Vier Herzen am See - Tina Schlegel - E-Book

Vier Herzen am See E-Book

Tina Schlegel

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Beschreibung

Romantik mit Hindernissen vor traumhaftem Bodenseepanorama. Die alleinerziehende Sophie kehrt in ihre alte Heimat Konstanz zurück, um nach dem Tod ihrer Eltern die Weinstube der Familie mitten in der Altstadt weiterzuführen. Doch in ihrer Trauer kann sie sich eine Zukunft zwischen all den Erinnerungen kaum vorstellen. Dann begegnet sie dem charmanten Anton mit seinem Hund Zottel. Hunde mag Sophie nicht, aber Anton mag sie sehr. Und Anton scheint sie auch zu mögen. Doch ist er wirklich der, für den er sich ausgibt?

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Tina Schlegel war Regieassistentin, Drehbuchautorin und Redakteurin, bevor sie als freiberufliche Kulturjournalistin unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und die Münchner Abendzeitung arbeitete. Seit 2012 schreibt sie für die Augsburger Allgemeine über Kunst, Theater und Musik und lebt mit ihrer Familie am Niederrhein und im Unterallgäu.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Bildmotive agefotostock.com/Zoonar.com/Nando Lardi, shutterstock.com/Diana Taliun

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-031-0

Roman

Originalausgabe

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Für Mona,

eine schon halb dreizehn gewordene Marlene mit tausend schönen Gedanken im Kopf.

Für Oliver,

der ein so großes Herz hat, das allen Wahrscheinlichkeiten trotzt.

Für meine Mutter,

die glücklicherweise noch Familienälteste ist und kleine Pferde über den Teppich galoppieren lässt.

Für meinen Vater,

der zu früh gegangen ist, aber gewiss aus stiller Ferne über seine Enkeltochter lächelt.

… und in Erinnerung an Elfies Lachen.

Prolog

Marlene betrachtete hoch konzentriert den Löffel mit Schokoladeneis. Langsam bugsierte sie ihn in Richtung Mund und – scheiterte. Erneut.

»Ups«, sagte die Fünfjährige. »Dieses Mal hätte es aber fast geklappt.«

»Was genau?« Sophie holte das nächste Taschentuch aus ihrer Handtasche.

»Na, das mit dem Besteck fehlerfrei und so.« Marlene fuhr mit dem Löffel über ihr T-Shirt und rettete so noch ein wenig Eis.

»Ach, Marlene, doch nicht so!«, schimpfte Sophie, musste aber lachen dabei, denn im Grunde war in dem Moment klar, wie es ausgehen würde, als sie ihrer Tochter erlaubt hatte, Schokoladeneis zu bestellen, obwohl es kein fehlerfreies Schokoladeneis gab und immer ein Shirt daran glauben musste.

»Heute ist ein Scho-ko-la-den-eis-tag«, sang Marlene und wedelte mit dem Löffel durch die Luft.

Sophie bekam einen Spritzer Schokoladeneis ab – mitten auf die Nase.

»Treffer!«, kommentierte Marlene jubelnd.

Sophie schielte auf die getroffene Stelle und wischte dann mit dem Finger darüber.

»Ach, Marlenchen«, sagte sie seufzend.

»Ach, Mammchen!«, Marlene grinste breit und beugte den Kopf nach vorne. Sophie legte ihre Stirn gegen die ihrer Tochter, und einen Moment verharrten sie in der innigen Position. Dann aber widmete sich Marlene wieder ihrem Eis, und Sophie ließ ihren Blick schweifen. Um sie herum herrschte reges Treiben. Es war ein sommerlicher Mittwochnachmittag im Juli und die Eisdiele gut gefüllt. Überall saßen Mütter mit Kindern und junge Pärchen. An einem der Tische küssten sich gerade eine Frau mit kurzen, pink gefärbten Haaren und ein Mann mit Dreadlocks. Marlene hatte die beiden auch erblickt. Sie kicherte.

»Solche Haare will ich auch mal!«, sagte sie.

»Pink? Untersteh dich!« Sophie lachte.

»Nö, das mit den Locken!« Marlene leckte einen Schokoeisrest von ihren Fingern. »Die muss man bestimmt nicht bürsten.«

Kopfschüttelnd wanderte Sophies Blick weiter über den Platz vor der Eisdiele. Kinder sprangen barfuß in dem großen Brunnen herum und spritzten sich gegenseitig, aber natürlich auch ihre Mütter nass. Außerhalb des Brunnens spielten sie Fangen, und Tauben mussten vor nassen Kinderfüßen flüchten. Vielleicht sollten sie später noch schwimmen gehen. Aber ein Freibad in Frankfurt zu finden, das an einem Sommertag nicht überfüllt war, war schwierig bis hoffnungslos. Zu Hause am See …

»Mama, du träumst schon wieder? Wovon denn?«

»Ich träume gar nicht.«

»Wohl.«

»Na gut. Lass mal überlegen. Wenn ich jetzt träumen würde, dann vom Meer. Also einem richtigen Meer, einem riesengroßen Meer, das nach Salz schmeckt und hübsche Schaumkronen an den Strand trägt. Und da liege ich und höre das Rauschen der Wellen. Es riecht nach Sand und Sonnenmilch …«

»Und nach Gummibärchen.«

»Das auch. Ich hab ein Buch in der Hand und lese.«

»Wieder so einen Liebesschmöker.« Marlene verdrehte die Augen. »Müssen die eigentlich immer so dick sein?«

»Vielleicht«, sagte Sophie, die tatsächlich gern Liebesromane las, in denen sich alles immer so schön fügte: die große Liebe, das Leben an dem richtigen Ort, das traumhafte Zuhause mit natürlich schönen Aussichten. Wenn Sophie darüber nachdachte, war es durchaus zweifelhaft, was da oft als Wohnraum von durchschnittlichen Menschen gezeigt und beschrieben wurde. Glaubte man den gängigen Filmen, so wohnten alleinstehende Frauen gern in Altbauten mit großen Fenstern, Dielenböden und offenen Wohnküchen. Gern in der Innenstadt, sodass sie überallhin mit dem Fahrrad kamen. Auch die Einrichtung war …

»Und wo bin ich?«

»Du baust eine Sandburg.«

… lächerlich an der Realität vorbei. In ihrem aktuellen Buch hatte die Hauptfigur natürlich eine Dachterrasse und der Mann, den sie kennenlernte, ein Landhaus in Südengland. Da könnte man schon ins Grübeln kommen, ob das die große Liebe durchaus ein wenig beschleunigte.

»Also in meinem Traum baust du aber mit. Wär das nicht viel besser als so ein dickes Buch in der Hand?« Marlene winkte. »Mama? Du guckst so verträumt. Wär eine Sandburg nicht viel besser?« Sie tippte ihrer Mutter nachdrücklich auf den Oberarm.

Sophie griff nach der piksenden Kinderhand und küsste ihre Tochter auf die Stirn. »Bestimmt. Dann hole ich mir auch keinen Sonnenbrand unter den Armen.«

Marlene machte große Augen. »Das ist dir mal passiert?«

Sophie nickte und erinnerte sich daran, wie sie sich ihr Buch gegen die Sonne hochhaltend jenen unangenehmen Sonnenbrand eingefangen hatte.

»Und dann hast du die Arme immer vom Körper weggehalten?«, fragte Marlene lachend.

Sophie wiegte den Kopf hin und her und wedelte mit den Armen in der Luft. »Aber logo. Am zweiten Tag konnte ich beinahe abheben.« Während Sophie mit den Armen in der Luft ruderte, sah sie aus dem Augenwinkel, dass sie Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein Mann stand am Nebentisch und lachte sie an. Er hatte dunkle Haare und ebensolche Augen. Über die Schulter hatte er eine graue Umhängetasche, eine Hand am Tragriemen, die andere lässig in der Hosentasche seiner hellblauen Jeans, die, das sah sie sofort, nicht nur lächerlich bis zu den Knöcheln reichte, sondern bis auf die dunkelgrünen Chucks. Die Arme noch in der Luft, grinste Sophie verlegen und überlegte, ob auf ihrer Nase wohl auch noch ein Schokoeisklecks war. Bestimmt. Der Mann hob den Daumen in die Luft und sagte: »Sichere Landung wünsche ich.«

Marlene lachte, und zack, schon tropfte der dritte Klecks Schokoladeneis auf das Shirt. »Gelandet!«

Er lachte und hob unschuldig die Schulter.

