Viele Steine bilden einen Weg - Marya Grathwohl - E-Book

Viele Steine bilden einen Weg E-Book

Marya Grathwohl

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Beschreibung

Auf dem Weg zu einer ganzheitlichen, erdverbundenen Spiritualität

Schon als Kind spürt Judy Grathwohl eine eigentümliche Verbindung zur Natur: Spaziergänge mit der Familie gehen grundsätzlich hinaus in die belebende Weite der Felder und Hügel; die Krallen eines Eichhörnchens, das über ihren Mädchenarm hinwegflitzt, erlebt sie wie Spuren, die sich tief in ihren Körper einschreiben. Die katholischen Eltern fördern ihre spirituelle Musikalität, 1963 wird aus Judy Franziskaner-Schwester Marya, die bald als Lehrerin arbeitet – aber nie das Gefühl hat, wirklich bei sich und ihrer Berufung angekommen zu sein.

Als ihr Orden sie nach Montana entsendet, um dort Kinder des indigenen Crow-Stammes in Englisch zu unterrichten, beginnt für Marya eine spirituelle Reise, die ihr gesamtes Leben, ihr Weltverstehen, ihr Selbstverständnis komplett verändern wird. Im Aufeinanderprallen der katholischen und indigenen Spiritualität durchläuft sie eine nicht schmerzfreie, aber am Ende bewusstseinsöffnende Transformation. Sie erkennt, dass die beiden Weltzugänge sich nicht widersprechen, sondern – ganz im Gegenteil – Spielarten eines Ganzen sind. Sie erkennt: Gottes Liebe findet sich in allem, wir sind alle miteinander verbunden, alle Menschen, Tiere, Pflanzen – die gesamte Natur. Weshalb es für Schwester Marya nur eine mögliche Konsequenz gibt: Sie muss sich für den Erhalt der Natur engagieren.

In diesem packenden und ehrlichen Memoir erzählt Marya Grathwohl ihre spirituelle Reise nach: wie sie zuerst die verbindende Kraft der unterschiedlichen Spiritualitäten entdeckt und schließlich zu einem Weltverstehen findet, das tief durchdrungen ist von der Liebe zu unserem Heimatplaneten. Absolut augenöffnend für jeden modernen Menschen, der ahnt, dass Natur wahrhaft göttlich ist.

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Seitenzahl: 406

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Schon als Kind spürt Judy Grathwohl eine eigentümliche Verbindung zur Natur: Spaziergänge mit der Familie gehen grundsätzlich hinaus in die belebende Weite der Felder und Hügel; die Krallen eines Eichhörnchens, das über ihren Mädchenarm hinwegflitzt, erlebt sie wie Spuren, die sich tief in ihren Körper einschreiben. Die katholischen Eltern fördern ihre spirituelle Musikalität, 1963 wird aus Judy Franziskaner-Schwester Marya, die bald als Lehrerin arbeitet – aber nie das Gefühl hat, wirklich bei sich und ihrer Berufung angekommen zu sein.

Als ihr Orden sie nach Montana entsendet, um dort Kinder des indigenen Crow-Stammes in Englisch zu unterrichten, beginnt für Marya eine spirituelle Reise, die ihr gesamtes Leben, ihr Weltverstehen, ihr Selbstverständnis komplett verändern wird. Im Aufeinanderprallen der katholischen und indigenen Spiritualität durchläuft sie eine nicht schmerzfreie, aber am Ende bewusstseinsöffnende Transformation. Sie erkennt, dass die beiden Weltzugänge sich nicht widersprechen, sondern – ganz im Gegenteil – Spielarten eines Ganzen sind. Sie erkennt: Gottes Liebe findet sich in allem, wir sind alle miteinander verbunden, alle Menschen, Tiere, Pflanzen – die gesamte Natur. Weshalb es für Schwester Marya nur eine mögliche Konsequenz gibt: Sie muss sich für den Erhalt der Natur engagieren.

In diesem packenden und ehrlichen Memoir erzählt Marya Grathwohl ihre spirituelle Reise nach: wie sie zuerst die verbindende Kraft der unterschiedlichen Spiritualitäten entdeckt und schließlich zu einem Weltverstehen findet, das tief durchdrungen ist von der Liebe zu unserem Heimatplaneten. Absolut augenöffnend für jeden modernen Menschen, der ahnt, dass Natur wahrhaft göttlich ist.

Eine Franziskanerin entdeckt die verbindende Kraft des indigenen Glaubens

Aus dem Englischen von Judith Elze

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »This Wheel of Rocks. An Unexpected Spiritual Journey« bei Riverhead Books, einem Imprint von Penguin Publishing Group, einer Abteilung von Penguin Random House LLC, New York.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with Riverhead Books, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit konnte eine gendergerechte Schreibweise nicht durchgängig eingehalten werden. Bei der Verwendung entsprechender geschlechtsspezifischer Begriffe sind im Sinne der Gleichbehandlung jedoch ausdrücklich alle Geschlechter angesprochen.

Alle im Buch zitierten Bibelstellen: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe © 2016 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN978-3-641-32038-6V001

www.koesel.de

Für die Zukunft der Erde: den Kindern auf der ganzen Welt, den Kindern aller Gattungen und Arten.

Inhalt

Vorwort

Teil I.DERWEGNACHPRYOR, MONTANA

VorahnungenEin RufKatholischer RegenDem Horizont nach

Teil II.LANDUNDHIMMELFÜRALLEZEIT:Die Heimat der Apsáalooke

Einleitung

BaáhpuuoDas KlassenzimmerSchwitzhütte bei Familie Big DayAdoption als CrowEin heiliges Bündel wird geöffnetZeit für eine Veränderung

Teil III.DASINSTITUTFÜRSCHÖPFUNGS-ZENTRIERTESPIRITUALITÄT, CHICAGO

Mit Mokassins in ChicagoUnverbrüchliche VerbindungWas der Crow-Älteste weiß

Teil IV.EINNEUERWEG

Eine Frau weist die Richtung Sonnentanz zum JahrestagSchwester Claire handeltIch erfinde mich neu

Teil V.DIEHOFFNUNGDERERDE, DENMENSCHENNEUZUERFINDEN

Ein neuer, echter NameGrandma Nellie und die VögelRichte vor allem keinen Schaden anDer Professor für Earth Literacy verneigt sich vor dem UniversumDie Michaela-Farm und die Sisters of St. FrancisJesus als NaturmystikerDieses Universum spricht in SchönheitEin Wort der HoffnungVorfahren und Schicksal

Dank

Über die Autorin

Vorwort

Die 1200 Meter bergauf auf dem Wyoming State Highway vom Tongue River Valley bis zum ersten Gipfel der Bighorn Mountains sind eine Reise in die Vergangenheit.

Am Straßenrand erzählen große braune Schilder Geschichten, die in den übereinanderliegenden Felsschichten festgeschrieben sind. Ich greife nach dem einzigen Stück Papier im Auto, einer Landkarte von Wyoming, und kritzle mir Notizen an den Rand, während meine langjährige Freundin Dorie Green auf den steilen Serpentinen das Tempo drosselt. Ich lese »PERM und TRIAS, 199 – 299 MILLIONENJAHREALT«, rasch gefolgt von »PENNSYLVANIUM«, »MISSISSIPPIUM«, »DEVON, 359 – 416 MILLIONENJAHREALT« und »ORDOVIZIUM, 443 – 488 MILLIONENJAHREALT«. An jeder Kurve eröffnet sich ein neuer atemberaubender Blick auf das unter uns gelegene Tal.

Dorie und ich unterhalten uns lebhaft über die Lebensformen, die in diesen Zeitaltern entstanden und in der Vorstellung fast ebenso atemberaubend sind wie der immer wieder spektakuläre Blick. Obwohl Dorie sich von der Religion als Institution distanziert hat, ist sie es, die den Begriff »Felsenrosenkranz« erfindet, als Ausdruck für die Abfolge der Lebensmysterien, die in den Felsschichten festgehalten sind: der Reptilien, Wälder, Amphibien, Fische, Körper aus zusammenhängenden Zellen, der Fotosynthese.

