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Die Polizei sagt, Bauer Luidinger sei von einem Zuchtstier auf die Hörner genommen worden - Tod durch unglückliche Umstände. Privatdetektiv Freddie Deichsler aber erkennt einen Mord. Hat der tote Bauer etwas mit der umkämpften dritten Startbahn des Münchner Flughafens zu tun? Oder mit dem geplanten Golfplatz im berbayerischen Dorfen? Wie immer gibt Deichsler alles, um den Fall zu lösen - und verfolgt sogar eine Herde Kühe durch halb Oberbayern bis nach Tunesien . . .
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Seitenzahl: 370
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LeonhardF. Seidl saß im Knast, um für die Arbeit »Beschriebene Blätter– Kreatives Schreiben mit straffälligen Jugendlichen« zu recherchieren, die 2007 ausgezeichnet wurde. Sein Debütroman »Mutterkorn« wurde für den Förderpreis zum August-Graf-von-Platen-Literaturpreis nominiert. Derzeit ist er Stipendiat des Literaturhauses München und des Literaturforums im Brecht-Haus.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/suze Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Susanne Bartell eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-898-4 Originalausgabe
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Für meine Schwester
Das geht auf keine Kuhhaut.
Volksmund
Da nehme ich keine Rücksicht. Auch auf die Wahrheit nicht.
Prolog
1
Grantig hatschte Deichsler in den finsteren Stall. Dunkle Kuhaugen begrüßten ihn, lagen wie Höhlen in den Köpfen der Tiere, beäugten ihn sanft, fast zärtlich. Behutsam streichelte er über das widerspenstige Fell zwischen den Augen und dem rosa Mund, der das Heu in gleichförmigen Bewegungen wiederkäute. Ihr Atem verdrängte die kalte Luft, hüllte den Moment in Schweigen. Eine eigentümliche Ruhe erfüllte Deichsler, weichte sein schlechtes Gewissen auf, legte sich auf seine nervöse Seele. Bis Ketten klirrten und gegen den Aufhängeholm schlugen, der quer durch den Stall über den Köpfen der Tiere verlief.
Deichsler zuckte zusammen. Wenn die Kuh ihren Kopf zwischen den Gittern und den anderen Viehköpfen hindurchschob, um Heu zu fressen, rasselte die Kette, die das Schloss um ihren Hals mit dem Eisenstab verband, wurde sie sich ihrer engen Grenzen bewusst. Einen Zentimeter vor, einen Zentimeter zurück watete sie im fladenhohen Kot, der sich mit ihrem Urin und dem Stroh zu einem dicken grünbraunen Brei vermengt hatte. Aus den Ritzen quoll der stinkende Brei, verklebte das Fell über den Hufen zu braunschwarzen Strähnen. Ätzender Gestank raubte Deichsler den Atem. Ein Sperling schoss zwischen Balken mit verstaubten Spinnweben herunter, zu einem Fenster, durch das Lichtfetzen mit den gelben Ohrmarken der Kühe gegen die Dunkelheit ankämpften. Das Tschilpen des Sperlings klang seltsam fremd.
Über dem Anblick der Kühe hatte Deichsler vergessen, warum er hier war, dass an diesem Ort erst kürzlich ein Mensch gestorben war. Ob durch Unfall oder Mord? Hatte sich der Stier an Bauer Luidinger dafür gerächt, dass er ihn gefangen gehalten hatte? Deichsler sah sich um, entdeckte niemanden.
Noch vor ein paar Stunden hatte er mit seinem zweijährigen Sohn David im warmen Wohnzimmer gesessen. »Muh!«, hatte David mit gespitzten Lippen gemacht und seinem Vater erwartungsvoll die blaue Kreide entgegengehalten. Seitdem Deichsler mit ihm auf einem Bauernhof gewesen war, musste er ununterbrochen Kühe malen– und auf allen vieren muhen. Und das, obwohl er vor Schmerzen nicht einmal richtig sitzen konnte. Wie sollte er so bitte eine anständige Kuh spielen? Pünktlich zum neuen Jahr war er am Neujahrsmorgen erwacht, und nichts war mehr so gewesen wie davor.