Sophie verschränkte die Arme und verdrehte übertrieben ernst die Augen. Der Mann lächelte sie noch immer an, und als Nächstes fiel ihr ein Grübchen auf seiner linken Wange auf. Ihre Blicke hingen schon zu lange aneinander, um in Flüchtigkeit unterzugehen. Gerade als sie etwas zu ihm sagen wollte, kamen eine Frau und zwei Kinder zu ihm an den Tisch, und gemeinsam setzten sich die vier. Schnell widmete sich Sophie ihrer Tochter, die ihr T-Shirt hochzog und über den Schokoklecks leckte. Sophie öffnete den Mund, war aber zu langsam.

»So ist viel besser als mit dem Löffel.« Marlene präsentierte den Fleck. »Guck mal, so gut wie weg.«

Weg. So gut wie weg. Sophie brauchte einen Augenblick nach dieser unsanften Landung. Für einen Moment war sie von diesem anderen Mann einfach aus ihrem Alltag herausgefischt worden und hatte sich schwebend leicht gefühlt. Wie in einer Seifenblase.

»Sauber!« Marlene stand vor Sophie und streckte ihr das fleckige Shirt direkt vor die Nase. Es roch sommerlich süß.

Der Mann am Nebentisch ließ seine Hände beim Sprechen durch die Luft tanzen wie auf einem unsichtbaren Klavier, der kleine Junge neben ihm lachte und versuchte, die Hände zu fangen. In Sophies Nacken kribbelte es, und sie fuhr sich zaghaft darüber. Jetzt sah er zu ihr herüber und deutete ein Fliegen an. Idiot, dachte Sophie, der hat eine Frau und zwei Kinder und flirtet mit mir. Entschlossen drehte sie ihren Stuhl weg und wandte der Familie halb den Rücken zu.

»Mama! Hallo, Marlene an Mama, jemand zu Hause?«

Sophie strich ihrer Tochter über die Nasenspitze. »Ich hab dich sehr lieb. Obwohl du gekleckert hast.«

Das kleine Gute-Laune-Paket mit den blonden Haaren, die nicht richtig durchgebürstet waren und in wilder Unordnung den Kopf zierten, klatschte begeistert in die Hände.

»Wie sehr?«

»Sehr sehr.«

»Ich hab dich garantiert mehr lieb.«

Sophie spielte mit und dachte angestrengt nach. »Das wird wohl stimmen.«

Trotzig legte Marlene die Arme vor der Brust übereinander und sagte: »Das geht nicht. Eine Mama muss ihr Kind immer am allermeisten lieb haben. Vor allem wenn es gekleckert hat.« Sie nickte ihrer Rede zu. »Das ist Fusselwüff-Gesetz.«

»Vor allem dann. Stimmt. Ganz sicher gilt das auch, wenn es keine Fusselwüffs gibt und das Gesetz wohl irgendwo in den Sternen …«

Nebenan reichte der Mann dem Jungen gerade den Keks von seinem Kaffee und streichelte ihm über den Kopf. Eine Geste, die belanglos hätte sein können und es nicht war. Es war die Art, wie manche Menschen ihr Gegenüber ansahen: nicht flüchtig, sondern voller aufmerksamer Zuneigung. Es versetzte Sophie einen Stich.

»Hey, Mama, ich bin doch ein Fusselwüff.«

»Ach, Mensch, dich hätt ich jetzt fast vergessen. Noch eine Kugel Vanilleeis? Auf die Hand?« Sie stand auf und schob ihre Tochter vor sich her zur Eistheke.

»Super«, jubelte Marlene. »Davon gehen dann die Schokoflecken weg.«

Weg, dachte Sophie, bloß weg hier. Gab es keinen Mann, der ihr gefiel, der keine Familie hatte?

1

Einhörner am Horizont

Der Geruch nach faulem Gemüse mischte sich in den sonnigen Herbstmorgen. Sophie blinzelte und rümpfte die Nase.

»Nee, oder?«, schimpfte sie und pustete einmal laut die Luft aus. Fassungslos starrte sie abwechselnd auf die Biomülltonne und ihre leere rechte Hand. Es war wie in diesen Comics, wenn jemand über den Dachrand hinaus weiterrannte und dann erst in der Luft nach einem skeptischen Blick nach unten panisch wurde und abstürzte. Überflüssigerweise sah Sophie also noch einmal prüfend in die andere Hand und dann angeekelt in die Tonne – auf vergammeltem Salat und Brot gebettet lag er, ihr Autoschlüssel mit dem hübschen Einhornanhänger. Sophie legte den Kopf in den Nacken und schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte Schlüssel und Mülltüte in einer Hand gehalten und aus Versehen beides losgelassen.

»Mama? Kommst du?«

Marlene. Sie saß im Auto, aus dem schon fröhlich einige Fillys um die Wette sangen. Sophie seufzte, kippte die Mülltonne nach vorne und streckte sich so weit es ging, um ihren Schlüssel herauszuangeln. Der Geruch würde sie nun den ganzen Tag über begleiten.

»Was machen Sie denn da?«

Sophie stieß auf dem abrupten Rückzug mit dem Kopf an die Innenseite der Tonne, bevor sie wieder an der frischen Luft war. Vor ihr stand die alte Dame aus dem Erdgeschoss, Hildegard Kreisler, die nach zweiundzwanzig Uhr stets die Haustür absperrte, sodass die Bewohner ihren späteren Besuchern persönlich die Tür öffnen mussten. Alles Diskutieren half nichts. »Das haben wir schon immer so gemacht. Das machen wir jetzt auch so!«, lautete das schlagende Dauerargument.

Die prinzipientreue Hildegard beäugte Sophie abwartend mit kritischem Blick.

»Herrje, Frau Kreisler, was denken Sie denn? Mir die Tonne mal von innen ansehen? Ich habe meinen Autoschlüssel aus dem Müll gefischt«, erklärte Sophie verärgert.

»MAMA! Es ist spät geworden!«

»Sie kommen schon wieder unpünktlich«, sagte Frau Kreisler und fügte gönnerhaft hinzu: »Ich räum schon auf für Sie. Mach ich ja meistens.«

Sophie zog die Augenbrauen zusammen und hatte gemeine Sätze auf der Zunge, sagte aber keinen davon. Sophie sagte selten gemeine Dinge, eigentlich nie.

»Vielen Dank, Frau Kreisler. Bin gleich da, Marlene.«

Im Auto angekommen hörte sie die bunten Pferdchen galoppieren.

»Mama, hier riecht es jetzt aber unheimlich merkwürdig.«

Sophie beobachtete im Rückspiegel das Gesicht ihrer fünfjährigen Tochter, das aussah, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, obwohl bei Marlene dafür schon eine gewöhnliche Frucht ausreichte. Umgehend öffnete Sophie ein Fenster und ließ frische Luft ins Auto. Bis ins Büro wäre der merkwürdige Geruch hoffentlich verschwunden. Und wenn nicht? Sie überlegte, ob sie Termine mit Kunden hatte oder nur mit ihren Kollegen in der Kantine sitzen würde, was sich ja problemlos vermeiden ließ. Nein, ihr fiel nichts ein. Sie könnte sich also den ganzen Tag in ihrem Büro verschanzen. Zusammen mit diesem merkwürdigen Geruch, wie ihn ihre Tochter charmant umschrieb.