Während der Berg die wunderbare Evolution des Lebens enthüllt, taucht in mir die Frage auf: »Wer sind wir Menschen? Welche Rolle spielen wir in dieser Vielfalt von Lebensformen, was ist unser Geschenk an die Erde?« Diese großen Fragen verlangen nach einem Universum oder einer Religion. Vielleicht könnte mir aber ein Berg bei einer kleineren Frage helfen, die mich quält und der ich hier nachgehe.

Als wir in der Nähe des Gipfels einen Felsvorsprung umrunden, steht dort ein weiteres Schild: »PRÄKAMBRIUM, 2,9 MILLIARDENJAHREALT. GRANIT.« Mich überkommt die blanke Ehrfurcht.

Vor etwa 4,6 Milliarden Jahren begann die Erde zu entstehen. An diesem Felsvorsprung befinden wir uns in der Gegenwart von einigen der ältesten freiliegenden Felsen des gesamten Planeten. Als diese massiven Steinplatten langsam tief in der Erde abkühlten, hatte sich auf rätselhafte, vielleicht ganz einfache Weise bereits eine Milliarde Jahre lang raunend Leben entwickelt.

Wir finden eine Haltebucht. Ich laufe schnell zurück und hebe neben dem Schild etwas Kleines auf. Aus dem Stein, schwer im Vergleich zu seiner Größe, glitzert der Quarz. Ich halte ihn mir an die Lippen.

»Du bist Zeuge der Urschöpferkraft des Lebens, der Erschaffung der Fotosynthese«, murmele ich.

Ich schweige und horche. Die Zeit steht still.

In den Händen halte ich eine alte Schrift, einen Stein, der schreit. Ich erinnere mich, dass Jesus vor erst zweitausend Jahren gesagt hat: »Wenn (die Menschen) schweigen, werden die Steine schreien.«

Die Erde, ein Felsenplanet, schreit. Die Erde schreit auf gegen das massenhafte globale Artensterben, gegen die Zerstörung durch den menschengemachten Klimawandel und gegen die militarisierte, industrialisierte Menschheit mit ihrer »Heldentat«, Boden, Luft und Wasser – die Lebensgrundlagen der Erde – zu zerstören. Die Erde schreit auf gegen das Leid, das wir Menschen einander bereiten.

Hier meine Frage an den Berg: Wie können wir lernen, unseren Beitrag zum Festzug des Lebens zu leisten, zu dieser nie endenden Geschichte einer Gemeinschaft der Arten als eigenständiger Subjekte?

Ist die Erde wirklich eine Gemeinschaft von Subjekten, die jeweils mit Demut zu achten sind, oder eher eine Ansammlung von Objekten, die für den ökonomischen Profit und die Macht des Menschen ausgebeutet werden dürfen? Wenn wir auf dem Urgranit stehen und ihn in unserer Menschenhand nah ans Ohr und ans Herz halten, hören wir die Stimme der frühen Lebensahnen.

Mikroskopische Wesen fanden Wege, um Energie aufzunehmen und sich zu vermehren.

Könnten wir uns Milliarden von Jahren später trauen, Wege zu finden, an der Energie der Gemeinschaft des Lebens teilzuhaben und blühende menschliche Gemeinschaften zu erfinden, die die gesamte Erdgemeinschaft und vor allem unseren Planeten fördern?

Zusammen mit anderen Mitgliedern der Sisters of Saint Francis, Oldenburg (Indiana), fordere ich dazu auf, »ein Wort der Hoffnung zu sprechen«. Mein Leben lang habe ich die Schreie der leidenden Erde gehört. Es fing an, als ich mit meinen Eltern das Grab der ausgestorbenen Wandertaube im Zoo von Cincinnati besuchte. Als wir es verließen, war ich traurig. Als junge Erwachsene nahm ich die Schreie der schadstoffbelasteten Luft und des verschmutzten Wassers wahr. Das machte mich noch trauriger. Nach und nach fand ich den Weg zu den Ältesten und Kindern der Crow und Northern Cheyenne, zu Uniprofessoren und Wissenschaftlern, zu Geologen und Schriftgelehrten sowie Umweltaktivisten, zu all den Frauen und Männern, die mich lehrten, dem Leiden der Erde und der Menschen zuzuhören und Hoffnung zu spenden, indem ich mich für eine Neuerfindung dessen einsetzte, was es bedeutet, Mensch zu sein. In der heutigen Zeit extremer Zerstörung wage ich es, dieses Buch als Wort der Hoffnung und als Einladung zu transformierendem Handeln anzubieten.

1

Vorahnungen

Dein Wirken werde sichtbar an deinen Knechten und deine Pracht an ihren Kindern.

Psalm 90:16

Es waren Vorahnungen, so viel ist mir heute klar. Sie schwebten durch die materielle Welt und kamen flüsternd zu mir. Ich glaube, sie waren gottgesandt. Es waren Botschaften, die sich in meiner Seele und in meinem Geist niederließen, ebenso hartnäckig wie ein Verlust oder eine Erinnerung an etwas Schönes. Sie hatten das Potenzial, meine Zukunft zu formen.

Als Erstes war da meine Mutter. Mary Jane Seiler Grathwohl ging oft mit mir auf dem Arm in ihrem Garten umher. Sie hielt inne, um die hohen weißen Lilien zu bewundern, ließ mich an ihren weißen Gesichtern riechen und wischte mir den gelben Blütenstaub von der Nase.

Frisch verheiratet kauften Jane und Larry Grathwohl in Norwood, Ohio, ein Haus am Ende einer Sackgasse, der Laura Lane. Abends gingen sie häufig spazieren, um in der Nähe Parks ausfindig zu machen, in die sie ihre künftigen Kinder würden mitnehmen können. Zwanzig Fußminuten von zu Hause entfernt entdeckten sie einen heiligen Hügel. Zwei verschiedene indigene Völker, die von Archäologen als Adena-Kultur (von 800 v. u. Z. bis 100 n. u. Z.) und Hopewell-Kultur (von 100 bis 500 n. u. Z.) bezeichnet wurden, hatten im Ohio Country Hunderte von Grabhügeln und zeremoniellen Stätten gebaut. Wie sich diese Völker selbst nannten, ist nicht überliefert. Allerdings konnten Jane und Larry nicht wissen, wie dieser Hügel, der sogenannte »Mound«, meine Zukunft beeinflussen würde. Für mich war die Laura Lane jedenfalls keine Sackgasse.

Der Mound bildete die höchste Erhebung in unserer Nachbarschaft. Als kleiner Park eingezäunt, war er einer der wenigen unberührt gebliebenen heiligen Hügel. Dahinter hatte Norwood die beiden städtischen Wassertürme gebaut.

Wann immer ich entscheiden durfte, wohin einer unserer häufigen Familienspaziergänge führen sollte, schlug ich den Mound vor. Der kegelförmige Grashügel war fast so hoch wie ein einstöckiges Haus. Ahornbäume und Eichen hatten darauf Fuß gefasst.

Selbst in der feuchten Sommerzeit war es dort still und frisch. Wenn wir um den Mound herumliefen, ermahnte uns unsere Mutter, nicht hochzuklettern, weil er etwas ganz Besonderes sei. Meine beiden Schwestern Regina und Susan und ich standen dann dicht neben ihr und sprachen das katholische Totengebet: »Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen. Lass sie ruhen in Frieden. Amen.« Das Gebet konnten wir auswendig, weil wir es vor jeder Mahlzeit beteten, wenn Mom und Dad ihrer Eltern und ihrer sechs Brüder und Schwestern gedachten, die alle schon verstorben waren. Die Ehrerbietung, die wir unseren Familienmitgliedern entgegenbrachten, übertrugen wir auch auf diese unbekannten Toten.

