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Packend, intensiv und glänzend recherchiert. Auf dem Bodensee treibt die verlassene Segelyacht eines reichen Unternehmers, an Bord werden Blutspuren gefunden. Die Ermittlungen führen Kommissarin Cora Merlin und ihren Kollegen Christian Fischl zur Firma des Opfers. Diese belieferte die Rüstungsindustrie. Wurden dem Mann seine Geschäfte zum Verhängnis? Doch dann taucht ein Video auf, das zeigt, wie mehrere Personen verschleppt werden. Wer sind die wirklichen Opfer in diesem Fall, und was wollen die Entführer? Cora gerät in einen Sumpf voller Hass und Rachedurst – und wird dabei von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt ...
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Seitenzahl: 459
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tina Schlegel war Regieassistentin, Drehbuchautorin und Redakteurin, bevor sie als freiberufliche Kulturjournalistin unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und die Münchner Abendzeitung arbeitete. Seit 2012 schreibt sie für die Augsburger Allgemeine, seit 2023 auch für die Rheinische Post über Kunst, Theater und Musik. Sie lebt mit ihrer Familie am Niederrhein und im Unterallgäu.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
info@emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Busse & Yankushev
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzeptvon Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lothar Strüh
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-253-6
Bodensee Krimi
Originalausgabe
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In Erinnerung an Leo
Wie zwei der Länge nach zerlegte,
Sich ewig windende und leicht zu
Erlegende Erinnerungen
An mühsam durchgeweichte Adern,
Die leis am Horizont mäandern.
Zart in Asche überführtes Laub,
Das in Dachrinnen verendete,
An Fenstern gestrandete Tropfen
Auf zierlich zersplitternden Wegen
In am Boden versandetes Grün.
Auf Wasserflächen gespiegelte
Gesichter toter Kormorane,
Hübsch aufgereiht am kühlen Himmel
Wie fein geschnäbelte Blutwölkchen
Die doch nur uns am Leben halten.
Und aus dem dunklen See steigt dampfend
Unser aller Haut empor, und lässt
Im Nebel ein kaltes Herz zurück,
Das die Federn wie Trophäen trägt.
Müde zeichnet jede ihren Tod.
Sie rannten. Die tief polternde Männerstimme im Nacken. Tief hängende Zweige schlugen ihnen ins Gesicht. Das Moos, dachte er, es trug noch die Frische des Regens in sich, dazwischen bedrohlich aus dem Boden ragende Wurzeln. Das Jaulen eines Hundes irgendwo. Schweiß rann ihm den Nacken herunter, obgleich er fror. So bitterlich fror. Wenn man stirbt, wird es so sein, überlegte er, während er rannte und nicht starb.
Der andere Junge stolperte, er half ihm auf die Beine, wusste, dass Aufgeben keine Option war. Es gab keinen Ausweg.
Ihr Atem drang durch den Wald, überlagerte das Pochen ihrer Herzen. Brombeerranken hatten seine Hose zerrissen und sich tief in seine Haut gegraben, Blut lief an seinem Bein hinab. Bald würde es sich mit noch mehr Blut vermengen. Mit viel mehr Blut. Er ahnte es. Er roch es. Er wusste es. Er fürchtete es.
Und es war nicht diese Wut, die unweigerlich folgen würde, die er am allermeisten fürchtete. Es waren vor allem die abgrundtiefe Enttäuschung, der Untergang seiner Kindheit, der Verlust von Ehre und Respekt. Und der andere Junge. Ihn fürchtete er fortan noch mehr.
Er empfand keinen Schmerz. Er sah einen anderen Schmerz auf sich zukommen, einen viel größeren, und flehte innerlich um Gnade – für sich.
Als das Messer in den Hals eindrang und das Blut nach außen blubberte, war das Auge noch voller Leben auf ihn gerichtet. Es sah ihn an, flackerte, hielt den Blick. Bevor es erlosch. Für immer.
Und das Blut lief über Hände und Arme. Er wischte sich über das Gesicht, wusste, dass er nun auch das Blut im Gesicht verteilt hatte. Heiß floss es über seine Wangen und mischte sich dort mit den Tränen. Kriegsbemalung. Für immer würde er sie auf seiner Haut spüren. Für immer war er gezeichnet vom Tod, vom Sterben und nun auch vom Töten.
Er fühlte keinen Schmerz, als das Messer abermals in einen Körper eindrang, und dieses Mal war es sein eigener.
Angst
Cora beugte sich nach vorn und zog an den Schnürsenkeln ihrer Laufschuhe. Zum zweiten Mal musste sie ihren Lauf unterbrechen, weil der Schuh zu eng saß, und schon beim letzten Mal war es ihr schwergefallen, wieder in ihren Rhythmus zu finden. Cora richtete sich auf, prüfte den Schuh und die Schnürung und ließ die Schultern hängen. Es passte an diesem Tag einfach nicht. Sie seufzte.
Die meisten am Ufer des Bodensees gelegenen Bänke im Lindenhofpark waren besetzt. Die Menschen genossen die ersten richtigen Sonnentage, nachdem sich der April nicht mit Abwechslung, sondern vor allem mit Regen gezeigt hatte. Einige besonders optimistische Besucher waren sogar schon mit Picknickdecken unterwegs, Pärchen, aber auch Mütter mit ihren Kindern.
Ein kleiner Hund kam fröhlich bellend auf Cora zugerannt. Die Besitzerin winkte und rief den Satz, der so oft wie sinnloserweise ausgesprochen wurde: »Der tut nichts. Paule, kommst du wohl …«
Cora winkte zurück. »Schon gut«, sagte sie und streichelte den hibbeligen Jack Russell Terrier, der vor ihr hin und her hüpfte und fiepte.
Die Besitzerin kam im Laufschritt bei ihr an, und Cora fragte sich unwillkürlich, ob der kleine Paule vielleicht doch nicht immer so lieb war.
»Bist du jetzt wohl ruhig«, schimpfte die Frau ihren Hund und fingerte an dem Halsband herum, um ihn anzuleinen. »Wenn der Joggingschuhe sieht, flippt er aus. Bitte entschuldigen Sie.«
»Ist ja nichts passiert.« Cora streichelte dem kleinen Paule noch einmal über den Kopf. Sie musste an den anderen Hund denken, der seit einiger Zeit ihr Leben durcheinanderwirbelte. Obwohl, so stimmte das eigentlich nicht. Johnny wirbelte so gut wie nie, er war einfach nur gemütlich, schwer und groß. Riesengroß sogar. Johnny war ein Rottweiler, der auf Fremde definitiv furchteinflößend wirken konnte und ihrem Kollegen Christian gehörte. Seit ihrem letzten Fall. Da war Johnny einfach in ihre Ermittlungen geraten und hatte sich Christian aufgedrängt, und schließlich hatte der Besitzer eingesehen, dass der Hund eine Entscheidung getroffen hatte. Christian wurde nicht gefragt, aber Cora hatte schnell das Gefühl beschlichen, dass er froh war um den neuen Freund an seiner Seite. Johnny, nach Johnny Cash. Und auch die Musik hatte sich seitdem in ihr Leben gedrängt. I hurt myself today …
Cora wollte weder eine freie Bank suchen noch weiterlaufen, also setzte sie sich einfach an den Uferrand und ließ die Beine über dem klaren Wasser baumeln. Von hier hatte sie einen friedvollen Blick über den still vor ihr liegenden See rüber zur Insel Lindau mit den vielen Kirchtürmen und der Dammstraße für Autos und Züge. Manchmal kam es ihr surreal vor, dass sie dort lebte, noch immer dort lebte, obwohl sie andere Pläne für ihre Karriere gehabt hatte. Das war gar nicht typisch für sie. Ihre Verbissenheit war einer Besonnenheit gewichen.
Auf dem See waren ungewöhnlich viele Segelboote unterwegs. Gewiss hatte das schöne Wetter die Leute gelockt, doch bei nahezu windstillen Verhältnissen war das Segeln auf dem Bodensee zumindest an diesem Tag höchstens ein meditatives Unterfangen. Der Blick auf die Alpen indessen blieb ein ungetrübtes Glück.
Cora beobachtete die Boote, stellte sich das zärtliche Plätschern des Wassers am Bug vor, unterbrochen von den Rufen der Möwen, die sich womöglich amüsierten über die Menschen und ihr Bemühen, in fremde Lebensräume vorzudringen.
Ihr Handy piepte und meldete eine Nachricht. Christian.
»Du siehst einsam aus.«
Es dauerte einen winzigen Moment, dann fühlte es sich für Cora an wie feine Nadelstiche auf der Haut. Unwillkürlich drehte Cora sich um und suchte den Park nach Christian ab. Keine Spur. Also wählte sie seine Nummer.
