Die dunkle Seite des Sees - Tina Schlegel - E-Book

Die dunkle Seite des Sees E-Book

Tina Schlegel

4,8

Beschreibung

Spaziergänger finden am Konstanzer Rheinufer einen Frauenkopf. Wenig später wird ein weiblicher Torso entdeckt – doch er stammt nicht von derselben Frau. Die Menschen in der Seeregion geraten in Panik: Treibt ein Serientäter sein Unwesen? Als wenig später die Freundin des ermittelnden Kommissars Sito verschwindet, nimmt der Fall eine noch bedrohlichere Dimension an. Ist Sito diesem Täter gewachsen?

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Tina Schlegel war Regieassistentin, Drehbuchautorin und Redakteurin, bevor sie als freiberufliche Journalistin für verschiedene Zeitungen und Magazine, darunter die »Süddeutsche Zeitung«, die »Münchner Abendzeitung«, die »Augsburger Allgemeine« sowie das »Münchner Feuilleton«, arbeitete.

www.tinaschlegel.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/Westend61/Holger Spiering Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Lothar Strüh eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-199-4 Bodensee Krimi Originalausgabe

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Wenn der Krähen schwarzer Flügelschlagden Blick durchbricht und von Alleinsein kündet;wenn Dämmerung den Flügeln folgtund Lasten längst begangener Mühenwie Rauch erloschener Feuer steigenin einen Himmel, der mehr unten ruhtals droben– hoch schwingt die Hoffnung sich und traumlos fällt hinab die Nacht.

Prolog

Ein letztes Mal, dachte er. Sie drehte den Kopf zur Seite. Das Muttermal unter ihrem linken Ohr lud ihn ein. Er küsste es. Eine Schweißperle lief an ihrem Hals hinab, tropfte auf das Kissen, versank. Da, eine zweite, er berührte die Haut mit seinen Lippen, zart. Wusste, nur noch dieses Mal würde er diesen Hals küssen, nur noch dieses Mal mit ihr sein. Der Tropfen in seinem Kissen würde bleiben.

Er würde noch ein letztes Mal mit ihr schlafen.

Dann musste er sie töten.

* * *

Der Regen trommelte auf die Windschutzscheibe. Die Frau stellte den Scheibenwischer auf die höchste Stufe, doch die Sicht blieb schlecht. Zwischen den Regenschlieren bogen sich schwarze Gerippe am Straßenrand. Sie fröstelte, dachte an die Sitzheizung, kam sich albern vor so mitten im Frühling. Auf dem Beifahrersitz quengelte ihre sechsjährige Tochter. Die Frau stöhnte und drückte mit der rechten Hand gegen ihre Schläfe, als wollte sie den Schmerz dort finden, greifen und herauszerren und am besten in diesen hässlichen Regen werfen. Sollte er dort ertrinken. Es war einfach zu viel Aufregung in der letzten Zeit, immer etwas, das einen nicht schlafen ließ. Gerade als sie mit der zweiten Hand wieder ans Lenkrad fassen wollte, kam der Wagen ins Schleudern. Die Vorderräder waren in einer großen Wasserpfütze gelandet und gruben sich gerade in den feuchten Straßenrand ein. Ihre eisigen Hände rissen das Steuer nach links, viel zu weit, die Hinterräder kamen nach vorne, trotzig überholten sie. Der Wagen drehte sich, und dann hörte sie nur noch Reifen, die schrecklich quietschten, sie dachte für einen Bruchteil an ihren Kopfschmerz, in den sich das Quietschen gebohrt hatte, aber es war nicht das Quietschen, es war die Scheibe neben ihrem Kopf.

Der Lkw hatte das Auto erfasst und den Wagen zusammengeschoben. Chancenlos war der Fahrer gewesen, im Innenraum seines Anhängers überschlug sich gerade die neue Küche einer jungen Familie. Es brannte. Als die Feuerwehrleute Mutter und Tochter bargen, waren beide tot. Der Lkw-Fahrer stammelte etwas von »Essen kochen« und »Kühlschrank« und musste mit einem Schock ins Krankenhaus.

* * *

Der Regen hörte auf, die Wolken verschwanden, nur mehr Sonne, die sich mit dem Rot des Feuerwehrwagens vermischte. Ein Blutrest auf der Straße, den der Regen nicht mehr wegwaschen konnte.

Es war Sommer geworden.

Teil 1: Geraden

Der Tod wird kommen

und deine Augen haben.

Cesare Pavese,»Der Tod wird kommen

Neuanfang

Ende April, Mitternacht

Ich bin aufgewacht. Mein Hemd ist schweißdurchtränkt. Musste mich übergeben. Und wenn ich die Augen schließe und endlich schlafen kann, fassen fremde Mächte nach mir. Habe gerade mit meinem Kopf Fußball gespielt; ihn einfach weggeschossen mit meinem Fuß. Mir schaudert über mich selbst. Alles dreht sich, mich würgt– Entsetzen, blanke Angst.

Hier bin ich. Hauptkommissar Paul Sito. Nichts weist über mich hinaus. Meine Haut ist wie eine Mauer. Nichts lässt sie nach draußen. Nichts lässt sie nach drinnen.

Hier stehe ich und sehe die Nacht. Die Zigarre in meiner Hand glimmt. Ihr Geräusch. Sonst nichts. Mein Hund Pollux, der Gute, liegt hinter mir. Tief in der Erde. Wir haben geredet, wie immer. Meine Worte in meinem Gefängnis, seine in seinem.