Heute ist mir klar, dass meine Eltern dadurch, dass sie uns die Achtung vor dem Mound beibrachten, bei mir auch die Gabe des Staunens förderten. Ich lernte, dass ein Mysterium in Verbindung mit Stille und Schönheit ein Gefühl für das Heilige hervorrief. Dieser Ort war beim besten Willen keine »Kirche«, aber hier in der Natur und angesichts des antiken menschlichen Brauchs gab es eine Art heilige Präsenz und Kraft, die mich vielleicht noch mehr beeindruckte als die Kirche.

Der Mound entfachte meine Vorstellungskraft. Ich fühlte mich mit den Menschen verbunden, die ihn erbaut hatten und in unserer jetzigen Nachbarschaft gewohnt haben mussten. Wenn ich zurück in der Laura Lane war, zur Schule ging und an den Häusern meiner Freundinnen vorbeilief, sah ich die Kinder der Menschen vom Mound vor mir, wie sie in den Gärten unter den Bäumen spielten oder hinter den Hecken hervorlugten, die vor Straßeneinblicken schützten.

Außerdem rückten der Mound und seine Menschen meinen Geschichtssinn zurecht, denn hier wurde mir eine Geschichte von Menschen geschenkt, die älter war als unsere Familiengeschichten über die Großeltern, die aus Deutschland und dem Elsass ins Ohio-Tal übergesiedelt waren. Diese Geschichte war älter als Amerika, älter als Kolumbus und dichter an unserem Zuhause gelegen als die Erzählungen über das erste Thanksgiving und Pocahontas.

Es war nur das begrenzte Bewusstsein eines Kindes, doch es schenkte mir Achtung und Ehrfurcht gegenüber den Ureinwohnern dieses Kontinents. Es wies auf das Heilige in der Natur und sollte mir später im Leben bei meiner Arbeit mit den Crow und Northern Cheyenne in deren angestammtem Heimatland, das wir Montana nennen, von Nutzen sein.

Mein Großvater mütterlicherseits lebte ebenfalls bei uns im Haus an der Laura Lane. Er hatte bei einem Arbeitsunfall ein Bein verloren. Mit Stock und Beinprothese steuerte er vorsichtig durchs Haus und saß häufig draußen auf der Veranda. Er besaß endlose Erdnussvorräte für das Eichhörnchen, das auf der hohen Eiche nur ein paar Meter von den Verandastufen entfernt lebte. Meine Schwestern und ich saßen auf den Stufen und legten auf Anweisung unseres Grandpas eine Erdnuss an den Fuß des dicken Baumstamms. Sie verschwand im Nu.

Die nächste Erdnuss wurde einen Meter vom Stamm entfernt platziert. Auch sie verschwand schnell. Die nächste noch etwas näher an den Stufen. Weg war sie. Dann legte ich mir eine Erdnuss auf die Schuhspitze. Still saßen wir da, ohne uns zu rühren.

Plötzlich kam das Eichhörnchen vom Baum auf meinen Schuh gesprungen, schnappte sich die Erdnuss, sprang mir aufs Knie, dann auf die Schulter, lief über meine Schultern zum anderen Knie und dann zurück zum Baum. Mit weit aufgerissenen Augen wandte ich mich atemlos und aufgeregt meinem Grandpa zu.

»Das Eichhörnchen ist über mich rübergelaufen«, rief ich und rannte ins Haus, um es meiner Mom zu erzählen. Heute ist mir klar, dass das Eichhörnchen seinen Fußabdruck nicht nur auf meinen Schultern, sondern in meinem ganzen Sein hinterlassen hatte. Das Spüren von lebendiger Natur, von Eichhörnchen wurde ein Teil von mir. Und ich fühlte mich so beschenkt. Es war meine erste Lektion darüber, wie ich Eingang in die Welt von Wesen finden konnte, die sich unserer Kontrolle entziehen.

Jeden Sommer kratzten Mom und Dad Geld zusammen, um mit uns in den Cincinnati Zoo zu gehen. Mit den Jahren hatte sich der Zoo ein wenig gemausert: von stinkenden Gebäuden mit in Käfige eingesperrten Tieren zu großzügigeren Schauplätzen, manchmal auch unter freiem Himmel, die das natürliche Habitat der Tiere imitieren sollten. Die Affeninsel, die von einem tiefen Graben umgeben war, sah aus wie ein Spielplatz und war mit Hügeln, einem Labyrinth aus Tunneln, Bäumen und Schaukeln aus herabhängenden Lianen versehen. In großen, dicht bepflanzten Räumen flogen tropische Vögel umher. In einem miniaturartigen Sumpf lag faul ein Alligator herum.

Ein Steinbau passte nicht ins Schema. Er war klein, hatte ein orangefarbenes, pagodenähnliches Dach und eine schwere Holztür, die wir langsam aufstießen. Drinnen war es kühl und still. Licht drang durch kleine Fenster hinein. Es fühlte sich fast an wie in einer Kirche.

Vor uns sahen wir zwei Vogelausstellungen, und die ausgestellten Vögel waren allesamt tot – ausgestopft und aufgestellt wie in einem Naturkundemuseum, nicht wie in einem Zoo.

Dad und ich schauten uns gemeinsam drei große, wunderschöne Vögel an. In ihrem sanften Blau-Grau mit der rosigen Brust, den langen, spitz zulaufenden Flügeln und dem anmutigen Schwanz sahen sie aus wie Carolinatauben. Dad erklärte mir, es seien keine normalen Tauben, sondern Wandertauben, von denen das letzte Exemplar namens Martha eben hier in diesem Zoo am 1. September 1914 gestorben sei. Er zeigte auf ein Gemälde.

»Das ist Martha«, sagte er.

Er erklärte mir, einst habe es mehr Wandertauben gegeben als sonst irgendeine Landvogelart auf der ganzen Welt. Es waren Milliarden von Vögeln gewesen. Sie hatten in den Wäldern im Osten Nordamerikas gelebt und waren in so großen Schwärmen durchs Land gezogen, dass sie wie bei einer Sonnenfinsternis die Sonne verdeckten.

Unter Milliarden konnte ich mir nichts vorstellen, wohl aber unter riesigen Wolken von Vögeln, die die Sonne verdunkelten. Ich sah sie vor mir, auch wenn es nur eine Vorstellung war. Und ich begriff, dass es sie nicht mehr gab. Nicht einen einzigen von ihnen.

Ich bestaunte noch mehr tote, ausgestopfte Vögel. Unter ihnen befand sich Incas, der letzte Karolinasittich, der am 21. Februar 1918 in demselben Käfig starb, in dem auch Martha verstorben war. Auch von diesen leuchtend grün-gelb-orangenfarbenen Vögeln hatte es einst Millionen gegeben. Ich versuchte zu begreifen, was der Verlust zweier ganzer Arten bedeutete. Vor allem der der Wandertauben. Nirgendwo mehr Wandertauben. Wie hatte das passieren können, wenn es doch so viele gewesen waren?

Der Vater der amerikanischen Ornithologie Alexander Wilson besuchte 1806 ein Brutgebiet der Wandertauben in der Nähe von Shelbyville, Kentucky. Er dokumentierte, dass es einige Meilen breit sei und sich über 40 Meilen durch ein Waldgebiet erstreckte. Allein in einem Baum zählte er mehr als einhundert Nester. Laut Bericht der Bewohner der Region klang ihr Lied, das durch die Bäume drang, wie Hunderte von Schlittenschellen. 1813 dokumentierte James Audubon einen den Himmel ausfüllenden Wanderschwarm, der so groß war, dass er drei volle Tage ohne Unterlass über seinen Kopf dahinflog.

