Der achtzehnseitige Würfel klackte vernehmlich in der Feinhand
des Gardisten. Er schüttelte den kleinen, fast kugelförmigen
Gegenstand mit theatralischer Heftigkeit, bevor er ihn auf die
spiralförmig abwärts führende Bahn warf, die sich bedächtig um ihre
Achse drehte. Alles hing von diesem Wurf ab. Alles. Er ballte die
Fäuste und auch sein Gegenspieler beobachtete gebannt, wie der
Würfel in der rotierenden Bahn zum Spielfeld rollte, das
seinerseits über achtzehn Vertiefungen verfügte. Noch bevor der
Würfel auf das eine, das von allen Göttern gesegnete Feld zurollte,
sah er den entsetzten Blick seines Gegners und feixte
triumphierend.
Aber erst als die Stimme in seinem Rücken sprach, verstand er,
dass das Entsetzen in diesem Blick nicht einem verlorenen Spiel
galt.
»Wir sind doch nicht im Krieg!«, schimpfte Zkx’ttr. »Der
Vorfall ist bis an die Ohren Ihrer Majestät gedrungen …«
»Der Vorfall, wie Sie zu sagen belieben, diente nur einem,
nämlich der Sicherheit Ihrer Majestät«, erwiderte der
Flügeladjutant von oben herab. »Und dafür bin ich verantwortlich
und nicht Sie, Herr Minister!«
Zkx’ttr schnarrte seine Stimmstäbe empört gegen die Barten.
Ein Ausdruck höchster Fassungslosigkeit.
»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen, Herr Minister? Das tut
mir aufrichtig leid …« Ein höhnischer Zug umspielte die Fühler von
Kukk’tar. »Auch wenn es Sie schmerzt«, fuhr der Flügeladjutant
ungerührt fort, »muss ich Ihnen in allem widersprechen. Meine
Männer und ich sind immer im Krieg, wenn es um die Sicherheit Ihrer
Majestät geht. Auch wenn Ihre Majestät selbst das anders sehen
sollte. Ich nehme meine mir übertragenen Befehle sehr ernst. Was
man in diesem Palast leider nicht von jedem sagen kann …«
»Die armen Burschen hätten zumindest einen Prozess verdient,
das ist – wie gesagt – auch die Meinung der Königin.« Der Minister
stieß seine Worte mit aller Schärfe hervor, erst danach spürte er,
wie sich die Chitinplatten seines Gesichts ineinander
verkeilten.
»Wen meinen Sie mit Ihrem Vorwurf, Adjutant …«, fragte Zkx’ttr
ungläubig.
Die ebenso geschickte wie bösartige Beleidigung war mit einem
Verzögerungseffekt in das Bewusstsein des Ministers
gedrungen.
Und tatsächlich legte Kukk’tar nach. »Die pflichtvergessenen
Elemente aus der Leibgarde meinte ich nicht damit, Herr Minister.
Denn die sind tot und können kein Unheil mehr anrichten. Das haben
Sie schon ganz richtig erkannt …«
Etwas Lauerndes hatte sich in die Worte des Befehlshabers der
königlichen Leibgarde geschlichen. Mit einem leisen Knirschen
lösten sich die Gesichtsplatten des Ministers wieder voneinander.
Ein Ausdruck von unendlicher Trauer umschattete jetzt seine
Augen.
»Sie wollen es also wirklich?«, fragte er leise.
Bestätigend scharrte der Flügeladjutant mit dem rechten
Vorderbein. Seine Fühler hatten sich in gespannter Erwartung fast
an den Hinterkopf geschmiegt.
»Sie haben mich in meiner Ehre gekränkt. Sie sind wirklich der
unverbesserliche Rüpel, wie man sich allerorten erzählt, weder
würdig ihres Titels noch ihres Amts …«
»Bravo!«, entgegnete Kukk’tar. »Für so einen alten Mann sind
Sie noch ganz schön lernfähig …«
»Schwätzen Sie nicht dumm herum. Sie mögen jünger und stärker
sein als ich, aber bilden Sie sich nur nicht allzu viel darauf ein.
Selbst wenn Sie mich besiegen, wird es nicht mehr lange dauern, bis
Sie Ihrem Meister gegenüberstehen …«
»Ich kann es kaum erwarten, Herr Minister. Doch zuerst sind
Sie dran … Wann darf ich Ihre Vertreter erwarten?«
»Lassen Sie sich überraschen! Sie eingebildeter Schnösel!«
Zkx’ttr wandte sich abrupt um und lief mit schnellen Schritten den
schattigen Arkadengang entlang, der zu seinen Gemächern
führte.