Jetzt gehe ich. Pollux bleibt. Ich werde wiederkommen.

Das Gesicht aber nehme ich wieder mit. Es ist immer da. Immer da. Immer. Sein Gesicht wird immer bei mir bleiben. Sein Gesicht im Augenblick des Sterbens. Seine Augen, als er ging und sie mir noch einmal schenkte. Sein letzter Gruß. Immer da. Immer.

Leben heißt fortan, dieses Gesicht zu sehen. Überall.

Leben heißt, ihn gekannt zu haben.

Es gibt kein Leben mehr ohne ihn. Immer wird er da sein. Immer da. Immer.

Die Zigarre, sie glimmt, macht Licht und schmeckt holzig.

Ich ahne die Asche an ihrem Ende.

Wenn ich jetzt einfach den Weg nach unten renne, immer weiter, durch die Häuserreihen hindurch, den Weg nach unten, immer weiter, bis zum See. Dann die Schuhe aus. Kalt ist das Wasser im letzten Rest vom April. Nichts als Kälte. Immer weiterrennen.

Hier bin ich. Nichts weist über mich hinaus. Meine Haut ist wie eine Mauer. Nichts lässt sie nach draußen, nichts nach drinnen.

Morgen fährt Roman mich ins Krankenhaus. Noch einmal. Ruhe. Weiß. Alles wird ruhig. Ich bleibe, bis das Gesicht genug von mir hat, bis es mich gehen lässt. Bis es bleibt, wo ich nicht mehr sein werde. Ab morgen arbeite ich an diesem Abschied.

Ach, Roman Enzig, wärst du nur schon da.

Und ein anderer.

Und hättest du mir bloß nie geraten, Tagebuch zu führen…

* * *

Roman Enzig rührte den Zucker in seiner Tasse seit Minuten um. Seit über einem halben Jahr war der Psychologe nun schon als Profiler bei der Polizei Konstanz angestellt, vorübergehend war er sogar stellvertretender Dienststellenleiter. Ausgerechnet er. In Konstanz. Zurück in der Heimat, dachte er und blieb hängen in dem Gedanken und dem stetigen Pling-pling in seiner Tasse. Irgendwann meinte er, das Echo in seinem Kopf sich schon wundern zu hören. An das Rühren des Löffels schmiegte sich das Radio: »Und nun das Wetter. Wir dürfen uns freuen. Es werden Rekordwerte zum Wochenende erwartet. Der Mai ist gekommen und mit ihm dreißig Grad.«

»Dreißig Grad«, murmelte Enzig. Er war kein großer Freund der Sonne. Seine Haut war empfindlich. Als Kind, wenn alle anderen in den Untersee gesprungen waren, hatte er lieber im Schatten der großen Bäume im Reichenauer Strandbad gelegen und gelesen oder einfach auf die Hügellandschaft des Seerückens geblickt. Die Schweiz war für ihn als Kind ein fernes Land und doch an dieser nördlichen Stelle der Insel Reichenau zum Greifen nah. »Da schwimmen wir mal rüber«, hatten die Jungs gesagt, wenn sie die Mädchen beeindrucken wollten. Enzig hatte nur gelächelt. Nein, schwimmen würde er sicher nicht, schon gar nicht bis in die Schweiz.

Er sah zu der Uhr über seiner kleinen Kochnische. Die Zeit stand. Ein Wunder, dass die Uhr einen Platz gefunden hatte in seinem neuen Zuhause, denn noch immer lebte er in der kleinen Pension mit Blick auf den Rhein und die gegenüberliegende Uferseite mit dem Restaurant Stromeyer, diesem schönen alten Fabrikbau aus den Zwanzigern. Überhaupt war es ein Glück, dass er hier gelandet war, so abgeschieden, das gefiel ihm. Nach dem Bau der neuen Rheinbrücke und dem Ausbau der Schnellstraße in Richtung Schweiz war das Viertel damals noch mehr ins Hintertreffen geraten. Ohnehin konnte man in Konstanz aufwachsen, ohne diese Ecke zu kennen. Und seit 2001 hieß die B 33 zu allem Überfluss auch noch Europastraße, passend zur Europabrücke und dem Europahaus für die Studenten derFH. Mehr Europa vertrug Konstanz nun nicht mehr. Vor lauter Europa fand man dieses ehemalige Fischerdörfchen mit den schönen Häusern aus dem 19.Jahrhundert schon gar nicht mehr.

Weil Enzig oft neugierig durch das Viertel spaziert war, kannten ihn die Leute. Einer brachte immer gleich ein Glas mit einem Obstler. Enzig hatte ihn langsam im Verdacht, nur auf ihn zu warten, damit er einen Grund hatte, einen Kurzen zu trinken. In dem großen, lang gezogenen Nachbargarten standen Keramikschwäne auf einer Mauer. Eine unerklärliche Traurigkeit hatte Enzig beim ersten Anblick befallen, beinahe Wehmut. Doch die Wärme des Obstlers hatte ihn gerettet.

Sie waren wie Verbündete gegen die Zeit, manchmal schien es, als sei alles langsamer hier im Grenzgebiet, es war Zeit für einen Plausch und ein stets herzliches »Adele« zum Abschied. Langsamkeit tat Enzig gut. Was er besonders mochte, waren die Wege mit Kopfsteinpflaster, wenn man jeden Schritt spürte. An manchen Stellen kam das Gras durch.