Nur wenige Tage später hatte das Telefon geläutet, Deichsler sich ächzend erhoben. Sein schlechtes Gewissen war am anderen Ende der Leitung gewesen: Steffi, die Mutter seines älteren Sohnes Paul. »Freddie, du musst sofort kommen.«
Deichsler hatte sich übers Gesicht gewischt. Der Satz hatte ungute Erinnerungen geweckt. An Kurbi, bevor er ermordet wurde.
Doch dieses Mal hatte sich Deichsler nicht mit halbscharigen Erklärungen zufriedengegeben. »Um was geht’s?«
»Um Paul. Du wolltest deinen Sohn doch eh endlich mal sehen. Hast du zumindest behauptet, als du das letzte Mal bei uns warst.«
Natürlich hätte er einfühlsamer sein sollen. Schließlich konnte er mittlerweile im Ansatz erahnen, was es bedeutete, ein Kind fast alleine aufziehen zu müssen. »Stimmt. Seitdem der Kurbi umgebracht worden ist, geht mir das im Kopf rum.«
»Von Im-Kopf-Rumgehen passiert aber nichts.«
»Du hast ja recht.«
»Mir geht’s nicht ums Rechthaben.«
»Du weißt ja, der Alltag mit einem kleinen Kind…« Deichsler hatte sofort gespürt, dass er was Falsches gesagt hatte, aber es war zu spät gewesen.
»Wenn dir wirklich was an Paul liegt, dann komm jetzt. Sofort!«
»Steffi, ich kann nicht. Meine Schwiegermutter wird morgen fünfundsechzig.«
Steffi hatte ins Telefon geschnaubt. »Anstatt zu fragen, warum du kommen sollst, gehst du in die Verteidigung. Wie immer.«
»Was ist denn mit Paul?«
»Verschwunden ist er.«
»Schon lang?«
»Lang genug. Aber ich habe auch einen Auftrag für dich.«
»Sag das doch gleich.«
»Hätte ja sein können, dass dir dein Sohn wichtiger ist als ein Auftrag.«
»Ist er ja auch.«
»Der Luidinger ist tot.«
2
Steffi hatte sich mit Deichsler auf dem Hof des toten Bauern Luidinger treffen wollen. Er kannte ihn noch von früher, hatte als Kind mit ihm gespielt.
Wo Deichslers Sohn Paul bloß steckte? Machte sich in der Pubertät der fehlende Papa bemerkbar?
Davids Anziehsachen für die nächsten Tage hatte er in einen Rucksack gepackt. Samt Brei, Windeln, Gläschen und einem Buch über Mama Muh. Seinen quengelnden Sohn steckte er mit der Plastikkuh in seiner Hand in den Schneeanzug und versuchte dabei, seine trotzig gespreizten Hände nicht zu sehr zu verbiegen. Die Kuh ließ das Prozedere stoisch über sich ergehen. Zu guter Letzt stopfte er sich noch seine Leck-mich-am-Arsch-Tropfen in die Hosentasche. Das einzige Mittel, das derzeit gegen die Schmerzen seines Bandscheibenvorfalls half.
Vor seiner Wohnung überzog eine glitzernde Schneeschicht die Straße, eisiger Wind jagte durch die Häuserschlucht in der Nürnberger Südstadt und biss ihnen ins Gesicht.
Glücklicherweise hatte Monika heute die U-Bahn genommen. Mit dem Auto würden sie viel schneller im Isental bei Dorfen östlich von München und wieder zurück sein. Monika wollte später eh noch mit ihm reden. Jetzt hatte sie Gesprächsstoff, der ihre Beziehung betraf und nicht irgendwelche Kollegen, die in ihrem Job aufgrund ihres Schwanzes bevorzugt wurden. Oder Börsenkurse, die in den Keller fielen, weil irgendeine Blase platzte. Aber wenn Monika sich schon nicht für die Blase ihres Sohnes interessierte, warum sollte ihr Mann sich dann für die Blase der Finanzmärkte interessieren?
