Der Garten von Madame Scimand - Uta Pfützner - E-Book

Der Garten von Madame Scimand E-Book

Uta Pfützner

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Beschreibung

„Unsere schöne Insel Algot beherbergt seit jeher vier große Markstädte: Lufond, Duyten, Ratos und Begera. In deren Mitte liegt Reylo, die Königsstadt.“

Mit diesen Worten beginnt der Erzähler stets seine Geschichte, die von einem Feuerberg und Drachen handelt. Die Kinder aus dem Elender-Quert, die ihn umringen, hören aufmerksam zu. Darunter befinden sich auch Andras Söhne Rodu, Cort, Heif und Bans. Bis zu jenem furchtbaren Tag, als ihr jüngster Bruder Kelo geboren wird und sich alles ändert ...

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Uta Pfützner

Der Garten von Madame Scimand

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Prolog

Es gab eine Zeit, in der mystische Wesen mitten unter uns lebten. Nicht alle waren guten Sinnes, und ihre Geheimnisse blieben zumeist unentdeckt. Oft rankten sich Sagen und Legenden um die Fähigkeiten der Hexen und Heiler, der Kräuterweiber, der Feen oder der großen Drachen. Man fürchtete sie für ihre Gaben, und vor allem für die Magie, die sie umgab. Besonders die geflügelten Geschöpfe versetzten das Volk in Angst und Schrecken. So geschah es auch auf Algot, einem kleinen, fruchtbaren Eiland, das einstmals vor der Westküste Europas gelegen haben soll ...

 

Der Erzähler

„Unsere schöne Insel Algot beherbergt seit jeher vier große Markstädte: Lufond, Duyten, Ratos und Begera. In deren Mitte liegt Reylo, die Königsstadt. Es gibt dort einen hohen Turm, der von den klugen Gelehrten des Landes bewohnt wird, wie ihr ja sicher wisst. Als man diese Stadt rings um den Turm herum baute, erhielt sie ihren Namen nach dem damaligen König, der Algot regierte.

Lange Zeit konnte sich sein Volk frei auf der Insel bewegen. Die Menschen lebten in Frieden und Eintracht miteinander, reisten oft zwischen den Markstädten hin und her, tauschten untereinander Waren aus und ernährten sich rechtschaffen von ihrer Hände Arbeit. Doch es kam der Tag, an dem diese Unbeschwertheit ein jähes Ende fand.

Man schrieb den zehnten Monat im Jahr des Blutmondes, als sich am westlichen Rand der Insel ein riesiger Feuerberg aus dem Meer erhob. Er überzog einen großen Teil des Landes mit Strömen aus Lava und Asche, sodass sich die dort lebenden Bauern nicht mehr in der Lage sahen, ihrem Tagwerk nachzugehen.

Viele Menschen flüchteten deswegen in den Osten, wo die Markstädte lagen, und baten bei den Stadtmeistern um Asyl. Böse Gerüchte wanderten von Mund zu Mund, nach denen sich ein schrecklicher Drache in der Nähe des Feuerberges niedergelassen hatte.

Als die Nachrichten auch den jungen König erreichten, ließ er einen massiven Wall aus Erde und Steinen in der Mitte der Insel errichten. Doch das grässliche Untier hatte Flügel und überwand die Barriere. Demnach baute man zusätzlich große Mauern mit Wachtürmen um die Städte, von denen aus die Soldaten nach dem Feind Ausschau hielten.

Trotz aller Mühen verschwanden immer wieder Menschen aus seinem Volk spurlos. Das geschah meist dann, wenn sie sich auf Reisen begaben. Reylo fürchtete zu Recht, dass der Drache mit der Zeit alle Untertanen töten könnte. Er erließ deshalb neue Gesetze, die dazu dienten, die Einwohner der Insel zu schützen.

Fortan erhielt jeder Bürger ein Brandmal auf den rechten Arm, sobald er das Alter von siebzehn Jahren erreicht hatte. Die sogenannte Naht bestand aus dem Anfangsbuchstaben der Stadt, in der er lebte.