Seine beiden Lieblingshäuser waren bei der Pension ums Eck: zum einen ein wunderschönes Haus in hellem Gelb mit zartblauen Fensterläden, einem schmiedeeisernen Zaun und prahlerischem Efeu an der Mauer; zum anderen ein wenig weiter unten am Rheinufer und mit eigenem Seezugang das komplett eingewachsene Haus mit der schönen roten Eingangstür und dem riesigen Dach, das nicht mehr ganz symmetrisch war– zur einen Seite hing es ein wenig durch.

Letzteres kannte Enzig dann doch aus seiner Jugend, denn am Rheinufer, am Schänzle, hatte natürlich auch er gesessen, hatte die Beine von der Mauer baumeln lassen, ein paar Semmeln und Bier oder Wein dabei. Das gehörte einfach dazu: ein Picknick am Schänzle, ein Nachtplausch. Wenn gegenüber dann die Lichter angingen und gedämpfte Geräusche von der Bleiche zu hören waren, dann konnte man Paare enger aneinanderrücken sehen. Schön war das. Heimelig. Ja, Enzig wurde sich in diesem Augenblick bewusst, dass dies tatsächlich Heimat für ihn war.

Seine Wirtin glaubte sicher auch nicht mehr daran, dass er bald eine richtige Wohnung in Konstanz finden würde. Anfangs hatte sie ihm noch die Samstagszeitungen vor die Tür gelegt, aber inzwischen legte sie ihm einfach die Brötchen auf den Fußabstreifer. Sie radelte immer morgens rüber ins »richtige« Paradies, nahm die kleine Brücke über die Schnellstraße und ging dort zu ihrem Lieblingsbäcker. Enzig hatte sie einmal zufällig gesehen. Sie aß dort ein Milchbrötle mit Rosinen und trank einen Milchkaffee mit extra viel Milch. Saß dort auf einem wackligen Stuhl auf dem Gehsteig und lächelte dem Ladenbesitzer zu, dem anschließend die Ehefrau schnell die Hand auf die Schultern legte. Gewiss ein Ritual. Für alle. Enzig war geflüchtet, ungern war er Zeuge von Hoffnungslosigkeit.

Eine Uhr, sie tickte und ging doch viel zu langsam voran. Dazwischen das Pling-pling des Löffels in der Tasse.

Auf dem Rhein zogen Ruderer ihre Bahnen. Wie jeden Morgen. Immer trainierten sie für irgendeinen Wettkampf oder einfach nur für ihre Gesundheit. Rudern werd ich wohl nie verstehen, dachte Enzig und legte endlich den Löffel beiseite. Der Kaffee war nur noch lauwarm.

Ruderer, so ein gewohntes Bild, doch der Tag war alles andere als gewöhnlich. Sein Partner im Kommissariat, Paul Sito, verließ heute das Krankenhaus, und er, Roman Enzig, hatte versprochen, ihn abzuholen. Er würde ihn nach Hause bringen und morgen dann dort seine Begrüßung feiern, obwohl er wusste, dass Sito nicht begrüßt werden wollte. Enzig trank schnell die Tasse leer, schielte zur Kaffeemaschine, die brummte, und holte sich eine neue Tasse. Dieses Mal verzichtete er auf den Zucker und das Rühren.

Bald war wieder alles beim Alten. Dann würde er wieder der Partner von Hauptkommissar Paul Sito sein, als Profiler Dr.Roman Enzig. War er stolz? Irgendwie schon. Er war gut darin, Tatorte und Fälle zu analysieren, gut darin, Menschen zuzuhören, nur reden, also über sich, das lag ihm weniger.

Der heiße Kaffee schmeckte gut. Wenn er Glück hatte, dann würde seine Vermieterin ihm schon bald frische Brötchen vor die Tür legen. Irgendwie hatte Enzig auch das Gefühl, dass sie nicht ganz unglücklich war mit ihm als Dauergast. Manchmal lächelte sie ihn an wie eine Mutter ihren Sohn. Aber das Gefühl konnte täuschen; womöglich war sie einfach froh, nicht jede Woche neue Menschen in ihrem Haus zu haben, sondern einen, bei dem die Schuhe immer sauber vor der Tür auf dem Fußabstreifer standen, stets akkurat nebeneinander, nie schräg oder gar übereinander. Und er zahlte ja auch immer im Voraus für den ganzen Monat. Ein guter Gast, ein bescheidener Mensch. Ja, sagte sich Enzig, so wird die Frau mit den Lockenwicklern immer mittwochs und freitags im Haar sicher denken. Es störte ihn nicht.

Aber etwas anderes störte ihn. Sito ging es nicht besser. Seit Ende Oktober besuchte er ihn, abwechselnd im Krankenhaus oder in dessen Haus in Egg. Er sprach mit ihm und hatte ihm geraten, Tagebuch zu führen. Jetzt war er wieder im Krankenhaus gewesen. Zum letzten Mal. Er galt als gesund, der Magenkrebs überwunden, aber Enzig wusste, dass Sito niemanden in seinen Kopf schauen ließ, und Enzig war sich nicht sicher, ob Sito überhaupt wieder in der Welt zurechtkam. Er hatte einen Menschen getötet, einen, den er mochte. Weil er es musste. Aber das half nichts. Das Töten an sich war wie die Manifestation einer Niederlage. Enzig schüttelte den Kopf. Nein, da kam man nicht von los. Dieser eine Fall hatte sie alle verändert. Auch ihn. Bei jedem Schritt merkte er das. Bei jedem Blick. Nicht traumatisch, aber dennoch war da ein Rest in ihm geblieben.