Die indigenen Völker Kanadas weigerten sich, nistende Wandertauben zu jagen, solange ihre Jungen noch nicht fliegen konnten. Sie versuchten, die europäischen Siedler davon abzuhalten, die Schwärme zu stören, denen man sich in der Brutzeit leicht nähern konnte. Doch die Europäer bewaffneten sich mit Gewehren, Knüppeln, Steinen und Stangen, um die Vögel zu töten. Weil die Siedler die Kiefern-, Buchen- und Hemlocktannenwälder im Osten des Kontinents gerodet hatten, waren die Vögel ihrer natürlichen Nahrungsgrundlage beraubt worden und dazu übergegangen, die Erbsen und den Hafer der Bauern zu fressen.

Schließlich entdeckte man die Tauben als Delikatesse, und die Nachfrage am Markt führte dazu, dass die Vögel unentwegt abgeschlachtet wurden. In den 1870er-Jahren wurden sie von den Brutstätten in den Catskill Mountains nach New York City gebracht, tonnenweise und eisgekühlt. Das Dutzend wurde zu etwa fünfzig Cent verkauft.

Vogelfänger, die Köder verwendeten, schafften es, bis zu 250 Dutzend Vögel auf einen Schlag zu fangen. Indem sie Töpfe mit brennendem Schwefel unterhalb der Schlafbäume platzierten, betäubten sie die Vögel, sodass sie zu Boden fielen. Hunderte von Taubenjägern erhielten telegraphisch Informationen über die Standorte und reisten den Taubenschwärmen bis zu tausend Meilen im Zug nach. An einer Niststätte in Michigan in der Nähe von Petoskey wurden über fünf Monate lang bis zu 50 000 Tauben pro Tag mit Netzen gefangen, geschossen und mit Knüppeln erschlagen. Abends kehrten die Taubenjäger heim, zogen sich die blutigen, federbehangenen Kleider aus und setzten sich zum Abendessen mit ihren Familien an den Tisch. An manchen Orten wurden bis zu 180 000 Vögel an einem einzigen Tag getötet.

Am 11. Mai 1947 errichtete die Winsconsin Society for Ornithology der Wandertaube auf einem Felsvorsprung am Mississippi ein steinernes Denkmal mit Blick über den Fluss und auf eine ihrer früheren Flugrouten. Auf einer Bronzetafel unter dem Bild des Vogels steht: GEIZUNDUNÜBERLEGTHEITDESMENSCHENHABENDIESEARTZUMAUSSTERBENGEBRACHT. Und vielleicht Verzweiflung. Denn für die Bauernfamilien, die sich kaum selbst zu ernähren vermochten, stellten die Vogelschwärme eine weitere Bedrohung dar, die womöglich gar an die biblischen Plagen erinnerte.

Vielleicht war es auch unvorstellbar, dass eine so große Menge von Vögeln jemals ganz verschwinden würde. Doch um 1880 beschleunigte sich ihr Niedergang kontinuierlich. In den 1890ern sichtete man noch immer Schwärme von einigen Hundert Vögeln, fing sie in Netzen oder schoss sie direkt. Versuche, kleine Schwärme in Gefangenschaft zu züchten, scheiterten. Der letzte gemeldete Wildvogel in Wisconsin wurde im September 1899 geschossen. Der letzte auf dem gesamten Kontinent dokumentierte wurde am 24. März 1900 auf einer Farm in der Nähe von Sargents in Ohio von einem vierzehnjährigen Jungen geschossen.

Martha starb gegen 12:30 Uhr allein in ihrem Käfig in Cincinnati, Ohio. Sie war neunundzwanzig Jahre alt. Die Schlittenschellensinfonie war für immer auf dem Kontinent verstummt.

Die Nachricht von Marthas Tod schockierte die Nation. Der Vogel wurde in einem Eisblock eingefroren und im Zug zur Smithsonion Institution transportiert, wo er ausgestopft wurde und bis heute aufbewahrt wird. Es war das erste Mal, dass die Amerikaner die Endgültigkeit des Aussterbens einer Art erlebten. Die Menschen begannen zu verstehen, wie wichtig Bemühungen um den Erhalt der Tierwelt sind. Das Land erkannte aus erster Hand die Notwendigkeit von Strategien und Gesetzen zur Erhaltung von Lebensraum und zur Verhinderung eines räuberischen Tötens von Wildtieren zu sportlichen Zwecken oder zum Verzehr.

Als Kind wusste ich noch nicht viel über diese historischen Hintergründe, doch das Aussterben der Wandertaube ging mir seltsamerweise sehr ans Herz. In der Schule erfuhren wir vom Aussterben auch anderer Vögel und Tiere wie zum Beispiel des flugunfähigen, freundlichen Dodos. Das machte mich traurig, auch wenn man uns sagte, er sei dumm – fast so, als hätte er es deshalb verdient auszusterben.

Heute machen uns die meisten Wissenschaftler darauf aufmerksam, dass wir uns in der Phase des sechsten Massenaussterbens befinden, das fast ausschließlich durch menschliches Handeln verursacht wird: durch die Zerstörung von Lebensräumen, wirtschaftlichen Druck, Überfischung, Wilderei und den Klimawandel. Wir leben inmitten eines Crescendos an Aussterbeereignissen. In diesem Wissen verfolgen mich der Anblick von Martha und ihre Geschichte heute wieder. Sie war und bleibt der greifbare Schrecken, Verlust und Schaden einer vom Menschen verursachten Vernichtung, die uns direkt ins Gesicht starrt.

Als ich zwölf war, zogen wir von der Laura Lane fort in ein einfaches Holzhaus. Es lag auf einem etwa 1000 Quadratmeter großen Stück Land in der Blue Rock Road in White Oak, einem anderen Stadtteil von Cincinnati. Mom liebte das Haus. Dad genoss die Größe des Gartens und begann sofort damit, Wein anzubauen und einen großen Biogarten anzulegen.

Eines Abends rüttelte mich Mom in unserem neuen Haus aus tiefem Schlaf wach. »Judy«, rief sie mich bei meinem Vornamen, »komm. Ich muss dir etwas zeigen.« Verwirrt und missmutig stolperte ich ihr hinterher ins Bad. Sie zog die von ihr aus Handtüchern gefertigten Vorhänge am Fenster auf. Sie waren weiß mit großen gelben Schmetterlingen, sie hatte sie selbst gestaltet, weil richtige Vorhänge zu teuer gewesen wären.

»Schau mal.«

Wir lehnten uns über den weißen Wäschekorb und guckten aus dem Fenster. Draußen strahlte, hell vor dem Nachthimmel, der Vollmond, als wäre er von innen heraus erleuchtet, wie eine riesige Laterne. Unser teerglattes Garagendach, die langen Nadeln der Kiefer, die Metallstreben von Dads Reben und das taufrische Gras schimmerten im Mondlicht. Alles glitzerte und war von Licht durchflutet. Auch meine Mom und ich.

»Ich wollte bloß, dass du diese Schönheit nicht verpasst«, flüsterte sie. »Jetzt können wir weiterschlafen.«

Sie und mein Dad waren meine Lehrer fürs Leben. Nachdem ich nun seit fast fünfzig Jahren Franziskanerin bin, weiß ich, dass Schönheit für franziskanische Theologen und Philosophen das höchste und intimste Wissen um Gott bedeutet und ein anderer Name für Gott, ja, der Name für Gott ist. Der heilige Bonaventura und der selige Johannes Duns Scotus lehren, dass die Schönheit und Vielfalt der Schöpfung uns im Leiden und im Verlust nähren. Wenn wir nicht mehr wissen, wozu wir leben, wenn uns Kriegserinnerungen krank machen, wenn die Erde mit beispielloser Grausamkeit angegriffen wird, um Kohle, Gas, Öl, Holz und Profit aus ihr herauszuschlagen, wenn Armut um sich greift und sich extremer Reichtum bei wenigen ansammelt, wenn Freunde uns verraten und alle, die wir lieben, weit weg uns von leben …, dann bleibt uns noch immer die Schönheit erhalten und hilft uns zu überleben. Und Gott.