»Ich liebe Überraschungen!«, rief ihm Kukk’tar nach. Seine
eisige, messerscharfe Stimme brach sich an den Säulen und Wänden
und vervielfältigte sich zu einer Kaskade von Echos, von der er
hoffte, dass sie den Minister noch bis in seine Träume verfolgen
möge.
Zufrieden drehte auch er sich um und schritt gemächlich die
Treppe hinab, die in den Hof hinter seiner Kommandatur
führte.
Er kannte den Ehrbegriff des Ministers nur zu gut und war sich
deshalb völlig sicher, dass sich Zkx’ttr dem aussichtslosen Duell
stellen würde.
Im Hof angekommen, scharrten seine Hinterbeine zufrieden über
den sandigen Grund. Sie alle bekamen Angst vor ihm, und das war gut
so. Sollten sie zittern und sich fürchten. Der Minister hatte
Unrecht gehabt, das hatte er ihm deutlich zu verstehen gegeben.
Doch es kam nicht darauf an, ihn zu überzeugen. Viel sinnvoller war
es, ihn aus dem Weg zu räumen. Oh ja, sie waren im Krieg und das
schon seit Langem, nur hatte es das Volk der Ontiden immer noch
nicht begriffen. Aber selbst das entsprach exakt seinen
Vorstellungen.
Er begrüßte die aktuelle Entwicklung, er empfand Genugtuung.
Noch zu keiner Zeit war es für ihn so gut gelaufen wie jetzt. Dank
der Ernennung zum Flügeladjutanten und der damit verbundenen
Befehlsgewalt über die Hof-Leibgarde der Königin hatte er nach
langer Zeit mit seiner kleinen Schwester gleichgezogen, die – und
das wurmte ihn immer noch – lange vor ihm zur Prinzessin geadelt
worden war.
Die Königin hatte Qua’la damit praktisch adoptiert und in ihre
Familie aufgenommen. Das war für Kukk’tar ein empfindlicher Schlag
gewesen, bedeutete dies nicht zuletzt, dass auch Qua’las unwürdiger
Ehemann dem direkten Schutz der Königin unterstand. Jetzt, nach
seiner Ernennung zum Flügeladjutanten, war streng genommen Kukk’tar
selbst für D’kohs Schutz zuständig. Sicher, das waren alles nur
Formalien, aber nun ließ sich D’koh noch schlechter fordern als
zuvor.
Der Adjutant erlaubte sich, während er über den Hof schritt,
eine Reminiszenz an das alte Rittergeschlecht, aus dem seine
Familie hervorgegangen war. Zu den Grundtugenden der alten Kämpen
gehörte einst eine schon sprichwörtliche Geduld. Kukk’tar wusste,
dass er in dieser Hinsicht noch viel würde lernen müssen, aber er
wusste auch, dass er nur abzuwarten brauchte. Er war sich sicher,
dass seine Zeit kommen würde.
Der schmale Durchgang führte ihn aus dem Hof auf den
weitläufigen Platz hinter der wuchtigen Schlossanlage. Von zwei
Seiten wurde er von flachen Gebäuden gesäumt, in denen die
Leibgardisten untergebracht waren. Hinten begrenzte eine hohe Mauer
den Platz, vor der das Gestell für unehrenhafte Hinrichtungen
stand. Niemand hatte es gewagt, sich seinem Befehl zu widersetzen.
Noch immer steckten die Rümpfe der beiden Hingerichteten in den
Spottschellen. Derart gefesselt war es den Delinquenten unmöglich
gewesen, sich zu bewegen geschweige denn sich ihrer Bestrafung zu
entziehen.
Die Asche ihrer zerstrahlten Köpfe lag in kleinen Häufchen vor
den Körpern. Es war windstill, schon seit Tagen. Sein Befehl hatte
gelautet, dass die Torsi der beiden Hingerichteten so lange in
ihrer entwürdigenden Position zur Abschreckung stehen zu bleiben
hätten, bis ihnen die Gnade der Windgöttin zuteil würde.
Er kannte die Wetterprognose. Nichts deutete darauf hin, dass
in Kürze ein laues Lüftchen die Asche wegwehen würde. Und auch das
war gut so in seinen Augen.