Enzig trat an seinen Schreibtisch und blätterte in dem Notizbuch einige Seiten zurück. Sito hatte ihn gebeten, sein Gesprächspartner zu sein. Ausgerechnet ihn. Enzig schluckte, nahm schnell einen Schluck Kaffee, damit das Schlucken an Bedeutung verlor. Ein Freund konnte nicht therapieren, aber genau das waren sie doch geworden in diesem letzten halben Jahr, oder nicht? Sito hatte den Einwand nicht gelten lassen. »Vielleicht nicht therapieren, aber helfen doch«, hatte er gesagt. Und angefügt: »Hilfe ertrage ich auch leichter als Therapie.« Also war Enzig geblieben. Als Freund. Hatte gewartet und geschwiegen.

Enzig sah wieder zu der Uhr, zu der, die wirklich Stunden und Minuten zählte, aber sonst recht langweilig auf einem Regal stand. Noch zwei Stunden. Hatte er Sito wirklich helfen können? Würde er wieder zurechtkommen im Alltag? Würde er als Hauptkommissar zur Mordkommission zurückkehren? Und was würde die interne Ermittlung dazu sagen? Immerhin hatten sie alle gelogen. Er, Sito, Miriam…

Wieder kochte sich Enzig einen Kaffee. Vor der Tür raschelte es. Jetzt lagen da seine Brötchen, die leise schlurfenden Schritte seiner Wirtin, die gewiss noch den Geschmack eines Milchbrötchens mit Rosinen auf den Lippen hatte, entfernten sich gerade.

* * *

Heute also. Sito hob mühsam die Bettdecke zur Seite. Seine Beine fielen schwer über den Bettrand. Das Geräusch ihres Auftreffens auf dem Boden kam ihm vor wie ein Schlag aus weiter Ferne. Er hörte ihn, noch bevor er ihn fühlte an seinen Füßen.

Langsam ging er zu dem Vorhang in einer Ecke seines Zimmers, schob ihn beiseite. Direkt dahinter verbarg sich ein Waschbecken mit einem Spiegel darüber. Schnell wandte er sich ab.

Kaltes Wasser lief über seine Hände. Er bewegte sie nicht, wartete, bis es schmerzte. Dann drehte er das Wasser auf warm. Oft schon hatte Sito sich gefragt, warum Hände den Temperaturwechsel von sehr kalt auf lauwarm zunächst als Weichwerden empfanden. Ihm erging es wenigstens so. Wasser wurde weicher. Später erst fühlte er auch, dass es wärmer wurde. Er wusch sich das Gesicht und putzte die Zähne. Seine Utensilien legte er anschließend in den Waschbeutel. Der Kulturbeutel stand nur zur Hälfte auf dem Waschbecken, drohte herunterzufallen, dann würden die wenigen Dinge, die Sito besaß, auf den Boden fallen, klirren und zerspringen. Sito hörte irgendwo ein Scheppern und wartete darauf, ob es seine Dinge waren, die da zu Bruch gingen, doch der Beutel trotzte dem Abgrund.

Wieder wagte er einen Blick in den Spiegel. Er biss sich auf die Lippen, spürte ein Zerren in seinem Kopf. Auf das Waschbecken gestützt blickte er in den Abguss. Morgen war sein vierundvierzigster Geburtstag. Inständig hoffte er, dass keiner daran denken würde.

Er verschloss seinen Kulturbeutel und stellte ihn in die Reisetasche, die bereits gepackt auf einem Stuhl stand. Noch mehr Dinge, doch nicht viele. Schlafanzüge, ein Morgenmantel. Ein Elefant, den Miriam ihm geschenkt hatte. Schon eine Weile hatten sie einander nun nicht gesehen. Er hatte sie um Abstand gebeten. Doch er hatte über zwanzig Briefe von ihr bekommen. Jeder ein kleiner Ausflug ins Leben. Jetzt sah er den Elefanten in seiner Reisetasche zwischen den Schlafanzügen und der Unterwäsche. Rasch zog er den Reißverschluss darüber zu.

Er saß auf dem Bett und sah sich in dem weißen Zimmer um. Sein Haus würde genauso leer sein. Seit Jahren lebte er nun schon in Egg, diesem kleinen Ortsteil unterhalb der Universität, der seit 1915 zu Konstanz gehörte. Sito war nur wegen des Hauses dort gelandet, weil seine Frau damals beim Betreten einfach nur gelacht hatte. »Das ist es?«, hatte er gesagt, und sie hatte ihn geküsst. Ungefragt hatte der Makler die Unterlagen aus seiner Aktentasche geholt und Sito entgegengestreckt. Also Egg, hatte er gedacht, aber im Grunde war es ihm egal.

Das nördliche Mainauried breitete sich einladend vor seiner Haustür aus, nach Konstanz in die Stadt konnte er radeln. Den See sah er ebenfalls, wenn die Bäume nicht komplett grün waren. Die Nachbarn waren… na ja, Sito war da nicht wählerisch. Grillpartys vermied er, und damit hatten sich Sommerfeste ja sowieso erledigt. Ein neues Paar war kürzlich eingezogen, sie Veganerin, weil es angeblich jünger machte, er »Flexiganer«, weil er das für moralisch hielt.