Meine Mutter Mary Jane Grathwohl war die Erste, die mich dies lehrte. Sie schenkte mir eine Methode, nach der ich im Wissen um Gott zu wachsen vermochte: Du weißt, was du zu tun hast. Wach auf. Steh auf. Zieh die Vorhänge auf. Und steh einfach still in der Dunkelheit, in der Schönheit.

Im darauffolgenden Winter stürmte ich eines Tages in die Küche, als hätten mich die letzten Winde des Schneesturms hergetrieben, der den Nachmittag verschluckt hatte. Ich sah Dad an seinem kleinen selbst gebauten Schreibtisch in der Ecke des Esszimmers gegenüber der Küchentür sitzen und blieb an der Tür stehen. Der Schnee tropfte von meinen Stiefeln auf das gelb-blau gemusterte Linoleum.

»Dad!«, setzte ich an.

»Wie war es heute in der Schule, Judy?«, fragte er und blickte von seinen Papieren auf.

»Es geht nicht um die Schule, Dad, sondern um die Schafgarben draußen auf Freys Weide am Hang. Du weißt schon, die Blumen gleich hinter dem neuen Wohnhaus.«

Er nickte.

»Dad, diese ganzen wintertoten Blumen mit dem Schnee obendrauf. Ich will nicht vergessen, wie schön das aussieht. Aber wie geht das?«

Ich sagte ihm das einfach nur, weil er da war. Und auch, weil er noch so viele Details von seinen drei Reisen in die Nationalparks im Westen wusste und beschreiben konnte, obwohl seit den 1930er-Jahren, als er dort gewesen war, schon mehr als fünfundzwanzig Jahre vergangen waren. Wann immer wir ihn fragten, erzählte er uns vom Angeln bei Sonnenaufgang am Ufer des Lake McDonald in Glacier, vom Schweiß und den Gefahren einer ganztägigen Wanderung hinunter in den Grand Canyon, vom Old Faithful-Geysir, der genau im richtigen Moment ausgebrochen war. Aber wie kam es, dass er sich so gut erinnern konnte? Ich wartete.

»Das geht so, Liebes. Es ist eigentlich ganz leicht. Geh einfach raus auf den Hügel und stell dich mitten in die verschneiten Blumen. Bleib dort stehen, bis du sie ganz tief in deinem Herzen spüren kannst. Dann wirst du sie nie mehr vergessen.«

Ich weiß nicht, ob ich ihre Schönheit tatsächlich im Herzen spürte, als der Sturm vorübergezogen war und der Himmel wieder alle Sterne zeigte. Aber immer, wenn ich an jenen Abend zurückdenke, steigt die Erinnerung in mir auf. Damals jedoch ging ich im Dunkeln einfach wieder heim, den Hügel hinunter, dem Licht aus unserem Küchenfenster entgegen.

Das war meine erste Lektion im kontemplativen Gebet. Es ist immer die gleiche Übung, egal, ob auf einer Bergwiese, in einem Krankenhauszimmer oder einer Klosterkapelle. Es geht darum, sich Zeit zu nehmen und die Schönheit im Herzen zu spüren.

Diese unterschiedlichen Vorahnungen verwoben sich über die Jahre mit den Fasern meines Seins. Wir können nicht wissen, auf welche Weise sie unser Schicksal mitgestalten und uns in eine unerwartete Zukunft führen werden. Sie tragen dazu bei, uns zu dem Menschen zu formen, der wir sind. Sie beeinflussen, wie wir die Welt wahrnehmen und welche Entscheidungen wir treffen. Ihre Wirkkraft entdecken wir dann womöglich erst im Nachhinein.

Später ließ ich mich immer wieder von den Geheimnissen und der Schönheit der Erde faszinieren und trauerte um die Zerstörung unserer Heimat durch den Menschen, eine Zerstörung, die so unsägliches Leid über die Erde, die Menschen, die Tiere und Pflanzen bringt. Und schließlich motivierte mich die Liebe, für den Schutz und die Erneuerung der Erde zu arbeiten. Ich kämpfte darum herauszufinden, wo Gott in diesem Ruf war, den ich so stark vernahm. Es war nicht der typische Dienst einer katholischen Ordensschwester. Gab es überhaupt im Rahmen des Glaubens eine Möglichkeit, Gott und die Natur zu lieben, wenn ich mich entschied, der Natur zu dienen? Es sollte kein klarer, fest umrissener Weg werden.

2

Ein Ruf

Er sagte zu ihnen: Kommt und seht!Da kamen sie mit und sahen (…).

Johannes 1:39

In den 1930er-Jahren träumte Larry Grathwohl als junger Mann, noch bevor er meine Mutter kennenlernte, davon, alle Nationalparks westlich des Mississippi zu besuchen. Als jüngster Sohn deutscher Immigranten, die als Teenager in den 1890er-Jahren vor Krieg und Armut geflohen waren, machte er sich im Alter von dreiundzwanzig Jahren in den wilden Weiten Amerikas auf die Suche nach Schönheit und Abenteuer. Seine erste Wahl fiel auf den Yellowstone Nationalpark.

Sein Bruder Al und der gemeinsame Freund Harry Scholle kamen auch mit. Mein Vater führte als ausgebildeter Buchhalter täglich Buch über ihre Ausgaben. Er hatte sich dafür eigens aus Linienpapier zehn Zentimeter lange Streifen zurechtgeschnitten, für jeden Reisetag zwei Seiten eingeplant und daraus ein Tagebuch zusammengebastelt. Jeweils in die obere Ecke des zugeschnittenen Papiers hatte er Löcher zum Binden eingestanzt und auf jede zweite Seite unten kleine braune Etiketten geklebt, auf denen er das jeweilige Datum eintrug.

Am Sonntag, dem 14. Juli 1935, verließen sie um 3:20 Uhr morgens Harrys Zuhause in der Heywood Street in Cincinnati und fuhren am selben Tag 1105 Kilometer bis nach Mason City, Iowa, wo sie um 20:00 Uhr ankamen. Tagesgesamtkosten für Benzin, Essen, Brückenzoll und Übernachtung: 14,29 Dollar. Zwei Wochen und 4362 Meilen später kamen sie wieder in die Heywood Street zurück.

Auf der zweiten Tagebuchseite jedes Tages notierte mein Dad das Wetter. Und was ihm sonst noch in den Sinn kam. Über die Badlands schrieb er: »Erde und Farben, zu eindrucksvollen Mustern geformt«. Über die Black Hills: »Szenen, die einen irgendwie mit Frieden erfüllten«. Über die Überquerung der Bighorn Mountains: »Bei klarer Kälte fuhren wir auf einer schlammigen, unbefestigten Straße über das Gebirgsplateau. Dann auf einer ähnlichen Straße auf der anderen Seite bergab durch den Shell Canyon, eine wunderbare, landschaftlich großartige, aber gefährliche Fahrt. Die Straße ist so schmal, dass kaum zwei Autos aneinander vorbei passen, sie hat tiefe Rillen und Haarnadelkurven, und an manchen Stellen fällt sie an der Talseite bis zu 90 Meter steil ab.«

Und schließlich über den Yellowstone Nationalpark: »An unserem ersten Tag haben wir uns eine Hütte am See gesichert und abends einen Vortrag des Rangers angehört. Auf dem Weg zurück zur Hütte haben wir gesehen, wie der Vollmond aus dem Yellowstone Lake aufstieg und über dem Wasser einen golden schimmernden Streifen bildete – der vielleicht schönste Anblick unseres Lebens.« Und dann noch über die Heimkehr: »Wir sahen die Vororte unseres schönen Cincinnati und trafen unter großem Jubel bei Harry zu Hause ein. Damit endeten die aufregendsten, lustigsten, mitreißendsten und eindrucksvollsten zwei Wochen meiner armen Jugend.«

Gelegentlich zeigte Dad der Familie seine Tagebücher und die Fotoalben, die er zu seinen Reisen zusammengestellt hatte. Dann verteilte er sie auf dem Esstisch, und meine Mutter, meine Schwestern und ich drängten uns, auf Stühlen knieend über den Tisch gebeugt, um ihn herum. Er unterhielt uns mit Geschichten über Geysire und Wasserfälle, über Wanderungen durch tiefe Canyons, die Begegnung mit Herden wilder Tiere und Spaziergänge unter den höchsten Bäumen der Welt und wies dabei auf sepiafarbene Fotos. Ich wuchs mit der Sehnsucht auf, dort zu leben.

