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Anno 1807 wird das Kloster Dargun von den Franzosen besetzt. Im Zuge dessen entsteht eine rührende Romanze zwischen dem Soldaten Charles-Xavier de Granier und der Tochter des Fischers Fiete Hohemöller.
Viele Jahre danach gerät Else Wolmer, eine direkte Nachfahrin, in große Gefahr. Ein schrecklicher Fund erschüttert Dargun, als sie selbst noch ein Kind ist. Dem Hausmädchen ihrer Urgroßmutter Leontine wurde das Baby aus dem Leib geschnitten.
Doch die Jünger Astaroths, zu denen auch Elses leiblicher Vater gehört, haben ihr Ziel noch nicht erreicht. Die satanische Bruderschaft hat Else auserwählt, das nächste Opfer zu Ehren des Höllenherzogs zu werden …
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Mit den besten Grüßen an den Klosterladen Dargun und Herrn Hartwig.Dieses Buch ist mein Dank an Sie.
Herzlichst Ihre Uta Pfützner,geborene Stoeck
Man schrieb den 26. Februar im Jahr 1807. Der Frühling hielt Einzug. Else Hohemöller spürte es deutlich, als sie sich kurz nach Sonnenaufgang auf den Weg ins Dorf zum Dienstagsmarkt begab. Sie zog einen wackligen Handkarren hinter sich her, bis obenhin beladen mit mehreren Ballen Leinen, die sie über den Winter gewebt hatte.
Bisweilen musste sie sich ein paar Minuten ausruhen, um ordentlich durchzuschnaufen. Es fuhr sich gar zu schlecht auf dem verschlammten Weg, der am See entlangführte. Manchmal versanken die Räder in dem Schneematsch, ein anderes Mal rutschten sie noch auf einem Eisbuckel weg, sodass sie große Not hatte, das Gefährt in der Spur zu halten. Wie immer, wenn sich der Februar seinem Ende zuneigte, taute der tief gefrorene Boden schnell auf und erschwerte dadurch Menschen wie auch Zugpferden das Gehen.
Else war die Tochter des Fischers Fiete Hohemöller, dessen Baude am nördlichen Ende des Sees stand. Er sah es nicht gern, dass sein einziges Kind zum Markte ging, allein und ohne jedweden Schutz. Doch war der Winter hart und karg. Das Eis kam viel zu zeitig über den See, sodass er sein Tagwerk nicht länger verrichten konnte.
Der Erlös für Elses Leinenstoff, einen Taler, vielleicht sogar zwei, wurde dringend gebraucht. Ein paar neue Netze musste er haben, und die Stellreusen und das Boot und ach so viele andere Dinge im Haus, die erneuert oder doch zumindest ausgebessert werden mussten. Mitunter wuchs dem armen Fiete all das gehörig über den Kopf.
Dann aber sah er seine Frau vor sich, die ihn kurz vor ihrem Tode bat, Else anständig aufzuziehen. Dieses Versprechen an sie wollte er unbedingt halten, wenn es ihm auch mit zunehmendem Alter schwerfiel. Nie wieder würde er zulassen, dass man seinem Kind das Schimpfwort Bettel-Else hinterherrief, wie es vor Kurzem in Neukalen beim Fischverkauf geschah!
Also baute er einen Webstuhl und riet Else dazu, sich mit dessen Handhabung vertraut zu machen. Frisches Garn war schnell besorgt. Allerorten hielten die Leute sich Schafe, sofern sie sich diese leisten konnten und eine Weide besaßen. Nach der Schur wurde die Wolle fein gesponnen und verkauft, an eben jene fleißigen Weberinnen, wie Else eine war. Nicht zuletzt fiel so manchem jungen Pärchen ein, im Frühjahr Hochzeit zu halten. Spätestens dann wurde gutes Hausmacherleinen für die Aussteuer der Braut gebraucht, sei es nun für Bettlaken oder Tischwäsche.
Leider hatten sich die Zeiten merklich verändert. Seit Januar war der Franzmann in Dargun und wie es aussah, hatte er nicht die Absicht, schnellstens wieder zu gehen. Hingegen richtete er sich häuslich ein!