»Mama, kalt.«

»Marlene, könnten wir uns bitte auf ganze Sätze einigen? Und ›danke‹ und ›bitte‹ wäre auch schön.«

»Mama, mir ist kalt, bitte.«

»Bitte?«

»Das Fenster zu, danke.«

Sophie drehte sich um und musterte ihre Tochter. »Veräppelst du mich, Marlene?«

»Ich wollte dich nur lustig machen.«

»Aufheitern?«

Ihre Tochter freute sich. »Das war das Wort, das ich gesucht habe, genau.«

Der Weg zum Kindergarten dauerte ungefähr fünfzehn Minuten, von dort hatte Sophie dann noch einmal fünfzehn Minuten, das reichte für eine Filly-Geschichte und dann zwei gute Songs, Sophies tägliche Routine. Manchmal waren es auch Prinzessin Lillifee oder Pumuckl, und manchmal, wenn Sophie noch müde von einer zu kurzen Nacht war, dann vergaß sie, die CD zu wechseln, und fuhr mit einem singenden Einhorn oder einem kichernden Kobold auf den Parkplatz des Bürokomplexes, in dem sie arbeitete.

»Und, Mama? Bist du jetzt aufgeheitert?«

Sophie lauschte in sich hinein. Sie hatte ihre Küche mit einem großen Kaffeefleck auf dem Boden und verschüttetem Kakao auf dem Küchentisch zurückgelassen, ihre Lieblingsbluse mit einem Mottenloch aus dem Waschkorb geangelt, festgestellt, dass ihre Jeans zu eng geworden war, und dreimal den Pferdeschwanz binden müssen, weil immer eine Strähne falsch lag. Anschließend war sie, zeitlich ohnehin schon wieder am Rande der Verspätung, in eine Mülltonne gekrochen, um den verlorenen Autoschlüssel zu bergen, und dabei in die Arme von Frau Kreisler geraten. Puh, es war gewiss eine Mammutaufgabe, sie an diesem Tag auch noch aufzuheitern.

»Mammchen, Mammchen, du siehst so streng aus, wie du riechst, aber ich hab dich sehr lieb, mindestens von hier bis zu der Ampel da! Reicht das?«

Ein breites Grinsen erschien im Innenspiegel, das die Zahnlücken stolz präsentierte. Gerade als Sophie lachen wollte, traf sie ein roter Blitz.

»Ups.« Marlene sah nach draußen. »Warst du gestern nicht auch an dieser Stelle zu schnell?«

Es gab einfach Tage, die sollte man im Bett verbringen.

Ab einem gewissen Alter wahrscheinlich ohnehin, sagte sich Sophie und kniff die Augen zusammen. Wenig später erreichten sie den Parkplatz vor dem Kindergarten. Marlene sprang gut gelaunt aus dem Auto.

»Sei nicht traurig, Mama, ich bin ja bald wieder da. Guck lieber in den Spiegel, zu Tante Albert.«

Sophie winkte, dann sah sie zu Tante Albert, einem giftgrünen kleinen Kiwi, der schielte und an dem Innenspiegel ihres Wagens baumelte. Sophie hatte keine Ahnung, wie ihre Tochter auf den Namen gekommen war, doch jetzt stippte sie dem kleinen Stofftier liebevoll auf die Schnabelspitze und seufzte. Sie war nicht traurig, sie war nur gerade vierzig Jahre alt geworden, vor einer Woche und einem Tag. Das war insofern erwähnenswert, als sie sich seit dieser einen Woche nun daran zu gewöhnen versuchte, sich eine Vier in ihr gefühltes Alter zu denken, und täglich nach den Spuren der Zeit an ihrem Körper suchte.

Jeden Morgen stand sie vor dem Spiegel und prüfte die Falten rund um ihre Augen und die etwas tieferen, die von der Nase schräg am Mund vorbeiführten. Auch die Denkfalten auf ihrer Stirn wurden tiefer, so schien es ihr. Sie betrachtete auch ihre Brüste, ob sie schon anfingen, der Schwerkraft nachzugeben, obwohl Schwerkraft angesichts ihrer Körbchengröße nicht das treffende Wort war. Ein unbestreitbarer Vorteil kleiner Brüste. Der Bauch? Na ja. Der Po? Na ja. Hm, so sieht man eben aus mit vierzig, sagte sich Sophie, wenngleich sie wusste, dass sich nichts verändert hatte an ihr.

»Du bist albern«, hatte ihre Freundin Katrin gesagt, »vierzig ist das neue dreißig, wirst sehen. Das wird ein tolles Jahrzehnt.«

»Himmel, ich will nicht in Jahrzehnten denken!«

»Ach, Sophie! Du bist schlank und siehst sportlich aus, ohne Sport zu treiben, und ich bin ein bisschen pummelig und esse zu gern. Ich denke, wir können beide zufrieden sein.«

»Folgt der Satz irgendeiner mir verborgenen Logik?«

»Zufrieden!«

Katrin war am Freitag aus Konstanz angereist und das ganze Wochenende geblieben, um mit Sophie in deren vierzigsten Geburtstag reinzufeiern. Hast du ein Glück, dass du an einem Sonntag Geburtstag hast! Fünf weitere Freunde aus Frankfurt waren dabei gewesen. Zuerst hatten sie zusammen gekocht und dann den überaus milden Oktoberabend auf Matratzen auf dem Balkon verbracht und sehr viel gelacht. Als die Freunde gegangen waren, hatten Sophie und Katrin nebeneinandergelegen und in den Nachthimmel über dem Balkon ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung geblickt.

»Am Ende sind immer wir übrig«, hatte Katrin gesagt.

»Übring würde ich nicht sagen«, hatte Sophie mit schon schwerer Zunge erwidert.

»›Übring‹?« Katrin hatte gekichert. »Ach, Süße, wir lassen das jetzt lieber mit dem Wein, sonst verlierst du noch die Muttersprache. Wäre schon schade für Marlene.«

»Ich kann schon noch reden, keine Sorge. Wir liegen hier und zählen die Sterne. Ach, ich bin gern mit dir übrii-g.«

Katrin hatte den Kopf an den der Freundin gelegt. »Und ich mit dir.«

Sophie bog auf den Parkplatz vor dem Büro ein und hörte gerade noch einen rothaarigen Kobold wettern: »Ich will Puddeling!«

Das war neu. Sie hatte dieses Mal zwar nicht vergessen, die Filly-CD herauszunehmen, aber offenbar statt Sisters of Mercy Pumuckl eingelegt. Sapperlot. Da war Sophie selbst überrascht, und Sisters-of-Mercy-Sänger Andrew Eldritch wäre sicher ebenso verwundert gewesen, mit Pumuckl in einem Atemzug genannt zu werden.

Sophie saß im Auto, bog sich den Innenspiegel so, dass sie noch einen Blick auf ihre Frisur werfen konnte, und musste dann doch sehr lachen: Nicht über die schaukelnde Tante Albert, jedoch steckte in ihrem Pferdeschwanz eine Klick-Klack-Haarspange von Marlene, groß und rot mit einem Einhorn aus Filz. Sophie wusste, dass es ihrer Tochter gewiss nicht leichtgefallen war, die Lieblingshaarspange an sie abzutreten. Nun war es ihr also doch gelungen, sie zum Lachen zu bringen. Kurzerhand löste Sophie die Spange und steckte sie gut sichtbar seitlich in ihr Haar, dann nickte sie zufrieden ihrem vierzig Jahre und knapp über eine Woche alten Spiegelbild zu. Immerhin sah sie jetzt so aus, wie der Tag bislang verlaufen war – verrückt genug, um darüber zu lachen.

2

Tieffliegende Sektgläser und eine Rettung

Sophie arbeitete in einer Firma, die Websites für Kunden entwarf und dafür auch die Inhalte schrieb. Das klang spannend, aber Sophies Aufgabenbereiche waren sehr beschränkt. Oft korrigierte sie nur die Texte der Kollegen, koordinierte Termine und Gespräche oder stellte Mappen zusammen. Einerseits bot ihr das die Freiheit, um zwei Uhr nachmittags alle Stifte aus der Hand zu legen, andererseits lief sie nicht mit vor Freude klopfendem Herzen ins Büro. Vor ewigen Zeiten hatte sie hier ein Praktikum gemacht. Euphorisch war sie mit dem Plan gestartet, selbst einmal Kunden zu gewinnen und zu betreuen, eigene Beiträge zu schreiben und ihren Namen dann auch einmal auf einem Flyer der Firma zu lesen oder wenigstens eine Visitenkarte zu besitzen. Doch von der Euphorie war nicht allzu viel geblieben, und ohne Euphorie sanken auch der Mut und die Zuversicht.