Zwei Stunden später begrüßte Deichsler das dunstige Isental mit seinen flachen Äckern und Wiesen, eingebettet zwischen zwei sanften Bergrücken. Von der Autobahnbaustelle hatte er noch nichts gesehen, dafür rangen zwei Biogasanlagen wie prall gefüllte Eiterbinkel um seine Aufmerksamkeit. In Kopfsburg, auf Höhe der ersten Autobahnbrücke, die noch keinen Anfang und kein Ende besaß, bog er am geköpften Maibaum links ab. Vorbei an Wohnhäusern, Höfen und der Kfz-Werkstatt Waxenberger, in der er als Kind öfter mit seiner Mutter gewesen war. Auf einer einseitig von Bäumen gesäumten Straße drang er tiefer in das diesige Tal ein, links und rechts markierten orange-schwarze Holzstecken die Straßenränder. Pferde frühstückten an einer Futterkrippe, Deichsler folgte einem Feldweg, an dem ein kleines gelbes Schild nach Dorfen wies. An die mäandernde Isen schmiegten sich Bäume, begleiteten ihn die ganze Fahrt über. Schon sah er Luidingers Vierseithof, an dem die wunden Ziegel blank lagen, weil der Putz abgeblättert war. Nach dem verbeulten Schild »Esterndorf41« bog er links in den Hof ab. Von den höher gelegten Schienen, auf denen die Bahn von München nach Mühldorf und zurück fuhr, trennten den Hof nur die friedliche Isen und die Bäume und Büsche, die von ihr lebten. Am Hang gegenüber, von dem nur die Silhouette zu sehen war, würde die Autobahn verlaufen, wenn die Bagger erst einmal tonnenweise Erde verschoben hatten. Auf der anderen Seite des Tals, hinter einer Wand aus laublosen Bäumen, hinter Wiesen, Feldern und Äckern. Darüber erwachte der Tag, ein bläulich-rosa leuchtender Streifen zog sich über den Himmel.
Steffi hatte an der Rückseite des Hofes auf ihn gewartet, als er mit David vor dem Wohnhaus parkte. Vor runden Plastikboxen, die wie Iglus aussahen und in denen Kälber hinter den Gittern lagen. Ein Kalb nuckelte an einem Kanister, Steffi kraulte ihm den Kopf. Neben ihr dampfte ein verkümmerter Misthaufen. Deichsler sog die Landluft tief ein, die nach Winter und Bauernhof roch.
Dem Wohnhaus sah man im Gegensatz zu den zwei lang gezogenen, parallel errichteten Ställen an, dass es erst kürzlich gestrichen worden war: Die Fassade hob sich kaum von der schneebedeckten Landschaft ab, der Putz war makellos.
David löste sich von der Hand seines Papas und muhte zur Begrüßung. Unbeholfen tappelte er auf die Tierbabys zu, rutschte aus und landete auf seinem windelverpackten Hintern. Ohne sich auch nur eine Sekunde damit aufzuhalten oder zu ärgern, erhob er sich und rannte weiter. Bevor sein Papa bei ihm war und ihm helfen konnte. Dass er sich nicht lange mit Rückschlägen aufhielt, das mochte Deichsler an seinem Sohn, in dieser Hinsicht konnte er noch viel von ihm lernen.
Nicht ärgern, nicht mal wundern.
Gerne hätte Deichsler David auf dem Arm gehalten, um Steffi selbstbewusster, weil geschützter gegenübertreten zu können. Aber David stand bereits vor dem Kalb und streckte die Hand zwischen den Gittern hindurch. Die hellrote Zunge fuhr heraus, schleckte über seine Finger. Erschrocken zog er sie zurück, um sie gleich wieder durch die Gitter zu stecken. Die Zunge leckte über seine Hand, er kicherte und strahlte Steffi an, deren Kopf von einer gestrickten blau-weißen Mütze geschützt wurde. Ihr Gesicht hellte sich kurz auf. Als Deichsler sich näherte, verdunkelte es sich umgehend, mit schwarzen Augenringen glotzte sie ihn drohend an.