Das ehrwürdige Kloster hielten die Franzosen besetzt mit Generälen, hauptsächlich aber mit Verwundeten. Es war scheußlich, wie sie die eigentlichen Bewohner aus dem Gemäuer prügelten, ohne jedwede Rücksicht auf deren Gepflogenheiten. Stralsund wollten sie einnehmen, die Schweden besiegen, solch eine Narretei! Am schlimmsten aber fand Fiete, dass sie so nah an seinem See einen Friedhof gründeten, auf dem sie ihre Toten bestatteten. Kaum eine halbe Stunde von seiner Baude entfernt ruhten die Gebeine von fremden Soldaten.
Etwas, das Fiete gar nicht gutheißen konnte, denn die Menschen gehörten hier nicht hin. Außerdem mochte er es nicht erleiden, dass seine junge, naive und hübsche Tochter einem der unerwünschten Galane unter die Augen kam.
Und überhaupt! Es war eine hanebüchene Frechheit, was sich die elenden Franzosen erlaubten! Nicht einmal den heiligen Gottesdienst durfte der Herr Pfarrer am Sonntag abhalten. Es konnte doch nicht angehen, dass man den Leuten Gottes Segen verweigerte! Woran glaubten eigentlich diese hundsfottigen Burschen?
An ihre Schießeisen? Daran, dass sie in ihrer Vielzahl unbesiegbar waren und dass es ohnehin keiner wagte, sich ihnen entgegenzustellen? Das schlichte Kiefernkreuz, das man auf den Gräbern der Toten sah, ließ doch zumindest eine christliche Gesinnung erahnen.
Sei es, wie es wolle! Auch an jenem Morgen musste er seine Deern zu Markte schicken, ob es ihm nun gefiel oder nicht. Er hoffte innig, dass er sie wohlbehalten am Abend wieder daheim vorfand und bat sie darum, zügig voranzuschreiten.
„Lauf zu und schwatz mit niemandem auf dem Wege, hörst du?“, ermahnte er sein Kind, bevor er sich zum See hinunter begab, um die Krebsreusen neu aufzustellen. Besonders wohl war ihm dabei nicht. Er hätte es lieber gesehen, wenn das Mädchen zu Haus bliebe, unter seiner Obhut!
Seine Worte klangen Else noch in den Ohren, als sie die kleine Lichtung erreichte. Da, wo die vielen Holzkreuze standen und wo frisch aufgeworfene Erdhügel davon kündeten, dass bald Neue hinzukämen, lief zu ihrer Überraschung ein französischer Soldat zwischen den Gräbern umher.
Was er wohl dort verloren hatte, kaum, dass sich die Morgensonne anschickte, über den Horizont hinauszutreten?
Nun wusste die Fischerstochter nicht allzu viel darüber, was bei der Belagerung Stralsunds vor sich ging und wieso eigentlich dieser Kampf geführt wurde. Es geziemte sich nämlich nicht für eine Frau, solcherlei Fragen zu stellen. Das zumindest hatte ihr der Vater auf den Wunsch hin, Näheres über die Ursachen zu erfahren, in rauen Worten mitgeteilt.
Trotzdem bekam Else zu hören, was die Einwohner von Dargun miteinander besprachen, die Männer wie auch die Frauen. Demnach gab es keinen Grund, den Armisten zu trauen. Man mied sie lieber, ehe sie noch auf dumme Gedanken kamen.
Garstige Gerüchte liefen seeab- und seeaufwärts, dass der Franzmann junge Mädchen und Frauen von der Straße wegfing, kleine Kinder gar! Else glaubte nicht daran, dass sich jemand, Soldat hin oder her, erdreisten würde, einer Mutter helllichten Tages das Kind zu stehlen. Oll Trinche zum Beispiel, die ließe sich so etwas bestimmt nicht bieten!
Den eichenen Wäschestock bekäm er aufs Maul, dass es nur so qualmte! Oll Trinches eigene Gören, elf an der Zahl, konnten von ihren Erziehungsmaßnahmen ein nettes Liedchen singen. Wenn die nicht sprangen, wie ihre Mutter pfiff, verteilte sie rundherum deftige Maulschellen. Und das so lange, bis die Kinder es begriffen hatten!