»Wo bist du?«
»Das errätst du nie.«
»Auf einem Baum?« Cora sah tatsächlich nach oben.
Christian lachte. Im Hintergrund grummelte Johnny.
»Der Hund klingt nicht glücklich. Also sag schon, wo seid ihr?«
»Schau mal auf den See. Das Segel mit dem blauen Streifen.«
Cora hob die Hand schützend gegen die Sonne über die Augen und starrte auf den See. »Ihr seid auf dem Wasser? Der arme Hund!«
»Von wegen. Der hat total Spaß.«
Johnny bellte, aber es klang nicht unbedingt wie eine Zustimmung.
»Magst du an Bord kommen?«
Cora überlegte. Es war eine Weile her. Wie hatte er sie eigentlich gefunden? Wollte sie überhaupt Gesellschaft? Und dann noch eine, die unweigerlich Fragen mit sich brachte. Unangenehme Fragen.
»Cora?«
Sie biss sich auf die Lippen. Johnny. I hurt … Redemption … Verdammt!
»Du kannst nicht ewig untertauchen.«
Cora lachte. »Na, hör mal. Ich lebe auf einer Insel. Wie sollte ich da schon groß untertauchen?« Sie behielt das Segel genau im Auge. »Andererseits: Auf einer Insel kann man ja gewissermaßen in alle Richtungen untertauchen.«
»Du weißt, was ich meine. Komm, gib dir einen Ruck. Johnny vermisst dich, und ich würd mich auch freuen.«
Johnny vermisste sie also. Cora ließ den Kopf hängen. Plötzlich wuchs in ihr der Wunsch zu rennen, einfach loszurennen.
»Ein andermal, Christian.« Sie legte auf, stemmte sich vom Boden hoch und rannte los. Mitten hinein in den Lindenhofpark auf die Villa zu, vorbei an all den lachenden Menschen auf ihren bunten Picknickdecken. Rhythmus hin oder her, Cora rannte. Davon.
Zeit, sie brauchte einfach noch Zeit. Wofür? Sie hatte wieder begonnen, Saxophon zu spielen. Ihre Mutter hatte sich gewundert, als sie bei einem der letzten Besuche gefragt hatte, ob das Instrument noch irgendwo auf dem Speicher lag. Tat es, also rumliegen. Eingestaubt und doch magisch leuchtend ruhte es in dem mit blauem Samt ausgeschlagenen Kasten. Die ersten Töne misslangen, doch dann fühlte Cora sich wieder wohl mit dem Instrument. Seitdem spielte sie beinahe jeden Tag. Sie hatte ja auch Zeit. Für sich, ihre beiden Katzen, flüchtige Träumereien über eine Zeit, die hätte sein können und nie eingetreten war. Sie hatte ihr Baby verloren, von dem sie nicht einmal etwas gewusst hatte. Es war ein Phantomverlust. Ein Phantomschmerz. Etwas flüchtig Surreales.
Flüchtigkeit war ohnehin ein gutes Stichwort. Die Zeit war so flüchtig wie ihre Gedanken, schnell von einem zum anderen. Was ihr Kollege nicht wissen konnte: Am Vortag hatte Cora ihrer Therapeutin gegenübergesessen, und ihr war kein Grund für eine weitere Krankschreibung mehr eingefallen. Dreizehn Wochen waren eine lange Zeit.
Auch für eine Rückkehr, dachte sie und spürte, dass sie schon in einem Zwei-Zwei-Rhythmus rannte. Lang einatmen, dabei mindestens auf vier zählen und ebenso lange ausatmen, ermahnte sie sich.
Christian ließ das Fernglas sinken und streichelte mit der freien Hand den Kopf des Hundes. »Wird wohl noch nichts mit einem Wiedersehen, Junge«, sagte er, und der Rottweiler grummelte unzufrieden, wenngleich er nicht wissen konnte, wovon sein Herrchen sprach.
Es war vertraut gewesen, mit Cora zu sprechen. Weniger vertraut war es, sie daraufhin über den Uferweg und in den Park flüchten zu sehen. Dabei konnte er sie so gut verstehen. Alles war irgendwie aus den Fugen geraten – in seinem Leben und wohl auch in ihrem. Und als wenn das nicht genug wäre, hatte das Chaos auch noch sichtbare Spuren hinterlassen. Sowohl sein eigener als auch Coras Körper waren davon gezeichnet.
Christian seufzte und holte aus der Kühltasche ein alkoholfreies Radler. Es schmeckte fast wie ein echtes und war ein Teil seiner Bemühungen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Mit der kalten Flasche setzte er sich auf das Deck in die Sonne und lockte Johnny an seine Seite. Zufrieden ließ dieser sich neben ihn plumpsen, was immer etwas merkwürdig aussah und klang. Matthias hatte ihn am vergangenen Wochenende auf einen Segeltörn begleitet und tatsächlich besorgt gefragt, ob das dem Hund nicht wehtat. Aber der Rottweiler sah nicht so aus. Im Gegenteil. Jetzt räkelte er sich genüsslich und landete schließlich auf dem Rücken. Mit einem Schnaufen, das an ein Grunzen erinnerte, ließ er sich von Christian den Bauch kraulen.
»Hoffentlich sehen wir sie bald wieder. Hoffentlich kommt sie zurück. Was meinst du, Dicker?«
Schweigen.
Christian zog sich sein Shirt aus. So allein war ihm das nicht peinlich. Die lange Narbe auf seinem Bauch verheilte auch überraschend gut, und der Bauchansatz ging dank seiner neuen Enthaltsamkeit allmählich wieder zurück. Er fühlte sich wohler als noch vor drei Monaten, hatte alle Therapiesitzungen besucht und nach einigen Wochen erst realisiert, dass er so gut wie tot gewesen war. Die näheren Umstände hatten wie ein dichter Nebel vor seinen Augen gelegen. Dieser hatte sich nur schleichend gelichtet.
Es gab zwei Varianten, auf eine Nahtoderfahrung zu reagieren: mit Dankbarkeit und euphorischem Lebensdrang oder mit Verzweiflung und Angst, so etwas könnte jederzeit wieder passieren. Dass die Unsicherheit der eigenen Existenz einem so drastisch vor Augen geführt wurde, ging auf jeden Fall nicht spurlos an einem vorbei.
Christian klopfte Johnny auf den Bauch. Es klang hohl. »Du bist der beste Beweis«, sagte er leise. Eine Spur in Christians Vergangenheit. Eine von den guten Spuren!
Christian trank sein Radler aus und beobachtete die anderen Segler. So still und friedlich könnte es immer sein, dachte er. Kein Verbrechen, keine Missgunst, kein Hass. Einfach jeder für sich in Frieden.
Wenn er auf dem See war, konnte er sich das gut vorstellen, keine Nachrichten aus aller Welt stürmten auf ihn ein. Sobald er an Land gehen würde, wären sie alle wieder da – die Dämonen.
Könnte er doch gemeinsam mit Cora einige der Dämonen bezwingen, die auch sie verfolgten.
»Wir brauchen sie doch«, war sein letzter hoffnungsvoller Satz dieses Nachmittages, dann legte er sich neben Johnny und starrte in die still ruhenden Wolken am Himmel.
Als Cora ihre Wohnungstür aufschloss, kamen ihr nicht nur zwei Katzen miauend entgegengerannt; im Türrahmen lehnte auch ein großer Mann. »Ist doch okay, dass ich dich überrasche, oder?«
Cora zuckte zusammen, in ihr stürzte ein Eisklotz ins Bodenlose. Dann aber machte sie zwei schnelle Schritte durch ihren Hausflur und umarmte ihren Bruder. »David, Mensch, warum sagst du denn nicht, dass du kommst?«
»Wieso? Hättest du dann eingekauft?« David knuffte Cora in die Seite. »Wie gesagt, ich wollte dich überraschen.«
»Wo ist Sara? Seid ihr zusammen hier?« Cora zog ihre Laufschuhe aus. Ihr weißer Kater Gizmo spielte mit den Schnürsenkeln, während der größere Kater ihr um die Beine strich.
»Hat der inzwischen einen Namen?« David beobachtete das graue Tier. »Scheint dich auf jeden Fall sehr zu mögen. Er wird wohl bleiben, oder?«
Cora nickte. Wie der Rottweiler, der bei Christian eingezogen war, war auch der graue Kater ein Überbleibsel aus dem letzten Fall. Sie konnte selbst nicht erklären, weshalb sie ihm noch keinen Namen gegeben hatte, es war, als würde sie damit der ganzen Erinnerung an dieses Wochenende im Januar einen Namen geben. Offenbar war sie dazu noch nicht bereit.