*
Schon zweimal hatten sich ihre Wege gekreuzt. Kein Wunder in
den engen Schächten und Gängen, die durch die verschiedenen Decks
des Sondereinsatzkreuzers STERNENKRIEGER II führten. Die nicht ganz
ein g betragende künstliche Gravitation an Bord ermöglichte es in
bestimmten Bereichen zu joggen. Eine durchaus erwünschte
Freizeitbeschäftigung, denn sie gewährleistete, dass die
Besatzungsmitglieder fit blieben.
So weit die Theorie.
In der Praxis sah es etwas anders aus. Die Mehrzahl der Crew
wie auch der Offiziere zog das Joggen in den besagten Gängen den
Laufbändern in den Sport- und Trainingsräumen vor. Obwohl Letztere
ein abwechslungsreiches Multimediaprogramm boten, dass jedem Läufer
die Illusion vermitteln konnte, inmitten grüner, schattiger Wälder
unterwegs zu sein, entlang idyllischer Bäche und Felder, auf denen
das ganze Jahr über der Weizen kopfhoch und gelb kurz vor der Ernte
stand.
Die verwinkelten Gänge quer durch das Schiff, bei denen man
immer aufpassen musste, um sich nicht den Kopf oder die Arme an
Leitungen und Kanten anzuhauen, waren trotz dieses Angebots
eindeutig beliebter. Mittlerweile so beliebt, dass manchmal ein
regelrechtes Gedränge herrschte. Wer normalen Dienst tat, nahm
Umwege in Kauf, um nicht über den Haufen gerannt zu werden. Das
ganze war ein mühsam ausgehandelter Kompromiss. In bestimmten
Gängen war Joggen erlaubt; in anderen, die für die Versorgung und
den Betrieb des Schiffes wichtig waren, streng verboten. Und
insgesamt galt diese Regelung auch nur während des Normalbetriebs.
Bei Alarm, Übungen und während Kampf- und anderen Einsätzen wurden
derartige Regelungen automatisch außer Kraft gesetzt.
Natürlich hatten diese Einschränkung dazu geführt, dass die
erlaubten Wege zu bestimmten Zeiten wie Schichtende so stark
frequentiert waren, dass viele wieder die Lust verloren, ihre
Körper auf diese Weise in Form zu halten.
In unregelmäßigen Abständen schlüpfte auch Bruder Guillermo
aus seiner Kutte und rannte – nur bekleidet mit Shirt und Shorts –
durch die Gänge. Da er sich seine Zeit im Gegensatz zu den anderen
freier einteilen konnte, passte er solche Gelegenheiten ab, zu
denen der eine Teil der Besatzung schlief und der andere schuftete.
Allerdings gab es neben ihm noch eine Reihe weiterer
Crew-Mitglieder, die auf Grund ihrer Aufgaben andere
Schichteinteilungen hatten. Etwa die Zivilisten an Bord, die in den
beiden Kantinen und der Wäscherei beschäftigt waren oder die
Marines.
Bei den ersten beiden Begegnungen hatten sie sich freundlich
lächelnd aneinander vorbeigedrängt. Es war jedes Mal fast die
gleiche Stelle gewesen, nicht ganz ungefährlich, da kurvig und eng.
Aber sie waren ja Profis – vor allem, was das Joggen im Weltraum
anbelangte.
Beim dritten Mal jedoch rumpelten sie frontal aufeinander und
Bruder Guillermo fand sich auf einmal mit einem Paar weich
gepolsterten Brüsten konfrontiert, zwischen denen er den Bruchteil
eines Augenblicks befürchtete, versinken zu müssen wie in einem
Sumpf.
Ihre Beine hatten sich ineinander verhakt und so ruderten
seine Arme eine Zeitlang hilflos durch die Luft, bevor er endgültig
das Gleichgewicht verlor. Guillermo kam sich vor wie eine aus
heiterem Himmel gestürmte Festung. Auch die weichgepolsterte
Person, mit der er kollidiert war, schwankte heftig und sackte dann
mit einem Geräusch, dass der Olvanorer überhaupt nicht zu deuten
wusste, auf ihn drauf.
Mittlerweile meinte er jede Faser ihres leicht verschwitzten
Körpers genau spüren zu können. Und er spürte noch etwas.