Darüber hinaus lernte der angetrunkene Müllerssohn vor ein paar Tagen, dass es an Wahnwitz grenzte, oll Trinches ältester Tochter nachzusteigen. Sowie er es wagte, das Mädel vor der Tür wegen eines Kusses zu bedrängen, rannte die beherzte Waschfrau zur Pforte und ließ ihren hölzernen Knüttel mit Genuss auf dem Rücken des verdutzten Burschen tanzen.
So trieb sie ihn vehement schimpfend aus der Gasse, unterbrochen von seinem Schmerzgeschrei und begleitet vom zustimmenden Gelächter der Anwohner, die neugierig aus ihren Fenstern gafften und ihr Beifall zollten, ziemlich unverhohlen sogar. Keinem wäre es eingefallen, den aufdringlichen Hallodri zu verteidigen oder gar oll Trinche während des Vollzuges in die Quere zu kommen!
„Du Urian, mok di wech von min Deern! Dat vertell ick din Vadding! Kömm ja nich wedder her!“, brüllte oll Trinche ihm wütend nach. Anschließend kam sie siegesgewiss zurück, nickte ihren Nachbarn noch einmal zu und verschwand dann in ihrer Behausung. Sie wusste, sie hatte nichts zu befürchten.
Galt es doch in höchstem Maße als unverfroren und dreist, was der Müllersjunge tat. Oll Trinche war mit ihren Kindern seit vier Jahren auf sich alleine gestellt, nachdem ihr Mann bei einem Unglück im Wald ums Leben kam. Also gönnte man ihr von Herzen ihren Triumph und dem unverschämten Burschen jene Tracht Prügel, die er sich wahrlich verdient hatte.
Im Moment wünschte sich Else, in oll Trinches Nähe zu sein. Noch hatte der Franzose sie nicht entdeckt. Der Sicherheit halber hob sie einen knorrigen Stuken vom Wegrand auf, grade lang genug, um sich notfalls seines Angriffes erwehren zu können.
Ein eiskalter Schauer der Angst jagte Else über den Rücken. Die einzig mögliche Alternative wäre, wenn sie ihr Heil in der Flucht suchte. Bloß müsste sie den Karren mit dem kostbaren Leinen zurücklassen, und das kam nicht infrage! Gute fünfhundert Meter voraus lag die Schmiede von Onkel Peiting. Else hörte, wie die schwarzen Zossen wieherten. Vielleicht spannte er sie gerade vor seinen Wagen, um Feuerholz aus dem Wald zu holen.
Falls sie Peitings Gehöft erreichen konnte, war sie in Sicherheit. Keiner, der noch halbwegs bei gesundem Menschenverstand war, würde es sich erlauben, Onkel Peiting frech zu kommen. Dessen kräftige Faust hatte für gewöhnlich eine nachhaltige Wirkung.
Während sie noch darüber nachdachte, wie schnell sie rennen musste, achtete sie nicht darauf, dass der Weg sich an dieser Stelle absenkte. Im selben Moment vertrat sie sich böse den Fuß und glitt aus. Sie versuchte krampfhaft, das Gleichgewicht zu halten, doch es gelang ihr nicht mehr.
Unglücklicherweise schlug sie im Fallen hart mit dem Rückgrat auf einen Stein, der unter dem verharschten Schnee lag, und zwar so arg, dass ihr für ein paar Sekunden die Luft wegblieb. Irgendwas knackte hinter oder unter ihr. Else konnte das dumpfe Geräusch deutlich hören und fragte sich, was genau es war.
Ein trockener Ast vielleicht, oder sogar Schlimmeres? Indessen kam sie nicht dazu, den Gedanken weiterzuführen. Stechender Schmerz durchfuhr Elses Rücken bis hinauf in den Kopf. Sie kreischte so laut, dass sich ein erschrockener Eichelhäher schimpfend aus seiner Kiefer erhob und das Weite suchte.
Zudem wurde ihr speiübel. Sie glaubte, sich gleich erbrechen zu müssen. Grelle, gleißende Funken tanzten vor ihren Augen, wie die Glühwürmchen im Sommer nachts auf der Wiese. Dazwischen bewegte sich ein Gesicht, das sich besorgt und fragend über sie beugte. Jemand berührte sie sanft an der Schulter.
