Vier Epochen und ein Leben - Roland Wagner - E-Book

Vier Epochen und ein Leben E-Book

Roland Wagner

0,0

Beschreibung

Wenn Hildegard zurückblickt, hat sie viel zu erzählen: Geboren im Schlesien der frühen Dreißigerjahre, wird ihre behütete Kindheit jäh beendet, als die Schrecknisse des Dritten Reiches über ihre Familie hereinbrechen. Nach Vertreibung und Enteignung muss sich die junge Frau in der neu gegründeten DDR ein völlig neues Leben aufbauen. So manche Rückschläge nehmen doch noch ein gutes Ende, ihr sprichwörtliches "Wagner-Pech" hält stets etwas Gutes für sie bereit. Und was ist ihr Geheimnis für ein langes, glückliches Leben? "Verhaltet euch so, dass ihr jeden Tag in den Spiegel schauen könnt." Ein Leben im Spiegel eines Jahrhunderts voller Umbrüche.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 158

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Meine Kindheit in Schlesien

Die Schulzeit

Der Krieg beginnt

Die Flucht

Heimkehr

Enteignung

Neue Heimat

Unsere Hochzeit

Wohnungssuche

Unsere Urlaubsreisen

Wir bekommen ein Kind

Das Geld ist knapp

Endlich neue Möbel und etwas Luxus

Reich waren wir nicht

Meine berufliche Neuorientierung

Mein Glaube und meine Überzeugung

Gutes und Schlechtes so nah beieinander

Familienerweiterung

Eine ereignisreiche Zeit

Die Wendezeit

Das Wagner-Pech

Die Zeit mit meiner Enkeltochter

Ich als Bau-Oma

Das neue Jahrtausend

Richards schlimme Krankheit

Noch mal Freude in meinem Leben

Alt werden ist nicht einfach

Mein letztes Zuhause

Mein letzter Tag

Mein Vermächtnis

Hallo, ich bin ein Chemiker im Ruhestand. Man sollte denken, dass ich deshalb viel Zeit für Müßiggang habe. Dem ist nicht so. Durch meine vielen Hobbys wie Radfahren, Schwimmen, Schlagzeugspielen und dem Schreiben von rockigen und poppigen Songs bin ich ziemlich beschäftigt. Eine weitere Sache kribbelt mir seit Längerem in den Fingern. Da mir meine Mutter sehr viel aus ihrem bewegten Leben erzählt hat, habe ich bereits mehrmals darüber nachgedacht, all ihre Erlebnisse aufzuschreiben, vielleicht sogar in einem Buch. Die dafür benötigte Zeit würde ich auch noch aufbringen.

Junge, willst du wirklich alles aufschreiben?

Na klar! Sei nicht so ängstlich. Man muss es einfach tun. Du hast doch immer gesagt, dass du so viel erlebt hast, dass es für ein ganzes Buch reichen würde. Jetzt können wir es herausfinden.

Na gut, dann lass es aber mich erzählen, damit es aus erster Hand kommt und nichts vergessen wird.

Dann leg los! Ich bin gespannt, ob Begebenheiten dabei sind, die ich noch nicht kenne.

Meine Kindheit in Schlesien

Also dann: Mein Name ist Hildegard Wagner, na ja, damals hieß ich noch Kurde. Ich wurde am 18. März 1931 als sechstes von acht Kindern in Fallbach, Kreis Guhrau, geboren. Das liegt etwa sechzig Kilometer nordwestlich von Breslau oder Wroclaw, wie es heute auf Polnisch heißt. Mein voller Name ist Hildegard Elise Elfriede, ich wurde aber immer Hildegard oder Hildchen gerufen. Es heißt, dass bei meiner Geburt noch Schnee lag, wie es Mitte April in Schlesien oft der Fall war.

