„Keine Aufregung“, sagte er beschwichtigend. „Ich bin schon weg. Ich bin ja schon weg, Schätzchen. Bestell meiner tüchtigen Frau einen schönen Gruß von mir. Sag ihr, es täte mir leid, sie nicht angetroffen zu haben.“

Sie wird das bestimmt nicht bedauern, dachte Claudia.

„Sag ihr, dass ich ein andermal wiederkomme“, trug Friedbert Garden ihr auf. Darüber wird sie sich ganz rasend freuen, dachte Claudia Tinhoff. Er ging. Die Tür fiel hinter ihm zu. Der Spuk war vorbei.

9

Hannes Lehmann war nicht nur ein langjähriger Kunde der Firma, die jetzt, nach dem Tod ihres Mannes, Barbara Wegenscheid gehörte, sondern er war außerdem auch ein ganz glühender Verehrer der rundlichen Witwe.

Er rief sie sehr oft an, schickte ihr Blumen und Pralinen und bemühte sich sehr redlich um ihre Gunst.

Er selbst war noch nie verheiratet gewesen. Es hatte sich einfach nicht ergeben. Dreimal hatte er geglaubt, die richtige Frau fürs Leben gefunden zu haben, und dreimal hatte er zu guter Letzt einsehen müssen, dass er sich geirrt hatte.

Die erste Frau hatte ihn mit seinem besten Freund betrogen. Die zweite Frau hatte sich (zum Glück noch vor der Hochzeit) als zänkisch, rechthaberisch, eigensinnig, geizig und kratzbürstig entpuppt, und die dritte Frau war lieber zu ihrem geschiedenen Mann zurückgekehrt, als ihn zu ehelichen.

Danach war er vorsichtig geworden. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Er hatte sich eigentlich schon damit abgefunden gehabt, für immer als Einzelgänger durchs Leben gehen zu müssen, da war Herr Wegenscheid gestorben, und Hannes Lehmann hatte angefangen, auf ein Glück mit der attraktiven Witwe zu hoffen.

Fünfundfünfzig war er letzten Monat geworden, und er war ein adretter, stattlicher, sehr gepflegter Mann mit interessanten grauen Schläfen, einnehmend, umgänglich und unterhaltsam.

Barbara Wegenscheid war mal wieder mit Herrn Lehmann verabredet. Sie freute sich auf den Abend mit ihm, denn die Stunden mit Lehmann waren immer sehr nett und amüsant.

Damit Petra nicht allein war, hatte sich Lothar Schaller angeboten, auf die Kleine aufzupassen.

„Heute Abend kommen eine Menge interessanter Sportsendungen im Fernsehen“, sagte er zu Oma Wegenscheid. „Sie brauchen sich also nicht zu beeilen, können fortbleiben, solange Sie möchten.“

Es traf sich gut, dass Petra heute besonders müde war, denn so konnte Oma sie noch selbst zu Bett bringen.

„Du gehst aus?“, fragte das Kind.

Barbara Wegenscheid strich ihrer Enkelin liebevoll übers blonde Haar. „Ja, Kleines.“

„Mit Herrn Lehmann?“

„Ja, mit Herrn Lehmann.“

„Magst du ihn?“

„Ich finde ihn ganz nett.“

„Hast du ihn schon mal geküsst?“ Barbara Wegenscheid lachte. „Also hör mal ... Nein, ich habe ihn noch nicht geküsst. Warum sollte ich?“

„Weil er dein Freund ist. Er ist doch dein Freund, oder?“

„Ja, könnte man sagen.“

„Und nett findest du ihn auch. Im Fernsehen küssen sie sich immer, wenn ...“

„Ich glaube, du siehst ein bisschen zu viel fern, kleine Dame. Da müssen wir in Zukunft etwas besser aufpassen.“ Barbara Wegenscheid beugte sich zu dem Kind hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf schön, Liebes. Ich schaue noch bei dir rein, wenn ich nach Hause komme. Solltest du irgendetwas benötigen, Onkel Lothar sitzt im Wohnzimmer. Wenn du ihn rufst, ist er sofort bei dir.“

„Ich werde ihn nicht rufen. Ich bin müde. Ich werde sofort schlafen.“

„Du brütest hoffentlich keine Krankheit aus“, sagte die Großmutter besorgt.