„Mademoiselle? Es-tu blessé? Hallo? Mademoiselle!“
So eine tiefe und angenehme Stimme, dachte sie, ach könnte ich ihn doch nur genauer ansehen!
Danach versank die Welt um sie herum in schwarzer Stille. Sie spürte nicht, dass starke Arme sie vom Weg aufhoben und auch nicht, dass sie behutsam auf ihren Wagen gelegt wurde.
Nur ein einziges Mal löste die Ohnmacht ihren eisernen Griff um Else. Sie glaubte für einen Moment, das laute Rumpeln der Wagenräder über hölzerne Bohlen zu hören, und gleich darauf ihren aufgeregt schreienden Vater: „Dübel noch eens! Wat hett de Schietbüddel mit min Deern mokt?“
Wie es begann
Wenn es irgendetwas gab, das Leontine Straakmann gar nicht mochte, dann war es unhöfliche Arroganz. Sie selbst hätte sich dergleichen vielleicht sogar leisten können, wollte es aber nicht.
Leontine entstammte aus einem weniger berühmten Abzweig des belgischen Adelsgeschlechts de Granier. Ihr gehörten zwei überaus ertragreiche Weingüter im Süden der Wallonie. Zuzüglich dessen nannte sie die Aktienmehrheit an den Unternehmen ihres verstorbenen Ehemanns und nicht zuletzt ein beträchtliches Depot mit gut gestreuten Wertanlagen ihr Eigen.
Allein Leontines kompletter Name benötigte auf fast jedem amtlichen Formblatt einen Zusatzbogen, weil er niemals in die dafür vorgesehene Spalte passte. Er lautete Leontine Agath Philomena Elisa Margarete Amalie Griselda Minorissa Geneuvieve Baronesse de Granier-Straakmann. Und sie bestand mit neckischer Akkuratesse darauf, dass ihr Name vollständig eingetragen wurde.
Zugegeben, eine kleine Bosheit, die sie sich dennoch gönnte, schon um dem Amtsschimmel eins auszuwischen. Es wäre ihr jedoch niemals in den Sinn gekommen, sich so hochmütig aufzuführen, wie es Reinhard Wolmer gerade tat.
Natürlich wollte er Geld, wie so oft zuvor. Geld, das Leontine zwar besaß und für die kleine Else gern ausgab, aber diesem unverfrorenen Kretin die Vollmacht darüber zu erteilen, widerstrebte der betagten Dame zutiefst. Äußerlich sehr gelassen ließ sie ihn seine Argumentationen beenden, lächelte dann und verwies darauf, dass es sich hierbei um ihr Familienvermögen handle.
Dieses würde, wenn Leontine starb, in vollem Umfang Else zugesprochen. Sollte das Kind zu jenem Zeitpunkt noch nicht volljährig sein, durfte Reinhard als ihr leiblicher Vater und gesetzlicher Vormund das Vermögen verwalten, unter der Bedingung, dass es zu Elses ausschließlichem Vorteil geschah.
Leontines Notar arbeitete hierbei mit ihrer Hausbank zusammen. Dies bedeutete für Reinhard im Umkehrschluss, dass er selbst dann keinen freien Zugriff auf die Konten hatte. Jede Umverteilung oder Abhebung musste sowohl vom Notar als auch von ihrer Bank befürwortet werden. Und Leontine hatte im Vorfeld genau festgelegt, wofür das Geld ausgegeben werden durfte. Der riskante Handel mit Aktien, wie Reinhard ihn betrieb, gehörte definitiv nicht dazu, was sie ihm in aller Form und bereits mehrfach erläuterte.
„Ich möchte nicht unfreundlich sein, aber ich habe in zwei Stunden einen Termin beim Frisör. Vorher will ich noch eine alte Freundin im Seniorenstift besuchen und mit ihr ein wenig spazieren gehen. Daher darf ich dich jetzt bitten, mein Haus zu verlassen“, beendete sie das unschöne Gespräch und öffnete mit bezeichnender Geste die Haustür.