Du musst auch mal für etwas kämpfen. Katrin.

Dann geh da doch endlich weg. Die Mutter.

Ich könnte gar nicht jeden Tag zu einer Arbeit laufen, die mir keinen Spaß macht. Chrissi.

Toll, dachte Sophie dann immer, wenn ihr Umfeld mit guten Ratschlägen aufwartete. Ihr habt kein kleines Kind, das ihr versorgen müsst. An den Wochenenden träumte sie davon, ihrem Chef zu sagen, dass sie gern einen anderen Aufgabenbereich hätte und dass sie sich das auch zutraue, aber je näher der Montag und die Konferenz um elf rückte, in der die aktuelle Woche besprochen wurde, desto mehr schrumpfte ihr Selbstbewusstsein. Marlene indessen war eine willkommene Ausrede für viele Lebenslagen. Wenn Sophie etwa nicht ausgehen wollte, wenn sie zu müde für Sport oder ein Telefonat mit einer Freundin war. Nur für Katrin, da hatte sie immer Zeit.

Als Sophie an diesem Montag ins Büro kam, sahen beinahe alle Kollegen ihr nach. Sophie hoffte, dass es nicht an ihrem Geruch, sondern an der Einhornklammer lag.

»Du sollst gleich zum Chef«, rief ihr Nadja vom Empfang entgegen und hielt den Daumen hoch. »Schicke Frisur.«

Sophie zwinkerte. »Schick kann ich, weißt du doch.«

Sie ging weiter durch den Flur und bog dann in das zweite Zimmer auf der linken Seite ein. Der bekannte Duft nach einem teuren Herrenparfüm stieg ihr in die Nase.

Markus Hochfeld stand von seinem Stuhl auf und kam strahlend auf sie zu, mit seinem energischen Schritt, der immer so aussah, als liefe er zu einem Boxring, so voller Selbstbehauptung. Er schloss die Tür hinter ihr, dann zog er sie an sich und küsste sie auf den Mund.

Sophie wich zurück. »Wir wollten das doch lassen«, sagte sie und spürte ein Kribbeln auf ihren Lippen. Würde sie sich schminken, so wäre jetzt die Farbe verwischt.

»Wollten wir?« Markus streichelte ihre Wange. Sophie bekam einen kleinen elektrischen Schlag.

»Hoppla«, er lachte. »Eigentlich wolltest das ja nur du, aber du merkst ja, wie viel Spannung … Mir war einfach grad danach.« Markus schob Sophie vor sich her zu seinem Schreibtisch. »Sieh mal, wer heute zugesagt hat.«

Sophie blickte auf den Bildschirm und erkannte den Namen sofort. »Ernsthaft? Nach meinem Gespräch mit ihm?« Innerlich triumphierte sie.

Er nickte, dann ging er zu seinem Sideboard, in das ein kleiner Kühlschrank integriert war, und holte eine Flasche Sekt heraus. Er schenkte zwei Gläser ein und brachte Sophie eines zum Anstoßen.

Sophie zog die Augenbrauen hoch. »Am Morgen schon Alkohol?«

»Das ist echt ein Bombenkunde, das ist dir doch klar.«

»Gewiss, ich hab das Gespräch geführt. Weil du zu spät gekommen bist.« Im Grunde hatte sie einfach Glück gehabt. Sophie war zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, und zufällig hatte der Kunde sie sympathisch gefunden. Ihr Chef und einige andere Kollegen hatten in der Innenstadt im Stau gestanden, das kam schon mal vor, und so hatte Sophie in einem schicken Büro gesessen, sich von Nadja Kaffee und Kuchen servieren lassen und mit dem potenziellen neuen Kunden geredet – ursprünglich, um ihn hinzuhalten, bis ihr Chef und die Kollegen da wären, jedoch hatte sich herausgestellt, dass der Kunde mit seiner Familie an den Bodensee fahren wollte. Ihre alte Heimat, welch glorreiche Fügung. Er war Feuer und Flamme gewesen, in ihr eine waschechte Konstanzerin getroffen zu haben, und Sophie hatte aus dem Nähkästchen geplaudert, wo es in Konstanz und rund um den Bodensee noch etwas zu entdecken gab. Sogenannte Geheimtipps. Er hatte sich Notizen in sein Handy gemacht und immer wieder lachend betont, dass sie der Himmel geschickt habe.

Markus nickte ihr zu. »Guter Job, Sophie, ehrlich, richtig gut gemacht. Da hast du mir den Arsch gerettet. Ich würde dich gern zum Essen einladen. Geschäftlich. Zum Feiern.«

Essen mit Markus in einem noblen Restaurant, in das Sophie allein nie gehen würde. Gute Weine, Kerzenlicht, zufällig ein freies Hotelzimmer – so hatte alles angefangen mit Markus, der, wenn er etwas wollte, keinen Zweifel daran ließ, dass er so lange darum kämpfen würde, bis er es bekam. Aufgeben oder gar Verlieren waren keine Optionen. Sophie hatte sich nicht lange gewehrt, beeindruckt und überrumpelt von dem unbekümmert zielgerichteten Auftreten.

»Gegen ein Essen spricht doch nichts, oder? Weshalb trägst du eigentlich ein Einhorn im Haar?« Er griff danach.

Sophie hob die Schultern und nippte an ihrem Sekt. Ihr war heiß geworden. Das Kribbeln auf ihren Lippen störte sie, überhaupt störte es sie, dass so viele Bilder in ihrem Kopf aufgingen, wenn Markus sie berührte.

»Er sagte übrigens, du hättest seine Ehe gerettet, was auch immer das heißen mag«, erklärte Markus mit leicht schief gelegtem Kopf und einem erfolgsverwöhnten Blick.

Sophie musste schmunzeln. Also doch, dachte sie, sagte aber schlicht: »Schön.«

Sie stießen an, und Sophie trank einen großen Schluck. »Dann darf ich an dem Projekt mitarbeiten?«, fragte sie in dem Bemühen, selbstsicher zu wirken.

Er wiegte den Kopf hin und her. »Ich werd schauen, was sich machen lässt, aber Konrad und Heiner sitzen auch in den Startlöchern, du weißt ja, die können rund um die Uhr. Das wird echt viel Arbeit.«

Sophie kaute auf ihrer Unterlippe, dann leerte sie ihr Glas Sekt auf einen Zug und stellte es auf den Tisch. »Ich weiß.«

»Du hast Marlene. Du willst dir sicher nicht die Abende hier im Büro um die Ohren schlagen und –«

Sophie hob die Hand. »Lass gut sein. Deiner Tochter geht es übrigens gut. Danke der Nachfrage.« Sophie stand auf und lief zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Bitte küss mich nie mehr, das ist wirklich mehr als unpassend, okay?«

Ihr Chef stand neben seinem Schreibtisch, das Glas Sekt in der einen, die Flasche in der anderen Hand, und sah buchstäblich aus wie ein begossener Pudel. Ein ungewohnter Anblick. »Aber, Sophie. Lass uns bei einem Abendessen … Du kannst auch mehr Geld für Marlene haben. Vielleicht kann ich dich auch ein paar Texte –«

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Mehr Geld, dachte sie wütend und lehnte sich gegen die Wand im Flur. Der Sekt wirbelte ihre Gedanken durcheinander. Sie wusste, dass er recht hatte, dass sie mit Marlene nicht in der Lage war, ein solches Projekt wirklich zu stemmen, aber wäre es nicht möglich gewesen, ihr zumindest das Gefühl zu geben, teilnehmen zu können? Sie hatte im Vorbeigehen einen großen Kunden angeworben und bekam dafür ein Glas Sekt und einen lästigen Kuss. Vielleicht hätte sie damals doch gehen sollen. Man sollte nicht für den Mann arbeiten, mit dem man eine Beziehung geführt hat und der sich bisweilen immer noch so benahm, als könnten sie jederzeit dort anknüpfen, wo sie sich vor Jahren getrennt hatten. Ein Gewinnertyp, einer, der mit jeder Geste deutlich machte, für wie selbstbewusst er sich hielt. Sophie wusste wohl, dass man sich unabsichtlich solche Partner suchte, an deren Seite man die eigenen Schwächen am besten verbergen konnte. Aber clever war das nicht.