Eines Tages traf meine Mutter mich weinend auf den Stufen der Veranda sitzend an.

»Was ist mit dir, Judy?«, fragte sie und setzte sich neben mich.

»Ich gehöre nicht hierher«, sagte ich. »Ich gehöre in den Westen, dorthin, wo Dads Fotos und Geschichten herkommen. Warum mussten Grandpa und Grandma unbedingt hier in Cincinnati bleiben, als sie nach Amerika kamen? Warum sind sie nicht weiter nach Westen gezogen?«

»In Cincinnati hatten sie Verwandte, und sie wollten bei ihnen bleiben«, erklärte sie.

Die Antwort befriedigte mich nicht.

3

Katholischer Regen

Heilig, heilig, heilig Gott, Herr aller Mächte und Gewalten. Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit.

Katholisches Gottesdienstgebet

Ich lebte mit einem im Innern immer wiederkehrenden abrupten Aufleuchten.

Zum Glück leuchtete dieser Blitz der heiligen, lebendigen Erde innerhalb des steten Nieselregens der täglichen katholischen Rituale der Familie Grathwohl auf. Man kennt diesen sanften, angenehmen Regen, bei dem man gern unter dem Dach der Veranda steht, der einem das Gesicht sachte befeuchtet und an heißen Sommernachmittagen kühlend wirkt.

Dieser Regen spendete Leben und half meinen Eltern bei Verlusten und Freuden, bei Leid und Mühen. Er murmelte sich seinen Weg in die Mahlzeiten, Abendrituale und selbst in die nachbarschaftlichen Begegnungen hinein.

Vor jeder Mahlzeit sprachen wir – wie jede andere Familie, da war ich mir sicher – ein Segensgebet. Es gab keine Ausnahmen, nicht einmal bei Picknicks oder zu Hause bei anderen Leuten. Vor einer Mahlzeit zu beten war keine Pflicht; es gehörte ganz einfach dazu.

Vielleicht wollten meine Eltern dadurch, dass sie die Präsenz Gottes, des Allmächtigen, bei der Familienmahlzeit willkommen hießen, der Hektik des Tages entgegenwirken. Dieses Gebet bedeutete eine Pause vom Geplapper und den Streitereien zwischen den Schwestern, von den Essensvorbereitungen und anderen Arbeiten der Mutter, von Dads Ungeduld, bestimmte Dinge zu Ende zu bringen, und von Tante Roses Frust über irgendeinen Chef. Für einen kurzen Augenblick blieb die Zeit stehen, und unser Zuhause wurde zur Kirche.

Die Gebete beinhalteten den Segen von Familie und Nahrung, ein Ave Maria und das Gedenken an die Verstorbenen sowie eine Fürbitte für die unter dem Kommunismus leidenden Menschen in Ungarn. Unsere Gebete reichten von der Gegenwart ebenso zurück in die Vergangenheit zu denen, die vor uns gegangen waren, wie auch über die Grenzen unseres Zuhauses hinweg in globale Themen hinein. Sie formten und weiteten das Bewusstsein der Kinder über ihre Welt.

Zu diesem Gebetsregen gehörten auch meine ersten Abendgebetserfahrungen als Säugling und Kleinkind. Mein Vater nahm mich auf den Arm und wanderte langsam ums elterliche Bett herum, dabei sang er das »Lied der Wolgaschlepper«, das Glenn Miller wenige Jahre vor meiner Geburt in Amerika populär gemacht hatte. Keines der traditionellen Wiegenlieder schläferte mich mehr ein als das tiefe, rhythmische Brummen meines Dads, wenn er mich beim Gehen hin- und herwiegte. Heute glaube ich, dass mir das Monotone, Meditative am Abendgebet und überhaupt die Ruhe darin so vertraut ist, weil ich es immer wieder gehört hatte. Vielleicht auch, weil es das Gebet meiner Eltern und keine lästige Pflicht war.

Einige Jahre und zwei Babys später deckte uns Mom liebevoll zu, und zusammen mit ihr beteten wir zu den Engeln Gottes, vor allem zu unseren Schutzengeln, die über unseren Schultern schwebten, damit sie uns in der Verletzlichkeit des Schlafs beschützten. Sie machte das Licht aus und sagte uns, wir sollten jetzt nicht mehr reden oder uns gegenseitig die Decken wegziehen. Manchmal funktionierte es.

Dann gab es noch die Gebete außerhalb unseres Familienkreises. Jede Woche versammelte sich die katholische Nachbarschaft der Laura Lane bei jemandem zu Hause zum Rosenkranzbeten. Wir Kinder mussten dann aufhören zu spielen und uns den Eltern anschließen. Wir murrten zwar, gehorchten aber, wenn uns die vier Elternpaare riefen, und marschierten den Bürgersteig hinunter, als hätte die Schulglocke zum Pausenende geläutet.

Wir saßen zusammen, im Sommer auf Veranda-Schaukeln, im Winter auf Sofa und Stühlen in einem der Wohnzimmer, beteten die fünfzig Ave Marias und tauschten Neuigkeiten der Kinder, des Lebens allgemein, über Todesfälle und die himmlische Herrlichkeit von Jesus und Maria aus. Wir beteten für die Heilung von Kinderlähmung und eine entfernte, davon betroffene Cousine, für das Ende des Koreakrieges und für alles, was die Arbeiterfamilien plagte, die wir kannten, vor allem aber für die Bekehrung Russlands. Dann spielten wir Kinder weiter. Es gab ein gewisses Gefühl von Sicherheit, wenn so viele Eltern dann noch zusammensaßen und sich unterhielten, während wir spielten, bis die Straßenlaternen angingen und es für alle Zeit wurde heimzugehen. Der katholische Regen barg Sicherheit.

Parallel dazu wurde ich in ein weiteres katholisches Gebet geführt. Heute würde ich es eine Zeit der Gottespräsenz nennen. Erfahrene spirituelle Führer haben es auch als ein Lernen, im Angesicht der Liebe Gottes zu verweilen, beschrieben. Im Alter von sieben Jahren wusste ich nichts davon, aber das konnte Gott nicht stoppen.

Diese Art von Gebet kam mir einfach zu. Das erste Mal geschah es, als ich einfach nur versuchte, »in der Kirche brav« zu sein. Ich saß mit rund hundert anderen Kindern in der Reihe, um zur Beichte zu gehen, hinter einem Vorhang zu knien und durch eine Trennwand einem unsichtbaren Priester meine Sünden zuzuflüstern, der dann die Worte Jesu zur Vergebung sprechen würde.

Ich war nicht besonders interessiert daran. Die Beichte war eine Gelegenheit, sich von Sünden zu befreien, damit man, wenn man starb, direkt in den Himmel kam. Ich konnte mir, ehrlich gesagt, gar nicht vorstellen, etwas so Schlimmes zu tun, dass ich in der Hölle landen würde. Daher brachte die Beichtgelegenheit mit sich, dass ich mir kleine Sünden ausdachte wie etwa Streitigkeiten mit meinen Schwestern, Ungehorsam gegenüber den Eltern oder einen Zug von der Zigarette der Nachbarsfrau. Obwohl das nicht auf der Sündenliste in meinem Gebetsbuch stand, quälte es mich noch wochenlang, weil ich wusste, dass Mom ein solches Benehmen entschieden verurteilen würde.