David lief in die Küche, wo er schon einiges auf der Ablage ausgebreitet hatte: Tomaten, Oliven, Wein, Brot, Salat.
»Das sieht ja schon mal gut aus«, meinte Cora und nickte anerkennend, als ihr Blick an dem Flaschenetikett hängen blieb. Ein Montepulciano d’Abruzzo. »Also? Seid ihr zusammen hier?«
David schüttelte den Kopf. »Sara will in Italien bleiben. Also noch eine Weile zumindest.« Er griff nach der Flasche. »Und wie bekomme ich die jetzt auf?«
Cora reichte ihm wortlos den Korkenzieher. David war jünger als sie, jedoch um einiges größer. In diesem Moment aber war er so sehr ihr kleiner Bruder wie schon lange nicht mehr. »Habt ihr euch getrennt?«, fragte sie leise.
»Nein, nicht so richtig. Ich brauch einfach mal ’ne Auszeit, und da dachte ich …« Wieder wirkte er verlegen.
»Da dachtest du, dass ich mich mit so etwas auskenne.«
Während Cora duschte, deckte David den Tisch. Beim Kochen tranken sie bereits ein Glas von dem Wein, den David aus Italien mitgebracht hatte, und später beim Essen lief eine Playlist mit Lounge-Jazz-Nummern. Natürlich erinnerte sich Cora an Sara und einen Abend mit ihr, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten. Später hatte sie Sara ihren Bruder David vorgestellt, und die beiden waren ein Paar geworden. Ein schönes Paar, aber David nun einmal wieder für sich ganz allein zu haben, rührte an jene Geborgenheit, die sie nach dem Tod beieinander gefunden hatten.
»Christian hat vorhin angerufen. Er scheint dich zu vermissen.«
»Ach, der auch? Ich dachte, nur der dicke Köter.«
»Wann willst du denn –«
Cora hob die Hand. »Nicht. Das war so ein schöner Abend.« Sie holte tief Luft. »So was aber auch, so wollte ich nie werden.«
»Was meinst du denn?«
»Feige.«
Mit dem Fahrrad fuhr Cora zu ihrem ersten Arbeitstag. Es war wie früher und doch völlig anders. Cora fühlte mit der Zunge an ihrem Gaumen, suchte nach einem Geschmack, fand jedoch keinen. Ihre Gefühlssynästhesie schien gedämpft. Vielleicht habe ich in meinem Kopf auch keinen Platz mehr dafür, dachte sie und hielt den Kragen ihrer Jacke zu. Wind war aufgekommen an diesem Mittwochmorgen, der große Wolkenberge über den kleinen See zwischen Lindau-Insel und dem Festland schob. Ein Gewitter war angekündigt, notfalls würde sie ihr Fahrrad einfach in der Dienststelle stehen lassen.
Als sie ihr Rad wenig später abschloss, hörte sie laute Motorengeräusche. Tief und blechern ratternd, kamen sie näher. Ein Mann mit Lederjacke und Bikerstiefeln bog mit einer Harley Davidson in den Parkplatz ein. Der hat sich bestimmt verfahren, schoss es Cora durch den Kopf, als der Fahrer zielgerichtet auf sie zusteuerte und bei ihr stoppte. Er schob das Visier an seinem Helm nach oben. Grünbraun funkelnde Augen hinter einer Brille und ein paar Strähnen dunkler Locken kamen zum Vorschein.
»Christian! Was –«
»Ich freu mich auch, dich zu sehen. Hab schon gehört, dass du wieder startest.« Christian stieg ab und bockte seine Harley auf. »Hab mir einen Jugendtraum erfüllt. Toll, oder?«
Cora sah abwechselnd von dem Motorrad auf Christian und sagte den einzigen Satz, der ihr einfiel. »Aber was ist mit Johnny?«
Christian sah sie an, dann lachte er lauthals los. »Cora«, er legte ihr eine Hand auf die Schulter, »Cora, du bist herrlich! Das hat wirklich noch keiner als Erstes gesagt. Vorwürfe«, er winkte ab, »die kamen. Ich wär wohl in der Midlife-Crisis, ob ich mir was beweisen müsste … bla, bla, bla. Aber an Johnny hat noch keiner dabei gedacht.« Seine Augen leuchteten geradezu. »Du wirst es nicht glauben, aber ich überlege, ob ein Beiwagen für uns eine Option ist. Im Moment ist er daheim, und eine Nachbarin lässt ihn raus.«
»Aha.« Cora brauchte einen Moment. »Einen Beiwagen? Dein Rottweiler soll Motorrad fahren? Du spinnst ja!«
»Schön, dass du wieder da bist. Das war natürlich ein Witz.« Christian umarmte Cora so schnell, dass sie nicht reagieren konnte. »Komm, lass uns den anderen Hallo sagen.«
Mit Christian Fischl hatte Cora lange Zeit ihre Mühe gehabt, aber sie hatten sich angefreundet im vergangenen Jahr. Vor allem der letzte Fall hatte sie einander nähergebracht. Und jetzt war sie einfach froh, dass er an ihrer Seite war, als sie das Gebäude betraten. Im Eingangsbereich des ersten Stocks waren vor ihrem Büro zwei Tische mit Kaffee und Kuchen aufgebaut. Luftballons schwebten im Raum, und auf einer Girlande stand »Herzlich willkommen zurück«.
Cora fand das reichlich übertrieben, lächelte aber pausenlos. Die ganze Belegschaft ihrer Dienststelle stand dort versammelt und applaudierte. Ihre Knie wurden plötzlich weich. Zurückkommen war mehr als ein Wiedereinstieg in den Arbeitsalltag. Zurückkommen war in diesem Moment die Unsicherheit in den Blicken der anderen, die nicht wussten, ob sie die eine Frage wirklich stellen sollten: Wie geht es dir, Cora Merlin?
Kaffee, Saft und Wasser wurden verteilt. Die Frau von Thomas, Annette, war ebenfalls zu Besuch gekommen und trug marmorierte Muffins auf einem Tablett durch die Gegend. Sie reichte Cora, ohne zu fragen, einen Muffin mit Blaubeeren. Ein süßlich-warmer Duft hüllte Cora augenblicklich ein.
Thomas kam und umarmte sie herzlich. Wie auch Matthias, in dessen Mundwinkel Krümel hingen. Er roch nach einem neuen Parfüm, irgendetwas wie Wald oder Harz. Cora hatte eine feine Nase, aber die Zuordnung fiel ihr bisweilen schwer. Manche Gerüche hingen eher an einem Gefühl, manche auch an einer Form. Die Synästhesie war immer wieder eine Herausforderung.
»Den Karottenkuchen musst du probieren, ehrlich. Der ist köstlich.« Matthias wischte sich über die Krümel. Und schon hingen ungesagte Sätze in der Luft.
»Gut siehst du aus«, sagte Thomas, und auch sein Satz blieb hängen in einer Wolke unsichtbarer Worte. Cora schniefte ganz leise, und Thomas schluckte verräterisch.
»Cora! Cora Merlin! Endlich, du bist wieder da.«
Erleichtert drehte Cora sich um und sah Markus Emmenbach auf sie zukommen, ihren ehemaligen Dienststellenleiter. Er reichte ihr die Hand. »Alle sind wir gekommen, um dich willkommen zu heißen.«
Cora stolperte mehr durch diesen ersten Tag, als dass sie ihn bewusst wahrnahm. Sie dachte an David, der zu Hause auf dem Sofa lag, wahrscheinlich mit Gizmo auf dem Bauch. Sie dachte an ihre Freundin Sara, die in Florenz Kunstgeschichte studierte und nicht wieder zurück nach Deutschland wollte. Und ganz zwangsläufig dachte sie an Ela, die unweit von Sara in ihrem Landhaus in den toskanischen Hügeln saß – inmitten einiger Gemälde, die dort nicht hängen dürften. Cora war Mitwisserin, war Komplizin und … Eine Erinnerung huschte vorbei wie eine Frühlingsbrise. Sanft legte sie sich Cora um den Hals und wanderte über ihre Brust. Elas Haut hatte immer nach einer Mischung aus Meer und Fliederblüten gerochen.
Auf ihrem Schreibtisch standen Blumen und eine Karte, unterschrieben vom ganzen Team. Die Leitung der Dienststelle hatte vorübergehend Matthias übernommen – bis sie wieder voll einsatzfähig war. Es eile nicht, sagte er, und Cora bestätigte, dass auch sie keine Eile habe. Sie fühlte sich wie ein Blatt im Wind, als würde sie durch das Gebäude und jetzt durch ihr Büro gehaucht, federleicht. Der Aufprall kam unerwartet.