Mit dem Kopf hatte sie in Richtung der geöffneten Stalltür gewiesen, noch bevor er nach Paul hätte fragen können. »Dein Fall wartet schon auf dich.«
Immer wieder gerne, du Giftnudel.
Deichsler hatte dem Impuls widerstanden kehrtzumachen. Stattdessen hatte er seine Hand ausgestreckt, um das Kalb eine Box weiter zu streicheln. Das Tier war verängstigt zurückgewichen.
An manchen Tagen ist man einfach der Loser.
Grantig war Deichsler in den finsteren Stall gehatscht, hatte sich im Anblick der Tiere verloren.
»Freddie!«, schrie Steffi und holte ihn damit zurück in die Gegenwart. Sie wies ihn an, Richtung Stallausgang zu gehen, und deutete nach rechts.
Bin ich wieder zu weit gegangen.
Er verkniff sich, seinen schlechten Witz auszusprechen, machte ein paar Schritte in einen Raum, der eher nach Telekommunikationszentrale als nach Stall aussah. Ein aufgeklappter Laptop und einPC standen auf einem Schreibtisch, daneben lagen Ordner und Stifte. Auf dem Bildschirm leuchtete etwas gelb, einer Excel-Datei nicht unähnlich. In den Spalten standen Namen wie Safari, Lolita und Stumpi. Dahinter Zahlen, manche mit hellblauem Marker unterlegt, manche mit Datum versehen. Plötzlich schrie ein Kind und krabbelte unter dem Schreibtisch hervor. Deichsler blickte sich nach einem Vater oder einer Mutter um, konnte aber niemanden entdecken. Also hob er die Kleine zögerlich hoch und versuchte, sie zu beruhigen. »Ist ja schon gut. Schhhh. Schhhh. Wo ist denn deine Mama?«
»Gina!«, kam es als Antwort aus dem Stall. Eine fesche, in Schwarz gekleidete Frau kam auf ihn zu. Ihre braunen Augen musterten ihn prüfend, dann nahm sie ihm das Kind ab, das in etwa genauso alt wie David sein musste. Deichsler konnte sich nicht mehr von ihrem Schmollmund losreißen. »Schht! Ist schon gut.« Die Kleine weinte, starrte Deichsler an.
Da pfiff aus Deichslers Jackentasche die Filmmusik von »Eine Handvoll Dollar«, und die Kleine hörte auf zu greinen, bis das Pfeifen von mehreren Schüssen durchschlagen wurde. »Monika«, stand auf dem Display.
Dich kann ich jetzt gar nicht brauchen.
Deichsler drückte sie weg. Die braunen Kulleraugen des Mädchens beobachteten ihn noch immer, als er das Handy zurück in seine dicke Winterjacke schob. »Freddie Deichsler. Ich bin Privatdetektiv, aus Nürnberg.« Er reichte der Frau die Hand.
»Kristel Luidinger.«
»Muh«, machte die Kleine, und Deichsler freute sich so sehr darüber, dass er vergaß, die warme Hand loszulassen.
»Da draußen wartet schon ein anderes Kalb auf dich«, sagte Deichsler, und Kristel sah ihn fragend an. »Mein David muht auch gerne.«
»Ist eh besser, wenn wir uns unter vier Augen unterhalten«, sagte Kristel und warf ihre schwarzen Haare über die Schulter.
Draußen war David immer noch damit beschäftigt, seine Hand von dem Kalb abschlecken zu lassen. »Papa«, sagte er und deutete auf das Kalb.
»Dein Sohn hat eine gute Menschenkenntnis«, sagte Steffi belustigt.