Feuergleich schoss ihm das Blut ins Gesicht und als stünde er neben
sich, wusste Guillermo mit einer quälenden Präzision, dass sein
Kopf aussah wie eine überreife Tomate. Doch – und das war noch um
einiges schlimmer – war nicht das Einzige, was er in diesem Moment
spürte. Als er in das Gesicht der Joggerin blickte, sah er in ihren
erstaunt aufgerissenen Augen, dass auch sie es spürte, spüren
musste, schließlich lag sie so dicht auf ihm, dass es ihm nicht nur
den Atem verschlug.
Bruder Guillermo wäre in diesem Augenblick am liebsten im
Boden des Gangs versunken. Wäre am liebsten durch eine der
zahllosen Leitungen, die durch das Schiff führten, diffundiert,
hätte sich am liebsten aufgelöst in eine der namenlosen Substanzen,
die durch die Rohre gepumpt wurden, so peinlich war ihm dieser
Zwischenfall. Sein Verstand war seit dem Zusammenstoß völlig
blockiert, er vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen, ja ihm
fiel noch nicht einmal der Name der jungen Frau ein, die es sich
auf ihm bequem zu machen schien.
Genau das war es.
Entsetzt bemerkte er, dass die Joggerin offensichtlich gar
keine Anstalten machte, aufzustehen und ihn aus seiner misslichen
Lage zu befreien. Und die verräterische Schwellung zwischen seinen
Beinen, auch sie hinterging ihn, verriet ihn schnöde, stellte ihn
mit Macht bloß, denn auch sie ließ sich nicht wegleugnen, noch
dachte sie daran zu verschwinden. Zu allem Überfluss sah er ein
seltsames Aufblitzen in den dunkelblauen Augen über sich, dann
teilte ein breites Grinsen das Gesicht und schließlich, endlich,
nach einer ewig erscheinenden Zeitdauer erhob sich die junge,
hübsche Frau, sprang geschmeidig auf und … lief mit einem kurzen,
trockenen Lachen weiter.
Guillermo lag weiter auf dem Rücken und lauschte den Schritten
hinterher, die sich rasch entfernten. Auf einmal waren ihm drei
Dinge sonnenklar: Ihm fiel ihr Name wieder ein und wo sie auf dem
Schiff beschäftigt war; er war sich, kaum hatte sie sich wieder
entfernt, sicher, dass sie absichtlich mit ihm zusammengestoßen
war, und er wusste, dass er eine winzige Ewigkeit lang in die
schönsten Augen geblickt hatte, die er je gesehen hatte. Anders
konnte er sich seine plötzliche körperliche Reaktion auch nicht
erklären.
Und genau damit begannen seine Probleme …
*
Wie jeden Abend standen sie vor dem Brutkasten. Drei Eier
schwammen, dunkelrot angestrahlt, inmitten einer silbrigen
Flüssigkeit. Auch die Schale der Eier war grau-silbern marmoriert.
Im Vergleich zu den ausgewachsenen Ontiden waren die Eier winzig
klein. Wenn man eines vorsichtig hochnahm, konnte man es in die
Handfläche eines Feinarms legen.
»Wieder sind es drei Stück …«, murmelte D’koh und ärgerte sich
im gleichen Moment, den Gedanken ausgesprochen zu haben. Vorsichtig
blickte er zu Qua’la herüber und sah, dass sich für Momente ein
Schatten über ihre Augen legte.
»Wir tun unser Bestes«, sagte sie, »und können nur
hoffen.«
Auch ihr erstes Gelege hatte aus drei Eiern bestanden. Aber
nur aus zwei von ihnen war ein lebhaftes Geschwisterpaar
geschlüpft, das mittlerweile schon die dritte Häutung hinter sich
hatte und in Kürze mit der Hypnoschulung beginnen würde. Zurzeit
befanden sie sich in der Obhut einer Vorschule, die sie auf diesen
wichtigen Lebensabschnitt vorbereiten sollte.
Die halb ausgesprochene, halb unterdrückte Befürchtung war
natürlich, dass sie wieder eines der Eier verlieren würden. Die
bisherigen Untersuchungen hatten sie zwar beruhigt, aber auch bei
ihrem ersten Gelege hatte anfangs alles gut ausgesehen. Erst kurz
vor dem prognostizierten Schlüpfzeitpunkt hatte das dritte ihrer
Kinder ohne jegliche Vorwarnung alle Lebenszeichen eingestellt.
Eine sofort von außen vorgenommene Öffnung des Eis konnte es nicht
mehr retten.