Christian kam mit zwei Soja-Cappuccino-Bechern und schloss die Tür hinter sich. Einen Becher stellte er vor sie auf den Schreibtisch und setzte sich ihr gegenüber. Es zischte ganz leise, als er den Deckel abzog.
»Ich bin wieder drauf auf diesem Zeug«, erklärte er und nahm einen großen Schluck. »Mein ganzer Kühlschrank ist voll. Hat echt Suchtcharakter.«
Behutsam öffnete Cora ihren Becher und nahm einen Schluck von dem eisgekühlten Getränk.
»Wir können den Elefanten im Raum nicht ewig ignorieren«, sagte Christian.
»Bitte?«
»Du weißt sehr genau, was ich meine, Cora.«
Sie nickte. »Sicher.«
»Also? Wie geht es dir?«
»Gut. Und dir?«
Christian atmete laut ein und aus. »Besser. Ich trinke viel weniger und esse wieder gesünder.«
»Das klingt gut.«
»Ich war bei diesen Sitzungen, und, na ja, ich hab jetzt die Winni.«
Cora zog die Augenbrauen hoch. »Du hast eine Freundin?«, fragte sie vorsichtig.
Christian zwinkerte. »Winni. So heißt meine Harley.«
In einer theatralisch übertriebenen Geste schlug sich Cora mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Himmel. Und ich dachte, ich hätte Probleme.«
Sie lachten beide.
»Was ist mit Peter?«
»Nichts.« Cora schluckte.
»Er ist tatsächlich nach London? Obwohl …« Schweigen legte sich in den Raum zwischen ihnen und gab dem Ticken der Uhr eine Bühne. Tick, tick, tick. »Vielleicht ist ein Elefant …«
»… doch nicht das Schlechteste«, sagte Cora lächelnd. »Und du nennst deine Maschine tatsächlich Winni?«
»Und du hattest ernsthaft Sorge, ich könnte eine Freundin haben?«
»Sorge ist vielleicht nicht das treffende Wort.«
Pingpong, wohltuend und unbeschwert. Cora war erleichtert. »Und wenn, dann höchstens um die Freundin!«
Christian nickte. »Du bist also wieder die Alte.«
Sie beugte sich vor und verschränkte die Arme auf dem Tisch. »Wirklich, Christian, mir geht es gut. Dass Peter beruflich nach England geht, stand ja schon vorher im Raum, von daher«, sie breitete die Arme aus, »weshalb sollte ich nicht wieder die Alte sein?«
Und da war er. Der Geschmack von Pfefferminze. Angst und ein Ziehen an der Narbe, die sich längs über ihren Rücken hinstreckte.
Eine Woche später, Cora saß gerade mit einem Kaffee auf ihrer Dachterrasse und plauderte mit ihrer Nachbarin, die sich über ihre Tomatenpflanzen freute und das nächste Treffen der Dachterrassen-Nachbarn ankündigte, rief ein Kollege von der Wasserwacht an. Ingo Bechert. Ein großer Mann mit kurzem Hals. Er wirkte im Oberkörper immer etwas steif, spielte aber erstaunlich gut Basketball, sodass er und Cora immer auf verschiedene Teams verteilt wurden.
Cora hörte zu, dann fragte sie, ob Christian auch informiert sei, und versprach, sich zu beeilen. Sie sagte das immer, obgleich die Toten es ja nicht eilig hatten.
Als sie rüber zum Yachthafen radelte, wurde ihr schlagartig bewusst: Es ging wieder los. Der Ermittlungsalltag hatte sie ab sofort wieder, ohne Wenn und Aber. Nun gab es kein Zurück.
Ingo Bechert erwartete sie auf dem Barracuda am Anleger. Erneut hörte Cora ihren Kollegen, bevor sie ihn sah, als er mit seiner »Winni« auf den Hafen zusteuerte.
»Junge, Junge«, sagte Ingo lachend. »Der Fischl hat ’ne Harley?«
Cora sah erstaunt zur Seite. Dass das Motorrad so neu war, hatte sie nicht gewusst.
»Steht ihm, oder? Bringt seine langen Haare so gut zur Geltung.« Ingo hielt Cora die Hand entgegen. »Schön, Merlin, dass du wieder da bist!«
Christian kam zu ihnen herüber und nickte Ingo zu. »Was haben wir? Morgen, Cora.«
»Eine Segelyacht.« Ingo half Cora an Bord des Bugklappenbootes und wartete, bis auch Christian einen sicheren Platz hatte, dann startete er. »Die Yacht fiel einem anderen Boot auf, und man hat uns verständigt. Sie war führerlos, als wir ankamen. Wir sind dann an Bord.«
»Aha. Und wir sind hier, weil …?«, fragte Christian. Seine Hand griff ein wenig fester um die Reling. Auch Cora war schwummrig. Die Fahrt war doch schneller als erwartet. Ihr lag das Schaukeln auf dem Wasser nicht besonders, lieber dümpelte sie auf einem Segelboot ohne Wind dahin.
»Blut. Nicht gerade wenig.«
»Wieso lasst ihr die Yacht nicht reinschleppen?«, erkundigte sich Christian.
Bechert sah ihn verständnislos an. »Taucher? Vor Ort? Wir wissen doch nicht, was da passiert ist. Es könnte ein Tatort sein, wir müssen den Standort sichern, berechnen, woher –«
Christian hob die Hand. »Reicht schon. Hab nicht nachgedacht.«
Der Seewind blies Cora ins Gesicht. In der Ferne erkannte sie eine Segelyacht und ein weiteres Boot der Wasserwacht. Blau-orange leuchtete es auf dem stillen See, der »Seewolf«. Das Motorrettungsboot war um einiges größer und verfügte auch über eine geschlossene Kabine. Auch bei Sturm war der »Seewolf« einsatzbereit, doch jetzt ruhte er einfach nur neben der Segelyacht, auf der die Blutspuren gefunden worden waren.
Vielleicht nur ein Unfall, vielleicht hatten die Gäste auf der Yacht zu viel getrunken und waren über Bord gegangen. Das passierte nicht so selten am Bodensee. Viele unterschätzten auch die Wetterwechsel und ignorierten die Blitzfeuer der dreiundvierzig Sturmwarner, die rund um den Bodensee so aufgestellt waren, dass von überall auf dem Wasser einer gesehen werden konnte. Dennoch musste die Wasserwacht regelmäßig Boote aus Seenot retten. Die Menschen waren leider oft unbelehrbar und nach ihrer Rettung nicht einmal dankbar, wie Ingo ihr einmal erzählt hatte.
Cora und Christian stiegen mit Ingo auf die Yacht, die »Rosalinde« hieß. Sie war sehr groß und auf den ersten Blick hochwertig ausgestattet. Die Badeplattform war aus Teakholz, auch die Armaturen sahen nach Echtholz aus. Überall glänzte es. Die »Rosalinde« bot sicherlich Platz für acht Personen.
Zwei Frauen von der Spurensicherung waren ebenfalls vor Ort. Noch waren Taucher im Einsatz und untersuchten die Umgebung der Yacht, und ein Mann war dabei zu berechnen, wohin Personen durch die Strömung getrieben wurden, wenn sie innerhalb der letzten Stunden über Bord gegangen waren.
Neben einem Tisch standen Gläser auf einem Tablett am Boden sowie ein Sektkühler. Cora zog sich einen Handschuh über und fingerte die Flasche heraus.
»Dom Pérignon«, kommentierte Christian. »Kein billiger Champagner.«
»Definitiv nicht. Eher von der teuren Sorte.« Cora stellte die Flasche zurück. »Die Magnum-Ausgabe und drei Gläser«, sagte sie. »Gibt es irgendwelche Meldungen?«
Ingo schüttelte den Kopf. »Gestern war normale Wetterlage. Wir haben auch niemanden aus dem Wasser gefischt.« Er ließ seinen Blick über den spiegelglatten See schweifen. »Noch nicht. Aber wenn Alkohol im Spiel ist, dann braucht es keinen hohen Wellengang.«
»Drei Menschen waren also hier und sind jetzt spurlos …« Cora hielt inne. Spurlos stimmte ja nicht. Sie stand jetzt unmittelbar vor der Blutlache. Und dann sah sie noch etwas anderes und zuckte zurück. Vor ihren Augen flimmerte es, und ein Schwindel erfasste sie.
»Cora, was ist los?« Christian machte zwei schnelle Schritte zu ihr und fasste nach ihrem Arm.
Jetzt wehrte sich erst recht alles in ihr, sie hasste Fürsorglichkeit, vor allem vor anderen und im Dienst. »Alles okay«, sagte sie schnell. »Das kam nur …« Ihr Blick hing wie gebannt an der Blutlache.