Darüber hinaus wurde ihm als Wahlfähigen erlaubt, einmalig seine Heimatstadt zu verlassen und eine der anderen Markstädte aufzusuchen, wo er sich einmieten konnte. Dort aber musste er, nachdem ihm der Bader die zweite Naht verabreicht hatte, auch endgültig bleiben.

Auf den breiten Handelswegen zwischen den Städten hatten sich ausschließlich die Kaufleute mit ihren Karawanen und die berittenen Soldaten des Königs aufzuhalten. Dies wurde nur bei Tageslicht gestattet, weil es während der Nacht aufgrund des Drachens zu gefährlich war.

Ein Wahlfähiger durfte sich, sofern er in eine andere Stadt wollte, den fahrenden Händlern anschließen, da deren Tross stets von mehreren Wachsoldaten begleitet wurde. Auf dem gleichen Weg wurde es sogar Bauern und Holzfällern wieder erlaubt, sich zwischen Wall und Stadtmauer zu begeben, um die einzig verbliebenen Felder und Wälder zu bestellen und Einnahmen zu erzielen.

Die jeweiligen Stadtmeister ließen in höchster Eile am äußersten Stadtring Notsiedlungen errichten, deren Häuschen meist nur aus einfachen Brettern bestanden. Sie hatten alle Hände voll zu tun, den vielen Flüchtenden gerecht zu werden, die sich in langgezogenen Strömen vor den Mauern der Markstädte einfanden. Oftmals befanden sich Kinder unter ihnen, die auf dem Weg ihre Eltern verloren hatten. Auf sie wartete das städtische Waisenhaus oder, als das nicht mehr genügte, eine Unterkunft in einem der Krähennester.

Zwar befahl König Reylo, dass die Kinder vorerst den nächsten Verwandten anheimgegeben werden sollten, um die gebeutelten Kassen zu schonen, doch nicht immer fanden sich solche. Und nicht immer waren diese Angehörigen glücklich darüber, neben dem eigenen Nachwuchs noch eine zusätzliche Schar Kinder verköstigen und betreuen zu müssen. Es hatten doch alle Familien wahrlich genug damit zu tun, sich selbst durchzubringen.

Also bot er den Betroffenen einen erheblichen Nachlass bei den alljährlichen Abgaben und ein angemessenes Zubrot aus seiner eigenen Kämmerei an. Damit gedachte er, die Stadtmeister ein wenig entlasten zu können und darüber hinaus den bedauernswerten Kleinen ein Leben im Waisenhaus zu ersparen. Mit Hilfe seiner Herolde ließ er sowohl die Depeschen als auch die entsprechenden Summen in den Städten verteilen.

Mehr schlecht als recht gestaltete sich demnach das tägliche Leben auf der einst wunderschönen Insel Algot. Jedoch die Zeit schritt voran, und mit jeder neuen Generation gewöhnte man sich ein wenig mehr an die strengen Bestimmungen. Abseits aller menschlicher Augen vermehrten sich die Drachen über Jahrhunderte hinweg. Ihre Blutgier wurde zum festen Bestandteil des Daseins.

Während des Tages sah man sie fast nie, aber in der Nacht hörten die postierten Wachen häufig ihren Flügelschlag und ihre fürchterlichen Schreie. Da die Bürger jedoch mit dem Einbruch der Dunkelheit ihre Häuser nicht mehr verlassen durften, waren auch innerhalb der Markstädte immer weniger Todesopfer zu beklagen. Nur die dazwischen gelegenen Handelsstraßen blieben nach wie vor höchst unsicher.

Inzwischen stellte sich heraus, dass es die Drachen wohl hauptsächlich auf jüngere Männer abgesehen hatten. Als das bekannt wurde, wies der König an, dass die Kaufmänner keine Mitreisenden mehr aufnahmen, die gerade erst wahlfähig waren. Die vormals so beliebten Wanderbriefe wurden nur noch spärlich oder, wie hier in Lufond, gleich gar nicht mehr ausgestellt.

