Kriminalroman
Kommissar Ubbo Norden ermittelt.
Der Umfang dieses Buchs entspricht 120
Taschenbuchseiten.
Kommissar Ubbo Norden ermittelt mit seinem Kollegen Jan
Slieter in einem Fall von illegaler Giftmüllentsorgung. Ein Schiff,
dass den Emder Hafen verlässt, wird aufgebracht. Aber an Bord
befinden sich nicht nur Fässer mit Giftmüll, sondern auch die
sterblichen Überreste einer seit langem vermissten Frau. Nun nimmt
der Fall eine überraschende Wende, denn die Jagd nach dem Mörder
ist ein Wettlauf gegen die Zeit.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und
BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
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© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen.
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Prolog
Ich komme aus dem Norden. Und ich heiße auch so: Ubbo Norden,
Kommissar bei der Kripo Emden.
Mein Kollege, mit dem ich immer unterwegs bin, ist Kommissar
Jan Slieter.
Und unser Chef, das ist der Herr Menninga.
Jo.
Und mehr gibt es im Moment auch nicht zu sagen.
Denn zu den toten Frauen und dem Schiff, auf dem man sie
gefunden hat, komme ich ja noch.
Immer schön der Reihe nach, würde ich sagen.
Geschwätzigkeit ist nicht so mein Ding, müssen Sie
wissen.
Echt nicht.
1
Der Frachter PRIDE OF EMDEN hatte den Hafen von Emden gerade
verlassen. Unsere Aktion war sorgfältig und bis ins letzte Detail
geplant, aber aus irgendeinem Grund hatte das Schiff eine
Viertelstunde früher abgelegt und befand sich jetzt auf halbem Weg
nach Delfzijl in Holland.
Ein heftiger Wind blies über den Dollart.
Das Wasser war grau.
Der Himmel auch.
Salzgeruch hing in der Luft.
Möwen kreischten.
PRIDE OF EMDEN…
Der Stolz von Emden.
Der Name des Schiffes war ein Shakespeare-Zitat.
Um 1600 herum, das war Emdens beste Zeit. Mit über 400
Schiffen war die Stadt einer der größten Häfen Europas gewesen. Vor
den Spaniern geflohene Kaufleute aus den Niederlanden hatten Emden
zu einem nie wieder erreichten Wohlstand gebracht.
Einem Wohlstand, der sprichwörtlich wurde und dadurch seine
Spuren in Shakespeare-Dramen hinterließ.
Jemand, der was bei der Reederei zu sagen hatte, musste ein
belesener Mensch sein.
Und da sage noch einer, Verbrecher seien grundsätzlich
ungebildet.
Megafonstimmen ertönten und vermischten sich mit den
Motorengeräuschen von Schnellbooten. Ich konnte kaum verstehen, was
sie sagten, was daran lag, dass ich mich zusammen mit einigen
anderen Einsatzkräften an Bord eines Helikopters befand, der sich
im Anflug auf die PRIDE OF EMDEN befand. Der Helikopter-Piloten
ließ die Maschine auf dem Ladedeck nieder gehen.
Die Besatzung an Deck wirkte wie ein aufgescheuchter
Hühnerhaufen. Eine MPi knatterte. Das Mündungsfeuer leckte blutrot
aus dem kurzen Lauf einer Uzi heraus. Ein paar Projektile schlugen
dicht über mir in die Außenpanzerung des Helis ein. Ein weiterer
Schuss blieb im Spezialglas der Scheibe stecken.
Der Heli setzte auf.
Ich stürzte durch die offene Außentür hinaus. Die Dienstwaffe
hielt ich mit beiden Händen. Ich riss die SIG Sauer P226 hoch und
feuerte kurz hintereinander fünf Schuss aus dem Magazin.
2
Ich duckte mich, feuerte erneut. Dicht hinter mir befanden
sich meine Kollegen Jan Slieter und Fred Van Larrelt. Alle an
diesem Einsatz beteiligten Kommissaren trugen Kevlar-Westen und
waren über Headset miteinander verbunden.
Der Kerl, der mit der Uzi auf uns geschossen hatte, ballerte
jetzt nahezu ungezielt in der Gegend herum. Er schwenkte die Waffe
seitwärts, während er vorwärts stolperte. Seine Komplizen
schwenkten ebenfalls die Waffen. Automatische Pistolen, Pump Guns
und MPis unterschiedlicher Fabrikate waren darunter.
Tonnenweise Sondermüll befand sich an Bord der PRIDE OF EMDEN,
einem Frachter, der seine beste Zeit sicherlich hinter sich hatte.
Im Verlauf von monatelangen Recherchen war die Kripo Emden in
Zusammenarbeit mit dem BKA einer Organisation auf die Spur
gekommen, die Giftmüll illegal entsorgte. Dieser Zweig des
organisierten Verbrechens, auch Müll-Mafia genannt, hatte längst
mit den traditionellen Betätigungsfeldern des organisierten
Verbrechens wie dem Drogen- und Waffenhandel gleichgezogen. Die
Gewinnspannen waren enorm, wenn giftige Industrieabfälle, die
eigentlich teuer hätten entsorgt werden müssen, einfach auf einem
von Strohmännern angekauften Industriegelände abgestellt oder in
ein Entwicklungsland ausgeschifft wurden, wo die Vorschriften
weniger streng waren. Durch eine Abhöraktion hatten wir von der
illegalen Fracht der PRIDE OF EMDEN erfahren. Zeitgleich mit
unserem Einsatz liefen an einem halben Dutzend anderer Orte
Durchsuchungs- und Verhaftungsaktionen.
Schüsse peitschen an uns vorbei.
Mehrere Schnellboote der Küstenwache und der Hafenpolizei
hatten inzwischen längsseits der PRIDE OF EMDEN angelegt. Die
Einsatzkräfte stiegen an Bord.
Spätestens jetzt war für die Bewaffneten an Deck der PRIDE OF
EMDEN klar, dass sie keine Chance hatten.
Der Kerl, der mit der MPi auf uns geschossen hatte, ergab
sich. Ein Mann mit einer Pump Gun gab einen letzten, schlecht
gezielten Schuss in unsere Richtung ab, bevor er in einer Ladeluke
verschwand.
Die anderen waren vernünftiger und hoben die Hände.
Unser Kollege Kilian Carstensen, der Einsatzleiter bei dieser
Aktion, stieg zusammen mit seinem Partner Johnny Volkert und
anderen Beamten über die Reling der PRIDE OF EMDEN.
Bald darauf klickten die ersten Handschellen.
Jan Slieter und ich stürmten die Treppe hinauf zur Brücke.
Fred Van Larrelt war uns dicht auf den Fersen. Jan riss die Tür
auf, ich stürzte mit der SIG in beiden Händen hinein.
Kapitän, Steuermann und ein Bewaffneter befanden sich auf der
Brücke der PRIDE OF EMDEN. Der Bewaffnete war ein breitschultriger
Kerl mit roten Haaren, über dessen linker Schulter eine Uzi hing.
Er griff zur Waffe, riss die äußerst zierliche Maschinenpistole
herum und drückte ab.
Ich feuerte einen Sekundenbruchteil früher als er. Die erste
Kugel aus meiner SIG erwischte ihn an der Schulter und riss ihn zur
Seite. Er taumelte. Sein eigener Schuss wurde verrissen. Anstatt
mich zu perforieren, stanzten die relativ kleinkalibrigen
Uzi-Projektile eine Spur von kleinen Löchern in die Wand und ließen
schließlich auch noch eine Scheibe zerspringen.
Der Rothaarige taumelte zwei Schritte zurück, prallte gegen
eine Wand und riss seine Waffe noch einmal hoch, während er zu
Boden rutschte.
Ich ließ es nicht dazu kommen, dass seine MPi noch einmal
losknatterte. Mein zweiter Schuss traf ihn mitten im
Oberkörper.
Regungslos sackte der Rothaarige vollends zu Boden. Seine
Augen waren starr, der Mund halb geöffnet.
Ich trat näher und stellte fest, dass er nicht mehr lebte.
„Er hat dir keine andere Wahl gelassen“, stellte Jan
fest.
Kapitän und Steuermann standen wie angewurzelt da. Fred Van
Larrelt tastete sie kurz ab und stellte beim Steuermann eine Waffe
vom Kaliber neun Millimeter sicher.
Der Kapitän war unbewaffnet.
„Sie sind verhaftet“, erklärte mein Kollege Jan Slieter ihnen.
„Alles, was Sie von nun an sagen, kann vor Gericht gegen Sie
verwendet werden, falls Sie nicht von Ihrem Recht zu schweigen
Gebrauch machen...“
„Wir werden uns nicht äußern, bevor wir nicht mit einem Anwalt
gesprochen haben“, erklärte der Kapitän.
„Das ist Ihr gutes Recht“, sagte Jan. „Aber Sie sollten auch
bedenken, dass es juristisch sehr viel günstiger für Sie ausgehen
kann, wenn Sie sich zu einer frühen Aussage entschließen. Denn
irgendjemand unter den schätzungsweise fünfzig oder sechzig
Verhaftungen, die im Moment gerade durchgeführt werden, wird
reden.“
„Fragt sich nur, wer sich zuerst dazu entschließt“, ergänzte
ich.
3
Alle Maschinen wurden auf Stopp geschaltet. Aber bis ein
Schiff wie die PRIDE OF EMDEN ihre Fahrt spürbar verlangsamte,
dauerte es eine Weile. Glücklicherweise hatten wir Unterstützung
durch die Hafenpolizei. In deren Reihen gab es Mitarbeiter, die ein
Schiff von dieser Größe führen konnten.
Da sich sowohl der Kapitän als auch der Steuermann weigerten,
uns in irgendeiner Form zu unterstützen, blieb uns nichts anderes
übrig, als zu warten, bis zwei dieser Beamten auf der Brücke
eintrafen und die Führung des Schiffes übernahmen.
Wir führten die Gefangenen ab. Auf dem Hauptdeck wurden sie
von Kollegen in Empfang genommen, die sie auf Boote der
Hafenpolizei verfrachteten.
Unser Kollege Kilian Carstensen kam uns entgegen.
„Das dürfte einer der größten Schläge gegen die Müllmafia seit
mindestens einem Jahr sein“, meinte er.
„Wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben“, erwiderte ich.
„Erst wenn sich die vermuteten Giftfässer tatsächlich an Bord der
PRIDE OF EMDEN befinden, haben wir eine juristische Handhabe – und
dann fragt sich immer noch, ob uns nur ein paar kleine Fische ins
Netz gegangen sind, oder wir endlich auch an die Hintermänner
herankommen, die diese miesen Geschäfte aufziehen!“
„Das werden wir schon“, versprach der flachsblonde Kilian.
Er machte plötzlich ein angestrengtes Gesicht.
Offenbar bekam er eine Meldung über sein Headset.
„Was ist los, Kilian?“, hakte Jan nach.