»Das hab ich wohl vergessen zu erwähnen«, sagte Ingo.
»Teufel noch mal.« Christian ging noch einen Schritt näher und beugte sich sogar nach vorne, ganz so, als könne er nicht glauben, was sie da sahen. »Das hättest du wirklich erwähnen können, Ingo!«
Vor ihnen lag eine Hand.
Er rannte über den Schulhof, betrat die Schule und warf seinen Ranzen neben sein Pult. Er war zu spät. Alle sahen ihn an, und die Blicke brannten auf seinen ohnehin glühenden Wangen.
In der Pause schlenderte er betont gleichgültig auf den Hof, einen Apfel in der Hand, und schielte rüber zu den Kastanienbäumen. Darunter hatte sich eine Gruppe versammelt, in deren Mitte ein Junge die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Er trug eine Schirmmütze und deutete gerade mit den Armen etwas sehr Großes an.
Er wusste, wovon der Junge dort sprach. Er hörte das »Oh« und »Ah« und »Ach komm, so groß gibt es gar nicht«. Doch, doch, doch. So groß gab es schon.
»Jetzt schmoll nicht.« Überrascht sah er zur Seite. »Der gibt nur an. Und die Idioten glauben ihm.« Sie lächelte. Und war bildschön.
Verlegen schob er seine Daumen in die Hosentaschen. Das machten doch alle, wenn sie cool aussehen wollten. »Meinst du?«
»Klar will der nur angeben. In Mathe hatte er vorhin eine Fünf.«
Er war selbst auch keine Leuchte in Mathematik, aber eine Fünf hatte er noch nicht nach Hause gebracht. Sie hatte strahlend blaue Augen, und ihre Haare rochen nach Aprikosen.
»Hey, Blondi, red nicht mit dem«, schallte es von der Gruppe herüber.
Ihr Blick blieb bei ihm für einen weiteren, wunderbaren Moment. Er spürte die Erwartungen wie Pfeile in seinem Rücken. Für einen Augenblick genoss er diesen kleinen Triumph. Sekunden später rollte sie die Augen und wandte sich den anderen zu. »Ich habe einen Namen, ihr Affen!« Dann drehte sie sich um und lief zu den Fahrrädern.
Sie war nicht nur wunderschön in seinen Augen, sie war auch noch mutig. »Die hat Courage«, würde seine Oma dazu sagen und: »Solche Mädels braucht man. Weil, wenn dann die guten Männer wieder wegbleiben, dann braucht es mutige Mädels.«
»Die guten Männer« meinte immer solche wie ihren Mann, seinen Großvater. Wenn Menschen im Krieg blieben und einfach verschwanden in dem Chaos, bestand das Problem nicht nur darin, dass man Abschied nehmen musste. Das weitaus größere Problem war, dass man irgendwie auch diese verdammte Hoffnung loswerden musste, denn die ließ Menschen wie seine Großmutter einfach nicht weitermachen. Mit dem Leben und der Gegenwart und der Zukunft.
Scheiß Hoffnung, dachte er. Der Großvater war längst tot. Irgendwann würde das die Zeit regeln und die Vernunft, denn irgendwann wäre der Großvater so lange weg, dass er seinen hundertsten Geburtstag feiern würde, also theoretisch, und dann würde die Großmutter wohl oder übel einsehen müssen, dass er, sollte er den Krieg überhaupt überlebt haben, jetzt aber das Zeitliche gesegnet haben musste.
»Lauf, Häschen, lauf!«
Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Gruppe sich auf den Weg in seine Richtung gemacht hatte. Er hörte ihre Schritte über den Kies, hörte die Rufe, die ihm galten und die gefolgt wurden von einer Salve an Sprüchen, genuschelt zwar, damit nur der eingeweihte Kreis sie verstand, gleichwohl laut genug für ihn, dass er ein Weichei sei, dass er heulte, wenn er vom Fahrrad fiel oder den Fußball falsch traf, dass er nie ein Mädchen abbekommen würde, aber wahrscheinlich eh lieber auf Jungs liegen wollte. Er hatte sie alle schon einmal gehört. Irgendwann mussten die es doch leid sein, auf ihm rumzuhacken. Scheiß Hoffnung!
Als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, zog Cora ihren Partner zur Seite. »Das geht so nicht, Christian.«
»Was meinst du?«
»Du kannst mich nicht wie ein rohes Ei behandeln. Erst recht nicht vor Kollegen. Eigentlich bin ich die Chefin. Ich will keine Rührseligkeiten im Dienst, verstanden?«
Christians Augenbrauen zuckten leicht nach oben, dann nickte er und wandte sich zur Seite. »Was denkst du, ist dort draußen passiert? Ein Überfall? Weshalb auf hoher See, und wo sind die Opfer?«
Cora folgte seinem Blick, zwei kleinere Segelboote trieben durch ihre Aussicht. »Wenn es ein Überfall war, dann muss der ja nicht auf hoher See stattgefunden haben.«
»Stimmt. Die Yacht kann abgetrieben sein. Vielleicht hatte sie auch irgendwo angelegt.« Christian ließ seine Kieferknochen knacken. »Wir sollten die offiziellen Anlegestellen anfragen und natürlich auch in den Nachbarländern.« Er kratzte sich an der Stirn. »Eine Hand im Blut, wer macht denn so etwas?«
Eine Hand im Blut, dachte Cora, klingt wie eine Verszeile. Irgendeine Erinnerung huschte vorbei, aber sie konnte sie nicht greifen.
Sie warteten noch eine Weile, bis die Taucher wieder aus dem Wasser kamen. Anschließend wurde die Yacht an Land geschleppt, und die Leute der Spurensicherung setzten ihre bereits begonnenen Arbeiten umfangreich fort. Erste Schaulustige hatten sich rund um den Hafen am rot-weiß flatternden Absperrband versammelt, einige wenige standen auch bei dem Motorrad von Christian, andere beobachteten die Arbeit der Polizei. Ein Mann sah direkt zu ihr herüber.
Cora wusste, dass das Verbrechen die Menschen reizte, dass das nicht böse gemeint war, dass Schaulust auch viel mit der Erleichterung zu tun hatte, nicht selbst zum Opfer geworden zu sein. Verbrechen erfüllten eine Statistik – je öfter man eines sah, desto geringer die Gefahr für das eigene Leben.
Cora spürte wieder die Narbe auf ihrem Rücken. Seltsam, dass jene in ihrer Armbeuge scheinbar blind war. Cora fühlte in sich hinein, suchte nach der Einstichstelle, nach dem Loch in ihrem Körper, durch das ihr Blut gesickert war. Sie suchte, und sie fand nichts. Es schauderte sie, dass es da eine Leerstelle gab. Eine Narbe war besser kontrollierbar.
Matthias kam zu ihnen, das Telefon noch am Ohr: »Die ›Rosalinde‹ gehört einem Werner van Geldern … Was? Ja, wär nicht schlecht.« Er kickte einen Stein quer über den Steg und verfolgte, wie er über den Rand fiel und mit einem leisen Platschen im See landete, dann hörte er wieder zu und wiederholte: »Werner van Geldern, Unternehmer. Platz im Lindauer Yachthafen Bad Schachen, klar, Villa am See in Wasserburg, eh klar. Kenn ich sogar. Noch was? Eine Frau, zwei Kinder, Töchter. Gut, geb ich weiter.«
Matthias steckte sein Smartphone in die Tasche und stemmte die Hände in die Hüften. »Ihr habt es gehört. Wollt ihr zu der noblen Familie?«
Cora runzelte die Stirn. »Was ist denn los mit dir, Matthias? So kenn ich dich gar nicht.«
Er winkte ab. »Nichts, Segelyacht, Villa, ach, nichts weiter, triggert mich einfach.«
»Dann lass das, okay?«
Matthias schmollte, nickte aber. »Also, was habt ihr?«
»Schampus, drei Gläser und eine Hand«, entgegnete Christian ohne Umschweife.
Matthias öffnete den Mund, zögerte dann aber. »Eine Hand?« Seine Stirn lag in tiefen Falten, seine Augen waren zusammengekniffen. »Ihr habt eine Hand gefunden? Das ist –«
»Befremdlich, in der Tat. Auch blutig.« Christian nahm seine Brille ab und putzte die Gläser mit seinem Hemdärmel. Bemüht beiläufig musterte er seine Partnerin, deren Blick weiterhin die beiden kleinen Segelboote auf dem Wasser verfolgte.
»Es sah aus wie ein Gemälde«, sagte sie.