Wütend und ohne einen Abschiedsgruß stampfte der Mann an ihr vorüber und hinaus. Er hatte nicht ein einziges Mal nach dem Befinden der kleinen Else gefragt, seiner Tochter. Es war ihm schlicht egal, wie sie in der Schule zurechtkam, womit sie sich während ihrer Freizeit beschäftigte und ob sie sich glücklich oder unglücklich fühlte.
Nur gut, dass das Mädchen gerade hinter dem Haus im Garten schaukelte und somit den Besuch ihres Vaters auch gar nicht bemerken konnte. Mehr als einmal dachte Leontine schon daran, dieses merkwürdige Konstrukt zu beenden und die Verantwortung für Else abzutreten. Aber wie sollte sie das anstellen, ohne das Mädchen Reinhards Einfluss auszusetzen, den sie abgrundtief verabscheute? Ihr Sohn, Elses Großvater, war selbst Witwer und arbeitete oft bis in die Nacht hinein. Er brächte nicht ausreichend Zeit für die Kleine auf.
Noch war sie rüstig und geistig auf der Höhe – trotz ihrer zweiundachtzig Lebensjahre, trotz der Tatsache, dass sie die Leukämie und den daraus folgenden Tod ihres geliebten Ehemannes mit angemessener Würde überstehen musste. Nach Reinhards Auftritt spürte die alte Dame einmal mehr, wie hoffnungslos ungeeignet er war, sein Kind allein aufzuziehen, zumal er keinerlei Interesse an den Tag legte. Beatrice tat sicher recht daran, das Kleine bei ihrer Großmutter zu lassen, bevor sie ...
Ja, bevor sie für immer verschwand!
Mit müden Augen sah Leontine auf Beatrices Bild auf dem Kaminsims. Wohin mochte ihre Enkelin gegangen sein? Was war so schlimm, dass sich eine liebende Mutter dazu entschied, ein acht Monate altes Baby zurückzulassen? Sie erinnerte sich noch genau daran, was Beatrice zu ihr sagte.
„Ich brauche deine Hilfe. Nimm Else zu dir, ich flehe dich an. Ich muss gehen, aber ich komme wieder.“
Wie verzweifelt sie aussah, und wie traurig. Nein, so etwas tat Beatrice nicht ohne Grund. Allerdings hatte Leontine auch keine weiteren Fragen gestellt, nur mit dem Kopf genickt und das kleine Bündel in den Arm genommen. Zehn Jahre gingen seither ins Land, ohne einen Anruf, ohne einen Brief oder sonstiges Lebenszeichen von ihr. Inzwischen wagte es Leontine nicht mehr, zu hoffen, dass Beatrice je zurückkam.
Und lütt Elseken, wie sie das Kind gerne nannte, war ein Sonnenschein für ihr Leben, den sie nicht missen wollte. Erst durch Else wurde die Villa am Stadtrand von Teterow wieder schön. Das fröhliche Lachen, die Unbeschwertheit und die ganz alltäglichen Aufgaben gaben Leontine die Kraft, noch einmal von vorne anzufangen, nachdem Erwin verstarb.
„Ach mein Liebster“, seufzte sie leise, als ihr Blick zu dem Bild ihres Mannes glitt. „Du fehlst mir gerade so sehr. Konntest du nicht abwarten, bis Else das Abitur bestanden und ein Studium abgeschlossen hat? Es ist ja nicht so, dass ich dir den Frieden nicht gönne, aber ich bräuchte jetzt wirklich deine Unterstützung.
In deiner Anwesenheit hätte sich Reinhart niemals erlaubt, unangemeldet herzukommen und Forderungen an mich zu stellen. Was bildet der sich überhaupt ein? Er benimmt sich wie die Axt im Walde und behauptet dann noch, er hätte jedes Recht dazu!“
Tief in ihrem Inneren glaubte Leontine, die liebevolle Stimme Erwins zu hören, der ihr Zuspruch gab. Oder war es nur ein Hirngespinst, hervorgerufen durch den dringenden Wunsch, mit ihm zu reden?