Diese spezielle »Sünde« ist längst vergessen, heute bin ich zur normalen Liste zurückgekehrt und versuche, mich an die Häufigkeit jeder einzelnen Sünde zu erinnern. Damals saß ich da und wartete, ich war die Letzte in der langen Schlange kleiner Kinder, die sich auf die Beichte vorbereiteten. Ich träumte vor mich hin und stellte mir vor, das zugehängte Kabuff wäre in Wahrheit ein Aufzug, der mich bis zur obersten Spitze der höhlenartigen Kirche bringen würde, sodass ich, wenn ich den Vorhang beiseiteschieben würde, alles auf einmal überblicken könnte. Oder er würde mich in den wahrscheinlich dunklen, unheimlichen Keller befördern, wo es aber immerhin etwas zum Erkunden gäbe.

Ich betete den Rosenkranz. Saß da und wartete. Schaute träge zu den vertrauten bunten Glasfenstern. Saß still da. Wartete noch ein bisschen. Ich mochte es, nicht in der Schule zu sein. Ich mochte diese stille, kalte Kirche.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort saß, doch verlor ich mich in einem stillen Frieden. Ich fand mein Selbst, und es fühlte sich gut an. Heute ist mir klar, dass ich unversehens meine innere Ruhe gefunden hatte, und sie war süß, freundlich, tröstlich. Ich war in der Kirche, also ging ich davon aus, die Ruhe sei Gott. Gott, eine Präsenz, nicht das Bild eines alten Mannes, Vaters oder Richters, umgeben von so großen Wörtern wie allmächtig, ewig oder glorreich. Einfach nur Präsenz, ganz dicht bei mir.

Schwester Hyacinth, meine Lehrerin in der zweiten Klasse, erschreckte mich, als sie sich über die Bank zu mir beugte, um mir zu sagen, ich könnte vorgehen. »Du hast hier so brav gesessen die ganze Zeit«, flüsterte sie mir kirchenfromm zu.

Ich war gerne brav. Und noch etwas gefiel mir sehr. Es war diese Ruhe, die über mich gekommen war, diese Präsenz um mich herum und in mir. Und ich schämte mich ein bisschen, dass ich in der Schlange nicht nachgerückt war.

In diesen Stunden in der Kindheit unter dem katholischen Regen entdeckte ich, wie mir heute klar wird, eine Gottespräsenz anderer Art: meine eigene Seele. Damals hätte ich diese Entdeckung nicht benennen können. Seele fühlte man, man benannte und kannte sie nicht mit dem Verstand oder mit Worten. Ich spürte das innere Selbst des Kindes in den gemurmelten Rhythmen der Rosenkranzgebete, in den traumverlorenen Abendgebeten und in der verlässlichen Aufrichtigkeit der vielen Familiengebete.

Heute weiß ich mit einer Gewissheit jenseits allen Glaubens, dass uns – ganz gleich, ob wir die Gebete ändern, auf Englisch oder in einer anderen Sprache beten, in der Präsenz einer Gebetssprache sind, die wir nicht verstehen, an den Gebeten und der Freundlichkeit anderer Kulturen teilhaben oder Krankheiten und Familienkrisen durchleiden – die Seele stets zuverlässige Führung zu Authentizität und Weisheit bieten wird. Jetzt spüre ich, dass die Seele sich und ihr Leben innerhalb dieses großen mitfühlenden Mysteriums kennt, das wir so gern benennen würden. Die Seele rührt sich, erhebt sich, wächst hin zur unbeschreiblichen Stille und Schönheit Gottes – eines bemutternden, lebensspendenden Gottes, eines Regens jenseits des Katholischen, jenseits irgendeiner spezifischen Religion oder eines spezifischen Glaubens, eines Regens, der uns im Leid tröstet und alle Selbstgefälligkeit in die Schranken weist – und wächst darin weiter. In diesem Regen der Welten, der Meteoritenschauer, des Kosmos blüht die Seele auf. 

4

Dem Horizont nach

Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis.

Buch der Weisheit 1:7

Die Reise zu den Bighorn Mountains begann also fast fünfzig Jahre, bevor ich tatsächlich dort ankam. Als ich mich auf den Weg in den Westen machte, wusste ich nicht, dass es diese alte Felsenchronik mit dem Festzug des Lebens überhaupt gab. Doch mein Vater war 1935 über genau jene Bergstraße mit den dort verborgenen Worten getuckert.

Damals hatte es noch keine braunen Schilder gegeben. Stattdessen staunte er über die spektakuläre Tiefe des Shell Canyon und war genervt von der schlechten Straße, die auf der anderen Seite des Gipfels den Berg herabführte. Sein Ziel war der Yellowstone Nationalpark.

Für mich begann dieser Weg im Süden Indianas.

Schwester Francis Leonette, meine Lehrerin in der siebten Klasse, schlug mir das Schwestern-High-School-Programm in Oldenburg, Indiana, vor, wo Schülerinnen auf den Eintritt ins Kloster vorbereitet wurden. Sie setzte hohe Maßstäbe im Klassenzimmer und schaffte es, ungezogene Jungs bei der Stange zu halten. Ich war zu eingeschüchtert von ihr, um ihre Überzeugung infrage zu stellen, als sie mir sagte: »Du solltest dir überlegen, ins Kloster zu gehen, denn du würdest eine gute Nonne abgeben. Und womöglich ruft dich Gott in seinen Dienst.« In der dritten Klasse hatte ich tatsächlich Priester werden wollen, bis meine ebenso überzeugende Großmutter, Grandma Grathwohl, mir klarmachte, dass das für Mädchen verboten war. Das durften nur Jungs. »Aber du könntest Nonne werden.«

Schwester Mary Mark, meine Lehrerin in der achten Klasse, bestärkte ihre Schüler lieber in kritischem Denken. Ich suchte gern nach Antworten auf ihre umsichtigen Fragen zur Mathematik (»Warum meint ihr, dass diese geometrischen Gleichungen funktionieren?«) und Religion (»Was bedeuten die kirchlichen Dogmen über Maria als Mutter Jesu wirklich?«). Sie bremste mich in meinem Übereifer, wenn ich nach dem Unterricht das Klassenzimmer aufräumen oder etwa Blumensträuße für den Altar in der Kirche binden wollte. Anders als Schwester Francis Leonette kümmerte sie sich darum, dass ich immer vor Eintritt der Dunkelheit und rechtzeitig zum Abendessen zu Hause war.

Vor allem aber hatte ich von unseren katholischen Freunden in der Nachbarschaft erfahren, dass diese Schwestern an Schulen in Montana arbeiteten.

Schwester Mary Mark nahm Kontakt zu Schwestern in einem anderen Kloster in Cincinnati auf, die mich zusammen mit einigen anderen Mädchen aus der achten Klasse zu Snacks und Limonade und zum gemeinsamen Gebet einluden. Ich fühlte mich geehrt, dazuzugehören und tatsächlich im Zuhause von Schwestern zu sein. Es war ein lustiger Abend, denn zwei der Mädchen waren außerdem meine Freundinnen.

Im September darauf waren drei von uns im Auto unterwegs ins Schwestern-Internat in Oldenburg, mit Schuluniformen im Gepäck, die wir extra bestellt hatten. Wir nahmen am Orientierungsprogramm für Schülerinnen teil, die Ordensschwestern werden wollten, und hatten vor, im Februar unseres letzten Schuljahres ins Kloster einzutreten. Ich wollte zwar Gott dienen und mit den Schwestern beten, hatte aber zugleich ein Auge auf die Schulen im Crow-Reservat in Montana geworfen, wo die Schwestern ebenfalls als Lehrerinnen arbeiteten.

In meinem Abschlussjahr an der High School 1963 war ich am 2. Februar zum Gedenken daran, dass Maria und Josef den kleinen Jesus an diesem Tag in den Tempel brachten, um ihn Gott darzubringen, zusammen mit zwölf Mitschülerinnen bereit, ins Kloster der Sisters of St. Francis einzutreten. Diesmal enthielten unsere Koffer die vorgeschriebenen schweren schwarzen Schuhe, mehrere Paar schwarze Strumpfhosen, schwarze Schlüpfer und Roben, Hygieneartikel und kein Make-up. Keine Familienfotos und natürlich kein Geld.