D’koh hatte sich lange mit Selbstvorwürfen überhäuft, weil er
Qua’la während der Zeit der Eiablage alleine gelassen hatte. Es war
irrational. Die meisten werdenden Mütter bei den Ontiden lehnten
die Anwesenheit der Väter während der Eiablage ab. Später beim
Beobachten und unter Umständen bei der Unterstützung des Schlüpfens
geschah dies im Kreis der Familie, die sich sofort um die Kinder
kümmerten. Das Legen der Eier jedoch galt als tief
religiös-mythischer Vorgang, bei dem in der Regel nur noch eine
Priesterin mit ihrer Legehelferin anwesend war.
D’koh erinnerte sich, dass ihm Qua’la nach seiner Rückkehr
immer ausgewichen war, wenn er sie gefragt hatte, ob sich die
Priesterin zu einer traditionellen Prophezeiung während der
Eiablage habe hinreißen lassen. Bis vor Kurzem hatte er ihr
Schweigen dahingehend gedeutet, dass die Priesterin gar nichts
gesagt hätte. Prophezeiungen waren die Ausnahme und in ihren
aufgeklärten Zeiten wagte ohnehin niemand, sich öffentlich dazu zu
bekennen, dass er an derart urzeitliche Rituale glaubte.
Vielleicht hat die Priesterin ja doch etwas gesagt, überlegte
D’koh, aber es war negativ, vielleicht hat sie den Tod eines Kindes
angedeutet … Er wusste, es würde für immer Qua’las Geheimnis
bleiben. Es war sinnlos, sie deshalb zu bedrängen. Vielleicht würde
sie es ihm irgendwann einmal anvertrauen, aber darauf durfte er
nicht hoffen. Er musste ihr so oder so vertrauen, etwas anderes
blieb ihm nicht übrig. Andererseits bedrückte ihn die Ungewissheit
von Zeit zu Zeit, und das war dann immer auch der Moment, in dem er
sich Vorwürfe machte, nicht bei ihr gewesen zu sein.
Als Qua’la die jetzigen Eier zur Welt brachte, war er
zumindest im Nebenzimmer gewesen und unmittelbar nach der Ablage
hatte man ihm erlaubt, zu ihr zu kommen. Allein das war ein gutes
Zeichen!
Biologisch war der Zeitpunkt zur Fortpflanzung bei Ontiden
ziemlich kurz, was nicht nur mit der insgesamt geringen
Lebenserwartung zusammenhing. Umso größer war bei allen ontidischen
Eltern der Wunsch, jedes Gelege ohne Verluste durch die Brutzeit zu
bringen. Aber auch nach dem Schlüpfen waren die Kinder noch sehr
gefährdet. In grauer Vorzeit hatte es Fressfeinde gegeben. Ihnen
waren die Kleinen zum Glück schon lange nicht mehr ausgesetzt.
Schon die Eier waren damals oft gestohlen worden. Heute bedrohten
speziell während der Phasen der wachstumsbedingten Häutungen
Infektionen und Verletzungen die Kinder.
Wie bei fast jeder galaktischen Spezies blieb auch bei den
Ontiden ungeachtet technologischer oder gesellschaftlicher
Fortschritte die Elternschaft ein archaisches Abenteuer mit
ungewissem Ausgang.
D’koh wechselte abrupt das Thema. »Seit die Königin in einem
Anfall mentaler Umnachtung deinen werten Bruder zum
Flügeladjutanten ernannt hat, hört man wirklich nur noch schlimme
Dinge über ihn …«
»Sprich nicht so …«, schnappte Qua’la und starrte D’koh wütend
ins Gesicht.
»Nicht so über deinen Bruder?«
»Nicht so über ihre Majestät, die Königin! Sei froh, dass dich
hier niemand hört …«
»Du weißt, dass ich so etwas auch öffentlich äußern würde,
wenn es wichtig und von allgemeinem Interesse wäre.«
»O ja, das weiß ich«, seufzte Qua’la und ihre Fühler
flatterten voller Sorge. »Aber zum Glück ist Kukk’tars Ernennung
eine reine Familienangelegenheit.«
»Familienangelegenheit! Dass ich nicht lache. Ich frage mich
wirklich, welcher Höllendämon die Königin geritten hat, um ihn –
ausgerechnet ihn! – derart auszuzeichnen.«
»Du weißt, dass ich die Letzte bin, die Kukk’tar für eine
derartige Aufgabe für geeignet hält. Es fällt mir nicht leicht, das
zu sagen, er ist schließlich mein Bruder. Und notfalls sage ich ihm
das auch ins Gesicht. Aber die Motivation für die Königin ist
dennoch leicht nachzuvollziehen …« Sie stockte einen Moment.