Komm doch zurück, Sophie. Frankfurt ist doch nicht schön für so ein kleines Mädchen.

Als die Mutter das gesagt hatte, da war Sophie sich nicht ganz sicher gewesen, ob die Mutter Marlene oder sie meinte. Dennoch hatte Sophie sich nicht aufraffen können, Frankfurt den Rücken zu kehren, auch nicht, sich einen neuen Job zu suchen. Fünf Jahre später stand sie also mit zitternden Knien vor dem Büro ihres Chefs und Ex-Freundes Markus, fühlte dem Kuss nach, den sie nicht gewollt hatte, und war wütend und enttäuscht, Letzteres vor allem über sich. Sie stellte sich vor, dass sie ihr Sektglas nicht einfach auf den Tisch gestellt, sondern elegant über die Schulter auf den Boden geworfen hätte. Aber so etwas würde Sophie Sonnbach niemals tun.

In der Mittagspause saß sie mit einem Kaffee und einem Quarkplunder auf der Dachterrasse und hielt ihre Nase in die Oktobersonne über Frankfurt. Von der Straße hupte es, der Verkehrslärm drang wie ein Klangteppich nach oben, wie ein stetiges Meeresrauschen, nur nicht so charmant. Die Luft roch nach Stadt. Sogar hier oben. Konrad und Heiner setzten sich an den Tisch nebenan. Zwei junge, dynamische Herren in Jeans, die die Knöchel blank ließen, dazu Sneakers. Weil einer von ihnen oft rote Jeans trug, erinnerten sie ein wenig an die Comicfiguren Clever und Smart. Sie unterhielten sich gerade über den neuen Auftrag, schielten dann aber zu Sophie. Es sah aus, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Schließlich stand Konrad auf und kam zu ihr herüber.

»Sorry, wie das gelaufen ist. War dein Coup.«

»Kein Problem. Aber nett, dass du das sagst. Ist vermutlich besser so, ich hätte es ohnehin zeitlich nicht hinbekommen.«

Er hielt den Daumen hoch. »Toll, wie sportlich du das siehst!«

Sie lächelte, doch ihr Lächeln gefror, als er sich wieder abwandte und zu Heiner zurückging. Diese Bürschchen, herrje. Irgendwo war Sophie falsch abgebogen in ihrem Leben.

»Darf ich?« Nadja stand an ihrem Tisch und setzte sich zu ihr, bevor Sophie antworten konnte. Sie hatte eine Schale mit Früchten von zu Hause dabei und war wie immer auf Diät. Neidisch betrachtete sie den Quarkplunder in Sophies Hand. »Dass du das essen kannst. Ich werde schon vom Hingucken ein Kilo schwerer.«

Sophie lachte. »Das ist ein Märchen, und das weißt du. Magst du die Hälfte?«

Nadja lehnte sich weg und hob ruckartig die Hände nach oben, als gälte es, einen Angriff abzuwehren. »Bloß nicht! Ich hab mein Obst.«

»Manche werden dick von zu viel Obst«, sagte Sophie und biss genussvoll in ihr Plunderstückchen.

»Wie kannst du so etwas sagen?« Nadja sah von Sophie auf ihr Obst und musste lachen. »Wir sind ein lebendes Klischee.«

»Weil wir über Diäten reden?«

»Ja, während die Jungs über den Job quasseln«, stellte Nadja fest und legte den Kopf schief. »Könnte ich vielleicht doch ein winziges Stück …?«

Sophie zwinkerte. »Viel besser!« Sie beugte sich zur Seite und holte eine Tüte aus ihrer Handtasche. »Du kannst ein ganzes haben.«

»Oh, welch böse Verführung!«, flötete Nadja und fingerte das zuckerverklebte Teilchen aus der Tüte. Mit geschlossenen Augen biss sie hinein. »Mmmmh, sehr lecker, wirklich sehr, sehr lecker. Dafür muss ich heute Abend auf dem Ergometer wieder extra strampeln, aber es lohnt sich.«

Sophie mochte Nadja, die überhaupt nicht dick, aber angeblich seit Jahren auf Diät war. Sie kokettierte gern mit ihrer Figur, hatte dabei aber ein angenehmes Maß an Selbstironie.

»Ich bring dir demnächst mal die besten süßen Stückchen mit, die ich kenne. Mürbe Brezeln. Zur Hälfte aus Mürbeteig, zur Hälfte aus Blätterteig, die sind so zart knusprig, die zergehen auf der Zunge«, schwärmte Sophie, während sie kaute. »Die gab es in meiner Schulzeit für gute Noten.«

»Ach, in deiner alten Heimat. An den Bodensee fahr ich übrigens in den Weihnachtsferien. Wann fährst du wieder nach Konstanz?«

»Tatsächlich schon am Wochenende. Meine Eltern kommen aus einem Italienurlaub zurück.« Vor ihrem inneren Auge sah Sophie eine Hügellandschaft mit einer Reihe Zypressen vor einem Sonnenuntergang.

»Schön.« Nadja kaute und sah in den Himmel. »Ich glaub, ich würde gern etwas idyllischer leben. So eine Kleinstadt am See, das muss doch toll sein. Hast du nicht Heimweh?«

Sophie trennte sich von den Zypressen und dem Geschmack nach Limoncello, der ihr gerade auf der Zunge lag. Manchmal vermisste sie die schönen Aussichten, die bekannten Wege, das vertraute Umfeld. Sie vermisste auch ihre Eltern und Freunde, vor allem natürlich ihre beste Freundin Katrin. Sie vermisste vor allem das Gefühl, sich geborgen zu fühlen. Aber Heimweh?

Um zwei legte sie ihre Stifte zur Seite, gewiss ein wenig demonstrativ an diesem Tag, und verließ das Büro. Nadja saß noch am Empfang und aß nun ihr Obst, das sie am Mittag gegen den Quarkplunder getauscht hatte. »Ein Drink im ›AfterWork‹ später?«

»Ich kann doch nicht. Marlene!«

Nadja schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich vergesse immer wieder, dass du ein Kind hast. Klappt das denn mit dem Babysitter von neulich?«

»Neulich« hieß Juli. Ein sommerlicher Abend im Biergarten am Mainufer, und Nadja hatte ihr die Babysitterin ihrer Freunde vermittelt, eine nette Achtzehnjährige, die mit Marlene gut klarkam, allein Sophie fühlte sich nicht wirklich wohl damit. Und jetzt war schon wieder Oktober, Ende Oktober sogar.

»Ja, ja, das war prima. Die kann ich jederzeit anrufen und buchen.«

»Dann mach das doch mal wieder!«

Sophie nickte mit einem verkrampften Lächeln und eilte nach draußen. Nicht immer war sie so froh, das Büro schon am Nachmittag verlassen zu können, wie an diesem Tag. An ihrer Windschutzscheibe steckte unter dem Scheibenwischer ein Umschlag, darin eine Karte mit einem Blumenstrauß. Rosen. Natürlich rote. Und viel zu viele davon auf einer Karte, in der stand: »Lass es mich wiedergutmachen. Ein Abendessen. Nur du und ich. Ich weiß, dass du den Kuss genossen hast …«

Idiot, dachte sie und schob die Karte zurück in den Umschlag und diesen dann tief in das Handschuhfach ihres Autos, als würde das irgendetwas ändern. Sie wusste, dass sie schwach werden würde.