„Nein, Omi, ganz sicher nicht.“

„Dann ist es gut“, sagte Barbara Wegenscheid und verließ das Zimmer. Die Tür blieb, wie immer, eine Handbreit offen.

Lothar Schaller hatte es sich bereits vor dem großen Fernsehapparat gemütlich gemacht. Fußball und Wrestling standen auf seinem Programm.

Als draußen ein Wagen vorfuhr, stand Lothar auf, um Hannes Lehmann zu begrüßen. Er wünschte dem Paar einen vergnüglichen Abend und kehrte anschließend vor die Flimmerkiste zurück.

Barbara Wegenscheid und Hannes Lehmann speisten in einem vornehmen Lokal. Das teure Menü bestand aus sechs köstlichen Gängen und war von Lehmann als Auftakt zu einem ganz besonderen Abend gedacht.

Als sie schließlich satt waren und bei der zweiten Flasche Chardonnay angelangt waren, räusperte Hannes Lehmann seine Kehle frei und sagte: „Wie lange kennen wir einander eigentlich schon, Barbara?“

Sie hob die Schultern. „Elf Jahre? Zwölf?“

„Auf jeden Fall schon ziemlich lange, würde ich sagen.“

„Ja“, seufzte Barbara Wegenscheid, „die Zeit vergeht grausam schnell, und je älter man wird, desto mehr rast sie dahin.“

„Mit fünfzig beziehungsweise fünfundfünfzig gehört man noch nicht zum alten Eisen.“

Frau Wegenscheid lächelte. „Sagen Sie das mal einem Zwanzigjährigen.“ Lehmann zog die Mundwinkel nach unten und schüttelte den Kopf. „Mir sind die Zwanzigjährigen ziemlich egal. Man ist so alt, wie man sich fühlt, und ich fühle mich noch jung genug, um ... Barbara ...“

„Ja, Hannes?“

„Barbara ...“

Sie lachte. „Ja?“

„Ich ...“

„Was möchten Sie mir sagen, Hannes?“

„Nun ja ... Also ... Zwölf Jahre kennen wir uns schon. Vielleicht sind es sogar dreizehn. Wir kennen uns und schätzen uns. Wir wissen alles voneinander. Ich achte und respektiere Sie, weiß über Ihr Leben bestens Bescheid, weiß, dass Sie eine ehrbare, anständige, äußerst attraktive Frau sind, dass Sie eine bildschöne Tochter haben und eine ganz süße kleine Enkelin ... So, wie wir zueinanderstehen, Barbara ... Ich meine ... Gott, ich hätte nicht gedacht, dass es mir so schwerfallen würde! Ich bin wohlhabend, rauche nicht, trinke mäßig und eigentlich nur zu besonderen Anlässen ... Wir haben die gleichen Interessen ... Ich bin nicht arm, kann einer Frau sehr viel bieten ...“

Barbara Wegenscheid wurde unruhig, ahnte, worauf er hinauswollte. „Hannes ...“

Er hob die Hand. „Lassen Sie mich bitte ausreden, Barbara. Sie sind allein, ich bin allein ...“

„Ich bin nicht allein“, widersprach sie.

„Nun ja ...“ Er wiegte den Kopf. „Petra ist sehr viel bei Ihnen, aber ... Sie hat Ihnen bestimmt über vieles hinweggeholfen, aber ... Man kann mit einem so kleinen Kind nicht alles teilen. Sicher ist Petra eine echte Bereicherung für Ihr Leben, aber da ist Ihr Herz – es ist einsam. Es ist leer. Möchte es nicht wieder für jemanden schlagen?“

„Es schlägt für Claudia und Petra “, sagte Barbara Wegenscheid und griff nach ihrem Weinglas.

„Und für wen noch?“

„Ich denke, das reicht.“ Barbara Wegenscheid trank rasch einen Schluck.

Hannes Lehmann schüttelte den Kopf. „Nein, Barbara, das ist nicht genug. Es sollte auch wieder für einen Mann schlagen.“

„Ich hatte einen Mann“, sagte sie mit belegter Stimme und stellte das Glas wieder auf den Tisch.