Einmal war Sito bei ihnen eingeladen gewesen, weil sie dachten, dass man sich doch verstehen müsste, so von Veganer zu Veganer, als würden sich alle Veganer auf der Welt mögen, allein weil sie Veganer waren. Aber Sito mochte keine Leute, bei denen jeder zweite Satz damit begann: »Seit ich vegan esse, trinke, mich ankleide…« Also nein, keine neuen Freunde. Dafür war der Porschefahrer von nebenan recht nett. Er winkte immer. Auch die Frau, die immer wenn sie Sito sah, auf die ganzen armen Schweine in den Mastanlagen irgendwo in Deutschland zu sprechen kam, ihr tiefstes Bedauern ausdrückte, dass die Zustände halt so waren, wie sie eben waren, und dabei ihre Tüte vom Metzger schwenkte– »Also ich kauf ja immer nur Bio-Fleisch«– und dann verstummte und guckte, als erwartete sie ein Lob. Sito lächelte dann und schwieg, manchmal nickte er. Sicher galt er als introvertiert.

Für einen Moment sah Sito sein Haus vor seinem geistigen Auge, die grünen Fensterläden, den Blauregen dazu, der schon kräftig blühen sollte. Die Bank darunter, von der aus man den See bestimmt noch sehen konnte jetzt im Frühsommer. Die Feuerstelle daneben und ein wenig weiter die Terrasse mit den Holzdielen.

Es klopfte. Ein Arzt und Schwester Lieselotte traten ein.

»So, der Herr Hauptkommissar will uns heute also verlassen.« Die ältere Schwester mit der kratzigen tiefen Stimme hatte ihre Freude an Sito gehabt und sich diese förmliche Anrede während all der Zeit nicht nehmen lassen. »Nur die Fäden, die lassenS’ bei uns«, fügte sie noch grinsend hinzu, während der Arzt mit ernstem Gesichtsausdruck das Krankenblatt studierte. Es gehe ihm gut, beteuerte Sito. Ja, er freue sich auf zu Hause, und nein, er habe keine Bedenken, dass er das alleine nicht schaffe.

* * *

10.November, gegen drei Uhr nachts

Totenstille. Totenwache. Habe Mozarts Requiem gehört. Stunden, unaufhörliche Wiederholung. Krank machend. Bin krank. Sterbenskrank. Doch lebensmüde bin ich nicht. Habe wieder das Gesicht gesehen. Habe gebetet wie lange nicht mehr. Hoffe inständig, Gott kennt mich noch.

* * *

Der Arzt verabschiedete sich, die Schwester war noch mit der Wunde beschäftigt. Sito horchte in sich hinein, ob er einen Schmerz fühlte. Er musste wieder an das Messer in seiner Hand denken, wie schwer es gewesen war. Wenn es in seinem Bauch stecken würde– wäre dann ein Schmerz zu fühlen? Irgendetwas?

Ein großes Pflaster verdeckte wenig später die kleinen roten Punkte, die die Fäden hinterlassen hatten. Sito sah an sich hinab. Das Hemd hatte die gleiche Farbe wie damals, hellblau. Weiter oben strahlten ihm Lieselottes Augen grün entgegen. Sie lächelte, dann verschwand sie, und Sito blieb alleine zurück. Er strich das Hemd glatt und schloss vorsichtig seine Jeans darüber. Ein letztes Mal ließ er sich auf das Bett sinken.

* * *

11.November

Warum ich? Wenn ich anfange, nachzudenken, was sich in meinem Leben verstrickt hat, dann komme ich immer wieder zu dem gleichen Schluss: Es gibt keinen Gott, der an Individuen interessiert ist. Ihn können nur die Menge und das Ergebnis interessieren. Ich gehe elendig an meiner Individualität zugrunde. An meiner Einsamkeit. Will alleine sein. Oder will ich Märtyrer spielen? Weiß nicht. Kann nicht mehr. Lese »Dantons Tod«: »…das Leben ist nicht der Mühe werth, die man sich macht, es zu erhalten.« Ich sollte das Buch weglegen, nein, wegwerfen, es mit aller Kraft, die noch in mir ist, in eine Ecke schmeißen, hoffen, dass es zerbricht mit all den Worten, die es über das Leben macht, während es über das Sterben nachdenkt.

* * *

Wie konnte kurzes Haar nur so durcheinander sein? Enzig stand vor dem Spiegel und blickte verwundert auf seine blonden Haare. Noch kürzer wollte er sie nicht schneiden lassen, aber so ging das auch nicht. Er war ja gewiss nicht eitel, aber langsam sah er aus wie Einstein. Als Jugendlicher hatte er die Haare mal schulterlang gehabt, in einem Pferdeschwanz zusammengebunden– groß und schlaksig, wie er war, durchaus auffallend. So in die Villa seines Vaters zu spazieren, die Hände in der Schlaghosenjeans, die Schnürsenkel der Chucks offen– das hatte ihm großen Spaß gemacht. Doch die Phase war recht kurz gewesen. Jetzt trug er helle Leinenhosen und Hemden, manchmal sogar kariert.