Eine Viertelstunde später parkte sie unweit des Kindergartens. Im Grunde hatte sie Glück, dass sie nicht eine Stunde von der Arbeit zum Kindergarten und dann quer durch die Stadt nach Hause fahren musste. Da hatte ihr die Beziehung zu Markus Hochfeld sicherlich geholfen. Sie musste ohnehin dankbar sein, dass der Mann, den sie einmal geliebt hatte, anstandslos für Marlene bezahlte und sie auch weiter beschäftigte. Dankbar. Vielleicht war genau das das Problem. Sophie wollte nicht dankbar sein müssen, nicht dafür, zufällig eine süße Tochter bekommen zu haben, nicht dafür, über ausreichend Geld und einen Job zu verfügen. Das alles führte bei Markus zu einem gönnerhaft-jovialen Habitus, als würde sie ihm gehören.

Sophie war überpünktlich, und so schlenderte sie durch die Wohnsiedlung. Als sie an einem Müllcontainer vorbeikam, hörte sie es. Ein Pfeifen, ein aufgeregtes, hohes und verzweifeltes Pfeifen. Sophie sah sich um, dann lief sie um den Container. Nichts. Eine Schachtel am Boden, doch die war leer. Das Pfeifen indessen wurde fordernder. Etwas raschelte. Sophie ließ den Kopf hängen. Sicher war ein Tier im Container gefangen. Vielleicht ein Vogel. Zweimal an einem Tag in eine Mülltonne eintauchen? Das konnte auch nur ihr passieren. Sie sah sich noch einmal um, ob es vielleicht andere hilfsbereite Menschen in Sichtweite gab, doch niemand war da.

Seufzend schob sie den Deckel des grauen Containers nach hinten. Ein Berg von Pappe, Zeitungen und Kartons empfing sie. Es war still. Sie wartete einen Moment, dann hob es umso schriller an: Das Pfeifen kam aus einer Schachtel, die vor ihr lag und sich jetzt bewegte. Konnten Ratten pfeifen? Egal, etwas lebte in der Schachtel und wollte gerettet werden. Sophie hob die Schachtel heraus und spürte hektische Bewegungen, das Gewicht verlagerte sich, begleitet von einem wilden Quieken. Definitiv keine Ratten also. Auch keine Schlangen, sagte eine Stimme in ihr, und Sophie musste grinsen. Bisweilen führten ihre Gedanken schon vorwitzige Dialoge.

Schlangen hätten ja auch nicht gepfiffen.

Stimmt.

Vorsichtig öffnete Sophie den Deckel, und drei kleine Meerschweinchen blickten sie an, verstummt und ängstlich. Eine Welle des Mitleids überkam sie. Irgendjemand aus den Wohnblocks dahinter hatte diese drei kleinen, hilflosen Geschöpfe einfach in einen Pappkarton gesteckt und in den Müll geworfen. Sie machte Fotos von ihrem Fund und der Mülltonne, notierte die Adresse dazu und beschloss, bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Aber zuerst musste sie Marlene abholen. Den Karton unter dem Arm lief sie zum Kindergarten.

Marlene kam ihr jubelnd entgegengerannt.

»Mama, wir haben uns so lange nicht gesehen. Hast du mich vermisst?«

»Und wie, mein Schatz.« Sie küsste ihre Tochter auf die Stirn.

»Was hast du da?« Marlene deutete auf den Pappkarton, in dem es verdächtig ruhig war. Sophie wartete einen Moment. Als wieder Geräusche zu hören waren, machte Marlene große Augen. »Da ist was Lebendiges drin.«

»In der Tat. Schau mal.« Sophie öffnete den Karton, und Marlene stieß einen spitzen Schrei aus. Andere Kinder, Mütter und die Kindergärtnerin, die die Kinder übergab, sahen sich erstaunt um. Sophie lächelte entschuldigend und klappte die Schachtel schnell wieder zu, bevor sie gleich von einer Horde Fünfjähriger umzingelt würde.

»Mama, das sind Seeschweine, oder?«

»Meer. Die heißen Meerschweine.«

»Chen. Ich glaub, sogar Meerschwein-chen.«

»Musst du immer das letzte Wort haben, Kind?«

»Klaro«, lachte Marlene. »Wer recht hat, sollte schon das letzte Wort haben, oder nicht?«

Sophie lachte. »Naseweischen.«

»Gehören die jetzt uns?«

»Weiß ich noch nicht. Ich hab sie im Müll gefunden.«

Marlene stand da, den Mund geöffnet, die Augen weit aufgerissen. »Wer macht denn so etwas?«, fragte sie empört. Die kleinen Tiere pfiffen wieder. »Die haben Hunger, komm, Mama, nicht trödeln. Wir müssen einkaufen.«

Also landeten sie an diesem Montag in einem Geschäft für Tierbedarf, kauften einen zweistöckigen Käfig – wo sollte der nur hin? –, Kleintierstreu, Heu und Futter. Zu Hause mussten sie erst einmal Platz schaffen, um das neue Zuhause von Krümel, Nils und Gustav – Nils Holgersson sei Dank – einzurichten. Als die Tiere dann endlich ihre Notbehausung, in der sie zwischenzeitlich mit Karotten und Apfelstückchen versorgt worden waren, verlassen und in den neuen Stall einziehen durften, sprangen sie aufgeregt kreuz und quer. So viel Glück auf zwei Quadratmetern rührte Sophie beinahe zu Tränen.

»Wenn wir am Wochenende zu Oma und Opa ans Meer fahren, dann nehmen wir die mit, okay?«

»Wir fahren nicht ans Meer«, sagte Sophie seufzend. Dass sie nun auch die Verantwortung für drei Meerschweinchen hatte, war ihr bei der Rettungsaktion irgendwie nicht bewusst gewesen. »Wir brauchen also auch einen Reisekäfig«, sagte sie.

»Und ein Haus bei Oma und Opa«, jubilierte Marlene. »Dann machen die Schweinchen Urlaub mit uns!«

»Herrje, der Großvater wird sich freuen.«

Der Großvater war Marlenes Uropa, Sophies Opa, der Vater ihres Vaters, der Älteste der Familie: Harald Sonnbach. Je länger die Generationen überlebten, desto umständlicher die Erklärungen der Verwandtschaftsgrade. Da konnte man schon mal durcheinandergeraten, vor allem wenn Sophie mit Marlene von »Oma« und »Opa« sprach, aber eigentlich ihre eigenen Eltern meinte. So hatten sie sich geeinigt, dass Sophies Opa einfach »Großvater« war. Für alle. Ein paar wenige Freunde nannten ihn Harry, aber das hatte Sophie schon lange nicht mehr gehört, die meisten waren bereits tot, und irgendwie passte es gar nicht mehr so richtig zu einem Mann über neunzig, der Urgroßvater war.

»Für mich ist das eben das Meer!«, beharrte Marlene. »Für mich liegt Konstanz am Meer.«

»Na gut, also ein Ausflug zum Meer. Soll mir recht sein.«

»Jetzt hab ich aber Hunger«, sagte Marlene, die vor dem zweistöckigen Käfig hockte. »Du auch, Mama?« Sie sah nach oben. Sophie nickte. Marlene stand auf und umarmte ihre Mutter. »Du, Mama, ich bin irre stolz auf dich.«

»Weshalb, Schatz?«

»Du hast drei Meerschweine gerettet. Das erzähl ich morgen im Kindergarten.«

»Chen. Meerschweinchen.«

Marlene schüttelte den Kopf und hob den Zeigefinger der rechten Hand. »Wenn man so etwas Großes macht, dann sollte man lieber von Schweinen sprechen.«

Und schon wieder hätte Sophie vor Rührung beinahe geweint.

3

Wenn ein Tag alles ändert

Mit Marlene an der Hand betrat Sophie die Polizeidienststelle in ihrem Viertel. Ein leicht muffiger Geruch lag über der Einrichtung, die aus den achtziger Jahren stammte. Die Wände in einem Olivton, der heute wieder Trend war, aber schon Zeichen der Zeit trug, Stühle mit grünem Polster, auf denen man lieber nicht so lange verweilte, Holzböden, die die Wege der Beschäftigten und Besucher als dunkle Verfärbung in sich trugen. Sophie hatte Glück, sie musste nicht warten, sondern wurde direkt zu einem Beamten gerufen, der hinter einer hohen Theke mit einer grauen Resopalplatte stand, die Sophie an alte Küchenzeilen erinnerte.