„Mindestens einer der Kerle verschanzt sich noch unter Deck“,
berichtete Kilian.
Ich hob die Augenbrauen.
„Der Kerl, der versucht hat, unseren Helikopter mit seiner Uzi
aus der Luft zu holen?“, hakte ich nach.
Kilian nickte.
„Ganz genau.“
Dumpfe Laute dröhnten jetzt aus dem Inneren der PRIDE OF
EMDEN. Schussgeräusche.
„Ein paar Kollegen sind ihm bereits unter Deck gefolgt…“,
erklärte Kilian.
„Hört sich an, als bräuchten die ein bisschen Unterstützung!“,
mischte sich Jan ein.
Im nächsten Augenblick meldete sich einer der Kollegen über
Headset. Er hieß Marvin Pätzold, war vor zwei Monaten zu uns
versetzt worden. Aber Kommissar Pätzold kam gar nicht mehr dazu,
seinen Bericht abzugeben.
Noch ehe er den ersten Satz vollendet hatte, hörten wir alle
den Knall über die Headsets. Dann war Stille.
Ich sah, wie Kilian unwillkürlich die Hand zur Faust
ballte.
„Verdammt“, murmelte er.
4
Ich stieg die Treppe hinunter, die Dienstwaffe in der rechten.
Meine Kollegen Jan Slieter und Fred Van Larrelt folgten mir. Etwas
später folgten noch die Kommissaren Tamme Kronburg und Edzard
Carell.
Mit den Dienstwaffen im Anschlag arbeiteten wir uns in den
engen Gängen des Zwischendecks vor. An insgesamt fünf Positionen
waren Kollegen von uns ins Innere der PRIDE OF EMDEN eingedrungen,
um den Uzi-Schützen aufzuspüren.
„Ich frage mich, warum dieser Kerl hier so ein Theater
veranstaltet", raunte Jan mir zu. „Sich jetzt noch da unten
einzuigeln, grenzt doch schon fast an eine Art Amoklauf!“
Jan hatte Recht und genau dieser Punkt hatte auch mich stutzig
gemacht.
Natürlich hatten wir es auch immer wieder mit psychopathischen
Tätern zu tun, denen es wichtiger war, ihren eigenen Tod
wirkungsvoll zu inszenieren, als zu überleben. Gestörte
Persönlichkeiten, für die Polizisten letztlich nur manipulierbare
Größen darstellten, die Rollen von Statisten in einer
selbstmörderischen Inszenierung einnahmen.
Aber im Bereich der organisierten Kriminalität kam dieser
Tätertyp nur in Ausnahmefällen vor. Normalerweise ergaben sich
Täter, wenn sie gestellt wurden und tatsächlich keinerlei Chance
mehr bestand, aus der Situation herauszukommen. Ein großartiges
Blutbad anzurichten machte auch im Hinblick auf die juristische
Behandlung des Falles keinen Sinn, denn wenn sie auf einen Deal mit
der Staatsanwaltschaft aus waren, mussten sie sich kooperativ
verhalten.
Das Verhalten des Uzi-Schützen mache also nur unter der
Voraussetzung Sinn, dass er tatsächlich glaubte, noch irgendeine
Fluchtoption zu haben.
Oder es ging um die Vernichtung von Beweismitteln…
In jedem Fall war es wichtig, dass wir diesen Job so schnell
wie möglich erledigten.
Der einzige ungefähre Anhaltspunkt für den gegenwärtigen
Aufenthaltsort des Uzi-Killers war die letzte Position von
Kommissar Marvin Pätzold. Wir hatten sein Handy angepeilt. Das
Signal kam aus einem der großen Lagerräume im Bauch der PRIDE OF
EMDEN. Über Headset erreichte uns eine Meldung unseres Kollegen
Johnny Volkert, der sich dem Hauptladeraum zusammen mit ein paar
weiteren Kollegen von der entgegengesetzten Seite näherte.
Wir arbeiteten uns weiter vorwärts, sicherten uns gegenseitig
und erreichten schließlich den Hauptladeraum. Er war gefüllt mit
Fässern unterschiedlicher Größe. Ein unangenehmer, stechender
Geruch hing in der Luft. Wir fanden Kommissar Marvin Pätzold.
Er lag auf dem Boden zwischen zwei Fässern, die schon ziemlich
verrostet waren. Jan und ich ließen den Blick schweifen und hielten
dabei die Dienstwaffen mit beiden Händen. Fred Van Larrelt kümmerte
sich um Kommissar Pätzold.
Er lebte nicht mehr.
Ein halbes Dutzend Schüsse hatten ihn durchsiebt.
„Verdammt“, murmelte Fred. Er gab eine kurze Meldung per
Headset an die Einsatzleitung.
In diesem Moment nahm ich eine Bewegung war. Der Uzi-Schütze
tauchte hinter einem der Fässer hervor. Die Maschinenpistole
knatterte los. Jan und ich schossen annähernd im selben Moment
zurück. Der Uzi-Schütze taumelte zurück. Sein Körper zuckte unter
unseren Treffern. Er schlenkerte mit dem Lauf seiner Waffe
unkontrolliert herum, während sich gleichzeitig weitere Schüsse
lösten. Projektile stanzten sich in die Blechwände des Laderaums.
Teile der Beleuchtung zersprangen und Glassplitter von Neonröhren
regneten zu Boden.
Offenbar trug der Uzi-Schütze unter seiner Kleidung eine
Kevlar-Weste. Er ließ Jan und mir keine Wahl, als unablässig
abzudrücken. Erst ein Treffer am Kopf schaltete ihn aus. Er
taumelte gegen eines der Fässer. Eine letzte Sequenz von Schüssen
löste sich aus dem kurzen Lauf der Uzi und durchlöcherte zwei
Fässer. Aus den Einschusslöchern quoll eine gelbliche Flüssigkeit
hervor.
Dann strauchelte der Uzi-Schütze zu Boden.
Jan und ich näherten uns vorsichtig.
Fred Van Larrelt folgte uns.
„Wir haben ihn!“, meldete ich über Funk an Johnny und die
anderen weiter.
Wir fanden den Uzi-Schützen schließlich reglos am Boden
liegen. Das Blut, das aus der Wunde an seinem Kopf austrat,
vermischte sich mit der übelriechenden gelblichen Flüssigkeit, die
aus den durchlöcherten Fässern heraus quoll.
Seine Augen blickten starr und tot zur Decke. Ich steckte die
Waffe ein, packte ihn an den Füßen und zog seinen Körper aus der
anwachsenden gelben Lache heraus, während Jan über Funk
Unterstützung anforderte.
5
„Er hat uns keine Chance gelassen“, sagte ich zehn Minuten
später an Kilian gewandt. „Es war fast so, als ob der Kerl es
darauf angelegt hat, dass wir ihn erschießen!“
„Es macht euch auch niemand einen Vorwurf, Ubbo!“, stellte
Kilian klar.
Über Funk meldete sich ein Kollege der Hafenpolizei. Das
Schiff war unter Kontrolle, sollte jetzt drehen und anschließend
zurück nach Emden fahren.
Kollegen des Erkennungsdienstes waren von Anfang an Teil der
Operation gewesen. Mehrere Chemiker untersuchten stichprobenartig
den Inhalt der Fässer, um abschätzen zu können, welche zusätzlichen
Sicherheitsmaßnahmen zu treffen waren.
Außerdem sahen sich mehrere Erkennungsdienstler auf der PRIDE
OF EMDEN um, darunter unsere Kollegen Wilko Folder und Fokke
Horster.
Tom Haase, der Einsatzleiter der SRD-Kräfte sprach uns an. Er
trug einen Schutzanzug gegen austretende Giftstoffe. Eine Atemmaske
hing ihm um den Hals und war jederzeit einsatzbereit.
„Es wäre gut, wenn der Laderaum so schnell wie möglich geräumt
würde“, erklärte Haase an Kilian Carstensen gerichtet. „Wir wissen
noch nicht, was hier alles an Chemikalien lagert – aber so, wie es
aussieht handelt es sich um hochtoxische, stark ätzende Stoffe. Es
ist gut möglich, dass da noch einige üble Überraschungen ans
Tageslicht kommen, wenn wir die Fässer öffnen.“
„In Ordnung“, stimmte Kilian zu. „Wir überlassen Ihnen das
Feld, Tom.“
Wir kehrten an Deck zurück, und ich war froh, wieder frei
durchatmen zu können. Mitarbeiter der SRD brachten die Leichen des
Uzi-Schützen und unseres Kollegen Marvin Pätzold an Deck.
Unser Beruf bringt gewisse Risiken für Leib und Leben mit sich
und man kann nie ganz ausschließen, in einem gefährlichen Einsatz
wie diesem umzukommen. Aber ich werde mich wohl nie daran gewöhnen,
dass Kollegen in Ausübung ihres Dienstes umkommen.
Zwei Monate war Kommissar Pätzold auf unserer Dienststelle
tätig gewesen. Nur zwei Monate…
Einige der Kugeln, die ihn getroffen hatten, waren von der
Kevlar-Weste abgefangen worden. Aber es gab auch einen Kopftreffer,
der mit Sicherheit tödlich gewesen war.
Unser Kollege Edzard Carell durchsuchte die Kleidung des
getöteten Uzi-Schützen. Der Blouson, der seinen Oberkörper
bedeckte, war durch die Einschüsse zerfetzt. Darunter kam der graue
Stoff einer Kevlar-Lage zum Vorschein.
Edzard stellte einen Führerschein sicher, der auf den Namen
Henning Schmeding ausgestellt war.
„Ich würde nicht damit rechnen, dass dieser Mann seine wahre
Identität angegeben hat“, meinte Edzard.
Falls der Name Henning Schmeding falsch war, so hatte dieser
Mann ihn mit der Absicht gewählt, nicht aufzufallen. Auf den ersten
Blick war der Führerschein nicht als Fälschung erkennbar.
„Ich frage mich, was dieser Mann sich davon versprochen hat,
sich buchstäblich bis zum letzten Atemzug gegen eine Verhaftung zu
wehren“, meinte Jan.
„Ich vermute, dass er nichts zu verlieren hatte“, gab ich
zurück.
„Ein dicker Fisch?“
„Jedenfalls jemand, der nicht auf irgendeine Art von
Entgegenkommen durch die Justiz hoffen konnte, Jan.“
„Wahrscheinlich hat der darauf spekuliert, sich irgendwo in
den zahllosen Luken und kleinen Nebenstauräumen versteckt halten zu
können, um dann vielleicht doch eine Chance zur Flucht
wahrzunehmen.“
Auf jeden Fall erwartete ich, dass der Mann, der sich Henning
Schmeding nannte, ein umfangreiches Dossier in den über das
Datenverbundsystem zugänglichen Daten über Kriminelle vorweisen
konnte.