Meine Eltern Hermann und Marie Kurde waren sehr liebevolle und fürsorgliche Eltern. Sie müssen auch zueinander sehr liebevoll gewesen sein, sonst hätten sie keine acht Kinder gehabt, sieben Töchter und einen Sohn. Ich habe mal das Geburtsdatum meiner ältesten Schwester genommen und mit dem meines Vaters verglichen. Er war knapp achtzehn Jahre alt, als sein erster Nachwuchs kam. Und da heißt es, früher war alles gesitteter. Wenn wir schon mal beim Thema sind, werde ich meine Geschwister der Vollständigkeit halber der Reihe nach beim Namen nennen. Die älteren hießen Erna, Emma, Ernst, Else und Herta. Erstaunlicherweise gibt es zwischen Herta und mir einen Altersunterschied von sieben Jahren. Nach mir kamen dann noch Christa und Helga. Leider lebt keines meiner Geschwister mehr. Ich bin die letzte.

In Fallbach, das übrigens bis 1936 Kadlewe hieß, hatte ich eine sehr schöne Kindheit. Meine Eltern besaßen einen großen Bauernhof. Es war der zweitgrößte im Dorf, gleich nach dem gräflichen Gut. Dazu gehörte auch ein großer Teich mit einer Quelle, aus der das halbe Dorf mit Trinkwasser versorgt wurde. Jeden Winter war unser Teich zugefroren. Mein Vater sagte uns Bescheid, wenn das Eis dick genug war, und alle Kinder unseres Dorfes trafen sich bei uns zum Schlittschuhlaufen. Hin und wieder gab es Streit, weil die Jungs meistens mit Anlauf über die Eisfläche schlittern und wir Mädchen uns einfach nur einhenkeln und im Kreis laufen wollten. Aber diese Zankereien hielten selten lange an, zu groß war der Spaß, den wir alle auf dem Eis hatten.

Ach ja, wenn viel Schnee lag – und es lag jeden Winter sehr viel Schnee – und mein Vater Zeit hatte, spannte er die Pferde vor unseren großen Schlitten. Dann fuhr er mit uns durchs Dorf und über den Anger. Es sprach sich schnell herum, und ein Kind nach dem anderen hängte seinen Schlitten an, bis sich eine lange Kette ergab. Manchmal kippte die hintere Hälfte der angehängten Schlitten um, wenn wir zu schnell um eine Kurve fuhren. Wir Mädchen schrien dabei. Die Jungs dagegen freute das.

Nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer war unser Zuhause sehr schön. Zu unserem Bauernhof gehörten ein großes Stück Ackerland und noch mehrere kleinere Felder und die vielen Tiere. Da waren Kühe, Schweine, Kaninchen, eine ganze Palette an Federvieh und die Pferde. Die Pferde liebte ich, ganz besonders eine Stute. Wenn ich sie streichelte, legte sie sich hin und hielt ganz still. Sie schien es zu genießen. Auch unsere Katzen eigneten sich hervorragend zum Spielen. Meine beiden jüngeren Schwestern und ich setzten jeweils eine Katze in unsere Puppenwagen, deckten sie zu und fuhren sie herum. Ich wundere mich noch heute, dass sie sich das gefallen ließen.

Nicht so schön war, dass wir Kleinen immer von unseren älteren Geschwistern weggejagt wurden, wenn sich die Dorfjugend in der Nähe unseres Anwesens traf. Ich hätte gern zugeschaut, aber aus mir heute verständlichen Gründen wollten sie es nicht. Ich habe überhaupt gern die Erwachsenen beobachtet und belauscht. Deshalb war mein Lieblingsplatz in der Wohnküche auf der Eckbank neben dem Ofen. Da konnte ich stundenlang sitzen und beobachten, was so vor sich ging. Das war wohl auch der Grund, dass man mich Großmutter nannte, wenn ich dort saß.

Wir hatten oft Besuch von Nachbarn und Verwandten. Am meisten freute ich mich, wenn unsere Großeltern kamen. Meine Oma Anna aus Tschilesen brachte immer für zehn Pfennig Bonbons mit. Wenn meine Geschwister nicht hinschauten, steckte sie mir heimlich die meisten Süßigkeiten zu. Ich glaube, sie hatte mich von allen am liebsten.