»Ich seh gar nichts«, beschwerte sich Marlene und versuchte hochzuhüpfen. Sie war sehr aufgeregt, dass sie bei der Polizei waren, um »echte Verbrecher« anzuzeigen. Sophie spürte die verschwitzte Hand ihrer Tochter, die immer wieder zudrückte, während sie bemüht war, sich auf das Gespräch mit einem älteren Herrn mit dicker Brille und ungepflegten grauen Haaren zu konzentrieren. Sie zeigte ihm Fotos, nannte die Adresse und wartete. Behäbig hob er den Kopf, schniefte einmal und sah sie fragend an.

»Wollen Sie keine Notizen machen?«, fragte Sophie.

»Gute Frau, das ist eine schlimme Sache. Ich bin wirklich tierlieb, und mich ärgert so was auch. Aber was sollen wir machen?«

Marlene schnaufte laut aus. Aus dem Augenwinkel sah Sophie, wie das Gesicht ihrer Tochter tiefrot anlief. Sie würde bald platzen, ihr Gerechtigkeitssinn war überaus ausgeprägt.

»Ich möchte, dass Sie eine Anzeige gegen unbekannt schreiben und wenigstens jemanden dorthin schicken.«

Der Beamte lachte auf. »Gute Frau, es geht um Meerschweinchen. Vielleicht gehen Sie einfach zu einem Tierschutzverein? Vielleicht können die ermitteln, wer …« Statt weiterzusprechen, hob er die Hände in die Höhe und schien nicht willens, etwas zu notieren.

Sophie kniff die Augen zusammen. Langsam schmerzte ihr Kopf ebenso wie ihre gepresste Hand.

»Hören Sie, ich verstehe, dass Sie viel um die Ohren haben, aber könnten Sie mir vielleicht einen Kollegen schicken?« Noch während sich Sophie darüber wunderte, wie lange ihre Tochter stillhielt, platzte Marlene heraus: »Sie sollen die fangen und dann auch in die Tonne stecken. So einfach ist das!«, rief sie, und ein kleiner Spuckefaden flog nach oben.

Der Beamte beugte sich nach vorne und sah zu Marlene. Er lächelte, dann sah er wieder zu Sophie: »Gute Frau. Ich –«

Sophie schlug mit der flachen Hand auf die Theke. »Wenn Sie mich noch einmal ›gute Frau‹ nennen, dann … Ich möchte jetzt auf der Stelle einen Kollegen von Ihnen, der die Anzeige aufnimmt.«

Er kniff die Augen zusammen und antwortete spitz: »Ich schau mal nach einer Kollegin«, dann stand er auf und verschwand im Nebenzimmer.

Zurück kam tatsächlich eine Frau, und Sophie ärgerte sich über dieses Klischee, schwieg aber. Die noch recht junge Polizistin hörte sich die Geschichte noch einmal an und schrieb eine Anzeige. Anschließend wählte sie die Nummer des örtlichen Tierheims und schilderte auch dort den Sachverhalt. Sie gab den Hörer an Sophie weiter, und Sophie bestätigte, dass sie sich mit Meerschweinchen auskenne und sie deshalb angemessen versorgt habe und sie natürlich behalten werde. Marlene jubelte. Sophie versprach zudem, Fotos zu senden – von den ausgesetzten und schließlich auch geretteten Tieren. Und der Tierschutzverein wollte sich am selben Tag dort einmal umhören.

Marlene saß mit einem breiten Grinsen vor ihrem Spaghetti-Eisbecher.

»Dem haben wir es gezeigt, nicht wahr?«

»Na ja.« Sophie nahm ihren Kaffeelöffel und klaute ihrer Tochter etwas Eis.

Marlene schob die Schale über den Tisch. »Heute teile ich sogar mein Eis mit dir, Mama.«

»Sehr großzügig, Kindchen, sehr großzügig.«

»Hmm. Bei Schokolade wär das auch was anderes.« Marlene löffelte selig ihr Vanilleeis mit der Erdbeersoße. »Wissen Oma und Opa eigentlich schon von den Meeris?«, fragte Marlene.

Sophie nickte. Sie hatte am Vorabend mit ihrer Mutter telefoniert und von den Tieren erzählt. »Sie freuen sich, die drei kennenzulernen. Sie haben sogar noch einen alten Käfig.«

»Und wir brauchen ein Reisehaus, oder?« Marlene zappelte aufgeregt auf ihrem Stuhl herum.

»Stimmt. Wir brauchen einen Reisekäfig.«

»Ach, lass uns doch lieber Reisehaus sagen, das klingt netter als Käfig.«

»Okay.« Sophie freute sich auf das Wochenende in Konstanz bei ihren Eltern, vor allem weil sie die beiden inzwischen seit einigen Monaten nicht gesehen hatte. Immer war etwas dazwischengekommen, mal eine Erkältung, dann das Wetter und manchmal schlicht ihre eigene Bequemlichkeit. Oft hatte auch ihre Freundin Katrin vergeblich gewartet. Glücklicherweise war sie nicht nachtragend und dennoch zu Sophies Geburtstag angereist. Vierzig, vierzig, vierzig, sang ein hässlicher kleiner Zwerg und hüpfte vor Sophies innerem Auge hin und her. Doch auch ein anderes Bild drängte sich dazu: Sie und Katrin und ein funkelnder Sternenhimmel über ihnen. Schön. Eben. Hau ab, du Zwerg. Vierzig ist total hip, eigentlich das neue dreißig.

»Mama, schau mal, da drüben.« Marlene zeigte mit dem Finger auf etwas, das sich hinter Sophie abspielte, also wandte Sophie sich um und sah einen Clown, der aus Luftballons lustige Tiere formte.

Das milde Herbstwetter lockte viele Menschen nach draußen, und so standen schnell zahlreiche Mütter mit ihren Kindern bei dem Clown.

»Meinst du, der kann auch Meerschweinchen basteln?«

»Eher nicht«, sagte Sophie und suchte schnell nach etwas, um ihre Tochter von dem Clown abzulenken. Sie wollte auf gar keinen Fall ein Luftballontier mit nach Hause tragen. Ihre Wohnung war eng genug, mit dem Käfig erst recht. Sie hatte Glück. »Sieh mal, da!« Zwei Spatzen saßen vergnügt auf einem gerade leer gewordenen Tisch und angelten sich zerbröselte Waffelreste. Es funktionierte so lange, bis sich an ebenjenen Tisch eine Familie setzte und die Spatzen davonflogen. Schließlich bemerkte Sophie, dass ihre Tochter den Tisch noch immer beobachtete. Eine ganz normale Familie, ein Vater, eine Mutter, zwei Kinder. Nichts an ihnen wirkte auf Sophie besonders. War die Situation an sich schon etwas Besonderes für ihre Tochter? Überlegte sie, weshalb sie nur mit ihrer Mutter lebte?

Sophie dachte an ihre Eltern, Roland und Conny. Sie waren ihr Vorbild in so vielem, liebenswert, großzügig, tolerant, geduldig. Sie wusste, dass ihre Mutter sehr traurig darüber war, dass Sophie allein für ihre Tochter sorgen musste, dass sie nicht verheiratet war und nicht ihr Liebesglück gefunden hatte. Und genau diese Traurigkeit machte die Besuche für Sophie bisweilen schwierig. Manchmal ertappte sie ihre Mutter dabei, wie sie mitfühlend Marlene betrachtete – lange, stille Blicke auf das spielende oder träumende Kind.

Es ist nicht gut, allein zu sein.

Es ist auch nicht gut, mit irgendjemandem zusammen zu sein, um nicht allein sein zu müssen, oder?

Nein, mein Kind, natürlich nicht.

Du hast Glück, du hast meinen Vater.

Der Blick ihrer Mutter in solchen Momenten rührte Sophie, er war Ausdruck einer tief empfundenen Zufriedenheit.