Außerdem ließ Reylo darauf achten, dass die Händler selbst wie auch die Männer der begleitenden Truppen mindestens fünfunddreißig Jahre zählten. Er wollte unter gar keinen Umständen dafür verantwortlich sein, dass die Mütter ihre Söhne verloren, kaum dass ihnen ein Bartflaum gewachsen war. In vielen Briefen, die der König aus den Markstädten erhielt, standen wiederholt dringende Bitten und Beschwerden seiner Landsleute. Man flehte Reylo an, wenigstens die Bauersfrauen auszusparen und ihnen damit die Möglichkeit zu geben, die eigentliche Arbeit ihrer Männer draußen auf den Feldern zu verrichten. Gleiches galt für die wahlfähigen jungen Mädchen, die häufig eine Stelle als Hausmagd oder Zofe in einer anderen Stadt antraten. Sie hätte man sicher reisen lassen können, oder nicht?

Indes erteilte man im herrschaftlichen Schloss jedem dieser Anliegen eine Abfuhr. So geschah es, dass über viele Jahre hinweg kein Einwohner Algots mehr den Tod fand. Bis zu Reylos Ableben und darüber hinaus rühmte man ihn als den Herrscher, der die Insel wieder zu einem sicheren Hort des Daseins machte.

Mit der Zeit wurden die Drachen zum Mythos. In der Ödnis, die der Feuerberg nach seinem infernalischen Ausbruch hinterließ, begannen wieder Bäume und Büsche zu wachsen. Dichter Wald stand jetzt dort, wo vormals die verbrannte Erde ihr schwarzes Gesicht zum Himmel reckte. Die Älteren erzählten sich wohl hinter vorgehaltener Hand noch schaurige Geschichten über die grausamen Kreaturen, doch selbst von ihnen hatte keiner jemals einen leibhaftigen Drachen zu Gesicht bekommen.

Wie ein Gerücht, das von niemandem mehr weitergetragen wurde, schienen sie für immer von Algot verschwunden zu sein. Aber waren sie das tatsächlich? Oder schliefen sie nur, zusammen mit dem Vulkan, der sich nun schon so lange in tiefes Schweigen hüllte?

Vor etwa vierzig Jahren behauptete ein Wachmann in Duyten, er hätte direkt über der Stadtmauer einen besonders großen Drachen erblickt und ihn mit einem gezielten Schuss aus seiner Armbrust verletzt. Man fand Blutspuren neben und hinter der Mauer, dunkelblau wie Schreibertinte. Doch traute sich niemand, nach dem verwundeten Geschöpf zu suchen. Viel zu groß war die Angst, es könnte noch am Leben sein und jemanden fressen.

Seit damals hat sich kein Drache mehr in unseren Städten blickenlassen. Nicht einmal in der Nähe des Walls waren sie zu finden. Trotzdem blieben die Gesetze von König Reylo bis heute bestehen und die Menschen tun gut daran, sie einzuhalten. Das gilt besonders für euch, Kinder!

Denkt immer daran, dass es die Drachen gibt und dass sie unvermindert auf Rache sinnen. Ihr mögt sie vielleicht nicht sehen noch hören. Das heißt noch lange nicht, dass ihr euch darauf verlassen könnt. Glaubt mir ruhig, diese Wesen sind mächtiger denn je, und sie leben sehr lange!“

Der Erzähler nahm einen guten Schluck aus seiner Wasserflasche und wollte soeben fortfahren, doch wurde er durch eine Frage unterbrochen.

„Aber du trägst ja alle vier Nähte, und dazu sogar die große Krone für die Königsstadt Reylo!“, rief ein keckes Mädchen dazwischen.

Die Kleine war wirklich clever und hatte offensichtlich gut aufgepasst, als er trank und sich der Saum des Ärmels verschob.