Gleich darauf klang etwas an ihr Ohr, das nicht ihrer Einbildung entsprang. Else hüpfte durch die Tür, laut singend. Des Spiels im Garten überdrüssig, hoffte sie nun auf neue Kurzweil. Zumindest hatte sie Hunger, denn sie fragte kichernd: „Omili? Mein Bauch murrt wie toll. Darf ich ein paar Kekse essen? Ja? Bitte!“
„Wenn die ganze Welt aus Keksen bestünde, würdest du sie wahrscheinlich trotzdem vernaschen“, antwortete Leontine fröhlich. „Geh nur voraus in die Küche und stell zwei Teller auf den Tisch. Ich komme gleich nach, versprochen.“
Dieses Kind! Das musste ein spätes Erbe von Erwin sein, denn auch er aß für sein Leben gern Gebäck, am liebsten Sternplätzchen mit einem Klecks Marmelade in der Mitte. Diese Leidenschaft übertrug sich auf den gemeinsamen Sohn und nun auf die Urenkelin. Dabei fiel ihr ein, sie musste Hubert unbedingt anrufen und ihm von Reinhards Anfrage berichten.
Bestimmt war er in seinem Notariat. Rechtschaffene und ehrsame Männer wie er befanden sich vierzehn Uhr nachmittags bei der Arbeit. Was Hubert von der fixen Idee hielt, fünfzig Prozent des Anlagendepots direkt auf den ehemaligen Schwiegersohn zu überschreiben, wusste sie ohnehin schon.
Nämlich gar nichts, zumal die Scheidung von Reinhard und Beatrice seit 2008 als rechtskräftig galt. Der Kerl besaß also keinerlei Ansprüche auf das Vermögen der Familie Straakmann. Ihm oblag lediglich die Fürsorgepflicht, welche er weder im Hinblick auf Alimente noch auf den ganz normalen Kontakt mit dem Kind wahrnahm.
Und wie man heute wieder deutlich sah, wollte er es gar nicht haben. Er war nur auf das Geld aus. Hubert verzichtete seinerzeit auf das Erbe zugunsten der kleinen Else und, sofern sie jemals wieder aufzutauchen sollte, zugunsten Beatrices, seiner Tochter. Das hielt ihn aber nicht davon ab, dieses Vermögen innerhalb seines Amtes als Notar ordnungsgemäß zu verwalten.
Leontine war damit sehr zufrieden und überaus dankbar dafür, dass sich ihr Sohn allein darum kümmerte. Auf diese Art hatte sie mehr Zeit für lütt Elseken und ihre Bedürfnisse. Momentan stand dem Mädchen der Sinn nach süßen Sternplätzchen, denn sie rief aus der Küche: „Omili! Jetzt komm doch endlich her! Ich bin schon lange mit dem Tischdecken fertig und warte!“
Omili ... Wie sehr Leontine diesen Spitznamen liebte! Sie schüttelte die trüben Gedanken ab und setzte ein lustiges Gesicht auf. Was konnte Else denn schon dafür, quasi ein ausgesetztes Kind zu sein, ohne Mutter und mit einem abgebrühten Egoisten als Vater? Wer auch immer daran Schuld hatte, das Kind war es jedenfalls nicht!
„Na, deine Omili ist ja kein D-Zug“, meinte Leontine und musste laut lachen, als sie ihre Küche betrat. Das Mädchen hatte sich kurzerhand die größten Teller aus dem Geschirrschrank gesucht. Ein spaßiger Anblick, bedachte man, dass es hier nicht um ein feudales Geschäftsdinner ging. Auf jedem dieser Teller lagen fünf Plätzchen, wie eine Blume zusammengelegt.
Daneben prangten die hübschen dunkelroten Leinenservietten, die noch aus Leontines Aussteuer stammten. Für eine Zehnjährige besaß Else erstaunlich viel Stilempfinden, und darüber hinaus ein fast untrügliches Gespür, wie sie Omili um den Finger wickeln konnte. Leontines Herz hing sehr an den vielen Kleinigkeiten, die sie ihr Eigen nannte. Sei es der opulente Küchentisch in dunkel gebeiztem Holz mit gedrechselten Beinen, sei es die Tischdecke, zart roséfarben, oder eben jene Servietten, die so gut dazu passten.