6
Eine Dreiviertelstunde später legte die PRIDE OF EMDEN im
Emder Hafen an. Dort warteten bereits weitere Einsatzkräfte auf,
darunter auch der Gerichtsmediziner Dr. Broerke Remmers. Außerdem
Spezialisten, deren Aufgabe es war, möglichst schnell zu
analysieren, was genau sich in den Giftfässern befand, die die
PRIDE OF EMDEN auf kriminelle Weise hatte entsorgen sollen.
Wir gingen an Land.
An Bord des Frachters hatten wir jetzt nichts mehr verloren.
Nun schlug die Stunde der Experten und Wissenschaftler. Es musste
haarklein rekonstruiert werde, wie Kommissar Pätzold gestorben
war.
Von Kilian erfuhren wir, dass die ersten Verdächtigen, die an
anderen Orten im Zusammenhang mit der PRIDE OF EMDEN zeitgleich
festgenommen worden waren, bereits in unserer Dienststelle
angekommen waren. Darunter auch Hinnerk Martensteen, der
Geschäftsführer einer dubiosen Im- und Exportfirma. Staatsanwalt
Tamme Grotekerken war ebenfalls bereits eingetroffen, um deutlich
zu machen, dass derjenige, der sich ohne Verzögerung dazu
entschloss, das Schweigen zu brechen, mit Vorteilen rechnen konnte.
Wir wurden zurück zur Dienststellen beordert.
Als wir dort eintrafen, hatten die Verhöre des Kapitäns und
des Steuermanns der PRIDE OF EMDEN bereits begonnen. Der Rest der
Besatzung befand sich in Gewahrsam und zum Teil musste erst die
jeweilige Identität mühsam festgestellt werden. Manche der
Festgenommenen sprachen sehr schlecht Englisch. Es handelte sich um
Seeleute, die unter wirklich abenteuerlichen Bedingungen angeheuert
worden waren und kaum über die nötigsten Kenntnisse verfügten.
Das Gros schien von den Philippinen und aus Mittelamerika zu
stammen, aber die Neigung dieser Männer, mit uns
zusammenzuarbeiten, war nicht besonders groß. Erstens begriffen sie
offenbar kaum, dass sie sich an einer Straftat beteiligt hatten und
zweitens hatten sie nach Ansicht unserer Verhörspezialisten
Angst.
„Sie ahnen nicht, dass jemand mutwillig ihre Gesundheit aufs
Spiel gesetzt hat“, stellte unser Kollege Dirk Bakker fest, der mit
einigen von ihnen gesprochen hatte. „Sie wurden hochgiftigen
Stoffen ausgesetzt und verfügen über so gut wie überhaupt keine
Kenntnisse darüber, wie man damit umgehen müsste oder wie man sich
vor den Giften schützen kann.“
„Das ist wohl einer der Gründe dafür, weshalb eine Entsorgung
an Bord der PRIDE OF EMDEN sehr viel günstiger ist als dies
normalerweise der Fall wäre“, stellte ich fest.
Dirk nickte. Wir beobachteten durch eine Spiegelwand die
Verhöre des Kapitäns und des Steuermanns. Der Kapitän hieß Rudolf
Jordan. Er weigerte sich, irgendwelche Aussagen zu machen. Die
PRIDE OF EMDEN gehörte einer Holding, die wiederum mehrheitlich
Eigentum einer Briefkastenfirma war, die ihren Stammsitz auf den
Cayman Islands hatte.
„Die wahren Besitzer werden wohl nicht so leicht festzustellen
sein“, meinte Jan. „Es könnte durchaus sein, dass Kapitän Jordan
darüber gar nichts weiter weiß.“
„Oder wissen will“, setzte ich hinzu.
Jan zuckte mit den Schultern. „Also ein Fall für Tjark.“
Unser Kollege Tjark Petersen war in unserer Dienststelle der
Spezialist für Betriebswirtschaft. Er wusste, wie man Finanzströme
verfolgte, was bei Ermittlungen im Bereich der organisierten
Kriminalität einen immer wichtiger werdenden Stellenwert bekommen
hatte. Oft war es nur auf diese Weise möglich, kriminelle
Verflechtungen aufzudecken.
Unser Kollege Kommissar Jörn Dahl führte das Verhör durch. Er
gehörte zu den jüngeren in unserer Dienststelle. Dirk Bakker hielt
allerdings große Stücke auf ihn. Außer Dahl war noch Staatsanwalt
Grotekerken anwesend, der sich allerdings nicht weiter einmischte.
„Sie wollen uns doch nicht erzählen, dass Sie nicht gewusst
haben, dass die PRIDE OF EMDEN zu einem illegalen
Giftmüll-Transport benutzt wurde“, sagte Dahl. „Zu diesem Zeitpunkt
sind Kollegen von uns in Ihrer Wohnung in Newark und stellen dort
alles auf den Kopf. Jede Kontobewegung wird von unseren
Spezialisten genauestens unter die Lupe genommen und wenn Sie noch
irgendeine Chance haben wollen, um mit der Staatsanwaltschaft zu
einer Übereinkunft zu kommen, dann sollten Sie jetzt auspacken.
Sonst ist es zu spät…“
„Ich verweigere Aussage“, erklärte Kapitän Jordan.
„In den Daten, die uns zugänglich sind, wird eine Anklage
wegen Versicherungsbetruges vermerkt.“
„Das Verfahren wurde eingestellt.“
„Sie sollen einen Frachter mit dubioser Ladung absichtlich vor
der nigerianischen Küste auf Grund gesetzt haben. Man warf Ihnen
Versicherungsbetrug vor.“
„Wie gesagt, das Verfahren wurde eingestellt!“
„Eigner des Schiffes war eine Rederei aus Liberia, die einer
Holding gehörte, die wiederum hundertprozentige Tochter der
International Cargo Holding auf den Cayman Islands war, als deren
Geschäftsführer ein gewisser Hinnerk Martensteen fungierte!“
„Wenn Sie das sagen!“
„Seltsamerweise ist die PRIDE OF EMDEN Eigentum einer anderen
Firma, als deren Geschäftsführer ebenfalls ein gewisser Hinnerk
Martensteen eingetragen ist, dem außerdem noch eine dubiose Im- und
Exportfirma gehört, die hier im Hafen von Emden ansässig
ist.“
Jordan beugte sich nach vorn. Seine Augen wurden schmal und er
sprach beinahe, ohne dass sich seine Lippen überhaupt bewegten. Sie
bildeten einen fast geraden Strich, während er zwischen den Zähnen
hervorpresste: „Dann befragen Sie doch verdammt noch mal diesen
Herr Martensteen und nicht mich!“
Jetzt mischte sich Staatsanwalt Tamme Grotekerken ein.
„Keine Sorge, das geschieht bereits“, versicherte er. „Genau
jetzt in diesem Moment in einem unserer anderen Vernehmungszimmer.
Und bevor Sie sich von Herr Martensteen einen Anwalt bezahlen
lassen, sollten Sie darüber nachdenken, dass Ihre Aussage jetzt
der Staatsanwaltschaft noch ein deutliches Entgegenkommen wert sein
könnte…“
In dem Vorraum, in dem sich Jan und ich befanden, öffnete sich
die Tür. Sie flog förmlich zur Seite. Ein kleiner, gedrungen
wirkender Mann mit hoher Stirn trat ein. „Roger W. Sundback von
Peter-Ferdinanden, Sundback & Partners. Ich bin der Anwalt von
Kapitän Jordan. Die Fragestunde ist damit vorbei! Ich will mit
meinem Mandanten unter vier Augen reden.“
7
Als Jan und ich eine Stunde später in dem Dienstzimmer saßen,
das wir uns miteinander teilten, kam Kommissar Tadaeus Ulfert, ein
Kollege aus der Fahndungsabteilung unseres Innendienstes herein.
Die Identität des Uzi-Schützen war geklärt.
„Henning Schmeding heißt in Wirklichkeit Henning Martini“,
erklärte Tadaeus. „Er ist seit zehn Jahren untergetaucht. Ihm
werden ein halbes Dutzend Morde im Zusammenhang mit dem
organisierten Verbrechen nachgesagt. Bei mindestens drei Fällen ist
die Beweislage sehr eindeutig.“
„Kein Wunder, dass er auf keinen Fall in die Hände der Justiz
geraten wollte“, stellte Jan fest. Er wandte den Kopf in meine
Richtung. „Du hattest Recht, Ubbo.“
„Das kannst du laut sagen!“
„Er hatte einfach nichts zu verlieren.“
„Für wen hat Martini zuletzt gearbeitet?“, fragte ich an
Tadaeus Ulfert gerichtet und nippte dabei an meine
Kaffeebecher.
„Der letzte Fall, mit den wir ihn in Verbindung bringen
konnten, ereignete sich in Bremen”, stellte Tadaeus fest. „Ich habe
euch die Unterlagen auf den Rechner geschickt.“
„Danke.“
„Ein gewisser Miles Sorenson wurde vor sechs Monaten in einem
Motel ermordet.“
„Müsste man diesen Sorenson kennen?“, fragte ich.
„Tjark sagt, dass er bei einem halben Dutzend Unternehmungen
Martensteens Geschäftspartner und Teilhaber war. Wir vermuten, dass
er im Auftrag von Martensteens Müll-Mafia Industrie-Brachen von
Strohmännern aufkaufen ließ, um dort Kunststoffabfälle illegal zu
lagern.“
Eine alte Masche dieses im wahrsten Sinn des Worts schmutzigen
Gewerbes. Der Strohmann tauchte dann irgendwann unter und oft fiel
der illegal deponierte Müll erst auf, wenn es zu Vergiftungen des
Grundwassers kam, sich Anwohner über Geruchsbelästigungen
beschwerte oder sogar ein Feuer ausbrach. Spontane
Selbstentzündungen waren bei unsachgemäß gelagerten
Kunststoffabfällen durchaus wahrscheinlich. Das dabei entstehende
Dioxin war hoch-toxisch und gehörte zu den giftigsten Substanzen
überhaupt. Wenn es dann zur Katastrophe kam, waren die Strohmänner
natürlich längst untergetaucht und die Ermittlungen verliefen
leider oft genug im Sande, weil sich einfach nicht genügend
konkrete Spuren finden ließen.
Jan und ich nahmen uns die Daten über den Mord in Bremen vor.
Es war so gut wie sicher, dass Martini der Mörder war, denn er
hatte reichlich DNA am Tatort hinterlassen. Es hatte einen Kampf
mit Miles Sorenson gegeben und der hatte Martini durch einen Schuss
ins Bein verletzt. Martini war entkommen und hatte sich offenbar in
irgendeiner verschwiegenen Privatambulanz behandeln lassen. Die
Behörden hatten nie herausfinden können wo.
Das ganze geschah, kurz bevor Sorenson hatte aussteigen und
sich einem V-Mann der Bremer Polizei hatte anvertrauen wollen.