Er würde sich mit Dieter Hohenfels auseinandersetzen müssen. Der Mann von der internen Ermittlung mit der verspiegelten Brille. Möge Gott schnell ein paar Wolken bringen: Wenn schon Hohenfels, der einfach keine Ruhe geben wollte, dann aber bitte ohne Brille. Hohenfels trug seine Selbstüberzeugung wie ein Umhängeschild. Immerhin hatte er Enzig nur zur Konstanzer Polizei geholt, um einen Mann an Sitos Seite zu haben, einen, der Sito beobachten konnte.

Enzig spürte, dass der Honig von seiner Semmel über seine Finger floss. Angewidert legte er das Brötchen auf den Teller, stand schnell auf und wusch sich den Honig ab. Einmal hatte seine Frau versucht, ihn mit Honig auf dem Körper zu verführen. Die Vorstellung, alles klebe… Nein, nicht dran denken. Enzig rieb seine Finger unter fließendem Wasser, musste an Hohenfels denken, der immer noch einen Verdacht gegen Sito hegte. Das klebte an ihm wie dieser Honig, die Vorstellung, als Spitzel angeheuert worden zu sein.

Sito hatte keine Ahnung, Hohenfels nichts in der Hand. Oder doch? Wenn Enzig ehrlich war, dann war er nicht mehr sicher. Nicht dass er Sito etwas Böses zugetraut hätte, aber er glaubte wohl, dass Sito für seine Vorstellung von Gerechtigkeit Grenzen überschreiten würde. Hohenfels indessen ging es nur um den Job. Verbissen wirkte er, als sei er persönlich beleidigt worden von Sito, von dessen Intelligenz. »Dieser Ernährungspazifist«, hatte er einmal gesagt, weil Sito Veganer war, und Pazifist hatte aus Hohenfels’ Mund tatsächlich wie ein Schimpfwort geklungen.

Wenn der wüsste, dachte Enzig, wenn der wüsste, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Doch Hohenfels wusste nichts, niemand wusste etwas außer Miriam, Sitos Freundin, und Samuel Parson, dem Rechtsmediziner, dessen Augen damals verbunden gewesen waren, aber der doch alles gehört hatte. Kerler, der ehemalige Polizeidirektor und Miriams Vater, könnte etwas ahnen. Aber: Mit wem hatte eigentlich Miriam gesprochen? Hatte sie einen Therapeuten? Enzig musste zugeben, dass er sich nicht um sie gekümmert hatte seit letztem Herbst. Vielleicht hatten sie alle gedacht, dass die Dinge leichter würden, wenn man einander nicht begegnete. Sieben Monate war es jetzt her.

Ein letztes Mal an diesem Tag öffnete Enzig sein Notizbuch:

Es hat uns alle verändert. Dieser letzte Fall. Mein erster Fall. Ich bin ein anderer geworden und habe jetzt Verantwortung. Für Sito. Kann sie nicht einfach abgeben. Ich trage sein Geheimnis und weiß, dass ich nicht alles weiß. Wird er sich mir je ganz anvertrauen?

* * *

Raus aus dem Krankenhaus. Vorbei an der Holzkirche Sankt Paulus und den Prachtbauten auf der Mainaustraße. Überall lagen gelbe Säcke auf den Gehwegen. Sito wunderte sich– welcher Tag war heute? Enzigs Haare sahen auch merkwürdig aus. Sito musste grinsen.

Ein alter Bekannter hatte ihm geschrieben, Otto Meisler. Seit vielen Jahren schon traf er den alten Mann, zuletzt hatte dieser ihm sogar bei Ermittlungen geholfen. Meisler hätte längst in Pension gehen können, aber er liebte seine Arbeit in der Bibliothek und betreute dort das Antiquariat. Gerade hatte er durchgesetzt, dass er auch nach seiner formellen Pensionierung weiter im Antiquariat arbeiten durfte. Wahrscheinlich waren beide mit der Situation zufrieden, der ehemalige Chef der Bibliothek und Meisler. Er sollte ihn in den nächsten Tagen einmal besuchen.

Enzig räusperte sich an jeder Ampel. Sito wurde bewusst, wie schwierig das hier für alle war, dass Enzig nervös war, vielmehr befangen, vermutlich auch nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Verlegenheit lag wie eine Rauchwolke im Auto. Sito kurbelte das Fenster nach unten. Warme Luft drang herein. Sie waren schon raus aus Konstanz. Die Hügel öffneten sich, die Universität lag links über ihnen. An der Kreuzung, wo früher mal eine Ampel gewesen war, bog Enzig nach Egg ab und kurze Zeit später um die letzte Kurve zu Sitos Haus. Blauregen, und Enzigs Auto verstummte. Nur fünfhundert Meter weiter unten bereitete sich der Bodensee auf den Sommereinbruch vor, wenn die Studenten über ihn herfielen, die Segler ihn okkupierten, die Angler in ihm wühlten, als wäre er ein Bassin. Sito holte tief Luft, nein, nach Frühling roch es längst nicht mehr. »Ziemlich heiß heute«, sagte er schließlich.

Enzig nickte. »Im Radio sagen sie, es gibt Rekordtemperaturen. Dreißig Grad. Im Mai. Verrückt.«

»Ich mag die Hitze«, sagte Sito und blinzelte in die Sonne.

»Ich nicht«, gab Enzig zu und machte eine einladende Handbewegung. »Bitte schön. Soll ich noch mit reinkommen?«

Sito starrte zum Haus. Einsam. Unbeweglich saß er auf dem Beifahrersitz und konnte den Blick nicht lösen. Wenn man sich verloren glaubt, gibt es keine Heimkehr, fuhr es ihm durch den Kopf.