Er nickte. „Ich habe ihn gekannt. Er war ein guter Mann.“

„Ein wunderbarer Mann.“

Hannes Lehmann nickte noch einmal. „Er war sehr gut für Sie, und Sie haben lange um ihn getrauert. Ich mochte Ihren Mann sehr, und ich habe ihn um Sie beneidet. Dieser Glückspilz, dachte ich jedes Mal, wenn ich Sie sah. Warum hat mir das Schicksal keine so großartige Frau beschert? Und nun, heute ... Ihr Mann lebt nicht mehr ...“

Barbara Wegenscheid nickte, kramte in ihrer Handtasche herum und putzte sich die Nase. In ihren Augen glänzten Tränen.

„Es mag abgedroschen und banal klingen, Barbara“, sagte Hannes Lehmann, „aber es ist wahr: Das Leben geht weiter. Sie müssen ohne Ihren geliebten Mann zurechtkommen.“

Sie nickte. „Das versuche ich.“

„Ihr Mann würde nicht wollen, dass Sie ewig um ihn trauern. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er Ihnen ein neues Glück von Herzen gönnen würde.“

Barbara Wegenscheid seufzte schwer. „Ich war einmal sehr glücklich, und ich weiß, dass ich niemals wieder so glücklich werden kann, deshalb ...“

Hannes Lehmann unterbrach sie: „Ich durfte in Ihrem Mann so etwas wie einen Freund sehen. Wir waren einander sehr zugetan. Ich schätzte seine Geradlinigkeit, seine Zuverlässigkeit, seine grundanständige Ehrlichkeit. Ich weiß, dass niemand mit ihm konkurrieren kann. Mir ist klar, dass kein anderer Mann ihn jemals voll ersetzen könnte, aber ich würde es gerne versuchen. Ich habe ernste Absichten, Barbara. Ich bin kein windiger Mitgiftjäger, bin nicht scharf auf Ihre Firma. Ich möchte Sie lediglich glücklich machen, so glücklich, wie’s nur geht, und es wäre für mich die allergrößte Seligkeit, wenn Sie mir das erlaubten.“

Barbara Wegenscheid schwieg.

Hannes Lehmann fasste sich ein Herz und sagte hastig: „Werden Sie meine Frau, Barbara.“

10

Dr. Kayser verbrachte einen gemütlichen Abend in den Kreisen der Familie Seeberg.

Poldi, die Haushälterin, hatte sich mit ihren kulinarischen Kreationen mal wieder selbst übertroffen, der fast siebzehnjährige Kai träumte von einem Job auf einer Tierfarm in Kenia, und die zweiundzwanzigjährige Barbara erzählte, welche Fortschritte sie in den vergangenen Wochen mit ihrem Medizinstudium gemacht hatte.

Da Dr. Ruth Seeberg, Ulis zweite Frau, als Anästhesistin in der Seeberg-Klinik arbeitete, und da Dr. Ulrich Seeberg die Klinik nicht nur leitete, sondern da auch als Chirurg tätig war, ließen sich Klinikklatsch und ärztliche Themen nicht vermeiden.

„Löwen, Zebras, Gnus, Affen, Geparden, Giraffen, Elefanten ...“, bog Kai, sein Tierfimmel war allgemein bekannt, die Unterhaltung wieder in seine Richtung. „Es muss eine schöne Aufgabe sein, all diese Tiere betreuen zu dürfen.“

„Ja, vielleicht“, sagte Barbara, die zurzeit an der Uni ziemlich eifrig herumflirtete. „Aber ...“

„Was, aber?“, sagte Kai ärgerlich. „Ich lasse mir das von dir nicht vermiesen.“

„Habe ich ja gar nicht vor“, verteidigte sich seine Schwester. Ihr neuester Schwarm war ein fast zwei Meter großer Student, der Herzchirurg werden wollte.

„In allem findest du ein Haar in der Suppe“, beschwerte sich Kai.