»Für mich nicht«, erwiderte D’koh trotzig.
»Sie ist in erster Linie dem gesellschaftlichen Ausgleich
verpflichtet. Auf Dauer wäre es nicht gut gegangen nur mich in ihre
Familie aufzunehmen und mit dem Titel einer Prinzessin zu
adeln.«
»Für mich warst du schon immer eine Prinzessin, spätestens
seit dem Augenblick, als ich dir das erste Mal begegnet bin«,
unterbrach sie D’koh.
Mit ihren beiden Feinarmen berührte sie ihn sanft am Kopf.
»Schmeichler … Du weißt, was ich meine. Deine Zärtlichkeit bedeutet
mir auch viel mehr als der Titel. Aber die Königin muss alle
gesellschaftlichen Strömungen berücksichtigen. Ganz besonders dann,
wenn die Kluft mitten durch eine Familie geht.«
»Mag sein«, sagte D’koh in einem Tonfall, der deutlich machte,
dass er mit den Worten seiner Frau überhaupt nicht einverstanden
war. »Es war ein Fehler, ein großer, tödlicher, verhängnisvoller
Fehler, Kukk’tar zum Flügeladjutanten und Oberbefehlshaber der
Leibgarde zu machen …«
»Der Hof-Leibgarde«, präzisierte Qua’la.
»Leibgarde ist Leibgarde«, erwiderte D’koh. »Wie kann man nur
einen ehemaligen Putschisten so nahe an die Königin heranlassen,
noch dazu in einer derart verantwortungsvollen Position? Ich
begreife das einfach nicht … Die Königin gefährdet sich damit
selbst, holt sich ihren eigenen potentiellen Schlächter ins
Haus!«
Qua’la stieß ein paar unartikulierte Protestlaute aus. »Die
Hof-Leibgarde beschützt ausschließlich Teile des königlichen
Anwesens. So dumm wäre ihre Majestät niemals, ihre persönliche
Sicherheit in die Hände eines Mannes wie Kukk’tar zulegen. Es ist
im Grunde ein Repräsentationsposten, nicht mehr und nicht
weniger.«
»Aber …«
»Moment, D’koh. Ich bin noch nicht fertig. Ich kenne das
höfische Protokoll etwas besser als du, deshalb kann ich dir
versichern, dass die Gelegenheiten, zu denen mein Bruder die
Königin überhaupt einmal zu Gesicht bekommt, äußerst selten sein
werden. Nur zu ganz bestimmten offiziellen Anlässen und vielleicht
mal zu einer Feierlichkeit. Aber dann wird ihre Majestät ganz
besonders gut bewacht. Von ihren eigenen handverlesenen Kämpfern.
Und glaub mir, mit denen würde sich auch ein Raufbold wie Kukk’tar
nicht anlegen. Denn auch mein Bruder ist alles andere als dumm
…«
»Wohl gesprochen, Prinzessin«, sagte D’koh nicht ohne Spott.
»Was mir jedoch mindestens ebenso große Sorgen bereitet, ist die
Tatsache, dass dein werter Bruder seine Stellung schon jetzt
schamlos ausnutzt. Zwei Gardisten hat er aus völlig nichtigem
Anlass hinrichten lassen …«
»Das ist in der Tat sehr, sehr schlimm …«, erwiderte Qua’la
leise. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«
»Es ist empörend und es ist mindestens ebenso empörend, dass
das Gesetz ihm in diesem Fall formell sogar recht gibt. Er hat die
beiden Gardisten beim Achtzehner-Würfeln erwischt. Zweifellos ein
Dienstvergehen. Und das fällt in seine Zuständigkeit. Jeder weiß,
beim Wacheschieben wird Wache geschoben und nicht gespielt.«
»Aber jeder andere Vorgesetzte hätte es mit ein paar Wochen
Haft geahndet, schlimmstenfalls mit einer Degradierung oder
Suspendierung«, sagte Qua’la. »Ich weiß, dass es nicht viel
bedeutet, aber seine unverhältnismäßige Härte werde ich ihm nie
verzeihen. Nie!«
Gedankenverloren starrten sie in den Brutkasten. Ohne es
auszusprechen war ihnen beiden klar, dass sie mit aller Macht, die
ihnen zur Verfügung stand, dafür sorgen wollten, ihre Kinder zu
besseren Ontiden zu erziehen. Die unruhigen Fühlerbewegungen
Qua’las verrieten D’koh, dass sie sich zutiefst wegen ihres Bruders
schämte.