Deichsler ignorierte den Seitenhieb und wandte sich David zu. »Da ist jemand, mit dem du spielen kannst.« Und zu Steffi: »Kommst du mit den beiden klar?«
Sie kniete sich hin, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Deichsler folgte Kristel in den Kuhstall. Die Sonnenstrahlen, die sich durch die schwarzen Wolken geschoben hatten, glänzten auf ihren schwarzen Haaren. Als sie den Stall betraten, bewegten die Kühe kurz die Köpfe, interessierten sich dann aber wieder für ihr Futter. Deichsler versuchte, sich von ihrem Anblick nicht ablenken zu lassen, nicht an seine vorherigen Eindrücke zu denken.
»Die Steff hat’s dir schon g’sagt, was passiert is, oder?«
Deichsler nickte. »Mein Beileid.«
»Ich glaub nicht, dass unser Aldi den Nazi auf die Hörner g’nommen hat.«
Dass Nazi die Abkürzung von Ignaz ist, weiß ich ja noch. Aber habe ich mich verhört, oder heißt die Kuh wirklich Aldi?
Eine Kuh, eingezwängt in ein Supermarktkühlregal, baute sich vor seinem inneren Auge auf. »Was glauben Sie?«
»Ich weiß es nicht. Auf keinen Fall der Aldi. Der Nazi hat den g’kannt, seitdem der auf der Welt is. So was tät der nie machen. Der is zahm wie ein Lamperl.«
»Und wer soll es sonst gewesen sein?«
Steigert sie sich in was rein? Was soll’s, Auftrag ist Auftrag.
Eine Zornesfalte teilte Kristels Stirn. Deichsler hatte plötzlich das Gefühl, sein Vater würde vor ihm stehen. Er wich einen Schritt zurück, während sie eine zusammengerollte Zeitung aus ihrer Jackentasche fischte und auf ein Foto tippte.
»Der Grell war’s, der is scharf auf den Hof, damit bei ihm der Golfplatz g’baut werden kann und er seine Ruh hat. Der war in der letzten Zeit öfter bei uns.«
Deichsler öffnete die Zeitung. »Streit um den Golfplatz«, lautete die Überschrift eines Artikels. Darunter lächelte Bauer Grell in die Kamera. Der Mann war Mitte vierzig, volles blondes Haar zierte seinen quadratischen Schädel, der Deichsler an Frankenstein erinnerte.
Er hatte den Streit um den Golfplatz aus der Ferne mitbekommen, seine Mama hatte sich darüber echauffiert. »Reicht uns schon die Autobahn!«, hatte sie gebelfert. »Was brauchen wir in Dorfen auch noch einen Golfplatz?« Er wusste zwar nicht, was eine Autobahn mit einem Golfplatz zu tun hatte, aber es schien eine Angelegenheit zu sein, zu der jeder eine Meinung hatte. Und seine Mama, die Ratschkathl, von den Jungen Infopoint genannt, sowieso.
Grell hatte den Hof dem Golfclub verkauft, doch im Nachhinein waren ihm die Konditionen nicht mehr ganz so günstig erschienen, weswegen er vor Gericht gezogen war. Die Gegenseite wurde vom stellvertretenden Parteivorsitzenden der CSU, von Peter Gauweiler, vertreten, was verdeutlichte, mit wem es der Rinninger Bauer, wie Grell genannt wurde, zu tun hatte. Der Streit wurde mittlerweile im Dorfener Stadtrat ausgetragen, wo Landliste, Grüne und SPD gegen die CSU kämpften. Die Dorfener wiederum hatten sich im Mai letzten Jahres in einem Bürgerentscheid gegen die CSU und den Golfclub ausgesprochen.
»Und was wollte er bei euch?«
»Ich weiß es nicht. Er hat sich mit dem Nazi immer nur unter vier Augen unterhalten.«
Er gab ihr die Zeitung zurück. Kristel rollte sie wieder zusammen und schob sie zurück in die Jacke.