* * *

1.Dezember

Die Schokolade aus dem ersten Türchen war die süßeste. Neu und unendlich lecker und ersehnt. Die folgenden waren nur eine versuchte Wiederholung dieser ersten Süße. Sie bleibt immer unerreicht. Göttlich. Einer der ersten kindlichen Höhepunkte. Leidenschaft. Habe an sie gedacht. Den ganzen Tag– und mir einen Traum von ihr gewünscht. Gott hatte Erbarmen. Habe gar nicht geträumt. Unruhig geschlafen. Will mir nicht im Spiegel über dem Waschbecken begegnen. Lektüre: Krausser, »Thanatos«.

* * *

Für einen kurzen Moment glaubte Sito, seine Frau am Küchenfenster erkennen zu können. Doch bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass da nichts war.

»Sito?« Enzig fasste ihn am Arm, und Sito zuckte zusammen.

»Ja?«

»Soll ich nun noch mit reinkommen?«

»Nein, nicht nötig. Danke fürs Fahren.«

»Das war doch selbstverständlich. Ich bring Sie noch zur Tür.«

Bevor Sito noch etwas sagen konnte, stieg Enzig aus und nahm Sitos Tasche von der Rückbank. Wie selbstverständlich war er wieder zum Sie übergegangen, als wollte er Sito sein Verständnis demonstrieren, dass die letzten Monate ein Ausnahmezustand gewesen waren, auch für ihn, Roman Enzig, der doch so um Sitos Freundschaft bemüht gewesen war, von Anfang an, der immer zu ihm gehalten und ihn letztlich auch gerettet hatte.

Sito schluckte. Noch immer saß er bewegungslos in seinem Sitz. Waren die letzten Monate nur eine Parallelwelt gewesen? Zwischen seinem Haus und der Klinik? War Enzig, der Freund, ein anderer als Enzig, der Profiler und Kollege aus dem Kommissariat, der ihn einmal bespitzeln sollte? Seit geraumer Zeit hegte Sito diesen Verdacht, und vielleicht brachte er Enzig auch daher wieder auf Abstand, weil er ihm immer noch misstraute. Andererseits– was konnte ihm eigentlich noch passieren? Alle waren tot. Keiner konnte ihm noch etwas anhaben.

Sito warf einen Blick in den Rückspiegel. Enzig stand da mit der Reisetasche und stopfte sich gerade umständlich das Hemd in die Hose. Sito stieg aus. Zielstrebig lief Enzig auf das Haus zu, nicht mehr ganz so schlaksig wie noch vor einem halben Jahr. Sito lächelte. Enzig, der große Junge mit seinem analytischen Blick. Nur um sich selbst machte dieser Blick konsequent einen Bogen. Still stand Sito am Auto. Kurz vor der Haustür hielt Enzig an und sah sich um. »Was ist? Wollen Sie nicht nach Hause?«

Zu Hause

Er hatte sie noch nicht getötet. Es war ihm plötzlich ungerecht erschienen. Er hatte gezögert, gestaunt auch, über sich, sein Zögern. Da hatte sie vor ihm gelegen, auf dem Bauch, nackt, den Kopf auf der Seite, die rechte Hand am Kinn, den linken Arm lang nach oben gestreckt und dann über dem Kopf angewinkelt. Ihr Rücken leicht gekrümmt, makellos, seine Hand darauf, gestreichelt hatte seine Hand ihn, diesen Rücken, bis in ihren Nacken war sie nach oben… und hatte dort gespielt mit den kleinen Locken im Haaransatz. Gelächelt hatte sie und geseufzt im Schlaf. Glücklich.

Und durfte es nicht sein. Geschmerzt hatte es ihn. Ihr Glück.

Er öffnete die Schiebetüren und trat hinaus auf die Dachterrasse. Die Holzdielen unter seinen Füßen waren warm. Unter ihm das rege Treiben vor den Eingängen ins Lago. Die Leute drängten und lachten. Die Außenstühle des Merci waren alle belegt. Von seiner Terrasse aus konnte er ihr Reden nur als Rauschen wahrnehmen, nachts hörte er manchmal einzelne Wörter von Heimkehrern aus dem Deli oder von der Pizzeria, die unten im Haus war. Und natürlich von den Balkonen im Innenhof. Die Dachterrasse des Hotels Viva Sky war gegenüber, da sah er manchmal Menschen, die sich über den Ausblick auf den Konstanzer Bahnhof mit seinem eleganten Turm, den Hafen und den See freuten.

Hätte er das Geld gehabt, dann hätte er die oberen Stockwerke des Hochhauses in der Sigismundstraße gekauft und für private Zwecke umgebaut. Besichtigt hatte er es damals, aber erkennen müssen, dass sein guter Name und seine reiche Familie hier nicht ausreichten. Also das Penthouse gegenüber. Abends konnte er die Sonne über den Schweizer Bergen untergehen sehen. Das waren Momente des Glücks. Ein weiterer Tag war geschafft. In seinem Haus hatte er einen anderen Ausblick. Diesen Luxus, zwischen einem Penthouse mitten in der Stadt und einer Villa wechseln zu können, genoss er sehr. Gerade küssten sich zwei auf einem Balkon weiter unten. Und auf dem Balkon nebenan musste ein Junge den Hasenstall reinigen. Verärgert schob er das Kaninchen aus dem Weg. Von der Straße drang Quietschen nach oben, kurzes Innehalten, dann hupte es mit einer Faust voll Zorn.