Das Motiv für Hinnerk Martensteen, Sorenson aus dem Weg räumen
zu lassen, lag also auf der Hand.
„Können wir Martensteen mit Martinis Tat in Verbindung
bringen?“, fragte ich an Tadaeus gewandt.
„Das wird schwierig, wenn wir keine zusätzlichen Beweise oder
Zeugenaussagen haben“, glaubte der Innendienstler aus der
Fahndungsabteilung.
8
Gegen Abend entschloss sich Patrick Kreutzfeld, der Steuermann
der PRIDE OF EMDEN, dazu, mit dem Staatsanwalt zu reden. Er
belastete Martensteen stark, woraufhin auch Kapitän Rudolf Jordan
seine starre Haltung aufgab, den von Martensteen bezahlten Anwalt
in die Wüste schickte und unseren Kollegen gegenüber umfassend
aussagte.
Dabei belastete auch er Martensteen stark.
Alles sah danach aus, dass der Fall juristisch erfolgreich
abgeschlossen werden konnte. Entsprechend zufrieden fuhren Jan und
ich am Abend nach Hause. Bevor ich Jan an der bekannten Ecke
absetzte, aßen wir noch einen Fischbrötchen in einem Fisch-Imbiss
am Delft.
„Dieser Martensteen ist schon ziemlich weit oben in der
Müll-Mafia anzusiedeln“, meinte Jan. „So schnell wird sich die von
diesem Schlag nicht erholen!“
„Jedenfalls gehört dieser Martensteen einer Gewichtsklasse von
Gangstern an, an die wir normalerweise selten herankommen“, meinte
ich.
„Die Weiße-Kragen-Abteilung der Bosse.“
„So ist es.“
„Umso besser, dass seine Chancen ausgesprochen schlecht
stehen, ungeschoren davonzukommen. Und wer weiß, vielleicht zieht
er bei seinem Fall ein paar Leute mit in den Abgrund, die noch über
ihm stehen.“
Ich nickte. „Es ist immer nur ein Etappensieg, den man im
Kampf gegen das organisierte Verbrechen erringen kann“, sagte ich
und Jan stimmte mir zu.
Am nächsten Morgen regnete es in Strömen, als ich Jan an der
bekannten Ecke abholte und wir zu unserer Dienststelle kamen. Auf
dem Flur lief uns Tadaeus Ulfert über den Weg. „Der PRIDE OF
EMDEN-Fall hat sich vollkommen gedreht“, meinte er im Vorübergehen.
„Der Chef hat in fünf Minuten zur Besprechung geladen. Ihr sollt
auch dabei sein!“
„Vollkommen gedreht?“, echote ich, aber Tadaeus hatte es
furchtbar eilig und offenbar vor der Besprechung noch dringend
etwas zu erledigen.
Als wir im Besprechungszimmer unseres Vorgesetzten Jonathan D.
Menninga eintrafen, waren unsere Kollegen Kilian Carstensen und
Johnny Volkert schon anwesend.
Herr Menninga stand hinter seinem Schreibtisch. Der Chef der
Emder Kriminalpolizei telefonierte gerade und sagte zweimal kurz
hintereinander etwas angestrengt: „Ja, in Ordnung.“
Wir nahmen Platz. Unsere Erkennungsdienstler Wilko Folder und
Fokke Horster trafen ein. Die Sekretärin unseres Chefs servierte
ihren berühmten Ostfriesentee.
Herr Menninga legte auf. „Das war Kommissar Jensen von der
Bremer Polizei“, erklärte er. „Ich werde Ihnen gleich erklären, was
es mit diesem Anruf auf sich hat… Aber zunächst möchte ich noch
abwarten, bis…“ Herr Menninga sprach nicht weiter, denn in diesem
Augenblick betrat Tadaeus Ulfert den Raum.
„Wo bleibt Herr Haase?“
„Gerade eingetroffen. Sie wissen ja, was im Moment auf den
Straßen los ist.“
Ich nippte an meinem Tee.
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann begann Herr
Menninga, die Zeit damit zu nutzen, dass er uns über den aktuellen
Stand der Ermittlungen gegen die an Bord der PRIDE OF EMDEN
Festgenommenen informierte.
Inzwischen traf Tom Haase vom Erkennungsdienst ein.
Herr Menninga nickte ihm kurz zu. Noch ehe sich Haase gesetzt
hatte, sagte unser Chef: „Unsere Leute haben bei der genaueren
Untersuchung der Giftfässer an Bord der PRIDE OF EMDEN einige
interessante Entdeckungen gemacht, die ein völlig neues Licht auf
den Fall werfen. Herr Haase, Sie haben das Wort.“
„Danke, Herr Menninga“, sagte Haase. Er ließ kurz den Blick
durch den Raum schweifen. „Ich will Sie nicht damit langweilen,
welche extrem giftigen Chemikalien wir im Einzelnen in den Fässern
gefunden haben. Es handelt sich dabei aber durchweg um stark
ätzende Säuren, die bei verschiedenen Industrieprozessen entstehen.
Aber so stark eine Säure auch sein mag, es gibt Dinge, die selbst
der zersetzenden Kraft der stärksten Säure widerstehen können.
Insbesondere sind das polymere Kunststoffe, deren lange
Molekülketten eine Zersetzung nahezu unmöglich machen. Der
bekannteste dieser Stoffe dürfte das Polyvinylchlorid sein – kurz
PVC. Eine ähnliche Struktur haben Silikone, wie sie für
Brustimplantate, aber auch für den Korrosionsschutz von
Leitungssystemen oder auch zum Schutz von Implantaten aller Art vor
Zersetzung verwendet werden, denn auch der menschliche Körper
produziert hochaggressive Säuren, die auf die Dauer selbst Knie-
und Hüftimplantate aus Titan zersetzen würden. Von empfindlichen
Herzschrittmachern mal ganz abgesehen!“ Haase atmete tief durch
und fuhr dann fort: „Wir haben in einem der Fässer ein
Brustimplantat gefunden, an dem sich nur noch geringfügige
DNA-Reste befanden. Der Körper der Trägerin ist vollständig
zersetzt worden, aber anhand der Seriennummer konnten wir die
Klinik und die Trägerin des Implantats herausfinden. Es handelt
sich um Norma Jeremies aus Bremen, die seit fünf Jahren vermisst
wird. Sie war Ende zwanzig, rothaarig, zierlich. Sie passt in das
Opferprofil eines bisher unbekannten Serientäters, dem wir
mindestens fünf Frauenmorde zur Last legen.“
„Ein Serientäter, der seine Leichen in Giftfässern entsorgt
hat?“, fragte Kilian zweifelnd.
Tom Haase nickte.
„Daran, dass die vermisste Norma Jeremies in dem Säurefass an
Bord der PRIDE OF EMDEN war, gibt es keinen Zweifel. Der Körper war
in Anbetracht der Säurekonzentration wahrscheinlich nach wenigen
Wochen vollkommen zersetzt. Das Skelett ist dann nach spätestens
drei Monaten völlig aufgelöst gewesen. Eine chemische Feinanalyse
wird da kaum noch genauere Erkenntnisse bringen. Der menschliche
Körper besteht zu 70 Prozent aus Wasser, das später von dem Wasser,
in dem die Säue gelöst war, nicht mehr zu unterscheiden war.
Knochen und Zähne brauchen etwas länger bis sie aufgelöst werden,
aber letztlich blieb nur das Brustimplantat.“
„Besteht irgendein Anlass, darüber nachzudenken, ob der Mord
an Norma Jeremies vielleicht im Zusammenhang mit einer Verwicklung
in Machenschaften der Müll-Mafia geschah?“, fragte Herr
Menninga.
„Ich habe bereits eine Schnellabfrage ans BKA gestartet“,
mischte sich unser Kollege Kommissar Tadaeus Ulfert ein. „Es gibt
kein Indiz, das darauf hindeutet. Norma Jeremies arbeitete für eine
Lokalzeitung, den Bremer Anzeiger. Ihr Alltag dürften Berichte über
den örtlichen Kaninchenzüchterverein, und die Unfälle der Umgebung
gewesen sein.“
„Das ist noch nicht alles“, fuhr Haase fort. „Wir haben
natürlich auch die anderen Fässer untersucht. Dabei sind wir auf
weitere menschliche Überreste gestoßen, die möglicherweise von
Opfern des Serientäters stammen. Es handelt sich um einen Goldzahn
und ein halb zersetztes Knochenfragment. Da beides in
unterschiedlichen Fässern sichergestellt wurde, nehmen wir an, dass
es sich um zwei verschiedene Opfer handelte, die wir bislang
allerdings noch nicht die identifizieren konnten.“
„Wir werden alle vermissten Personen, die ins Raster passen
mit den Spuren abgleichen“, erklärte Tadaeus Ulfert „In Frage kommt
bisher Nancy Kratzenberg, seit vier Jahren vermisst, rothaarig, zum
Zeitpunkt ihres Verschwindens 24 Jahre alt und von Beruf Bedienung
in einem Schnellimbiss in Bremen.“
Herr Menninga wandte sich an Jan und mich. „Ich möchte, dass
Sie und Jan sich nach Bremen begeben und der Sache auf den Grund
gehen“, erklärte er. „Ich habe vorhin mit den zuständigen Kollegen
dort gesprochen. Die Bremer Polizei wird Sie in jeder Hinsicht
unterstützen. Kann sein, dass dies nur ein Zufallsfund ist, der mit
den Ermittlungen gegen Hinnerk Martensteen und die Müll-Mafia nicht
das Geringste zu tun hat. Aber das ändert nichts an der Tatsache,
dass hier möglicherweise ein gefährlicher Serientäter am Werk war,
der noch immer aktiv sein könnte!“
„Es wäre gut, wenn wir wüssten, von wo genau die Giftfässer
stammten“, sagte ich.
„Daran arbeiten wir“, erklärte Tom Haase.
„Insofern haben beide Fälle schon etwas miteinander zu tun,
denn Martensteen hat uns bisher nicht verraten, wessen Müll er mit
Hilfe der PRIDE OF EMDEN entsorgen wollte“, ergänzte Tadaeus
Ulfert. „Aber das Auffinden des Brustimplantats gibt uns natürlich
einen Hinweis in Richtung Bremen.“
„Fand nicht auch Henning Martinis letzter Auftragsmord in der
Nähe von Bremen statt?“, fragte ich an Tadaeus gerichtet.
Unser Kollege nickte. „Das stimmt.“
9
Der Mann mit dem Goldkreuz auf der Brust nahm sein Glas und
machte zwei Schritte nach vorn. Er fixierte mit seinem Blick die
Frau Mitte zwanzig, deren rot gelockte Mähne bis weit auf den
Rücken hinabreichte. Sie rührte lustlos mit dem Trinkhalm in ihrem
Drink herum. Giftgrün war der Drink, eine Spezialität von Anselm
dem Barkeeper. Es gab sicher nicht wenige, die Anselms Drinks wegen
in Mäckis Bar kamen. Aber die Rothaarige machte den Eindruck, als
wüsste sie die Qualität ihres Drinks heute nicht zu schätzen.