Matthias rieb sich die Stirn. »Himmel, es wär jetzt auch eine Nummer kleiner gegangen, einfach was mit Eifersucht oder wegen Geld. Aber so«, er atmete laut aus, »so sieht das ja nach Mafia aus, oder?«
»Na ja, wollen wir mal die Katze im Dorf lassen«, sagte Christian.
»Die Kirche«, verbesserte Cora und lächelte verlegen. »Es heißt die Kirche.«
»Katze oder Kirche, egal. Wir müssen nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen.«
»Es war wie ein Gemälde. So drapiert«, sagte Cora wieder und kramte weiter in ihrer Erinnerung.
Eine Hand im Blut, sich krümmende Finger, nach Halt, sie suchen nach Halt, bevor sie …
»Die Füße im Feuer«, sagte sie da plötzlich, und ihre beiden Kollegen sahen sie verständnislos an. »Das ist eine Verszeile aus dem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer.«
»Aha, und weiter?«, fragte Matthias.
Cora kaute auf ihrer Unterlippe. Ein Stück Haut hatte sich gelöst. »Da geht es um den Mord an einer Frau. Jahre später kehrt der Mörder auf denselben Gutshof zurück und weiß es nicht mehr, auch nicht, dass er dem Ehemann des Opfers gegenübersitzt.«
»Das klingt nach einem ziemlich düsteren Gedicht«, sagte Matthias. »Was hat es mit uns zu tun?«
Christian fingerte ein Streichholz aus seiner Hosentasche und ließ es durch seine Finger wandern, wo bis vor einigen Wochen jetzt gewiss eine Zigarette gelegen hätte. »Geht es denn auch um Hände?«
»Nein, das nicht.« Coras Assoziationen waren bisweilen schwer zu erklären. Der Geruch von Fisch und modrigem Holz breitete sich vor ihr aus. »Es geht wirklich um Füße«, sagte sie. »Im Feuer. Um die Füße einer Frau.«
Christian verlor das Streichholz und wollte es aufheben, doch Matthias war schneller und stellte den Fuß darauf.
»Lass es«, sagte er.
»›Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut‹«, zitierte Cora und legte die Arme um ihren Körper.
»Es gibt wahrscheinlich keine richtige Art, schlechte Nachrichten zu überbringen, nicht wahr? Und die bringen Sie doch, oder?« Anneliese van Geldern trug einen Hosenanzug in zartem Apricot und hatte die Haare in großen Wellen auf der Schulter drapiert. Sie war gut geschminkt und groß gewachsen und bewegte sich in ihrem Wohnzimmer mit leichter Eleganz. Eine Angestellte brachte ihnen Kaffee, und sie nahmen auf dem großen Ledersofa Platz. Cora fühlte sich umgehend an ein anderes Haus erinnert, auch dort war sie mit schlechten Nachrichten gekommen – obwohl, eigentlich war sie Teil der Nachricht gewesen. Wie immer weckten allzu perfekte Räume eine gewisse Unruhe in ihr, als läge in jedem Wunsch nach Perfektion auch das Bedürfnis, etwas zu verbergen.
»Da haben Sie recht«, sagte Cora und nahm den Kaffee dankend an. Er duftete nach einer Note von Schokolade, und obwohl er ihr schmeckte, spürte sie ein Stechen in der Magengegend.
»Also, mein Mann, Sie fragten mich, aber ich weiß nicht, mit wem er unterwegs war.«
»Haben Sie ihn denn nicht vermisst?«, fragte Christian.
Sie lächelte. »Er ist oft lang im Büro, dann sehen wir uns weder nachts noch am nächsten Morgen. Manchmal schläft er auch im Büro. So ist das nun einmal, wenn man … Ach, das spielt auch keine Rolle. Nein, ich habe ihn nicht vermisst. Was ist denn eigentlich passiert?«
»Das wissen wir nicht. Die Yacht trieb auf dem See.«
Frau van Geldern stutzte. »Vielleicht ist sie einfach abgetrieben. Weshalb kommt dann die Kriminalpolizei zu mir?«
Cora stellte die Kaffeetasse zurück auf den Tisch. »Nun, Frau van Geldern, es ist leider so, dass wir Anhaltspunkte für ein Verbrechen haben.«
»Die da wären?«
»Eine beträchtliche Menge an Blut«, begann Cora und wartete einen Moment.
»Oh.« Die Lippen von Frau van Geldern bebten, als würde sie plötzlich frieren. »Das ist etwas anderes, in der Tat.«
»Das ist noch nicht alles.« Cora schluckte. Wieder drängten sich zuckende Füße im Feuer vor ihr inneres Auge. »Wir haben auch eine Hand gefunden.«
Selten passte der Ausdruck, dass jemandem die Farbe aus dem Gesicht wich, besser als in diesem Moment. Plötzlich wirkte der apricotfarbene Hosenanzug geradezu grell. Anneliese van Geldern schniefte kurz, dann musste sie husten. »Wie …« fragte sie nur.
»Wir wissen noch nichts, aber es wäre wichtig, dass wir so viel wie möglich über Ihren Mann erfahren. Hat er Feinde, gab es Drohungen in der letzten Zeit, könnte es sich um eine Entführung handeln?«
»Wir benötigen außerdem etwas für einen DNA-Abgleich.« Christian holte eine Tüte aus seiner Jackentasche und hielt sie Frau van Geldern entgegen. »Eine Zahnbürste oder die Haarbürste reichen.«
Frau van Geldern sah zwischen Cora und Christian hin und her. »Wollen Sie mir damit sagen, dass mein Mann ohne seine Hand irgendwo da draußen gefangen gehalten wird, während wir hier Kaffee trinken?«
Sie wirkte nicht aufgebracht, es war vielmehr eine Feststellung, als versuche sie, eine mathematische Gleichung logisch zu erfassen. Cora kannte das von anderen Situationen, in denen sie schlechte Nachrichten überbracht hatte. Die Menschen reagierten sehr unterschiedlich, bei manchen brachen sich die Gefühle sofort Bahn, bei manchen dauerte es eine Weile, manche wurden pragmatisch, analytisch gar, andere hysterisch. Nichts durfte in dieser ersten Phase überbewertet werden, und doch neigte man zwangsläufig dazu, hier schon erste Verdachtsmomente zu entwickeln. Angehörige, die emotional reagierten, wirkten einfach glaubwürdiger. Immerhin ist sie kreidebleich, dachte Cora.
»Wir wissen wie gesagt nicht, worum es geht. Alles andere wäre reine Mutmaßung. Wir müssen uns daher erst einmal ein Bild von den mutmaßlichen Opfern machen.«
»Opfern?«
»Wir haben Grund zu der Annahme –«, begann Christian, wurde aber jäh unterbrochen.
»Reden Sie nicht so geschwollen und kommen Sie einfach zur Sache. Ich bin einiges gewohnt, was meinen Mann angeht«, sagte Frau van Geldern barsch.
»Gut, Frau van Geldern, wie Sie wünschen. Auf der Yacht waren vermutlich drei Personen. Es wurde Champagner getrunken. Mehr wissen wir nicht.«
»Verstehe. Gut, wo fange ich an? Mein Mann hatte leider mehr Feinde als Freunde, vielleicht ist das der richtige Anfang.«
Zwanzig Minuten später saßen Cora und Christian wieder im Auto. Ein Team würde sich bei der Familie einquartieren und die Telefone überwachen, für den Fall, dass es sich um eine Entführung handelte und die Entführer sich meldeten, während Cora und Christian zurück zur Dienststelle fuhren, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Sie hatten in der letzten halben Stunde eine Menge erfahren und schnell begriffen, dass Frau van Geldern recht hatte. Es gab definitiv sympathischere Menschen. Auf dem Weg scrollte Cora auf ihrem iPad durch die Einträge zu Werner van Geldern. Vieles verknüpfte sich nahtlos mit den Erzählungen seiner Frau. Ein Geschäftsmann durch und durch, ein Erfolgsgarant, gefeierter Unternehmer, immer lächelnd und von dem Duft nach teurem Parfüm umgeben.
Werner van Geldern war der Chef einer großen Firma, die technisches Zubehör in der Maschinenbaubranche und Waffen exportierte. Er kooperierte auf der ganzen Welt, flog regelmäßig nach Asien, nach Dubai und nach Chicago und pflegte auch in Deutschland Kontakte in angesehene Kreise. Frau van Geldern machte keinen Hehl daraus, dass man ihren Namen auch in den Ministerien kannte; ob sie ihren Mann deswegen bewunderte oder verabscheute, behielt sie indessen für sich. Sie war eine Meisterin des Pokerface, lediglich die Erwähnung der Hand hatte ihr kurz den Schrecken ins Gesicht gezeichnet.