Von meinem Sitzplatz aus schaute ich meiner Mutter bei allem zu, beim Kochen, beim Backen, beim Nähen, einfach bei allem, was sie so tat. Deshalb kann ich das auch heute noch alles sehr gut. All die Koch- und Backrezepte habe ich hauptsächlich vom Zuschauen bei meiner Mutter gelernt.

Vor allem bin ich beim Kochen und Backen sehr auf Sauberkeit bedacht und überlege mir ganz genau, von und bei wem ich etwas essen kann. Als ich einmal bei einem anderen Mädchen aus der Nachbarschaft, Ruth hieß sie, zum Spielen war, bemerkte ich etwas für mich Unfassbares. Ruths Mutter setzte ihren knapp zweijährigen Sohn mit dem nackten Hintern auf den Küchentisch, um ihm ein Hemdchen anzuziehen. Als sie fertig war und ihn wieder heruntergehoben hatte, begann sie, dort die Nudeln auszurollen, ohne vorher die Tischplatte abzuwischen. Von dem Tag an konnte ich bei und von Ruth nichts mehr essen.

Meine Eltern arbeiteten Hand in Hand, mein Vater meistens auf dem Feld oder im Stall und meine Mutter im Haus. Sie half aber auch bei der Ernte oder beim Versorgen des Viehs. Das musste sie aber auch, denn wie schon erwähnt war unser Hof nicht klein. Zudem waren wir ein reiner Familienbetrieb ohne Gesinde und fremde Helfer. So blieb die ganze Arbeit an meinen Eltern und den fünf älteren Geschwistern hängen, die nebenbei auch noch in die Lehre gingen. Dadurch hatten sie oft Streit mit meinen Eltern, wie man sich lebhaft vorstellen kann. Eine gewisse Erleichterung der vielen Arbeit gab es durch unsere Maschinen. Mein Vater war offen für Technik. Ich kann mich noch an unsere Erntemaschine erinnern, die von einem oder zwei Pferden gezogen wurde. Man könnte sie als eine frühe Version eines Mähdreschers bezeichnen.

Die Ansichten und vor allem die Charaktereigenschaften meiner Eltern waren jedoch sehr unterschiedlich. Mein Vater war sehr zielstrebig und sparsam. Man kann getrost sagen, dass er finanziell sehr geschickt war. Er begann 1912, mit vierzehn Jahren, als Kutscher zu arbeiten. In den Jahren legte er eine ansehnliche Summe an Geld zurück. Sein großes Ziel war, einen Bauernhof zu kaufen. Ende der Zwanzigerjahre hatte er es geschafft. Er bekam einen Kredit und kaufte unser Zuhause. Meiner Mutter dagegen rann das Geld nur so durch die Finger. Sie konnte einfach nicht mit Geld umgehen, wodurch es des Öfteren Streit gab, den auch wir Kinder mitbekamen.

Mein Vater war auch ein sehr lustiger Typ und meine Mutter eher schweigsam und manchmal etwas melancholisch. Beide Eltern kümmerten sich jedoch sehr liebevoll um uns. Mein Vater hatte oft gute Einfälle, wie er uns Kinder unterhalten konnte. In der Vorweihnachtszeit bettelten wir ihn fast täglich an, dass er mit uns Weihnachtszauberei machte, wie wir es nannten. Wenn er Zeit und Lust dazu hatte, ging er die Treppe zum Boden hinauf und schloss die Tür mit der Milchglasscheibe hinter sich. Dann zeigte er ein Weihnachtsgeschenk nach dem anderen hinter dem Glas. Meine zwei kleineren Schwestern und ich waren von den nur mit sehr viel Fantasie zu erahnenden Geschenken begeistert. Nicht wissend, was es jeweils war, riefen wir bei jedem bunten Etwas: „Oh, das bekomme ich“, „Nein, ich bekomme das“, „Nein, ich“.