»Ich verstehe ja, dass Sie es gerade nicht leicht haben. Aber sind Sie sicher, dass Sie da nicht einen Unschuldigen verdächtigen?«
Kristels Augen blitzten ihn an. »Seine Schuhabdrücke hab ich hinterm Haus g’funden… Die Schandi hat das genauso wenig interessiert wie dich. Ich weiß wirklich nicht, ob du der Richtige für die Sach bist.«
»Ich versuche nur, mich dem Fall anzunähern.«
»Weißt, erst nehmen sie uns die Viecher…«
Deichsler schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass er zuvor nicht halluziniert hatte. »Aber die Viecher sind doch da?«
»Nimmer lang. Morgen werden sie abg’holt. Weil wir sie vernachlässigt haben sollen. Tierschutz und so weiter.«
Für Deichsler sah es in dem Stall nicht anders aus als in dem Kuhstall seines Onkels Franz in Niederbayern, auf der Kothwies, bei dem er als Kind oft gewesen war. Gut, im weichgespülten Kindheitstagen-Rückblick waren die Kühe glücklicher, standen nicht in ihrer eigenen Scheiße. Und dass die Kälber von ihren Kühen getrennt und in viel zu kleine Boxen gepfercht wurden, war ihm damals auch nicht aufgefallen.
»Weil ihr die Kälber in die Boxen gesperrt habts?«
»Das macht man so, das hat mit Tierschutz nix zu tun«, tönte Kristel.
Stimmt, das hat mit Tierschutz nix zu tun.
»Den Hof kann ich allein eh nimmer halten.« Tränen rannen ihr übers Gesicht, als wollten sie an ihrer Stelle davonlaufen. »Das Einzige, was mir bleibt, ist meine Georgina.«
Ich bin nicht nur ein hundsmiserabler Vater, sondern auch noch ein Stoffel.
Deichsler sah sich nach David um. Da lehnte sich Kristel an ihn, er genoss die Nähe und legte den Arm um sie. Ihre Haare rochen nach Zimt. Gerade wollte er ihr über den Kopf streichen, als Steffi plötzlich vor ihm stand, an jeder Hand ein Kind.
»Ich glaub’s ja nicht!«, fauchte sie. »Willst du noch ein Kind in die Welt setzen, um das du dich nicht kümmerst? Das wegen dir sein Leben nicht auf die Reihe kriegt?«
Das wegen dir sein Leben nicht auf die Reihe kriegt
3
Deichsler zog die Tür seines Wagens hinter sich zu und atmete erleichtert aus. Er war froh, von Steffi wegzukommen. Ein wenig zu schnell: Er hatte weder daran gedacht, sich nach Paul zu erkundigen, noch mit Kristel die Konditionen für den Fall auszuhandeln. Vielleicht wog für Steffi das eine das andere auf, da ihr Kristel nahezustehen schien. Was wohl mit Paul los war? Wenn Deichsler Grell vernommen hatte, würde er zurück zu Steffi fahren und sie befragen, was es mit Pauls Verschwinden auf sich hatte.
Deichsler fuhr durch ein Gewirr an Unterführungen, Brückenköpfen und Straßen, das sich durch das Isental zog. Zwischenzeitlich waren die Tunnel bewachsen mit Grün, das unter dem Schnee hervorspitzte, wirkten weniger zerstörerisch. Galliger Hass auf die Menschen, die diese einzigartige Natur vernichteten, breitete sich in ihm aus. Für eine Autobahn, deren Kosten von geplanten dreihundert Millionen auf mittlerweile eins Komma vier Milliarden gestiegen waren.
Macht euch die Erde untertan.
Was Pfarrer Mayer wohl dazu gesagt hätte? Für eine Autobahn haben sie Geld, für einen Golfplatz haben sie Geld, aber wenn es darum geht, Tiere menschenwürdig unterzubringen, ist auf einmal keines mehr da.
Habe ich menschenwürdig gedacht?