An jenem Tag trug ich die schönsten Kleider, die meine Familie besaß: den taubenblauen Kaschmirpullover von Tante Rose und einen passenden Rock dazu sowie ihren feuerroten Mantel mit echtem Pelzkragen. Die ganze Familie ging davon aus, dass ich für den Rest meines Lebens ein schwarzes Wollkleid mit gestärktem weißem Kragen und einen hüftlangen Schleier über meinem kurzgeschnittenen Haar tragen würde. In diesem Augenblick dachte ich nicht an ein Leben als Lehrerin bei den Crow in Montana. In mir herrschte totales Gefühlschaos: Aufregung, Angst und Trauer darüber, dass ich meine Familie und mein Zuhause verließ.

»Bitte fahr langsamer, Dad«, sagte ich. Er antwortete, das tue er bereits.

Wir kamen an einem Lebensmittelgeschäft, einem Brathähnchengrill und verschiedenen Häusern vorbei.

Dann fuhr Dad an der Klostermauer entlang bis zu einem offenen Tor und bog in den schmalen Weg auf dem Klostergelände ein. Vor uns lag ein Hektar gepflegten winterlichen Rasens, großer Bäume, betonierter Gehwege und Steinnischen mit lebensgroßen Statuen von Jesus, wie er Kinder oder die Welt segnete, sowie auf dem Hügel jenseits des zugefrorenen Teichs eine Maria mit drei Hirtenkindern und einigen Schafen. Zu unserer Rechten war das Mutterhaus mitsamt dem Schwestern-Internat gelegen, einem Labyrinth aus Klassenzimmern, Bibliotheken, Empfangsräumen, Küchen, Speiseräumen, Schlafsälen, Kapellen und einem Flügel mit Unterkünften für pflegebedürftige Ordensschwestern. Zu unserer Linken befand sich das dreistöckige rechteckige Backsteingebäude, Novizinnenheim St. Agnes genannt, in dem die jungen Frauen lebten, die sich auf die Aufnahme in den Orden vorbereiteten. In jenem Jahr war das Gebäude mit fünfzig jungen Frauen nahezu voll belegt.

Es sollte mein neues Zuhause werden.

Dad fand einen Parkplatz. Mom, Tante Rose und meine Schwestern Regina, Susan und Monica kletterten nach mir aus dem Auto. Es fühlte sich gut an, so dicht von meiner Familie umgeben zu sein, als wir die Treppenstufen zum Eingang des Novizinnenheims hinaufgingen. Dad lief mit dem ersten Koffer, den er aus dem Kofferraum gehievt hatte, voraus. Die schöne holzgerahmte Tür mit ihren schimmernden Fenstern aus geschliffenem Glas schwang auf. Die Leiterin des Noviziats, Schwester Estelle, hieß uns lächelnd willkommen.

»Komm herein, Judy«, sprach sie mich mit meinem Geburtsnamen an. Dann begrüßte sie jedes einzelne meiner Familienmitglieder ebenfalls mit Namen. Die Wärme in ihrer Stimme nahm ich im Getümmel der Begrüßungen meiner Klassenkameradinnen und ihrer Familien kaum wahr. Manche trugen bereits die schwarzen Blusen, knöchellangen Röcke und schwarzen Umhänge. Schwarze Netzschleier thronten auf Mädchenfrisuren im Stil der 60er-Jahre. Meine Freundinnen waren nun die jüngsten Schwesternanwärterinnen, die Postulantinnen genannt wurden. Jede von ihnen sah wunderbar aus, und ich konnte es kaum erwarten, auch gekleidet zu sein wie sie.

Hier waren wir nun also im Novizinnenheim und würden endlich Ordensschwestern werden. Hier waren wir und traten kompromisslos in die Fußstapfen von Jesus und dem heiligen Franziskus. Wir entsagten der Möglichkeit, zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen. Wir würden lernen, ein einzig und allein Gott geweihtes Leben zu führen und nach der Lehrtradition der katholischen Kirche Kindern zu dienen. Hier waren wir, bereit, uns mit jugendlicher Großzügigkeit in ein Leben zu begeben, das wir einer hohen Berufung widmen würden.

In einem der Empfangsräume fand Schwester Estelle einen Platz für meine Familie. Dann führte sie mich in den Gang hinaus, wo Postulantin Peg Maher, die bereits seit dem September davor dort war, aus dem Nichts aufzutauchen schien und mich mitnahm. Kurz darauf stiegen wir die Treppe am anderen Ende des Gangs hinauf und gingen zum Schlafsaal der Postulantinnen im zweiten Stock. Hier oben war es ganz still.

Peg führte mich durch Reihen sorgfältig gemachter Betten mit reinweißen Decken. Neben jedem stand ein Holzstuhl mit gerader Rückenlehne und ein Nachttisch. An meinem Bett hielt sie an. An seinem Fußende hatte sie schon Postulantinnenbluse, -rock und Netzschleier für mich bereitgelegt. Es war ihre Sonntagskleidung, und alles sah wie neu aus. Obwohl wir unsere Maße frühzeitig eingereicht hatten und Schwester Estelle die Sachen kurz darauf bestellt hatte, war unsere eigene Postulantinnenkleidung noch nicht eingetroffen.

Während ich die schwarze Bluse und den Rock anzog, die mir mehrere Größen zu groß waren, wartete Peg im Flur. Den Rock befestigte ich mit einer großen Sicherheitsnadel, die sie mir grinsend und mit den Augen rollend gegeben hatte. Der zu weite Schulterumhang reichte mir bis zur Taille. Als Peg kurz darauf wieder hereinkam, erklärte sie, so würde es gehen. Den Schleier befestigten wir, so gut es ging, über meinen Locken.

»Wenigstens wirst du keine Töpfe, Böden und Klos schrubben müssen, solange du meine Sonntagskleider trägst«, sagte sie.

Dann half sie mir beim Auspacken. Persönliches wie Grandpas Olivenholzrosenkranz, meine Bibel und mein Adressbüchlein verschwanden im Nachttisch. Die Toilettenartikel kamen auf den mir zugeteilten Teil eines Regals im Bad, das zum Schlafsaal gehörte. Als sie meinen in einem Hausschuh versteckten Rasierer entdeckte, sagte sie: »Den brauchst du hier nicht mehr.«

»Ich wusste, dass wir so was nicht mitnehmen sollten, aber …«

Sie unterbrach mich achselzuckend mit der Bemerkung: »Braucht ja keiner zu wissen.«

Was für ein unerwarteter, süßer, fast konspirativer Augenblick von gegenseitigem Einverständnis und Vertrauen. Ich war erleichtert, denn ich hatte mich ein bisschen schuldig gefühlt, einen verbotenen Gegenstand ins Kloster einzuschmuggeln. Pegs schnelle, vorurteilsfreie Reaktion gab mir das Gefühl, dass die Regeln hier nicht in Stein gemeißelt waren, dass es Raum gab für ein wenig Flexibilität, was persönliche Bedürfnisse anbelangte. Ich verspürte einen Anflug von Freiheit. Hier war es nur um eine Kleinigkeit gegangen, später jedoch gab dieses Erlebnis auch Aufschluss über andere, wichtigere Entscheidungen. Selbst Schwester Estelle brachte uns eines Tages bei, dass unter bestimmten seltenen Umständen eine persönliche Entscheidung durchaus gerechtfertigt sein konnte.

Wir packten den weichen Kaschmirpullover und -rock von Tante Rose sowie meinen weißen Seidenschlüpfer und die hübschen Abendschuhe in meinen Koffer. Dann lief ich wieder hinunter zu meiner Familie, die sich mit mir freute. Wir stellten uns für Familienfotos auf. Den Koffer gab ich Dad zurück. Dann setzte ich mich in meiner schlecht sitzenden Kleidung mit ihnen zusammen und unterhielt mich mit ihnen und mit Freunden, die daneben saßen.