Durch seine Lustigkeit und seine Art, Späße zu machen, besonders nach ein paar Schnäpsen, war er ein gern gesehener Gast und wurde zu allen Festen im Dorf eingeladen. Samstagabends gab es Zeit für ausgiebiges Feiern. Sonntags konnte man sich dann ausruhen. Einmal war nach einer solchen Feier kein Brennmaterial mehr vorhanden und er musste am Sonntag Feuerholz machen. Das laute Holzhacken rief den Dorfpolizisten auf den Plan, denn solche Arbeiten waren am Sonntag verboten. Wohl oder übel musste er die fünf Mark Strafe bezahlen. Auf der anderen Seite wurde er wegen seines Erfolges als Bauer, seiner Hilfsbereitschaft und gerechten Art sehr geschätzt und nach und nach zum Wortführer der umliegenden Bauernschaft. Dazu fällt mir die Geschichte mit der Gräfin ein.

Die Gräfin, die in Fallbach ein Gut besaß, wollte für sich und ihre Gäste eine Treibjagd veranstalten und fragte meinen Vater, ob er einige Treiber organisieren könne. Er handelte für neun Leute, von denen er wusste, dass sie sich gern was dazuverdienen wollten, insgesamt neun Mark aus, damals noch als drei Taler bezeichnet. Die Treibjagd fand statt und war wohl sehr erfolgreich, nur die Gräfin wollte auch nach mehreren Aufforderungen nicht bezahlen. Daraufhin sperrte mein Vater die sich auf unserem Grund und Boden befindende Quelle ab, die das Gut der Gräfin mit Frischwasser versorgte. Nach drei Tagen kam die Gräfin auf einem Rappen zu uns geritten. Ich sehe sie noch vor mir. Sie befahl in einem harschen Ton, er solle die Quelle freigeben. Mein Vater ließ sich davon nicht beeindrucken und forderte sie auf, endlich ihre Schuld zu begleichen. Solange sie nicht bezahlt habe, bliebe die Quelle geschlossen. Da warf sie ihm das Geld vor die Füße und ritt stolz davon. Er hatte sich durchgesetzt und konnte den Treibern das Geld aushändigen.

Ich sah auch gern zu, wenn mein Vater auf dem Markt in Herrenstadt Vieh verkaufte. Zuerst kamen die potenziellen Kaufinteressenten, betrachteten das Tier und gingen dann meist weiter. In der Regel waren das Händler, Schlachter oder andere Bauern, die ihren Tierbestand aufstocken wollten. Wenn wirkliches Interesse bestand, kam derjenige zurück und fragte nach dem Preis. Fast immer hieß es, dass es zu teuer sei, und sie versuchten, das Tier schlechtzureden. Sie meinten, es sei zu klein, zu mager, schlecht proportioniert und so weiter. Mein Vater ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen, da er das Prozedere schließlich zur Genüge kannte. Er machte es als Käufer meist genauso. Als das Vorspiel beendet war, ging es mit dem Handeln los, was nie sehr lange dauerte. Die Parteien nannten abwechselnd ihren Preisvorschlag und schlugen dem Gegenüber auf die ausgestreckte Handfläche. Das ging rasend schnell hin und her und nach nicht einmal einer Minute trafen sie sich in der Mitte und waren sich handelseinig.

Die Schulzeit

Eines schönen Tages war die unbeschwerte Zeit des endlosen Spielens und Träumens zu Ende, und ich kam in die Schule, die in Herrenstadt, der nächsten größeren Stadt, lag. Das war 1937. Ich mochte die Schulzeit nicht besonders. Man musste früh und mittags jeweils dreieinhalb Kilometer laufen, wenn man die Straße nahm. Wir Kinder gingen die Feldwege bis zur Brücke über die Bartsch. Das war einen Kilometer kürzer. Dann noch an der Apotheke vorbei und über den Graben und es war nicht mehr weit bis zur Schule.

Am ersten Schultag gab es gleich ein Problem. Auf dem Schulweg hatte ich einen Streit mit den älteren Jungs aus unserem Ort. Worum es ging, weiß ich heute nicht mehr. Ich glaube, ich war einfach nur zickig, weil ich über den Beginn meiner Schulzeit frustriert war. Abends erzählte ich meinem Vater davon. Er riet mir, mich mit den Jungs gutzustellen, da sie mich sonst nicht mitnehmen und beschützen würden und ich den ganzen Weg alleine gehen müsste. Am darauffolgenden Tag nahm ich allen ein Stück von meiner Mutter gebackenen Kuchen mit und die Sache war vergessen.