„Ich wollte doch bloß fragen, muss es ausgerechnet Kenia sein?“

„Warum nicht Kenia?“, fragte Kai. „Was hast du gegen Kenia?“

„Erstens ist es weit weg von hier ...“

„Na und?“, fiel Kai seiner Schwester leidenschaftlich ins Wort. „Mit ’nem Jet bin ich in null Komma nichts zu Hause, wenn ich möchte.“

„Zweitens gibt es in Kenia Malaria und Gelbfieber und eine Vielzahl weiterer gefährlicher Tropenkrankheiten.“

„Man kann sich gegen alles schützen.“ Barbara verdrehte die Augen und stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. „Ich geb’s auf.“

Sven Kayser lächelte. „Lass ihn doch träumen, Babsi“, sagte er. „Kai ist noch nicht weg. Wer weiß, vielleicht hat er in einigen Wochen schon wieder etwas ganz anderes vor.“

„Nein“, sagte Barbara Wegenscheid.

Hannes Lehmann zuckte zusammen, als hätte sie ihn geohrfeigt. „Nein?“

Er sah sie entgeistert an, war verstört und ratlos. Mit einer so glatten, unmissverständlichen Abfuhr hatte er nicht gerechnet. Hatte er die Sache falsch angepackt? Er schämte sich, wäre am liebsten im Erdboden verschwunden.

„Entschuldigen Sie, dass ich es Ihnen so schmucklos sage, Hannes “, tröstete Barbara ihn nun mit sanfter Stimme. „Ich könnte jetzt blumenreich darum herumreden, Ihnen schmeicheln, viele Wenn und Aber anführen, Ausreden erfinden, doch zum Schluss käme trotzdem nur ein klares, unumstößliches Nein heraus. Nein, mein lieber, hochgeschätzter Hannes, ich kann nicht Ihre Frau werden. Ich bin über den Tod meines Mannes noch nicht hinweg. Ich weiß nicht, wie lange ich um ihn trauern werde. Vielleicht bis ans Ende meiner Tage. Ich kann nichts dafür. Es ist nun mal so, und ich habe weder die Kraft noch den Willen, es zu beeinflussen.“

„Das Schicksal meint es nicht gut mit mir“, murmelte Hannes Lehmann niedergeschlagen.

Barbara Wegenscheid legte ihm sanft die Hand auf den Arm. „Seien Sie nicht traurig, Hannes. Und seien Sie mir bitte nicht böse.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin Ihnen nicht böse. Wie könnte ich? Ich schätze und verehre Sie. Und ich liebe Sie. Jawohl, ich liebe Sie.“

„Bitte, Hannes, sprechen Sie nicht davon“, wehrte sie ab.

„Warum nicht?“

„Ich will es nicht hören.“

Seine Miene verdüsterte sich. „Das Schicksal will mich nicht glücklich sehen.“

Sie drückte seinen Arm. „Sie sind ein großartiger Mann, Hannes.“

„Ja“, sagte er gallig, „so großartig, dass keine Frau ihn haben will.“

„Ich würde Sie haben wollen“, sagte Barbara Wegenscheid.

Er breitete die Arme aus. „Sie könnten mich haben.“

„Ihr Antrag ehrt mich“, sagte Barbara Wegenscheid, „und vielleicht, vielleicht komme ich eines Tages darauf zurück. Lassen Sie mir bitte Zeit, Hannes. Können Sie warten?“

„Ich kann warten“, antwortete Hannes Lehmann ernst, „weil es sich lohnt, auf Sie zu warten.“ Er hatte sich den Verlauf dieses Abends ganz anders vorgestellt. Waterloo, dachte er deprimiert. So muss Napoleon sich nach der Schlacht bei Waterloo gefühlt haben.

„Darf ich Sie inzwischen als Freund behalten?“, fragte Barbara Wegenscheid sanft.

„Ich werde Ihr Freund sein, für immer und ewig“, versicherte Hannes Lehmann aufrichtig, und Wehmut füllte sein Herz, weil seine innige Hoffnung und seine großen Pläne wie dünnhäutige Seifenblasen zerplatzt waren.