Ihre Tochter riss sich los und strahlte ihre Mutter an. »Mama, wir sollten gehen. Ich habe unheimlich Sehnsucht nach den Schweinen.«

Lachend verließen sie Hand in Hand die Eisdiele. Marlene sang ein erfundenes Quatschlied über bunte Farben, die im Wald herumstehen, und Sophie hörte schnell auf, sich über die Preise in der Eisdiele zu ärgern. Vielleicht war der Ärger auch deshalb im ersten Moment so groß gewesen, weil ihr wieder einmal schmerzlich bewusst geworden war, wie abhängig sie doch vom Unterhalt für ihre Tochter war. Nicht immer ein angenehmes Gefühl. Aber das Leben war zu kurz für Ärger, vor allem über Geld. Sie kam klar, das war die Hauptsache, und so schlenkerte sie mit Marlene lieber die Arme um die Wette. Zu Hause liefen sie die drei Stockwerke in dem Mietshaus nach oben und zählten die Treppen, die erstaunlicherweise immer die Anzahl änderten, was Marlene ärgerte, aber die Zahlen purzelten beim Rennen eben oft durcheinander. Oben angekommen standen sie vor der Tür und lauschten, ob sie die Meerschweinchen hörten. Es pfiff tatsächlich aus der Wohnung. Marlene sprang vor Freude in die Luft.

Sie glaubte, Nils zu erkennen. Oder Krümel. Oder auch Gustav. Wer wusste das schon so genau?

»Die haben Hunger. Ich übrigens auch«, sagte Marlene.

»Du hast noch genug Vanilleeis auf deinem Shirt, das reicht für zwei.«

»Haha, Mama, haha, sehr witzig. Was gibt’s denn zu essen?«

Sophie legte den Kopf schief. »Meerschwein in Erdnusssoße?« Sie konnte sich einen Scherz selten verkneifen, doch sie hatte Glück, ihre Tochter war humortechnisch auf einem guten Weg. Sich die geliebten Nager allerdings in irgendeiner Soße vorzustellen, das ging zu weit.

Marlene machte ihr empörtes Gesicht und sagte vorwurfsvoll: »Also bitte, Mama, das ist nicht lustig.«

»Na ja, ein bisschen schon«, sagte Sophie grinsend. Als sie in den schmalen Flur traten, wurde das Pfeifen noch deutlicher.

»Die freuen sich auf uns«, rief Marlene. »Und du hast solch böse Gedanken. Das ist nicht nett von dir, Mama. Aber du kannst es bestimmt wiedergutmachen.« Marlene hielt die Hand an die Stirn und machte eine konzentrierte Denkerpose, dann hob sie den rechten Zeigefinger kess nach oben. »Ich hab’s: Zur Feier des Tages könnten wir doch Pfannkuchen backen.«

»Wir kommen gerade vom Eisessen«, gab Sophie zu bedenken.

»Macht doch nichts.« Marlene stürmte in die Wohnung und rannte ins Wohnzimmer, wo die Nager tatsächlich am Gitter standen in der Hoffnung auf Essen.

Sophie wollte in der Küche Karotten holen, als das Telefon klingelte. Sie lief ins Wohnzimmer und nahm den Anruf entgegen, und im nächsten Moment war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war im Leben von Sophie Sonnbach und der kleinen Marlene. Es war, als wäre die Welt stehen geblieben oder auf einmal so beschleunigt worden, dass Sophie den Boden unter den Füßen verlor. Wie damals, als sie auf einem abfallenden Waldweg gestürzt war und sich nicht mehr fangen konnte. Mehrmals hatte sie sich überschlagen, war gegen Wurzeln geknallt, hatte sich Schnittwunden durch Brombeerranken und etliche Prellungen zugezogen. Erst verspätet kam die Erinnerung zurück, wie sie dort oben mit dem Fuß in einer herausstehenden Wurzel hängen geblieben und dann gefallen war, weiter und immer weiter bergab, wie die anderen nach ihr gerufen hatten, an die Angst.

Und jetzt stand sie in ihrem Wohnzimmer, den Telefonhörer in der Hand, und sackte in sich zusammen, landete auf dem Boden, spürte, dass ihr die Farbe aus dem Gesicht wich und ihr schlecht wurde. Alles drehte sich. Im Augenwinkel sah sie die strahlende Marlene, die ein Meerschweinchen, das braune, vorsichtig aus dem Käfig hob und streichelte. Die großen schwarzen Knopfaugen des kleinen Tieres sahen neugierig zu ihr herüber, wachsam, als spürten sie, dass etwas nicht stimmte. Und Marlene voller Glück, voller kindlicher Unbeschwertheit, quirlig und doch so behutsam mit dem Nagetier.

»Guck mal, Mama, ist der nicht zuckersüß? Ich nehm den heute mit ins Bett.«

Sophie konnte nichts sagen.

»Oma und Opa werden staunen«, sagte Marlene in dem ihr eigenen Singsang.

Sophie schluckte. Ihre Tochter konnte nicht wissen, dass sie dort auf dem Teppich in ihrem Wohnzimmer kauerte und nicht wusste, wie sie wieder aufstehen sollte. Sie konnte nicht sehen, dass Sophie am liebsten laut geschrien hätte, aber keine Stimme fand; dass sie das Gefühl hatte, einen heftigen Schlag in den Magen bekommen zu haben. Marlene konnte nicht wissen, was ihrer Mutter gerade am Telefon mitgeteilt worden war.

Sie werden nicht staunen, dachte Sophie, Oma und Opa werden nicht staunen. Wir werden sie nie wiedersehen.

4

Ein ozeanisches Gefühl

Als Sophie klein war, dachte sie, die Erde drehe sich, weil sie sie mit ihren kleinen Schritten antrieb. So lief sie fröhlich und immer schneller über die Wiese, schleuderte ihre kleinen Füße nach vorne – und bewegte die Welt. Wenn sie sich dann auf die Wiese legte und in den Himmel sah, eilten dort die Wolken vorbei, und Sophie spürte die Ruhe der Welt unter sich, die nun stillstand und ihr Zeit schenkte, die Wolken zu beobachten, wie sie zu Tieren wurden und miteinander spielten. Die Welt war wunderbar und voller großartiger Verlockungen. Es gab nichts, was sie aufhalten konnte, nicht einmal der Bruder Sebastian, der sie oft ärgerte, aber genauso oft der geliebte große Bruder war, der schützend seine Hand über sie hielt.

Es war schön und kostbar gewesen, diese feste Überzeugung, dass sie die Welt bewegte und nicht die Welt sie.

Sophie konnte sich gut an einen Ausflug mit ihren Eltern erinnern. Sie waren rüber nach Überlingen gefahren und von dort weiter zum Affenberg. Die possierlichen Tiere hatten sich an die Menschenmassen gewöhnt, die in Entzückungsschreie ausbrachen, wenn die Affen sich auf einem Holzgeländer näherten, um Futter zu erhaschen. Bewegten sie auch die Welt? Aber wie entschied die Welt, in welche Richtung sie sich drehen sollte? Und liefen die anderen dann rückwärts oder fielen gar um? Sophie kamen erste Zweifel. Auch an der Tatsache, dass die Affen sich über den menschlichen Besuch freuten. Zwar wollte sie wie die meisten anderen Kinder einen Affen mit nach Hause nehmen, doch nicht, um ein Kuscheltier zu gewinnen, sondern eher, um einen Affen zu retten. Und was war nun mit der Welt?

Vieles zerbrach, wenn man erwachsen wurde, wenn man Zusammenhänge begriff, wenn man lernte, dass alles irgendwann aufhörte. Nur nicht die Welt, die würde sich immer weiterdrehen. Als Sophie das begriff, wusste sie nicht, worüber sie trauriger war – dass sie nichts bewegte oder dass alles weiterging, auch wenn sie gar nicht mehr da wäre.

Als eine ihrer Katzen, die kleine schwarze Lucy, irgendwann nicht mehr nach Hause kam, hatte Sophie plötzlich Angst zu verschwinden. Einen ganzen Sommer lang ging das so. Verrückt. Die Großmutter hatte versucht, sie zu trösten:

»Schlimme Dinge passieren nicht in schönen Jahreszeiten. Sie passieren im Winter.«