„Ja, das ist richtig, ich habe alle Nähte von Algot. Werin, der jetzige König, erlaubte es mir, weil ich nun mal der Erzähler bin. Deshalb darf ich auch in jede Markstadt fahren, so wie die Kaufmänner, die königlichen Boten und die Soldaten“, antwortete er dem Kind.

Dessen Neugier war noch nicht gestillt. „Mein Vater hat mir gesagt, es gab früher noch eine fünfte Markstadt im Westen, die Tolkane hieß. Weißt du vielleicht etwas darüber?“, fragte es weiter.

„Nein, mein Kind, denn diese Stadt ist dem Feuerberg zum Opfer gefallen, als er das erste Mal ausbrach. Viele Einwohner kamen dabei ums Leben, und andere mussten flüchten. Jetzt liegt Tolkane tief vergraben unter Steinen und Asche. Deshalb, so denke ich, wird die Stadt diesertage nicht mehr in den Karten verzeichnet. Sie war auch nicht sehr groß. Die Gelehrten sind sich bis heute uneins, ob Tolkane überhaupt als Markstadt zu werten sei. Im Grunde lebten dort nur die Holzhändler und ein paar Ackerbauern.“

Es war dem Erzähler sichtlich unangenehm, den vorwitzigen Einwurf der Kleinen zu beantworten. Daher erschien es ihm klüger, ihr keine genaue Auskunft über die sogenannte Drachenstadt zu erteilen. Nicht wenige Leute glaubten daran, dass sich die mordlüsternen Kreaturen nämlich genau da niederließen, nachdem sie die Einwohner von Tolkane aus ihrer Stadt vertrieben oder getötet hatten. Auch der Erzähler selbst teilte die Meinung, dass es in den zerstörten Häusern Tolkanes nicht mit rechten Dingen zuging.

„Sieht es eigentlich in den anderen Städten genauso aus wie hier?“, wollte das Mädchen noch wissen.

„Nun, ein paar Dinge gibt es, worin sie sich unterscheiden. Ratos ist als Hafenstadt viel größer als Lufond. Die großen Handelsschiffe fahren von da aus zum Festland und wieder zurück. Von Duyten weiß ich, dass sich die gut Betuchten ihre Häuser inmitten wunderschöner Gärten gebaut haben. Nie in meinem Leben sah ich so eine Pracht!

In Begera, der kleinsten Markstadt, leben hingegen nicht so viele Menschen. Dennoch ist auch Begera vom Aufbau her in vier Querts unterteilt. Im inneren Quert wohnen die hohen Herren, die Ärzte und der Stadtmeister. Dann kommen die Händler und die Handwerker. Im dritten Quert hausen neben den Bauern und Gärtnern hauptsächlich die Fischer. Ihr wisst ja, Begera liegt recht nah am dunklen Meer. Und dann …“

Er unterbrach seinen Satz, um kurz zu überlegen, wie er den Kindern die bittere Wahrheit schonend beibringen sollte. Schließlich räusperte er sich und sprach bedrückt weiter: „Und dann gibt es natürlich auch dort den äußersten vierten Quert, wo die Elender ihr karges Leben bestreiten. So nennt man die ärmsten Menschen auf der Insel, die sich kaum das Nötigste leisten können.“

„Wie meine Mama, nicht wahr? Sie arbeitet den ganzen Tag schwer, und trotzdem haben wir am Abend oft nichts zum Essen“, erwiderte das Mädchen mit gesenktem Kopf.

Ein etwas größeres Kind, seinem Aussehen nach wohl des Mädchens Schwester, begann leise zu weinen. Seine Kleidung, nur notdürftig mit Stoffflicken bedeckt und an vielen Stellen durchlässig, stammte gewiss vom Lumpensammler.