11

„Gute Nacht, Hannes“, wünschte Barbara Wegenscheid, als er seinen Wagen vor ihrem Haus anhielt. „Gute Nacht, Barbara.“

„Nicht traurig sein, ja?“

„Kein Sorge, ich bin auf solche Niederlagen und Enttäuschungen abonniert. Ich werde mir schon wieder einen Ruck geben und Tritt fassen.“

„Möchten Sie noch mit hineinkommen?“

„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber nein, ich fahre lieber nach Hause. Es ist schon spät.“

Es war erst elf, aber Barbara Wegenscheid widersprach ihm nicht. Es war wahrscheinlich besser, wenn er erst mal daheim seine Wunden leckte.

Sie würde ihn wohl jetzt eine Weile nicht zu Gesicht bekommen, und er würde wahrscheinlich auch eine Zeitlang nichts von sich hören lassen, aber sie hoffte, dass er irgendwann wieder die freundschaftliche Liebe aufbrachte, um sich bei ihr zu melden, sobald er seine Enttäuschung verkraftet hatte.

„Der Abend hat mir trotz allem sehr gut gefallen“, sagte sie, beugte sich zu ihm hinüber und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke, Hannes.“

Sie stieg aus. Er sah ihr traurig nach und fuhr weiter, sobald sie ihr Haus betreten hatte. Lothar Schaller meldete: „Keine besonderen Vorkommnisse.“

Ich wünschte, das könnte ich auch sagen, dachte Barbara Wegenscheid.

„Unser Prinzessen schläft tief und fest“, berichtete Lothar. „Sie hätten getrost länger ausbleiben können. War der Abend schön für Sie?“

„Nun ja ... “, dehnte Barbara Wegenscheid.

Lothar Schaller sah sie überrascht an. „Nun ja?“

„Der Abend war zwar schön, aber ...“ Frau Wegenscheid seufzte. „Hannes hat mir einen Heiratsantrag gemacht.“

Lothar meinte, sich für sie freuen zu können. „Das ist ja ...“

Doch sie schüttelte den Kopf. „Ist es nicht. Ich habe Hannes einen Korb gegeben. Er sagte: ‘Werden Sie meine Frau, Barbara’, und ich sagte nein. Einfach so nein. Das war für ihn eine ziemlich kalte Dusche.“

„Armer Hannes Lehmann.“ Lothar schaltete den Fernsehapparat ab.

Barbara Wegenscheid nickte. „Ja, armer Hannes Lehmann.“ Sie zuckte mit den Schultern. Es war eine hilflose Geste. „Danach war die Stimmung natürlich nicht mehr so besonders toll.“

„Das kann ich verstehen. War es ein endgültiges Nein oder ...“

„Ach, Lothar, wenn ich das bloß selber wüsste!“ Sie seufzte auf.

„Soll ich noch bleiben? Möchten Sie reden?“

Frau Wegenscheid schüttelte den Kopf. „Nein, sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen. Ich habe keine Lust, darüber zu reden. Ich möchte die ganze Sache so schnell wie möglich vergessen.“

Nachdem Lothar Schaller das Haus verlassen hatte, sah Barbara Wegenscheid nach ihrer Enkelin. Es war alles in Ordnung. Barbara stahl sich aus dem Zimmer, die Tür ließ sie offen. Zwanzig Minuten später ging sie zu Bett, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ihre Gedanken kreisten unentwegt um ihren verstorbenen Mann und um Hannes Lehmann, der so gerne dessen Platz eingenommen hätte.

Ich kann es nicht, dachte sie bedauernd. Ich kann nicht Hannes’ Frau werden. Es käme mir so vor, als würde ich meinen geliebten Mann betrügen.

Vielleicht wird sich das eines Tages geben, aber im Augenblick empfinde ich noch so. Tut mir leid, Hannes Lehmann, tut mir ehrlich leid.

Tappende, patschende Schritte! Nackte Füße auf glattem Parkett!

Barbara Wegenscheid richtete sich im Bett auf. Petra kam zu ihr.