Der Mann mit dem Kreuz auf der Brust setzte sich auf den
Hocker neben ihr und stellte sein eigenes Glas auf den
Tresen.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte der Mann mit dem
Kreuz. Sie ignorierte ihn zunächst.
Aber das ließ der Mann mit dem Kreuz nicht gelten. Er
wiederholte seine Frage einfach – diesmal etwas lauter, sodass sich
einige der anderen Gäste schon umdrehten.
Die Rothaarige drehte sich nun zu ihm herum und blickte auf.
„Das haben Sie doch schon getan“, sagte sie. Sie musterte ihn. Ihr
Urteil stand nach ein paar Sekundenbruchteilen fest. Das war
niemand, mit dem sie sich länger beschäftigen wollte. Aber er ließ
sich nicht so schnell einschüchtern.
„Mein Name ist Benny“, sagte er.
„Ach!“
„Und wenn Sie nicht schon einen Drink hätten, würde ich Ihnen
einen ausgeben.“
„Danke, aber das möchte ich nun wirklich nicht.“
„Wieso? Was ist schon dabei? Nur ein Drink.“
Ihre Stimme bekam jetzt einen ziemlich genervten Tonfall.
„Hören Sie, Herr, ich…“
„Sie heißen Rabea, nicht wahr?“, unterbrach er sie. Er
lächelte dabei auf eine Weise, die ihr nicht gefiel. Es war ein
Lächeln, das mehr vom Triumph eines Raubtiers hatte, als dass es
als Zeichen einfacher Freundlichkeit hätte durchgehen können. Sein
Blick fixierte sie. Er schien ihre Verwirrung zu genießen.
Die Rothaarige sah ihn erstaunt an. „Woher wissen Sie das?“,
fragte sie kühl.
„Ich bin öfter hier. Und Sie auch. Das erklärt doch
einiges.“
„Das erklärt gar nichts.“
„Offenbar haben Sie mich noch nie bemerkt, aber ich konnte
nicht umhin einige der Gespräche mit anzuhören, die Sie an dieser
Bar geführt haben.“
„Sie belauschen also gerne andere Leute. Na großartig!“
„Rabea Frerich. Das stimmt doch oder? So heißen Sie
doch!“
Sie schluckte. Eine tiefe Furche bildete sich auf ihrer
ansonsten vollkommen glatten Stirn. Sie strich sich eine verirrte
Strähne aus dem Gesicht. Die Situation drohte ihr zu entgleiten und
sie wollte im Moment eigentlich nur noch eins: In Ruhe gelassen
werden.
„Hören Sie, Herr…“
Seine makellosen Zähne blitzten auf, als er den Mund breit
zog. „Nennen Sie mich Benny. Das klingt nicht so
unpersönlich.“
„Nein!“, sagte sie entschieden.
„Bitte!“
Er nahm einen Schluck. Dann noch einen. Schließlich stellte er
das leere Glas auf den Tresen und bestellte bei Anselm noch einen
Drink, der sich Schwarzer Friesenteufel nannte und zu Rabeas
Erstaunen tatsächlich vollkommen schwarz war, nachdem der Barkeeper
ein halbes Dutzend verschiedener Zutaten zusammengemixt hatte.
„Benny, ich hatte einen anstrengenden Tag und mir steht nun
wirklich nicht der Sinn nach Unterhaltung. Also betrachten Sie es
nicht als unhöflich, wenn ich Ihnen sage, dass ich am liebsten
einfach meinen Drink nehmen und in Ruhe gelassen werden würde.“
„Ihre Arbeit bei der Norddeutschen Total-Versicherung ist mit
Sicherheit nicht einfach“, sagt Benny. „Und das Betriebsklima soll
ja ziemlich schlecht sein, seit Ihre Abteilung von Frauke Closkey
geleitet wird.“
Rabea sah Benny völlig entgeistert an. Sie wurde blass. „Woher
wissen Sie das alles?“
„Spielt das eine Rolle?“
„Natürlich!“
Benny lachte. Ein stiller Triumph stand in seinem Gesicht,
dessen Ausdruck für sie jetzt fast unerträglich wurde. Er nippte an
seinem Drink. Dann verzog er das Gesicht. „Stimmt etwas nicht? Oh,
ich vergaß: Natürlich werde ich niemandem etwas davon erzählen,
dass die Norddeutsche Total-Versicherung demnächst wahrscheinlich
hundertfünfzig Mitarbeiter entlassen wird. Das soll ja noch unter
der Decke gehalten werden, damit die Belegschaft ruhig bleibt. Aber
bei Ihnen in den Bürogängen brodelt doch längst die Gerüchteküche
und viele fragen sich, ob es nicht viel mehr sein werden, die man
später auf die Straße setzt.“
„Jetzt reicht es“, sagte Rabea, langte nach ihrer Handtasche
und legte etwas Geld auf den Tresen. Als Anselm zu ihr
hinüberblickte, sagte sie: „Der Rest ist für Sie, Anselm.“
„Danke“, nickte er ihr zu und ließ sich dadurch aber nicht aus
der Ruhe bringen. Mit geübten, fast automatisch wirkenden
Bewegungen vollendete er zunächst den Drink, den er gerade
zusammenmixte.
Die Besonderheit waren die schwimmenden Früchte an der
Oberfläche.
Rabea drehte sich in Richtung Tür um.
Benny spielte mit dem Kreuz an seinem Hals herum. „Es ist ja
auch unter diesen Bedingungen nicht so einfach, ein gutes
Betriebsklima aufrecht zu erhalten“, sagte er dann so laut, dass
mehrere der anderen Gäste zu ihm hinüberschauten. Rabea blieb
stehen. Sie atmete tief durch. Ihr Gesicht war dunkelrot
angelaufen.
Schließlich drehte sie sich wieder um und fragte: „Was wollen
Sie eigentlich von mir und wer schickt Sie? Habe ich Sie schon mal
bei der Norddeutschen Total-Versicherung gesehen? Arbeiten Sie
auch dort? Fängt die Geschäftsleitung inzwischen schon damit an,
Mitarbeiter auszuspionieren und nach Schwachstellen im
Privatbereich zu suchen, damit man jemanden mit besserem Gewissen
entlassen kann?“
„Nein, nein, Sie haben mich völlig missverstanden, Rabea.
Wirklich! Ich wollte mich nur mit Ihnen unterhalten. Und was ich
über Sie weiß, dass habe ich tatsächlich nur aus Unterhaltungen,
die Sie in den letzten drei Wochen in dieser Bar geführt haben. Es
tut mir leid, aber da ich fand, dass Sie eine interessante Frau
sind, konnte ich einfach nicht anders, als Ihnen zuzuhören und an
Ihren Lippen zu hängen.“ Er lächelte matt und wirkte etwas
verlegen. „Kommen Sie, nehmen Sie einen Drink mit mir, dann werden
sich alle Missverständnisse sicherlich klären lassen.“
Die Zornesfalte auf ihrer Stirn trat etwas weniger deutlich
hervor.
Benny sah seine Chance. Er trat einen Schritt auf sie zu und
griff sich an das Kreuz, das ihm an einem Goldkettchen um den Hals
hing. Er legte offenbar viel Wert darauf, dass man es auch sah,
denn die obersten drei Hemdknöpfe trug er offen. „Sehen Sie das
hier, Rabea? Die meisten fragen mich früher oder später, was das zu
bedeuten hat. Es ist ein Kreuz, aber wenn Sie genau hinsehen, dann
können Sie erkennen, dass das obere Ende länger ist. Ein
umgedrehtes Kreuz also – das Symbol dafür, dass es keineswegs so
ist, dass Jesus die Welt erlöst hat. Ganz im Gegenteil! Satan
herrscht und das Böse breitet sich überall aus. Es ist einfach eine
Tatsache… Satan hat sein Gespinst über die gesamte Welt gelegt und
Sie sind genauso ein Teil davon wie ich oder die Menschen, denen
Sie bei der Norddeutschen Total-Versicherung begegnen…“
Rabea wandte sich in Anselms Richtung.
„Wenn ich gewusst hätte, dass Sie hier solche Spinner dulden,
hätte ich Ihre Bar niemals betreten, Anselm!“, stieß sie hervor.
Sie drehte sich um und ging.
Die Tür fiel ins Schloss.
Benny wollte hinter ihr her, aber Anselms Stimme hielt ihn
ab.
„Sie haben Ihren Drink noch nicht bezahlt“, stellte der
Barkeeper fest. Benny kramte umständlich und sichtlich genervt sein
Portemonnaie hervor und legte schließlich das Geld auf den
Tisch.
„Ich weiß nicht, ob es wirklich eine gute Idee ist, wenn Sie
der Dame folgen wollen“, meinte Anselm.
„Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Mist.“
„Und ich meine es ganz ernst. Lassen Sie sie am besten in
Ruhe. Sie hat Ihnen doch deutlich gezeigt, dass sie nichts mit
Ihnen anfangen kann.“
Benny deutete auf den noch nicht einmal zu einem Drittel leer
getrunkenen Schwarzen Friesenteufel. „Ihre Drinks sind lausig,
Anselm. Vielleicht hat Ihnen das noch niemand gesagt, aber es ist
so!“
10
Es war dunkel und Rabea schmerzten die Füße, als sie zwei
Minuten später von Mäckis Bar in die Hans-Sachs-Straße einbog, um
zu ihrem Wagen zu gelangen, den sie dort abgestellt hatte.
Eigentlich hätte sie lieber eines der Parkhäuser im Zentralbereich
von Bremen benutzt, aber erstens hatte sie Angst, dort überfallen
zu werden und zweitens wurde eines davon im Moment gerade
generalüberholt und fiel daher auf Grund der anfallenden Arbeiten
komplett aus, was leider zur Folge hatte, dass in ganz Bremen
Parkraum im Moment extrem knapp war.
Ihre Schritte waren recht eilig. Sie hatte noch das Gesicht
von diesem aufdringlichen Benny mit seinem seltsamen Kreuz vor
Augen. Das Letzte, was sie sich an diesem Abend gewünscht hätte,
war ein Typ wie dieser Mann, der sie aufdringlich anquatschte und
ihr dann auch noch seine etwas absonderlichen Ansichten über Gott
und die Welt aufzudrängen versuchte.
Nein, nicht Gott und die Welt!, korrigierte sie sich. Gott und
den Teufel… Im Nachhinein fröstelte es ihr immer noch bei dem
Gedanken an die letzten Worte dieses Mannes, die so düster und
abgedreht gewesen waren, dass Rabea immer noch das kalte Grausen
überkam, wenn sie nur daran dachte.