Es gab für Cora und Christian eine Menge Arbeit. Die Töchter müssten sie noch befragen, aber vor allem die engsten Mitarbeiter in der Firma und Geschäftspartner sowie Konkurrenten, mit denen van Geldern in letzter Zeit zu tun gehabt hatte. Cora jedoch hegte den Verdacht, dass es eine Weile dauern würde, bis sich dieser schlechte erste Eindruck beheben ließe. Vielleicht war er ja ein guter Vater?
Christian tippte auf den Touchscreen des neuen Dienstwagens. »Himmel, wie geht das gleich wieder?«
»Was machst du denn?«, fragte Cora.
»Ich will einfach nur mein Handy koppeln. Ich brauch jetzt Musik. Was Gutes für die Ohren.« Endlich erklang Musik, eine bekannte Tonfolge, und Cora musste lächeln.
»Immer noch Johnny Cash?«, fragte sie.
»Immer wieder. Dir gefällt er doch inzwischen auch, gib’s endlich zu.« Christian fuhr auf die Straße und sah noch einmal in den Rückspiegel. »Schon ungerecht, dass manche Menschen alles und manche Menschen gar nichts haben.«
Cora warf einen flüchtigen Blick auf ihren Partner, beschloss aber, nicht auf dieses Gespräch einzusteigen. Sie wusste, dass es nicht um Sozialneid ging, auch bei Matthias war es nicht darum gegangen. Es war die wiederkehrende Auseinandersetzung mit der Frage, was Gerechtigkeit für sie alle bedeutete. Sie sollten bei nächster Gelegenheit sprechen, in Ruhe, bei einem Wein, allein um sich gegenseitig zu versichern, dass sie wussten, wofür sich der tägliche Einsatz lohnte. Jetzt sollte sie schweigen und –
»Nervt dich das nicht? Wahrscheinlich hatte er zwei Geliebte auf seiner Yacht. Das sind so Typen, die denken, sie können sich alles –«
»Herrje, Christian. Wir wissen doch noch gar nichts.«
»Nein, du hast ja recht. Ich wollte auch nicht in diese allzu offensichtliche Kerbe hauen. Ich meinte das eher allgemein. Aber es war sicher gut, dass Matthias das nicht gehört hat, das hätte seine Antipathien ins Unermessliche gesteigert.« Christian schob sich ein Zitronenbonbon in den Mund. »Auch eins?«
Cora schüttelte vehement den Kopf. »Kann ich nicht mehr riechen, seit –«
»Oh, das, äh, ich kann es auch wegschmeißen.«
»Quatsch. Nur weil er ein Karrierist ist, heißt das nicht, dass sie keine glückliche Ehe führen.«
Christian lachte schrill auf. »Ach, Cora, das ist doch Blödsinn. Ihr Mann verschwindet, und sie lässt kein gutes Haar an ihm. Vielleicht ist sie froh, dass er weg ist. Ich könnte sie verstehen. Der Typ muss wirklich aalglatt und berechnend sein.«
»Wir haben die Töchter noch nicht gehört. Vielleicht ist er ja ein guter Vater.«
Christian schielte sie über den Rand seiner Brille an, den Rhythmus von »Hurt« auf dem Lenkrad mitklopfend. »Nicht, dass ich mich nicht gern überraschen lasse, aber in diesem Fall halte ich das für ausgeschlossen.«
Über die Höhenstraße fuhren sie zurück nach Lindau. Das Zitronenaroma von Christians Bonbon wurde immer intensiver in dem Auto, dessen fortschrittliche Klimaanlage das Öffnen der Fenster überflüssig machte. Die Zitrone überdeckte sogar den typischen Geruch des Neuwagens. Mit dem Zitronenaroma kamen alte Bilder und hüllten sie ein in eine weiße Welt aus Schnee und Kälte. Cora spürte die Gänsehaut über ihre Arme kriechen.
Eine Ampel bremste ihre Fahrt. Christian trommelte noch immer auf dem Lenkrad. Coras Blick heftete sich auf das leuchtende Rot der Ampel, ohne dass sie etwas dagegensetzen konnte. Schon formten sich rote Tropfen in dem Licht. Sie hingen fest, zogen sich in die Länge, lösten sich mit Verzögerung und fielen dann in Superzeitlupe zu Boden, von wo sie abprallten und wieder wie ein Jo-Jo nach oben sprangen. Viele kleine rote Flummis, und in das Bild mischte sich ein Geruch nach Verwesung. Inständig hoffte Cora auf das freundlichere Gelb und schließlich das erlösende Grün. Nichts.
»Cora?« Christian schnippte mit der Hand vor ihrem Gesicht. »Alles in Ordnung?«
»Ja. Aber könntest du vielleicht doch das Bonbon wegschmeißen?« Cora ließ die Scheibe herunter. »Entschuldige«, murmelte sie. »Es ist –«
»Klar.« Auch Christian öffnete das Fenster und warf das Bonbon hinaus. Endlich sprang die Ampel auf Gelb und auf Grün. Beim Losfahren wirbelte Wind durch das Auto und durch Coras Gedanken und wehte doch nicht weg, was sie so gern losgeworden wäre.
Draußen flogen die Geräusche vorbei, der Zug tönte blechern, jemand hupte ungeduldig. Wie die Welt beharrlich blieb, wie die Zeit beharrlich blieb, es war zum Aus-der-Haut-Fahren.
»Riecht schon ganz schön nach Hund hier«, sagte Cora.
»Findest du?«
»Riechst du das nicht mehr?«
Christian tippte an den Tannenbaum, der am Spiegel baumelte. »Tannenduft. Das rieche ich. Johnny nur, wenn es geregnet hat.«
Cora musste lächeln. Trotz allem.
Die kleine grüne Tanne pendelte im Takt der Musik weiter, und Cora dachte nicht zum ersten Mal, dass die Stimme von Cash auf eigentümliche Weise zu ihr und dem See passte – alles zusammen ergab eine herbe Note, als würde man Salzgebäck in Schokolade tunken.
Das Erste, was er sah, war ein Lichtstrahl, der durch die Fensterläden fiel. Er roch morsches Holz und kalte Asche, Möbel, die nach vielen Jahren in schlecht gelüfteten Räumen einen Geruch von Verderben annahmen. War er in einem Keller? Ein fahler Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Er wollte sich über die Augen reiben, da registrierte er, dass seine Hände gefesselt waren. Er zog daran und spürte einen heftig brennenden Schmerz in den Armen.
»Hallo?«, rief er und drehte sich auf die Seite. Die Fesseln an seinen Handgelenken schnitten ihm in die Haut. Er folgte der Kette und sah, dass sie an einem Rohr an der Wand arretiert war. Es war düster und stickig in dem Raum. Wohin hatte man ihn gebracht? Wann?
Die Ungewissheit ragte aus der Dunkelheit hervor wie eine giftige Wasserfontäne und traf ihn mit voller Wucht. Immer wieder stieg sie auf und ergoss sich über ihn, um ihn wellenartig in Panik zu versetzen. Kam und ging, kam und ging, und er kämpfte dagegen an.
Wo war er? Seit wann? Und vor allem: weshalb? Was hatten sie mit ihm vor?
Etwas weiter entfernt sah er einen Körper liegen, dahinter einen weiteren. Er erkannte sie nur schemenhaft. Waren sie auch noch am Leben? Sein Kopf dröhnte.
Er versuchte, sich näher zur Wand zu bewegen, um die Spannung zu verringern und den Schmerz an seinen Handgelenken zu lindern. Erst jetzt bemerkte er, dass auch seine Füße aneinandergefesselt waren. Mit Kabelbindern. Er wusste, dass es daraus kein Entkommen gab. Er wusste das sehr genau.
Mühsam zog er sich an dem Rohr nach oben und richtete sich auf, um sich an die Wand lehnen zu können.
»Hallo«, rief er, »könnt ihr mich hören?« Er wartete und beobachtete die anderen beiden Körper. »Hallo?«
Sein Hals war trocken, und er hustete, dabei hatte er das Gefühl, sein Kopf platze auseinander. Hatte man ihm Drogen verabreicht? Ein Schwall Magensäure kratzte seine Speiseröhre nach oben, heftig schluckte er dagegen an, auch gegen die Übelkeit, die folgte. Erinnerungen schwappten hoch an eine Fischvergiftung, an dieses Gefühl, alles drehe sich von innen nach außen.
Die Fesseln. Er sollte versuchen, die Fesseln loszuwerden.