Es tat dem Erzähler im Herzen weh, dies zu sehen. Deshalb nahm er die Hände des schluchzenden Kindes in seine und sagte in beruhigendem Ton: „Dann sind wir eben die Elender von Algot! Na und? Sind wir deswegen etwa schlechtere Menschen? Nein, das sind wir nicht! Nur weil wir nicht zu den Reichen im ersten Quert gehörren, bedeutet das noch lange nicht, dass wir uns schämen müssten. Im Gegenteil, wir arbeiten hart für unser Essen!

Eines Tages seid ihr Wahlfähige. Dann werdet ihr euch eure Naht abholen und selbst für euren Lebensunterhalt sorgen, so wie es anständige Menschen nun mal tun müssen. Einige von euch gehen möglicherweise nach Duyten, in die Stadt der großen Gärten, und finden dort eine Anstellung. Oder ihr schafft es bis nach Begera, wo die rechtschaffene Zunft der Fischer lebt. Stadtmeister Nickel wird euch gewiss einen Wanderbrief ausschreiben, falls ihr denn nachweisen könnt, dass eurer ein sicherer Dienst harrt.

Und selbst wenn ihr in Lufond bleibt, gibt es auch hier genug Arbeit, bei der man junge und fleißige Hände gut gebrauchen kann. Vielleicht kommt ihr als Dienstbote in einen reichen Haushalt. Seht ihr, es gibt also gar keinen Grund, mit dem Leben als Elender zu hadern. Solange man sich nur redlich ernährt und niemandem schadet, gilt es auch nicht als Schande.

Nehmt mich zum Beispiel. Ich habe nicht einmal eine eigene Hütte. Zumeist schlafe ich bei einem der Bauern im Stall oder unter freiem Himmel draußen am Bettelplatz. Was das Essen betrifft, so bin ich darauf angewiesen, dass mildtätige Leute mir etwas abgeben. Demnach müsst ihr euch wirklich keine Sorgen machen. Es gibt immer einen Menschen, dem es noch schlechter geht. Wenn wir Armen zusammenhalten und uns gegenseitig aushelfen, kann uns nichts Schlimmes widerfahren.“

Die Worte des Erzählers, gepaart mit einem aufmunternden Lächeln, verfehlten ihre Wirkung nicht. Als zudem noch ein Sonnenstrahl durch den bis dahin bewölkten Himmel drang, fand auch die unbeschwerte Fröhlichkeit wieder ihren Weg auf die Gesichter seiner kleinen Zuhörer.

„Nun lauft schnell nach Hause, Kinder. Der Tag neigt sich bald dem Ende. Eure Eltern warten sicher schon auf euch. Wenn ich das nächste Mal nach Lufond komme, erzähle ich euch die Geschichte von den bunten Vögeln in Ratos, und wie sie ungesehen mit dem Schiff vom Festland auf die Insel kamen. Das wird ein Spaß!“

Binnen weniger Sekunden sprangen die Kleinen hoch, umarmten ihn und verschwanden nach und nach in der endlos langen Reihe der Holzhütten. Der Erzähler schaute ihnen bedauernd hinterdrein. Er wusste, sie hatten nicht viel vom Leben zu erwarten.

Wenn er ihnen auch nur für eine Stunde etwas Ablenkung von ihrem Schicksal verschaffen konnte, war sein Tagwerk hier mehr als berechtigt. In seinem Inneren dankte er dem König für diese wichtige, wenngleich schlecht bezahlte Aufgabe. In dessen Schloss gab es keinerlei Not und genügend Bedienstete, die für stetige Abwechslung und Unterhaltung sorgten. Lufond aber brauchte ihn!

Der schmale Korridor, den die untergehende Sonne in die schmutzige Gasse malte, erschien ihm wie ein Fingerzeig. Er hatte den Kleinen etwas Unerhörtes verschwiegen, um sie nicht zu verängstigen. Es waren bisher nur Gerüchte, die er vernahm, und kaum einer gab zu, mehr darüber zu wissen. Die Gelehrten in der Königsstadt sprachen davon, dass der Feuerberg seit drei Wochen wieder die Erde im westlichen Teil der Insel erbeben ließ. Kaum auszudenken, was auf Algot zukam, sollte er aufs Neue ausbrechen. Schon jetzt gab es nicht mehr viel Nahrung für jene Leute, von denen er zu den Kindern sprach.