Plötzlich glaubte Rabea, Schritte hinter sich zu hören. Nein,
das darf doch nicht wahr sein!, ging es ihr aufgewühlt durch den
Kopf. Sie blieb stehen und drehte sich um. Aber da war niemand. Für
einen kurzen Moment hatte sie geglaubt, einen flüchtigen Schatten
erkennen zu können, der in eine Hausnische huschte und dort
verschwand.
Bilde ich mir jetzt vielleicht schon etwas ein?, ging es ihr
durch den Kopf.
Es gab Zeiten, da waren ihre Nerven extrem angespannt und sie
hatte dann manchmal das Gefühl, Gespenster zu sehen. Jede
Kleinigkeit erschien ihr dann verdächtig und sie stellte sich dann
immer vor, wo die Personen in ihrer Umgebung wohl Waffen verborgen
haben mochten.
Vor einem Jahr war sie überfallen worden.
In einem der Parkhäuser von Bremen war das geschehen. Seitdem
mied sie Parkhäuser im Allgemeinen und stellte ihren Wagen nur noch
unter freiem Himmel ab. Eine Psychotherapie, die sie nach dem
Vorfall angefangen hatte, hatte sie nach einem halben Jahr
ergebnislos abgebrochen.
Seitdem versuchte sie, mit den Dämonen ihrer Ängste selbst
fertig zu werden. Die meiste Zeit über fand sie, dass sie das auf
eine ganz passable Weise hinbekam.
Nur manchmal schien das fragile Kartenhaus ihrer
Selbstgewissheit schon bei dem geringsten Anlass in sich
zusammenzustürzen.
Das Auftreten jenes Mannes, der sich selbst Benny genannt
hatte, war dazu Anlass genug gewesen.
Rabea ließ den Blick die Häuserzeilen entlang schweifen.
Da ist nichts!, sagte sie sich. Nichts und niemand!
Sie drehte sich um und ging die letzten Meter bis zu ihrem
Wagen.
Als sie den Schlüssel hervorholte, um ihn in das Schloss der
Fahrertür zu stecken, bemerkte sie, wie ihre Hände zitterten.
Dann setzte sie sich hinter das Steuer.
An der Seite tauchte ein Schatten auf und verdeckte den Schein
der Straßenlaterne.
Rabea fuhr in sich zusammen und wollte die Zentralverrieglung
betätigen, aber es war zu spät. Die Beifahrertür war schon
offen.
Das Gesicht der schattenhaften Gestalt war nicht zu
sehen.
Ehe sie noch etwas tun konnte, langte ein Arm zu ihr hinüber.
Das Zischen eines Elektro-Schockers ertönte. Kleine Fingerlange
bläuliche Stromblitze zuckten in der Dunkelheit und im nächsten
Augenblick durchfuhr sie ein höllischer Schmerz. Ihr gesamter
Körper krampfte sich zusammen. Einen Moment später wurde ihr
schwarz vor Augen.
11
Mein Kollege Jan Slieter und ich fuhren nach Bremen.
Jan und ich wechselten uns jeweils während der Fahrt am
Steuer ab. Als wir durch die Außenbezirke von Bremen fuhren, war
Jan gerade an der Reihe.
Wenig später erreichten wir das Gelände des Bremer
Polizeipräsidiums und fuhren in die Tiefgarage. Mit dem Aufzug
gelangten wir zum Büro von Kommissar Jensen, der uns freundlich
begrüßte.
Er stand der Mordkommission vor und hatte einen der Mordfälle,
die in Zusammenhang mit dem Serientäter in Verbindung gebracht
wurden, der es auf Rothaarige abgesehen hatte, bearbeitet.
Ein Fall, den man noch immer keiner Lösung hatte zuführen
können.
Jensen war ein Mann mit blonden Haaren. Fast zwei Meter hoch
ragte er empor und außerdem war er so breit, dass man ihn eher für
einen Catcher halten konnte als für jemanden, der einem geregelten
Büro-Job nachging. Und das war Jensens Job, seit er seine jetzige
Position innehatte.
Jensen stand hinter seinem Schreibtisch auf. Er langte über
den Tisch, um uns die Hand zu geben.
Wir stellten uns kurz vor.
„Ich bin Kommissar Ubbo Norden aus Emden und dies ist mein
Kollege Jan Slieter. Sie müssten mit Herrn Menninga gesprochen
haben…“
„Ja, Sie wurden mir bereits angekündigt.“ Er blickte auf die
Uhr. „Allerdings habe ich ehrlich gesagt nicht damit gerechnet,
dass Sie heute noch bei mir vorbeischauen…“ Jensen zuckte mit den
Schultern und verschränkte dann die Arme vor der Brust. „So habe
ich auch mal gedacht, als ich gerade in der Mordkommission
angefangen hatte und den Tod einer gewissen Kim-Jennifer Monteleone
untersuchte.“
„Klingt italienisch“, meinte Jan. „Sie sah mit ihren roten
Haaren allerdings eher wie jemand aus, der irische Vorfahren
hat.“
„So kann man sich täuschen, Jan“, meinte ich.
Kommissar Jensen holte ein Foto aus der Schublade seines
Schreibtischs. So abgegriffen, wie das Bild an den Rändern war,
musste es für Jensen eine besondere Bedeutung haben. Wir verstanden
wenige Augenblicke später auch, worin die bestand. „Sieben Jahre
ist das jetzt her. Das war mein erster Fall bei der Mordkommission,
bei dem ich die Leitung hatte. Und er ging gleich daneben. Der
Täter läuft wahrscheinlich noch immer frei herum und fährt damit
fort, rothaarige Frauen zu töten. Glauben Sie mir, ich würde alles
dafür tun, damit diese Sache endlich einen Abschluss findet.“
„Erzählen Sie uns, was mit Kim-Jennifer Monteleone geschah“,
forderte ich. Ich hatte diesen Namen zwar in den Unterlagen
gelesen, mich aber mit den Einzelheiten noch nicht beschäftigt.
Dazu war einfach noch keine Zeit gewesen. Aber immerhin wusste ich,
dass man bei Kim-Jennifer Monteleone zumindest die Leiche gefunden
hatte und man daher die Tat relativ genau hatte rekonstruieren
können. Bei einigen Opfern war lediglich reichlich Blut gefunden
worden. Und anderen waren einfach nur verschwunden und erst unsere
Funde an Bord der PRIDE OF EMDEN hatten die Verbindung zu dieser
Mordserie gezogen.
Jensens Augen wurden schmal. Er bot uns einen Platz und Kaffee
an. Wir nahmen beides dankend an. Der Kaffee kam aus dem Automaten
und war ganz in Ordnung.
„Kim-Jennifer Monteleone war Lehrerin an der einer der
hiesigen Realschule. Wir fanden sie in ihrem Wagen, der in einem
kleinen Waldstück abgestellt worden war. Sie war mit einem
Elektro-Schocker betäubt worden. Zuvor hat es einen kurzen Kampf
gegeben. Deswegen haben wir sieben Jahre alte DNA des Täters unter
den Fingernägeln des Opfers.“
„Wie starb sie?“, fragte ich.
„Der Täter hat ihr eine Reihe von Adern aufgeschnitten und sie
ausbluten lassen. Es gab allerdings keine Hinweise auf eine
Vergewaltigung oder einen Versuch in diese Richtung. Dem Täter ging
es nicht um Sex, sondern…“ Jensen zögerte.
„Macht? Rache? Ein allgemeiner Hass auf Frauen oder auf
Rothaarige im Besonderen?“, hakte ich nach.
„Ja, das denke ich, könnte es gewesen sein. Allerdings befinde
ich mich da in einem Disput mit unserem neuen Profiler. Der
bezeichnet die Tat als rituelle Zwangshandlung. Aber damit kann ich
ehrlich gesagt nicht viel anfangen.“
„Wir würden gerne mit Ihrem Profiler sprechen“, sagte
ich.
„Werden Sie!“, versprach Jensen. „Mit Dr. Frank F. Martin
arbeiten wir erst seit einem halben Jahr zusammen. Ich bat ihn mal,
sich die Unterlagen von damals und insbesondere die
Tatortrekonstruktion noch einmal anzusehen, was er auch tat.“
„In anderen Fällen, die man diesem Serientäter zuschreibt,
wurde keine Leiche gefunden“, stellte ich fest. „Was hat ihn wohl
im Fall von Kim-Jennifer Monteleone davon abgehalten, die Leiche
verschwinden zu lassen?“
„Vielleicht wollte er zurückkehren und hatte dann keine
Gelegenheit mehr dazu. Der untersuchende Gerichtsmediziner stellte
später fest, dass die Tote bereits eine Stunde nach Eintritt des
Todes gefunden wurde.“
„Und wer hat sie gefunden?“, fragte Jan.
„Eine Rentnerin, die in der Nähe ihre tägliche Jogging-Runde
absolvierte. Eine fitte Frau. Ich habe mich mehrfach mit ihr
unterhalten und sie nach Beobachtungen gefragt, die sie gemacht
hat.“
„Vielleicht könnten wir uns sie auch noch einmal vornehmen“,
schlug Jan vor.
Aber Kommissar Jensen schüttelte den Kopf. „Sie ist letztes
Jahr gestorben. An einem Herzinfarkt. Was mal wieder beweist, dass
man dem Tod nicht davonlaufen kann.“
„Wir brauchen Angaben über chemische Betriebe in der Gegend,
bei deren Produktionsvorgängen Säuren entstehen wie diejenige, die
wir an Bord der PRIDE OF EMDEN gefunden haben“, erklärte ich. „Wenn
Norma Jeremies, und die anderen, bisher noch nicht identifizierten
Opfer, die in den Fässern verstaut und der Zersetzung preisgegeben
wurden, tatsächlich von diesem Serientäter umgebracht wurden, dann
hatte der zweifellos Zugang zu diesem Abfällen.“
Jensen nickte. „Das ist in der Tat ein neuer Aspekt, den Ihre
Ermittlungen erst in den Fall eingeführt haben“, gab er zu.
„Der Täter könnte Angestellter einer Giftmülldeponie, eines
Entsorgungsunternehmens oder eines Betriebes der chemischen
Industrie gewesen sein“, sagte ich.
„Geben Sie uns genauere Daten über die Chemikalien.“
„Sind unterwegs“, versprach ich. „Die Kollegen des
Erkennungsdienstes arbeiten daran.“
„Ich hoffe nur, dass dabei mehr herauskommt als heißer Luft,
wie bei den bisherigen Ermittlungen“, meinte Jensen. In diese durch
und durch negative Beurteilung schien er seine eigene Arbeit
durchaus einzuschließen.
„Sobald wir genaueres Wissen haben, kommen wir auf dieser Spur
vielleicht weiter.“
Das Telefon auf Kommissar Jensens Schreibtisch klingelte.
Er nahm ab.
Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Furche. „Eine
Meldung, die ins Raster passt“, erklärte Jensen, nachdem er
aufgelegt hatte. „Rabea Frerich, 25 Jahre alt und Sekretärin bei
der Norddeutschen Total-Versicherung. Sie ist seit gestern Abend
verschwunden. Jetzt wurde sie in ihrem Wagen gefunden. Betäubt mit
einem Elektroschocker und mit geöffneten Venen…“
„Genau wie bei Kim-Jennifer Monteleone“, stellte ich
fest.
„Ja. Der Rote-Haare-Mörder scheint wieder zugeschlagen zu
haben.” Jensen wirkte grimmig. Er umrundete den Schreibtisch und
griff nach seiner Jacke, die an einem Haken an der Wand hing. „Der
Fundort der Leiche ist nicht weit von hier entfernt. Wenn Sie
wollen, können Sie mich gleich begleiten. Die Kollegen sind am
Tatort und beginnen dort mit der Arbeit.“
12
Der Wagen stand in einem Hinterhof, etwa zehn Minuten reine
Fahrzeit vom Präsidium entfernt.
Überall standen Einsatzfahrzeuge des Bremer Polizei. Wir
fuhren im Dienstwagen von Kommissar Jensen mit, da es nach seine
Angaben völlig sinnlos gewesen wäre, in der Umgebung jetzt noch
einen freien Parkplatz zu suchen. In dieser Hinsicht war die Lage
in Bremen zurzeit wohl besonders angespannt.
Also ließen wir unseren Dienstwagen in der Tiefgarage des
Präsidiums stehen und fuhren mit Kommissar Jensen zum Ort des
Geschehens. Jan und ich saßen auf der Rückbank. Den Beifahrersitz
nahm die Kollegin Serena Düpree ein, eine Frau von Ende zwanzig mit
braunem, gelocktem Haar, das sie zu einem Zopf zusammengefasst
trug.
Jensen gab ihr die Anweisung, den Profiler zu
verständigen.
„Dr. Martin ist auf dem Weg“, stellte Serena Düpree wenig
später fest.
„Das ist gut“, murmelte Jensen.
Ihm war anzumerken, wie sehr ihn die Meldung von dem
Leichenfund mitgenommen hatte. Die äußeren Umstände ähnelten wohl
einfach zu sehr jenen des Falles von Kim-Jennifer Monteleone.
Wir stiegen aus. In Josephs Gefolge ließen die uniformierten
Kollegen uns sofort bis zum eigentlichen Fundort durch.
Der Hinterhof gehörte zum ehemaligen Gelände einer
Speditionsfirma, die vor einiger Zeit in Konkurs gegangen war. Der
Hof wurde von drei Seiten von Lagerhäusern umgeben. Mehrere
Lastwagen standen dort, die jetzt vor sich hin rosteten. Die Reifen
hatte man abmontiert, bei einem von ihnen fehlte sogar die
Frontscheibe. Die Gebäude standen schon längere Zeit leer, wie am
äußeren Zustand unschwer zu sehen war.
„Nicht gerade die schönste Ecke von Bremen“, meinte ich.
Jensen reagierte darauf nicht. Er ging stieren Blicks auf den
Toyota zu, der von Kollegen umringt wurde, die zum Teil zu den
uniformierten Kollegen des Polizei gehörten, zu einem anderen Teil
dem Erkennungsdienst angehörten.
Die Kollegin Düpree antwortete mir stattdessen.
„Nach dem Konkurs der Firma, die hier ansässig war, wollte ein
Investor ein Kaufhaus errichten, aber das Projekt kommt nicht so
richtig voran.“
„Jedenfalls dürfte hier selten jemand herkommen“, stellte ich
fest.
Wir erreichten den Toyota.
Die Tote saß auf dem Beifahrersitz. Der Gerichtsmediziner
beugte sich gerade von der Seite über sie, um die Erstuntersuchung
durchzuführen. Am Fahrersitz machte sich bereits ein Kollege des
Erkennungsdienstes zu schaffen.
Der Gerichtsmediziner war schließlich fürs Erste fertig. Er
zog seine Latexhandschuhe aus und wandte sich an Jensen.
„Es gibt ziemlich eindeutige Spuren eines
Elektro-Schocker-Einsatzes“, erklärte er. „Was ich Ihnen jetzt
sage, ist natürlich ein vorläufiger Befund. Genaueres kann ich
Ihnen erst nach der Obduktion sagen.“
„Natürlich“, sagte Jensen ungeduldig.
„Meiner Ansicht nach ist das Opfer betäubt worden und
anschließend ließ man die Frau ausbluten. Letzteres ist dann auch
die Todesursache.“
„Gibt es Spuren eines Kampfes?“, fragte ich.
Der Gerichtsmediziner sah mich an und hob die Augenbrauen.
„Nein, dafür liegen keine Anzeichen vor.“
Jensen stellte uns kurz und knapp gegenseitig vor. Der Arzt
hieß Edgar Södersen und arbeitete für ein gerichtsmedizinisches
Institut, wenn dies von der Justiz oder der Polizei angefordert
wurde.
Die Kollegin Düpree hatte inzwischen mit einem der
uniformierten Kollegen gesprochen und kehrte jetzt zu uns zurück.
„Der Wagen ist auf den Namen Rabea Frerich zugelassen“, stellte sie
fest.
„Das bedeutet, dass sie sehr wahrscheinlich nicht hier starb“,
schloss ich.
Södersen schien meiner Meinung zu sein. „Sie sitzt sehr schief
auf dem Beifahrersitz. So als wäre sie dort hingesetzt worden,
nachdem sie schon bewusstlos war.“
Ich ging zum Wagen und sah den Kollegen bei der Arbeit zu. Es
war sehr viel Blut ausgetreten, aber kaum etwas davon hatte den
Fahrersitz besudelt.
„Der Täter könnte den Wagen hier her gefahren haben, nachdem
das Opfer betäubt war“, meinte Jan. „Wahrscheinlich wollte er
ungestört das Verbrechen begehen können und hat gehofft, dass man
den Wagen mit der Leiche möglichst lange nicht findet.“
„Warum hat er sie nicht in ein Säurefass gelegt – wie Norma
Jeremies?“, fragte ich.
Jan zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, weil er im Moment
keinen Zugang zu solchen Fässern hat. Vergiss nicht, dass die
Fässer, die wir auf der PRIDE OF EMDEN gefunden haben, ja
schließlich von irgendwoher abtransportiert worden sind…“
„Vielleicht war es dem Täter auch einfach zu risikoreich, mit
einer Leiche im Wagen durch die Gegend zu fahren…“
Ich erkundigte mich bei einem der Uniformierten, wer die Tote
eigentlich gefunden hätte.
„Ein paar Jugendliche aus der Gegend, die sich hier ab und zu
treffen“, bekam ich zur Auskunft. „Die stehen jetzt unter
Schock.“
Ich ließ den Blick durch den Hinterhof schweifen.
Diese leerstehenden, vor sich hin rottenden Lagerhäuser waren
eigentlich ein typisches Objekt, wie es von Strohmännern der
Müll-Mafia häufig angekauft wurde.
Dann füllte man die Gebäude mit Müll und irgendwann war der
Besitzer dann auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Ermittlungen verliefen häufig im Sand, weil die Täter falsche
Identitäten benutzen und zudem das Ganze in der Regel erst dann
entdeckt wurde, wenn es zu irgendeinem gravierenden Vorfall kam.
Geruchsbelästigungen, Brände, Vergiftungen – irgendetwas in der
Art.
Je nachdem, wie gut der Giftmüll verpackt war, konnte das
allerdings mitunter Jahre dauern. Die Täter hatten bis dahin längst
sämtliche Spuren verwischt und wenn wir dann doch einmal Glück
hatten, an einen von ihnen heranzukommen, dann erwischten wir in
der Regel nur die Strohmänner auf den unteren Sprossen der
Hierarchieleiter innerhalb dieses Zweiges der organisierten
Kriminalität.
Ich sagte Kommissar Jensen, dass ich unbedingt eine
Durchsuchung der Lagerhäuser wollte.
Jensen nickte. „Den entsprechenden Durchsuchungsbefehl
bekommen wir.“
13
Jensen forderte Verstärkung an und wenig später wurde eines
der rostigen Hallentore aufgebrochen. Im Inneren schlug uns ein
unangenehmer Geruch entgegen.
Aber die Lagerräume, die wir betraten, waren vollkommen leer.
Lediglich einige kleinere Haufen mit Plastikabfällen waren zu
finden.
Aber auf dem staubigen Boden waren Schleifspuren und Abdrücke
sehen. Abdrücke, die von Fässern stammen konnten.
Hier und da waren auch undefinierbare Substanzen in den Beton
eingezogen und hatten Verfärbungen auf dem Boden hinterlassen.
„Hier muss der Erkennungsdienst ran“, sagte ich. „Es müsste
doch noch festzustellen sein, was hier mal gelagert worden
ist!“
„Jedenfalls wurde hier vor nicht sehr langer Zeit etwas
abgeholt…“, stellte Jan fest. „Wenn die Jugendlichen, die die Tote
gefunden haben, sich öfter auf diesem Gelände aufhalten, haben sie
vielleicht etwas davon bemerkt.“
Über Funk meldete sich einer der Erkennungsdienstler bei
Jensen.
„Die haben da offenbar etwas Interessantes gefunden“, erklärte
uns der Leiter der Mordkommission.
Wir kehrten zu dem Toyota zurück, in dem Rabea Frerichs Leiche
gefunden worden war. Inzwischen war dort auch Dr. Frank Martin
eingetroffen.
Jensen stellte ihn uns kurz vor. „Na, wenn sich die Kripo der
ehemaligen Weltstadt Emden an der Ermittlungsarbeit beteiligt,
können wir ja sicher bald mit einer Aufklärung rechnen“, sagte er
mit einem ironischen Unterton.
„Wir werden tun, was wir können“, erwiderte ich.
Frank Martin war Mitte fünfzig, hager und hatte eingefallene
Wangen. Ich fragte mich, welche Animositäten er wohl gegen die
Kripo Emden haben mochte. Aber das erschien mir im Moment
zweitrangig.
Einer der Spurensicherer hatte in der Kleidung der Toten eine
Packung mit Streichhölzern gefunden, die das Logo von Mäckis Bar
trug.
„Die Bar kenne ich“, sagte Jensen. „Liegt hier ganz in der
Nähe. Ich war allerdings nur einmal dort.“
„Dienstlich?“, fragte ich.
„Wir haben den Geburtstag unseres Vorgesetzten dort gefeiert.
Das können Sie getrost unter dienstliche Pflichten einordnen, denn
ich glaube, dass er ziemlich sauer reagiert hätte, wenn ich dort
nicht erschienen wäre.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Ist aber schon lange her.“ Er nahm die Streichholzpackung in die
Hand, die von dem Kollegen des Erkennungsdienstes inzwischen
sorgfältig eingetütet worden war. „Seltsam, ich hätte nicht
gedacht, dass so etwas noch als Aufmerksamkeit für die Kunden
vergeben wird…“
„Sie meinen wegen den Anti-Raucher-Vorschriften in der
Gastronomie?“, hakte Jan nach.