»Falls ich ihm irgendwann noch einmal begegnen sollte«, fuhr
Qua’la fort, »und das wird sich kaum vermeiden lassen, werde ich
mich jedenfalls nicht scheuen, ihn wegen seines Verhaltens zur Rede
zu stellen. Selbst wenn die Königin persönlich danebensteht
…«
»Dann wollen wir mal hoffen, dass das recht bald der Fall sein
wird«, sagte D’koh düster.
»Wieso?«
»Weil sonst deine Liste, die du mit Kukk’tar zu besprechen
hast, so lang sein wird, dass sie jedes Protokoll sprengt …«
»Was willst du damit sagen, D ‘koh?« Qua’las Stimme bekam
einen aufgeregten Unterton.
»Ganz einfach meine Liebe«, erwiderte D ‘koh, »er macht ohne
zu zögern da weiter, wo er mit der Hinrichtung der beiden Gardisten
aufgehört hat …«
Qua’la starrte ihn mit großen Augen an. Es war offensichtlich,
dass sie keine Ahnung hatte, worüber er gerade sprach. »Hat er etwa
weitere Todesurteile vollstrecken lassen?«
»Im übertragenen Sinne kann man deine Frage mit Ja
beantworten. Ich sehe, du weißt noch nichts. Dein Bruder wurde von
Minister Zkx’ttr wegen seiner Härte im Fall der Gardisten zur Rede
gestellt und er muss dabei den alten Mann derart beleidigt und
provoziert haben, dass Zkx’ttr nichts anderes übrig blieb, als
Kukk’tar zum Duell zu fordern …«
»Was!« Qua’las hektische Bewegungen mit Fühlern und Feinarmen
verrieten ihre Fassungslosigkeit. »Das überlebt Zkx’ttr nicht.
Woher weißt du das? Der Kampf muss unbedingt verhindert
werden!«
»Woher ich das weiß? Qua’la – Nachrichten und Informationen
sind mein Geschäft. Und verhindern – unmöglich! Du kennst den
Ehrenkodex des Adels besser als ich.«
D’koh schaute auf die schmale Zeitleiste des stummgeschalteten
Bildballons.
»Es ist ohnehin schon zu spät«, sagte er. »Der Waffengang
beginnt in weniger als einer halben Stunde.«
»Wo?«, rief Qua’la. »Weißt du, wo …?«
D’koh scharrte bestätigend mit dem rechten Vorderbein.
»Dann sag es mir«, forderte Qua’la energisch.
D’koh starrte Qua’la nachdenklich an. »Ich werde nicht
zulassen, dass sich meine Frau zwischen die kampfwütigen
Kontrahenten eines Ehrenhandels wirft. Niemals!«
*
Er hätte es sich eigentlich denken können, aber als er eine
weitere Runde durch die Gänge der STERNENKRIEGER lief, rannte sie
ihm nicht mehr über den Weg und somit auch nicht noch einmal über
den Haufen.
Rana Quaid. Ihr Name war ihm in dem Augenblick eingefallen,
als ihre sich entfernenden Schritte nicht mehr zu hören waren.
Seines Wissens gehörte sie zur kleinen, überschaubaren Anzahl
Zivilisten, die an Bord Dienst taten. In Kriegszeiten war das Space
Army Corps of Space Defence notorisch knapp an Personal. Daher war
man auf jene Angestellten ausgewichen, die normalerweise auf Docks
arbeiteten.
Bruder Guillermo empfand sich selbst ja auch eher als
Zivilist, obwohl er formell wie ein Offizier behandelt und
eingestuft wurde. Als er schließlich in seine Kabine zurückkehrte,
schnaufte er zwar wie ein Walross nach dem Tauchgang, aber die
lästige Erregung war endlich abgeklungen.
»Mach dir bloß nichts vor«, zischte er. Seine Gedanken, die
seit dem Zusammenstoß um nichts anderes kreisten, waren
aussagekräftig genug, um sich selbst Lügen zu strafen.