Deichsler war dankbar, als ihn David mit seinem verwaschenen »Flasche!« aus seinen trüben Gedanken riss. Er reichte ihm seine Flasche mit den rosa Feen nach hinten, und es kehrte Ruhe ein– zumindest äußerlich.
Ein Grog wäre jetzt eine feine Geschichte.
Er erreichte das Ortsschild Dorfen, setzte instinktiv den Blinker nach links, zur Straße seiner Eltern, fuhr aber weiter. Der Rinninger Hof lag am anderen Ende, hinter Dorfen, Richtung Taufkirchen.
Deichslers Wagen rollte durch das Isener Tor, an dem er vor einem Jahr Steffis Wagen demoliert hatte, als er sich mit der Polizei eine Verfolgungsjagd geliefert hatte. Menschen huschten über den verschneiten viereckigen Marienplatz, versuchten, der Kälte zu entfliehen. An der großen Ampelkreuzung fuhr er links die Erdinger Straße den Berg hinauf, hoffte, als er an der Polizeistation vorbeikam, seinen Vater nicht zu treffen. Was sowieso eher unwahrscheinlich war, da der Kriminalhauptkommissar bei der Kripo in Erding arbeitete. Aber man wusste ja nie…
Am Ende des Berges konnte er die Kreuze des Friedhofs hinter der Mauer sehen. Ennio Morricones Filmmusik erklang, und Deichsler fischte sein Handy heraus. »Vater«, stand auf dem Display, bevor Deichsler den Anruf wegdrückte. Hinter dem Friedhof bog er erneut links ab und parkte am Rand der verschneiten Felder. Dann zog er den Buggy aus dem Kofferraum, klappte ihn auf und setzte den schnarchenden David hinein.
Auf der verschlungenen vereisten Straße ratterten sie zwischen gepflügten Äckern und mit Wintergerste bepflanzten Feldern nach Rinning hinunter. Grells Hof duckte sich in eine Talsenke. Dahinter erstreckte sich eine geschwungene weiße Wüste aus schneebedeckten Feldern und Wiesen. Wie geschaffen für einen Golfplatz. Nur dass die Landschaft dann nicht mehr allen, sondern nur noch einer kleinen, wohlhabenden Minderheit zugänglich war.
Willkommen im Land der Großkopferten!
Winterlicher Wind wälzte schwer beladene grauschwarze Wolken über den Himmel. Deichsler rechnete jeden Moment damit, dass dicke Flocken auf ihn und David herunterfielen. Er holte das Regenverdeck unter seinem Sohn hervor. Im Schutze einer Baumgruppe, die einen Weiher umsäumte, stoppte Deichsler und nahm sich eine Sekunde Zeit, um seinen rüsselnden Sohn zu betrachten. Der schmächtige Brustkorb hob und senkte sich unter der Jacke. Bei jedem Atemzug röchelte David, weil er, wie immer um diese Jahreszeit, verschnupft war. Deichsler erfüllte eine unbeschreibliche Liebe und Dankbarkeit, und er befestigte den Regenschutz am Buggy über seinem schlafenden Sohn.
Was trägt ein Vater dazu bei, dass das Leben seines Sohnes in geordneten Bahnen verläuft? Und was sind geordnete Bahnen überhaupt? Lernt man nicht viel mehr, wenn man die ausgetrampelten Pfade verlässt? Wenn man sich einen Weg durch das Dickicht schlagen muss und so Erfahrungen und Kraft sammelt, sich beweisen kann?
Als wäre »beweisen« das Stichwort gewesen, ertönte ein Schuss. Deichsler duckte sich. Die Kugel schlug in einem Baum neben David ein. Er schob seinen Sohn schnell weiter, hinter die Bäume.
Welcher Irre schießt denn bitte auf ein Kind?