„Natürlich.“
„Könnte sich vielleicht lohnen, in dieser Bar mal
nachzufragen“, fand ich.
14
Als wir Mäckis Bar aufsuchten, hatte der Betrieb dort gerade
begonnen. Wir legten unsere Ausweise auf den Tresen. Der Barkeeper
warf einen kurzen Blick darauf.
„Womit kann ich dienen? Ich denke nicht, dass Sie einen Drink
nehmen wollen…“
„Wie heißen Sie?“, fragte ich.
„Ronald Anselm, ich bin hier als Barkeeper angestellt. Wenn
Sie den Besitzer der Bar sprechen wollen, dann müssen Sie sich noch
etwas gedulden. Herr Maltenheim hat seit zwei Tagen den Fuß in
Gips. Er ist zu Hause in seiner Wohnung.“
„Dann gebe Sie uns bitte seine Adresse“, forderte ich.
„Gerold Maltenheim, Jakobus Frerke Straße – das ist hier
gleich um die Ecke, keine fünf Minuten zu Fuß.“
Ich schrieb mir die Adresse auf.
Im Handschuhfach des Toyota war von den Spurensicherern ein
Führerschein sichergestellt worden, in dem die Tote auf einem
einigermaßen aktuellen Foto zu sehen war. Jensen legte diesen
Führerschein auf den Tresen. „Diese Frau wurde heute tot
aufgefunden. Sie besaß Streichhölzer mit dem Logo dieser
Bar.“
Etwa einen Meter von mir entfernt befand sich ein Teller mit
derartigen Streichholzpackungen. „Herr Maltenheim hat vor Jahren
etwas zu viele davon günstig in Auftrag gegeben. Inzwischen ist das
Rauchen hier ja nicht mehr erlaubt, aber es ist nicht untersagt,
Streichhölzer zu verschenken…“ Anselm wirkte etwas verlegen. Mir
fiel auf, dass er sich das Bild nur ganz kurz angesehen hatte.
„Rabea…“, murmelte er dann.
„Sie kannten sie näher?“, fragte ich.
„Wenn Sie den Leuten zuhören, dann lernen Sie sie schnell
kennen.“
Einer der Gäste mischte sich ein. „Die Rothaarige von
gestern?“, fragte er.
Ich nahm den Führerschein und zeigte ihn auch dem Gast, einem
Mann im dreiteiligen kobaltblauen Anzug und schätzungsweise zwanzig
Kilo Übergewicht. Ein Geschäftsmann oder Banker, so nahm ich an. Er
sah sich das Bild genau an. „Das ist sie. Sie war doch gestern hier
als es das Theater mit diesem schmierigen Typen gab. Anselm,
erzählen Sie das doch! Sie waren doch dabei und haben der Frau
sogar noch geholfen.“
Anselm atmete tief durch. Er schluckte. Seine Gedanken
schienen für einen Moment ganz weit weg zu sein. Vielleicht war er
auch einfach nur tief schockiert über die Nachricht, die wir ihm
gerade überbracht hatten.
„Das stimmt“, gab er zu. „Sie hat einen Drink genommen und
dann kam dieser eigenartige Typ.“
„Können Sie ihn beschreiben?“
“Den Typ?”
“Genau.”
„Ende dreißig, groß und vor allem hatte er ein goldenes Kreuz
auf der Brust. Es hing an einem Goldkettchen. Er heißt Benny, das
weiß ich. Und er kann ziemlich aufdringlich sein.“
„Was geschah, als er Rabea Frerich ansprach?“, hakte ich
nach.
„Nun, er wollte ihr einen Vortrag über seine seltsamen
Ansichten halten.“
„Was für Ansichten?“
„Dass der Satan die Welt beherrscht und so weiter. Deswegen
trägt auch ein Kreuz, das verkehrt herum an der Kette hängt.
Außerdem wusste er wohl sehr genau über Rabea Frerich Bescheid, was
sie natürlich sehr erschrocken hat.“
„Glauben Sie, dass er sie ausspioniert hatte?“
Anselm schüttelte den Kopf. „Nein, er kommt einfach regelmäßig
hier her und hat den Leuten zugehört. Und Rabea Frerich kam fast
immer nach dem Job noch auf einen Drink hier her. Manchmal auch mit
Arbeitskollegen, Freundinnen und so weiter. Sie hat aber nie Notiz
von ihm genommen, weil sie immer in Gesellschaft war.“
„Dann sah er gestern seine Chance gekommen!“, stellte ich
fest.
Anselm nickte. „Ja, so muss es wohl gewesen sein. Sie war auch
irgendwie niedergeschlagen und hatte ohnehin schlechte Laune.“ Der
zuckte mit den Schultern und lächelte etwas verlegen. „Das hört
sich fast so an, als hätte ich sie besser gekannt…“
„Haben Sie?“
„Nein. Aber als Barkeeper kriegt man wirklich eine Menge
mit.”
“Kann ich mir denken.”
“Normalerweise geht das beim einen Ohr rein und beim anderen
wieder raus. Lediglich die Vorlieben für die Drinks merke ich mir.
Aber wenn es dann plötzlich heißt, dass eine Frau, die fast täglich
ungefähr da gesessen hat, wo Sie sich jetzt befinden, plötzlich tot
ist…“ Er stockte und sprach dann in gedämpftem Tonfall weiter.
„Rabea war ziemlich gereizt. Sie hat Benny klargemacht, dass sie
keine Lust auf sein Gequatsche hat und ist zur Tür raus. Er wollte
hinterher, aber ich habe ihn aufgehalten. Er hatte nämlich seinen
Drink nicht bezahlt, das gab mir die Möglichkeit, ihr einen
Vorsprung zu verschaffen. Ein Service für gute Gäste, verstehen
Sie?“
„Und dieser Typ – Benny – ist ihr dann gefolgt“, schloss
Jensen.
„Richtig.“ Anselm blickte auf die Uhr. „Wie gesagt, er kommt
fast jeden Tag hierher, aber es noch nicht ganz seine Zeit. Warten
Sie eine halbe Stunde, dann könnten Sie Glück haben und ihn
treffen…“
„Dann hoffe ich, dass Sie auch etwas Nichtalkoholisches zu
trinken haben“, erwiderte Jensen.
15
Wir warteten auf den Mann, der Benny genannt worden war.
Anselm versprach, uns ein Zeichen zu geben, wenn er auftauchte.
Dazu postierten wir uns an strategisch günstigen Stellen.
Jensen setzte sich in eine Ecke neben der Tür. Jan auf einem Platz,
von dem aus man die Tür gut beobachten konnte und ich blieb am
Tresen stehen.
„Was ist denn mit Rabea Frerich genau passiert?“, fragte
Ronald Anselm plötzlich.
„Sie wurde ermordet“, sagte ich. „Mehr möchte ich im Moment
dazu nicht sagen.“ Ich gab ihm meine Karte. „Unter der Handynummer
bin ich jederzeit erreichbar. Vielleicht fällt Ihnen ja später noch
etwas ein, was uns weiterbringt.“
„Glauben Sie nicht, dass es dieser Typ war? Benny?“
„Das werden wir sehen.“
„Wenn Sie wüssten, was ich mir für Vorwürfe mache. Ich hätte
ihn länger aufhalten sollen. Aber…“
„Sie haben sich nichts vorzuwerfen“, meinte ich.
Der Gast im Dreiteiler mischte sich ein. „Sie sind ihm doch
sogar noch nachgelaufen und haben ihm draußen nachgeschaut, Herr
Anselm! Mehr kann man wirklich nicht erwarten. Wer hätte denn auch
damit rechnen können, dass dieser Spinner ein verrückter Mörder
ist.“
„Stimmt das?“, wandte ich mich an Anselm.
Anselm nickte. „Ja, aber ich habe keinen der beiden noch
gesehen…“
„Verstehe…“
Ich schrieb mir noch die Adresse des Anzugträgers auf. Er hieß
Leonhard Menzinger und arbeitete in der Kreditabteilung eine Bank,
zwei Blocks weiter.
Schließlich wandte ich mich wieder an Anselm. „Bis dieser
Benny hier auftaucht, könnten Sie mir vielleicht noch etwas von dem
erzählen, was Sie über Rabea so aufgeschnappt haben.“
„Viel ist das im Grunde nicht. Sie arbeitete bei einer
Versicherung und hatte dort viel Stress. Es gab da offenbar Pläne,
einen Teil der Mitarbeiter zu entlassen. Insofern kann ich gut
verstehen, dass Rabea Frerich gestern ziemlich reizbar war.“
„Und dieser Benny? Hat der irgendwann mal über seine
persönlichen Dinge gesprochen? Zum Beispiel, welchen Job er
hat?“
Anselm schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“
„Wissen Sie, ob er einen Elektro-Schocker besaß?“
Anselm war wie vom Donner gerührt.
„Spielt das in dem Fall etwa eine wichtige Rolle?“
„Es war einfach nur eine Frage, Herr Anselm“, erwiderte
ich.
Er nickte schwer. „Da sagen Sie was! Er hatte tatsächlich
einen Elektro-Schocker. Und ich glaube, er trug auch eine
Waffe.“
„Sie glauben das?“, echote ich.
„Sein Jackett beulte sich unter der Achsel immer ein bisschen
aus. Den Schocker trug er in der linken Jacketttasche. Er hat ihn
mir mal gezeigt, als er schon ziemlich betrunken war. Benny war
vielleicht ein Spinner, der glaubte, dass die Welt von furchtbaren
Mächten beherrscht wird. Aber damit verbunden waren auch ungeheure
Ängste. Er glaubte immer in Gefahr zu sein, von Kriminellen
überfallen zu werden. Jedes Mal, wenn in den Medien ein Überfall
gemeldet wurde, sah er das als Bestätigung seiner Theorie über den
Satan an. Sie verstehen, was ich meine…“
„Ich denke schon.“
Anselm blickte an mir vorbei zur Tür. Seine Augen schienen
dabei plötzlich ganz starr zu werden. Ich drehte mich um. Ein Mann
im hellen Anzug stand dort. Um den Hals hing etwas, das im Licht
metallisch aufblitzte.
„Das ist er“, sagte Anselm.
Benny trat zwei Schritte in die Bar, blieb dann plötzlich
stehen.
Mit einer ruckartigen Bewegung drehte er den Kopf.
Der Mann schien so etwas wie einen sechsten Sinn dafür zu
haben, um zu bemerken, wenn er verfolgt wurde. Jensen hatte sich
inzwischen von seinem Platz erhoben. Jans Hand wanderte unter das
Jackett.
„Benny?“, fragte Jensen. Er zog seinen Ausweis hervor.
„Polizei. Wir müssen mit Ihnen reden…“
Bennys Augen traten hervor.