„Oma, mir ist so heiß“, klagte die Kleine mit krächzender Stimme. „Ich habe Durst, und mir tun die Arme weh und die Beine und der Rücken.“

„Mein Gott, ich habe geahnt, dass du etwas ausbrütest“, sagte Barbara Wegenscheid betroffen. Sie hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie mit Hannes Lehmann aus gewesen war. Aber wäre Petra nicht krank geworden, wenn sie zu Hause geblieben wäre? „Komm. Komm zu Oma ins Bett.“ Sie hob die Decke, das Kind schlüpfte darunter. Frau Wegenscheid legte die Hand auf Petras Stirn und erschrak. „Liebe Güte, du glühst ja! Das dürfen wir nicht anstehen lassen. Tut dir außer den Ärmchen, den Beinchen und dem Rücken noch etwas weh?“

„Ja.“

„Was?“

„Der Hals.“

Barbara Wegenscheid schluckte. „Dr. Kayser muss kommen. Der Arzt wird dich untersuchen und bestimmt schnell feststellen, was dir fehlt.“

„Durst. Ich habe Durst, Omi.“

„Ich bringe dir eine Tasse Tee “, versprach die Großmutter.

12

„War schön, dich wieder einmal hier zu haben“, sagte Ruth Seeberg, umarmte Sven Kayser und küsste ihn auf die Wangen.

Der Grünwalder Arzt wünschte Barbara eine Fortsetzung ihres Hochs beim Studieren und sagte zu Kai: „Mal sehen, ob du in zwei Jahren noch immer auf einer Tierfarm in Kenia arbeiten möchtest.“

„Warum nicht?“, fragte Kai.

Dr. Kayser lächelte den Halbwüchsigen an. „Ach, weißt du, es könnte dir ein hübsches Mädchen über den Weg laufen und dir den Kopf verdrehen, und ganz plötzlich kannst du dir überhaupt nicht mehr vorstellen, so weit von zu Hause weg einen Job anzunehmen.“

„Das Mädchen kann ja mitkommen“, sagte Kai.

„Und wenn es nicht möchte?“ Barbara lachte. „Tja, ich würde sagen, dann hat mein liebes Brüderchen ein ernsthaftes Problem.“

Sven Kayser wünschte der gesamten Familie eine gute Nacht.

Ulrich Seeberg brachte ihn zur Tür und sagte: „Schön, dass du dir mal wieder für meine Lieben Zeit genommen hast. Babsi und Kai hatten schon fast Entzugserscheinungen.“

Dr. Kayser boxte den Freund leicht gegen die Rippen. „Wir sehen uns morgen in der Klinik.“ Dann ging er.

Er ging.

Als er wenig später in seinen Wagen steigen wollte, läutete sein Handy. Er hatte das Telefon zu Hause so eingestellt, dass alle Anrufe, die das verwaiste Arzthaus erreichten, automatisch zu seinem Mobiltelefon weitergeleitet wurden.

„Dr. Kayser“, meldete sich der Gesprächsteilnehmer knapp.

„Herr Doktor, hier ist Barbara Wegenscheid“, stieß Petras Grußmutter aufgeregt hervor.

„Was gibt’s, Frau Wegenscheid?“, fragte der Allgemeinmediziner.

„Petra. Sie ist so heiß. Sie hat Fieber, und alles tut ihr weh: der Rücken, die Beine, die Arme, der Hals ... Würden Sie sich das Kind bitte ansehen?“

„Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen, Frau Wegenscheid.“

„Ja. Ja. Danke.“

Barbara Wegenscheid empfing ihn mit Panik im Blick. „Ich bin völlig aus dem Häuschen, Herr Doktor, die Kleine fiebert so entsetzlich hoch.“

Dr. Kayser untersuchte das Kind. Infektiöse Mononukleose, war seine erste Diagnose. Pfeiffersches Drüsenfieber. Es handelte sich hierbei um eine akute Infektion mit dem Eppstein Barr Virus oder dem Zytomegalievirus. Im Kleinkindalter verlief die Krankheit zumeist symptomlos. Zumeist, aber nicht immer. Dr. Kayser ertastete die geschwollenen Lymphknoten im Hals und Nackenbereich und die vergrößerte Milz.

„Was fehlt unserem Schatz, Herr Doktor?“, fragte Barbara Wegenscheid ängstlich.

Der Grünwalder Arzt sagte es ihr. Er entnahm seiner Bereitschaftstasche Tabletten, die das Fieber senken und entzündungshemmend und schmerzstillend wirken würden.