An Schlafen war nicht zu denken, deshalb schaltete er den
Monitor des Kabinenrechners ein und rief nur wenige Augenblicke
später die allgemein zugänglichen Personaldaten seiner heftigen
Begegnung auf.
»Rana Quaid, 27«, las er neben ihrer Fotografie,
»Systemanalytikerin.«
Gehört also zu Erixons Trupp, dachte er, offen verblüfft
darüber, dass das Space Army Corps jemand ohne militärischen
Hintergrund in diese Position ließ. Das musste am Krieg
liegen.
Oha!
Er hatte rasch die Stationen von Studium, Praktika und übriger
Ausbildung überflogen.
»Schrieb sich ursprünglich für ein halbes Jahr auf der Space
Army Corps Akademie ein, hat dann aber ans Turing-College in Oxford
gewechselt.«
Also gibt es doch einen militärischen Hintergrund, auch wenn
sie diesen Karriereweg wieder geschmissen hat. Vielleicht ja nur
vorübergehend, wer weiß?
Ansonsten enthielt die offizielle Crew-Seite keine weiteren
Einträge. Name, Alter, Bild, Rang und Aufgabe waren Vorschrift,
weitere Informationen konnte man freiwillig beisteuern, konnte es
aber auch bleiben lassen. Für den Bruchteil einer Sekunde wischte
eine vage Vorstellung durch seinen Schädel. Sie bestand im
Wesentlichen aus dem Bild einer Zweierkabine, in der die
Systemanalytikerin in just diesem Moment ebenfalls vor einem
Monitor saß und Informationen über einen gewissen Olvanorer
las.
»Bild dir bloß keine Schwachheiten ein«, knurrte Guillermo
laut und verscheuchte diese Vorstellung wie ein lästiges
Insekt.
Entweder hat sie Dienst und muss sich zwangsläufig mit ganz
anderen Dingen beschäftigen oder sie hat frei, dann liegt sie
längst in Morpheus Armen …
Das altmodische Bild einer heidnischen Gottheit des Schlafes
ärgerte ihn im gleichen Moment, als es ihm durch den Kopf schoss.
Es war unsinnig, aber ihm behagte die Vorstellung überhaupt nicht,
Rana Quaid in irgendwelchen Armen zu wähnen und sei es nur in denen
einer Fantasiegestalt.
»Ich fürchte, ich muss dringend an meiner geistig-emotionalen
Stabilität arbeiten, sonst bin ich in kürzester Zeit durch den Wind
…« Bruder Guillermo drehte sich in die Richtung des kleinen
Spiegels, der an seiner Spindtür hing, um einen Blick auf sein
Spiegelbild zu erhaschen. Was er sah, gefiel ihm nicht sonderlich.
Zerzauste, ungekämmte Haare, die in allen Richtungen von seinem
Kopf abstanden, nervös schauende Augen, die das, was sie sahen, gar
nicht sehen wollten, aber dennoch dazu gezwungen wurden.
»Ich bin bereits durch den Wind«, seufzte er und ließ die
Schultern sinken. Im Grunde wusste er auch genau warum. Und die
Antwort auf diese Frage hatte nur in zweiter Linie etwas mit Rana
Quaid zu tun. Natürlich auch, aber das war, wie so oft, nur die
halbe Wahrheit …
*
Die letzten Reste der Dämmerung wurden von der Schwärze der
Nacht verschluckt. Noch immer war es drückend heiß und die fast
undurchdringliche Dunkelheit wurde nur von einem rötlich-gelbem
Schein durchbrochen, der zwar ebenfalls Hitze ausstrahlte aber
nicht hell genug war, um mehr als die unmittelbare Umgebung zu
erleuchten.
Schwarz vor Schwarz ließen sich die hohen Bäume eher erahnen,
als wahrnehmen. Das Licht der nächtlichen Gestirne wurde von
breiten Wolkenfeldern verschluckt, die schon den ganzen Tag über
den Himmel verhüllt hatten. Darunter hatte sich eine stickige
Schwüle festgesetzt, die auch während der Nacht nicht weichen
würde. Für Lebewesen, deren Metabolismus auf die regelmäßig Zufuhr
von Selen angewiesen war, bedeutete dieses Klima eine kaum spürbare
Beeinträchtigung ihres Stoffwechsels, schließlich atmeten Ontiden
nicht, konnten sogar in luftleerem Raum überleben und wesentlich
niedrigere oder auch höhere Temperaturen ertragen.