Ja, einige Jungs waren richtige Rüpel, die oft nur Unsinn machten und vom Lehrer mit dem Rohrstock Schläge auf den Hintern bekamen. Das war damals leider so. Die Jungs bekamen die Schläge auf den Hintern und die Mädchen auf die Finger. Einer meiner Mitschüler tat sich in puncto Dummheiten besonders hervor. Er wurde jeden Monat zwei- bis dreimal bestraft. Einmal, ich weiß nicht mehr, was der Grund war, sollte er zur Bestrafung nach vorn kommen. Er musste sie schon erwartet haben, denn er hatte sich Lumpen in die Hose gesteckt, um die Schläge nicht zu spüren. Das wurde natürlich vom Lehrer bemerkt. Ein anderes Mal war es ein Eichenbrett.

Ich erinnere mich an einen weiteren Fall mit demselben Jungen. Er hatte durch wildes Fechten mit Stöcken, wie es Jungs in dem Alter gern tun, ein Auge verloren und trug ein Glasauge. Im Unterricht hatte er großen Spaß daran, die Mädchen zu ärgern, indem er sein Glasauge in den Mund nahm und sie dann mit dem Auge zwischen den Lippen anlächelte. Am Anfang waren wir entsetzt. Nach einigen Wochen hatten wir uns allerdings daran gewöhnt und er konnte niemanden mehr damit erschrecken. Der Junge, der hinter ihm saß, war genervt und gab ihm mit einem Klaps auf den Rücken zu verstehen, dass er nun endlich Ruhe geben sollte. Daraufhin verschluckte der Rüpel sein Glasauge. Zu Hause bekam er eine ordentliche Abreibung und durfte nicht mehr aufs Toilettenhäuschen, sondern musste auf einen Eimer gehen. Nach zwei oder drei Tagen war das Auge wieder da. Allerdings hatte seine Magensäure die Bemalung weggeätzt. Da gab es noch mal eine Abreibung, denn so ein Glasauge war teuer.

Mein Interesse an den Schulfächern war gemischt und demzufolge auch meine Leistung. Deutsch mochte ich gar nicht. Vor allem zum Lernen von Gedichten und Liedern hatte ich keine Lust. Ein typisches Beispiel dafür war das bekannte Kinderlied „Widewidewenne“, bei dem ich allerdings großes Glück hatte. Der Lehrer gab uns eine Woche Zeit, um das Lied zu lernen. Mir war es einfach viel zu lästig, mich mit den sieben Strophen zu beschäftigen. Ich konnte mir nur den Text der fünften Strophe merken, der folgendermaßen lautete:

Widewidewenne heißt meine Puthenne.

Widewidewenne heißt meine Puthenne.

Guck-heraus heißt mein Haus,

Schlupf-hinaus heißt meine Maus.

Widewidewenne heißt meine Puthenne.

Am Tag, an dem das Lied fällig war, musste jeder eine Strophe singen, wobei der Lehrer diesmal mit dem Schüler ganz hinten rechts begann. Ich zählte durch, mit welcher Strophe ich dran sein würde, und stellte fest, dass es nicht die fünfte, sondern die sechste war. Da lief es mir abwechselnd heiß und kalt den Rücken herunter. Ich konnte schon den Rohrstock auf meinen Fingern spüren. Vor Panik fing ich an, leise zu beten: „Lieber Gott, mach, dass ich nicht drankomme. Ich will in Zukunft auch immer fleißig sein.“ Man mag es kaum glauben, aber ich wurde erhört. Der Junge, der vor mir dran war, konnte die fünfte Strophe nicht, und ich musste sie vorsingen, was bestens klappte. Ich war sehr erleichtert und hörte den Lehrer sagen: „Gut, Kurde, setzen!“ Natürlich war mein guter Vorsatz aus dem Angstgebet nach einigen Tagen wieder vergessen.