Endlich hörte er etwas. War es ein Atemzug? Lebte noch jemand? Er lauschte, kniff die Augen zusammen und versuchte, eine Bewegung zu entdecken. Nichts. Kein Körper hob und senkte sich, kein Geräusch war zu hören. Diese unheimliche Stille. Die Stille nach einem Schuss. Er wusste, dass in diesen Momenten die Zeit gefror. Andere glaubten das nicht, aber er hatte das gespürt. Schon nach seinem allerersten Schuss hatte er gespürt, dass er sensibel dafür war, für diesen Moment, in dem sich alles dem Tod unterordnete, einem Tod, den er geschenkt hatte. Es war ein wichtiger Moment, einer, den es auszukosten galt, denn er war endlich. Er genoss nur im Erleben selbst einen Hauch Unendlichkeit, als wäre man Teil davon, als würde man eine Tür für einen Moment öffnen und dahinter blicken, als würde man … sterben.
Seine Gedanken rasten und stolperten und sprangen wieder auf und rannten, als ginge es um ihr Leben. Wie war das mit dieser Stille? War das nicht jedes Mal eine unglaubliche Verlängerung des Lebens in den Tod hinein? Sein Atem beschleunigte sich, dass sein Herzschlag kaum folgen konnte. Weshalb führten seine Gedanken ihn zu einem solch absurden Thema, weshalb war er hier?
Tod. Ein Tod war immer etwas Exklusives, jeder hatte seinen eigenen. Wartete hier der seine?
In Coras Büro warteten bereits Matthias und Thomas. Sie hatten sich beide einen Schokoriegel aus dem Automaten und einen Kaffee aus Coras Maschine geholt. Das Licht blinkte noch, darüber hing ein berühmt-berüchtigtes Gemälde: »Das Frühstück im Grünen« von Édouard Manet. Cora überlief jedes Mal ein Schauer, wenn sie das Bild sah, weil sich noch immer ein Geheimnis damit verband. Für eine Weile hatte sie sogar geglaubt, ein Original zu besitzen. Ela hatte sie augenzwinkernd in dem Glauben gelassen, doch dann hatte Cora herausgefunden, dass das Original sehr viel größer war. In Gedanken notierte sie sich zum wiederholten Mal, dass sie Ela anrufen sollte. Irgendetwas hielt sie seit Wochen davon ab.
»Und? Was habt ihr herausgefunden?«, fragte Cora und blätterte durch die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Matthias und Thomas setzten sich auf das Sofa, Christian ließ sich in den Sessel fallen und scrollte durch seine Nachrichten.
»Er wurde nicht sympathischer«, begann Matthias ungerührt.
»Wir haben seinen Stellplatz aufgesucht, dort ist er gestern Nachmittag für einen Ausflug gestartet. In Begleitung übrigens«, erzählte Thomas. Er warf Matthias einen warnenden Blick zu.
»Was ist los?«, fragte Cora.
»Matthias ist ein wenig auf Krawall gebürstet«, erklärte Thomas. »Nicht sein Tag heute. Also, zwei Männer hatte er dabei. Im Yachthafen hatten sie den Eindruck, dass es ein freundschaftliches Treffen war.«
»Okay, aber wir haben keine Vermissten, oder?«
»Wahrscheinlich alles solche Schnösel, die niemand vermisst«, erwiderte Matthias.
Cora sah zu Christian. Der hob eine Augenbraue, und Cora konnte seine Worte förmlich lesen: Was hab ich dir gesagt? Gut, dass Matthias nicht bei der Ehefrau war, dachte jetzt auch Cora und räusperte sich. »Matthias, könntest du dich bitte zusammenreißen? So können wir nicht ermitteln. Was ist denn los mit dir?«
Matthias hob abwehrend die Hand und versenkte seinen Blick in dem Schokoriegel vor sich. Er sah aus wie ein trotziges Kind. Cora beschloss, ihn später zur Rede zu stellen. An Thomas gewandt fuhr sie fort: »Wir machen also eine länderübergreifende Abfrage nach Vermisstenmeldungen seit gestern, in Ordnung? Außerdem könnten wir uns beim Wetteramt erkundigen, wie weit die Yacht … Konnte der Zeuge sich denn erinnern, wohin Geldern mit seinen Freunden wollte? Vielleicht gab es ja einen Zielort?«
Thomas schüttelte den Kopf. »Er hat sich nicht weiter darum gekümmert. Geldern sei immer höflich im Yachtclub, aber auch sehr unverbindlich. Man erkundige sich nicht, wohin jemand unterwegs sei, jeder mache eben sein eigenes Programm.«
»Es gab da noch einen Hinweis auf eine Frau, die öfter mit an Bord ging«, Thomas blätterte in seinem Notizbuch, »aber ob sie gestern dabei war, wusste niemand.«
»Na bitte«, sagte Christian. »Eine Frau.«
Matthias lachte auf.
»Was heißt hier ›Na bitte‹?« Cora stemmte die Hände in die Hüften. Sie war langsam genervt von ihren Kollegen.
»Easy, Cora, so war das nicht gemeint. Nur wegen des Champagners, vielleicht war es ein Ausflug ganz anderer Art. Nur das meinte ich.«
»›Easy‹? Ernsthaft, Christian? Ich bin weder eine Jugendliche noch ein Pferd!«
Christian lachte schallend los. »Oh Mann, verbring du mal einen Nachmittag mit meiner großen Tochter, da ist alles nur noch safe und cringe und easy.«
Einen Moment herrschte Schweigen. Der Satz hing in der Luft wie eine Schlechtwetterwolke. Alle schienen zu warten, ob sie sich entladen würde.
»Ich …«, begann Christian, während Matthias geräuschvoll die Verpackung seines Riegels zerknüllte.
Cora verdrehte die Augen, dann lachte sie. »Ich weiß, Christian, ich hatte ja auch schon das Vergnügen.« Sie hatte Christian mit seiner pubertierenden Tochter einmal in einem Café auf der Insel beim Eisessen getroffen und hatte eine lebhafte Erinnerung an deren Ausdrucksweise. »Das war schon nice.« Sie zwinkerte, und die Schlechtwetterwolke löste sich auf. Endlich setzte sie sich an ihren Schreibtisch und befand sich so auf Augenhöhe mit ihren Kollegen. »Wir suchen also noch nach Zeugen für den Aufbruch der ›Rosalinde‹ gestern Nachmittag«, stellte sie nüchtern fest.
»Nicht unbedingt«, wandte Thomas ein, der wie stets einen aufgeräumten Eindruck auf sie machte, dabei wusste sie, dass gerade er mit einer Reihe von Dämonen zu kämpfen hatte, die in einer dunklen Ecke seiner Seele lauerten. »Sie kann ja auch andernorts angelegt und Gäste aufgesammelt haben.« Er hielt inne und holte zweimal tief Luft, leise pfeifend strömte sie aus seinem Mund. »Vor allem, wenn es sich um eine Person handelt, die keine Geschäftsbeziehung zu den Männern pflegt.«
»Falls«, korrigierte Christian. »Falls es sich um eine Person handelt.«
»Klugscheißer«, beschwerte sich Matthias und holte aus seiner Tasche eine Packung Erdnüsse, die er aufriss, um sich gleich eine ordentliche Portion in den Mund zu schütten. Kauend sah er in entsetzte Gesichter.
»Das hast du jetzt nicht gemacht, oder?«, fragte Cora.
»Drgh.« Matthias beeilte sich mit dem Kauen und schluckte hörbar die Erdnussmasse. »Ich wollte keine fettigen Finger, ganz einfach.«
»Zurück zu den Anlegestellen. Und den möglichen Motiven für ein Champagnertreffen auf hoher See«, Cora sah jeden der Reihe nach an, »was fällt euch dazu ein?«
»Ungestörte Absprachen«, sagte Christian.
»Ausflug unter Freunden«, meinte Thomas.
»Feiern eines Geschäftsabschlusses.« Christian sah zu Matthias. »Und was meinst du?«
»Na, offenbar haben die drei dort etwas gemacht, was nicht allen gefiel. Wenn nicht gestern, dann doch zumindest in der Vergangenheit. Vielleicht gab es Streit? Vielleicht finden die Taucher doch noch Leichen oder Leichenteile.«
»Vielleicht sind die anderen auch schlicht die Täter«, sagte Christian.
Cora nickte. »Kommt tatsächlich alles in Frage. Wir sollten also schleunigst herausfinden, wer die anderen Männer waren, und den Weg der Yacht rekonstruieren.« Cora lief an ihr Flipchart, pinnte ein Foto von Werner van Geldern in die Mitte und schrieb seinen Namen daneben. »Ab sofort suchen wir also nach einem verschwundenen Unternehmer.«
»Zu dessen Andenken eine Hand mit einer Menge Blut hinterlassen wurde«, fügte Matthias mit einem sarkastischen Unterton hinzu.
Alle sahen ihn an.
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