Gebückt wagte er sich aus der Deckung. Es krachte erneut, er ließ sich auf den Boden fallen, spürte einen Schmerz an seiner rechten Schulter. Der Stoff der Jacke war zerfetzt, Federn standen heraus, wurden vom Wind weggetragen. Deichsler fühlte sich wie ein gerupftes Huhn. Die Daunen um das Loch herum färbten sich rot. Hurtig ging er wieder in Deckung.
Soll ich David stehen lassen, mich anschleichen und den Schützen entwaffnen oder flüchten?
Der nächste Schuss verfehlte Deichsler nur knapp. David riss die Augen auf und fing zu brüllen an, dass der Regenschutz beschlug. Deichsler musste handeln. Er legte keinen Wert darauf, sich von Steffi eine Ladung Kugeln aus seinem Hintern pulen zu lassen. So wie es Erkan zuletzt ergangen war.
Wie kann ich dem Schützen zeigen, dass ich in friedlicher Absicht gekommen bin?
David war aus dem Alter heraus, in dem er ein Sabberlätzchen benötigte. Das kam also nicht als weiße Fahne in Frage.
Deichsler hob den Regenschutz an und drückte David die Flasche in die Hand. Der donnerte sie wütend auf den Boden. Da bemerkte Deichsler den Schirm und die Windel, die unter seinem Sohn in der Ablage lagen. Er drückte auf einen Knopf, und die Schirmstange schoss heraus. Die Windel breitete er aus und befestigte sie mit Hilfe der Klettverschlüsse an der Stange.
Batz! Die nächste Kugel schlug in der Eiche neben ihm ein.
Deichsler wendete den Buggy, um den Rückzug anzutreten, während die Windel in der Luft flatterte. Der eisige Wind betäubte die Schusswunde an der Schulter, kühlte seine verschwitzte Achsel. Deichsler kurvte mit David den Berg hinauf, der Buggy schlingerte, fuhr dahin, wo Deichsler nicht hinwollte.
Batz!, krachte es erneut.
4
Am Auto nahm Deichsler seinen plärrenden Sohn mit hochrotem Kopf aus dem Buggy und versuchte ihn mit einem sanften »Muh!« zu beruhigen. Weil ihm das nicht gelang, wurde aus der einzelnen Kuh eine ganze Muhherde, ehe er Erfolg hatte. Dann schälte er sich aus der zerfetzten Jacke, aus Pulli und Shirt und sprühte Desinfektionsspray aus dem Verbandskasten auf die blutende Wunde, um die sich eine Gänsehaut bildete.
David legte den Kopf schief, deutete auf seinen Papa und fragte in mitfühlendem Tonfall: »Mama Muh?«
Der schräge Blick seines Sohnes milderte den Schmerz und zauberte ein Lächeln auf die Lippen des Papas. David hatte damit die Kuh aus seinem Lieblingsbuch gemeint, die sich an einem Stacheldraht verletzte, weil sie ausreißen wollte.
»Bauer Papa batteriern?«, legte David noch einen drauf.
Da Deichsler keinen Bauern zur Hand hatte, der ihn reparieren konnte, musste er selbst Hand beziehungsweise einen Verband anlegen. Bis jetzt hatten die Daunen das Blut zuverlässig aufgesaugt. War das der Grund, warum man Hühner erst nach dem Schlachten rupfte? Vielleicht war die teure Jacke noch zu retten. Deichsler hatte es satt, seine Frau ständig wegen Geld für Anziehsachen anpumpen zu müssen. An dieser Tatsache änderte auch nichts, dass die nächste Jacke, die er kaufen würde, nicht mit gerupften Daunen gefüllt sein würde. Er rechnete fest mit Monikas Anruf, da morgen der fünfundsechzigste Geburtstag ihrer Mutter gefeiert werden würde. Mit gereimten Gedichten, Menü, Gesang und schlechten Witzen. Beim Griechen an der Freiheit in Fürth. Vermutlich hatte Monika sogar schon seinen Vater auf ihn angesetzt, ihn genötigt, seinen unverbesserlichen Sohn anzurufen und zu maßregeln.
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