Im Gegensatz zum Unterrichtsfach Deutsch war Mathematik wie für mich gemacht. Für Mathe musste ich nichts lernen, alles fiel mir nur so zu. Die erste Klasse war fast schon langweilig, aber dann lernten wir, Zinsen, Grundstücksgrößen, Hohlmaße und manches mehr zu berechnen. Ich war wirklich gut darin, und wenn einer der Bauern aus der Umgebung mich bat, etwas auszurechnen, dann tat das ich das gern.

Im Zusammenhang mit der Schule gibt es übrigens eine Geschichte, in der meine jüngere Schwester Christel eine Hauptrolle spielte. Sie war drei Jahre nach mir eingeschult worden. Sie kam immer mit schmutzigem Schlüpfer von der Schule nach Hause, was vor ihrer Einschulung nie vorgekommen war. Unsere Mutter stellte das beim Wäschewaschen fest und fragte sie, ob sie sich nicht den Hintern abputzte. Sie antwortete daraufhin, dass sie das nicht mehr zu machen brauchte, denn die Toiletten in der Schule hatten im Gegensatz zu unserer eine Wasserspülung. Sie hatte damals schon etwas recht Altkluges an sich.

Christel war allerdings auch sehr besserwisserisch. Das gab immer wieder Anlass zu Streit. Vielleicht war auch ein wenig Eifersucht ihrerseits dabei, denn ich erinnere mich, dass sie mich nicht selten bei unseren Eltern in ein schlechtes Licht zu rücken versuchte. Aus heiterem Himmel begann sie in dem Moment, wenn unsere Eltern vom Feld zurückkamen, zu weinen und zu jammern, ich hätte ihr was getan. Da wurde ich jedes Mal wütend und hätte ihr am liebsten eine Abreibung verpasst. Allerdings muss ich sagen, dass ich einige Jahrzehnte später zu ihr eine sehr gute Beziehung hatte. Ich verstand mich mit allen meinen Geschwistern zu jeder Zeit sehr gut, aber mit Christel wurde es etwas Besonderes.

Aber zurück zur Schule. Wegen meiner Rechenkünste sollte ich ab der fünften Klasse auf das Gymnasium nach Guhrau gehen. Ich war davon gar nicht begeistert. Erstens hätte ich da jeden Tag mit dem Postauto mitfahren müssen und zweites wollte ich wie meine Schwester, die Emmi, Schneiderin lernen. Die auf der Schulbehörde waren darüber verärgert, dass ich nicht aufs Gymnasium gehen wollte. Sie sagten, dass ich das mit der Schneiderin vergessen konnte. Wegen meiner bäuerlichen Herkunft sollte ich als Eleve auf dem gräflichen Gut in unserem Ort in die Lehre gehen. Eleve war die vornehme Bezeichnung für Lehrling und hätte für mich die spätere Option als Wirtschaftsvogt bedeutet, was ich dann doch nicht so schlecht fand. Am Ende kam dann aber alles ganz anders.

Der Krieg beginnt

1938 fing das Unheil an. Hitler hatte einen Krieg begonnen, der sich schnell zum Weltkrieg entwickelte. Die Meinung der Leute war darüber geteilt. Am Anfang waren noch viele skeptisch gewesen, aber mit den ersten Siegen nahm die Anzahl der Befürworter im Dorf deutlich zu. Ich verstand nicht viel davon und konnte mir auch nicht so richtig vorstellen, was Krieg wirklich bedeutete, zumindest noch nicht. Mein Vater war eher ein Freigeist. Er mochte die Nazis nicht, die Schreier, wie er immer sagte. Er mochte auch den Krieg nicht, weil da Leute umkamen. Immer mehr junge Männer wurden zum Kriegsdienst eingezogen und mein Bruder, der Ernst, war leider auch dabei. Das Jahr weiß ich leider nicht mehr.

In puncto Kriegsdienst hatte mein Vater Glück. Er war durch