„Wenn der Berg erwacht, dann kommen auch die Drachen zurück. Noch schlafen sie unerkannt und friedfertig in den tiefen Wäldern von Tolkane. Jedoch schon bald werden sie wieder ihre Gestalt wandeln. Gnade uns, wenn das passiert! Der König wird die Zügel hart anziehen müssen, damit das Volk nicht endgültig ausgerottet wird“, raunte ihm einer der Weisen im Vorübergehen zu, als er sich auf dem Markt in Reylo herumtrieb.

Es beunruhigte den alten Erzähler, wenn er daran dachte. Sollten doch wenigstens seine unschuldigen Zuhörer in dem Glauben leben, dass die Drachen Algot vorerst nicht mehr bedrohten. Sie würden die Wahrheit früh genug erfahren. Er hoffte inständig, dass er längst bei den Ahnen weilte, wenn es so weit war. Nichts wollte er weniger, als den Jüngsten böse Träume zu bereiten.

Der Blick des Erzählers ging ein letztes Mal hinauf in den abendlichen Himmel, der sich in den schönsten Farbtönen zeigte, als sei nichts geschehen. Schon ertappte er sich selbst dabei, da oben nach geflügelten Schatten zu schauen.

Kopfschüttelnd über seinen eigenen Aberglauben machte er sich auf die Suche nach einer geeigneten Schlafstatt. Sein Weg führte ihn stadteinwärts, in den dritten Quert. Daselbst lebte ein älterer Gemüsebauer, der ihm bereits zweimal ein Strohlager in seinem Schober und ein warmes Abendmahl angeboten hatte. Im Austausch bot er dafür die Neuigkeiten aus Ratos, wo die jüngeren Schwestern des Bauern lebten. Heute würde dieser besonders glücklich sein, denn der Erzähler trug einen langen Brief der beiden Frauen in seinem Wams, gut verborgen vor fremden Blicken.

Mit sich und seinem Tagwerk im Reinen beschritt er die alte Kaufmannsstraße. Selbst hier fanden sich die ersten Spuren der Verarmung, wie er staunend zur Kenntnis nahm. Noch vor ein paar Jahren hatten die Bewohner des dritten Querts genügend Geld, um ihre Häuser weitgehend instandzuhalten und sogar Anbauten vorzunehmen.

Nun aber gingen auch denen langsam die letzten Reserven aus. Der graue Verputz aus Lehm und Sand bröckelte von den Wänden und blieb unbeachtet am Rinnstein liegen. Die Fensterläden, einstmals sorgsam eingeölt oder gar mit hellen Farben gestrichen, wiesen tiefe und hässliche Risse auf. Wie lange würde es dauern, bis die Not sich durch ganz Lufond gefressen hatte?

Um die Bewohner des ersten Querts machte sich der Erzähler nicht allzu viele Sorgen. Ihre Vorratskammern, so wusste er, waren gut gefüllt. Was aber geschah mit den Menschen, die nicht so viel Glück hatten? Was sollte nur aus den Elendern werden, die sich kaum eine warme Decke leisten konnten, geschweigedenn Kohlen für den Winter? Und woher kam Hilfe für die Kinder, die keine Schuld an dieser Situation trugen?

 

Kelos Geburt

 Das markerschütternde Schreien Andras war noch im letzten Haus des Elender-Querts zu hören. Sie gebar gerade ihr fünftes Kind. Die Hebamme, eine erfahrene und alte Frau, stand Andra bei, so gut sie es vermochte. Sie kühlte Andras Stirn mit einem nassen Lappen, sprach ihr Mut zu und überprüfte in regelmäßigen Abständen, wie weit die Entbindung voranschritt.

Seit zehn Stunden quälte Andra sich schon mit furchtbaren Schmerzen. Es war abzusehen, dass sie in Bälde keine Kraft mehr haben würde. Zu ausgezehrt von lebenslanger Armut konnte sie dem, was die Niederkunft ihr abverlangte, kaum etwas entgegensetzen. Zu allem Übel lag das Kleine verkehrt herum in ihrem Bauch und jeder Versuch, dies auf sanfte Weise zu ändern, scheiterte kläglich.

Also tat die Hebamme, was getan werden musste. Sie warf sich mit ihrem ganzen Gewicht auf Andra, immer wieder, und schob mit den Händen voran den gepeinigten Körper von einer Seite auf die andere. Ja, es konnte geschehen, dass das Neugeborene dabei zu Schaden kam, aber das nahm die alte Frau in Kauf. Alles war besser, als den vier Kindern, die schon auf der Welt waren, auch noch die Mutter verlustig gehen zu lassen.

Hark, der Vater der Jungen, ging vor einem halben Jahr auf Arbeitssuche. Es hieß, er wollte nach Duyten, um sich dort eine Anstellung zu suchen. Er bekam aber vom Stadtmeister keinen Wanderbrief, verbunden mit der Begründung, dass er der Haupternährer der Familie sei.

Trotz seines lautstarken Protests, dass er als schlechtbezahlter Tagelöhner seine Familie gerade nicht ernähren könnte, schickte man Hark unverrichteter Dinge wieder nach Haus. Also beschloss er, einen anderen Weg zu wählen, der zwar ungleich gefährlicher war, aber wenigstens Erfolg versprach. Er hörte sich spätabends in den Gassen um und fand einen betrunkenen Stoffhändler, der sich nächsten Morgen in die Gartenstadt begeben wollte. Diesen Mann beschwatzte er so lange, bis er ihm einen Platz auf seinem Karren anbot.

Im Morgengrauen verabschiedete er sich unter Tränen von seiner Frau wie auch von den beiden ältesten Kindern Rodu und Cort. Dann verließ er den Elender-Quert Lufonds und machte sich auf zum Stadttor, wo ihn der Händler bereits erwartete. Die Abmachung lautete, dass Hark sich als dessen Ladenknecht ausgab, falls die Wachen irgendwelche Fragen stellen sollten. Glaubte man dem Kaufmann, so kam Hark auch unversehrt in Duyten an. Er dankte ihm für seine Hilfe, gab ihm den versprochenen Lohn in Höhe eines halben Algotriegels und hastete davon. So viel konnte Andra noch über ihren Mann herausfinden. Doch danach verloren sich seine Spuren, als hätte ihn die Erde verschluckt.

Jede Woche, wenn die Boten kamen, stand Andra mit ihren Söhnen wartend am Stadttor, in der Hoffnung, etwas Geld oder wenigstens einen Brief von Hark zu bekommen. Jede Woche kehrte sie traurig und enttäuscht zurück, ohne erhaltene Nachricht. Die mitleidigen Nachbarn unterstützten die bettelarme Frau, wo immer sie es konnten, und teilten mit ihr das Wenige, das sie besaßen.

Trotz den vier Söhnen und ihrer Schwangerschaft musste Andra hart in einer Wasch- und Bügelstube arbeiten, um zumindest für die nötigsten Nahrungsmittel sorgen zu können. Tagsüber blieben die Jungen deswegen bei einer entfernten Cousine, die Agnezia hieß.

Das Freudenhaus, das diese eigentlich betrieb, war eines der wenigen Gebäude im vierten Quert, das noch aus massivem Stein gebaut wurde und mehrere Zimmer umfasste. Also erkor der Stadtmeister es gegen ein erkleckliches Sümmchen zum Krähennest, zumal es bei den Elendern nicht an Nachwuchs mangelte.