Diese einfältigen Gemüter, dachte er und ging zurück in die Wohnung. Sie erwartete ihn. Er reichte ihr ein Glas mit einem schweren Barolo, setzte sich neben sie auf das große hellgraue Sofa, lehnte sich zurück, schloss die Augen und flüsterte: »Jetzt sind nur du und ich.«

* * *

Sito wachte auf und wusste nicht, wo er war. Das Zimmer war hell erleuchtet von der Sonne über dem Dachfenster. Alles blau. Die Vorhänge an den anderen Fenstern waren nicht zugezogen. Noch mehr Blau. Er sah zur Seite und blieb an dem Foto von Janina auf dem Nachttisch hängen. Da endlich wusste Sito, dass er zu Hause war. Er war in seinem Haus, gewiss, aber fühlte sich so Heimkommen an?

Die meisten, die nach Konstanz kamen, etwa für ihr Studium, sprachen anfangs voller Begeisterung von der Stadt. Die Mensa mit Seesicht, die Möglichkeit, einen Segelschein zu machen, die vielen Kneipen, die Strandbäder, in Dingelsdorf sogar mit Sand, die Feiern und Partys in der Stadt, all das eine einzige Verführung. Irgendwann dann meinten alle, Konstanz sei doch recht klein und eng. Man war genervt von den ewig stolzen Konstanzern, die nichts auf ihre Kleinstadt kommen ließen und ständig von Weltstadtflair fabulierten, die ihre Bodenseefelchen anpriesen und ausrotteten für die Gäste, man wollte weg von den lästigen, schwitzenden Touristen, die im Sommer über die Stadt hereinfielen wie die Fliegen und in Flipflops durch die Fußgängerzone schlurften, und man wollte weg von den Schweizern, die die Geschäfte der Stadt plünderten wie Heuschrecken.

Und dann, ein paar Jahre später, erinnerte man sich voller Wehmut, und das »Konstanzer Heimatgen« schlug zu. Der Konstanzer indessen grinste wissend, wenn man reumütig zurückkehrte. »Alle kommen se wieder.«

Sito wollte zwar noch nie weg. Aber gehörte er hier noch hin?

Er sah wieder nach oben. Das letzte Mal, als er sich so ausgehöhlt gefühlt hatte, war dort oben hinter dem Dachfenster nur Nebel gewesen.

* * *

3.Januar, kurz nach Mitternacht

Was gäbe ich für einen Whisky. Will mich betrinken, will vergessen– muss mich stattdessen übergeben. Was ein Ausgleich. Bin zynisch, andauernd. Jeder Gedanke ist zynisch. Zynismus ist reine Feigheit, Feigheit, zu handeln. Den Jahreswechsel habe ich verschlafen. Weihnachten auch. Bete wieder regelmäßig. Auch zynisch. Ich bete und warte, dass Hoffnung sich einstellt. Lechze nach jedem Funken. Während ich meine Lebenssäfte aus mir auskotze, sauge ich gleichermaßen alles, was nach Leben stinkt, wieder auf… Bin so weit, dass ich mich bemitleide. Könnte mich geißeln dafür. Vater, verzeih mir meine Schwäche. Meine Selbstachtung hat Flügel bekommen…

* * *

Niemand hatte sie gefunden.

Es würde ein großer Moment werden– den Körper vom Leben zu trennen. Es war nicht einfach nur Töten. Es ging um die Genauigkeit, diese Trennlinie zu finden. An Rilke musste er denken, an dessen Satz: Der Tod ist exakt, er macht keine Fehler. Ja, darum ging es. Exaktheit.

Jetzt gehörte sie ihm allein.

* * *

Sito stand auf und ging ins Bad. Nicht denken, kam ihm in den Sinn, nicht denken, einfach tun. Während er sich das Gesicht wusch, hörte er Stimmen im Haus. Er zog sich den Morgenmantel über und schlich aus dem Zimmer zur Treppe. Dann, sehr unerwartet, setzte ein Chor ein: »Happy Birthday«, in allen Tonlagen. Eine Stufe tiefer konnte er alle sehen: Miriam und ihren Vater, den ehemaligen Polizeichef Friedrich Kerler, Enzig und ihren gemeinsamen Kollegen, Kommissar Marc Busch, den Gerichtsmediziner Dr.Samuel Parson und seine Frau Maria, Emil Griese, den Leiter der Spurensicherung, Schwester Raphaela vom Kloster in der Niederburg, eine alte Freundin. Seine Freunde strahlten ihn glücklich an, nur Enzig sah verlegen aus in seinem rot karierten Hemd.

Sito wusste nicht, wie er reagieren sollte. Verlernt man sozialen Umgang so schnell, fragte er sich, während er die Glückwünsche und Geschenke entgegennahm. Miriam kam als Letzte zu ihm. Ihre Haare fielen über ihre Schultern, immer sahen sie wie drapiert aus, so mit dieser leichten Welle über dem schmalen Gesicht mit der Porzellanhaut, aber Sito wusste, dass die Haare von selbst genau so fielen. Dass er das wusste, erschreckte ihn gerade. Sie sah ihn an, dann umarmte sie ihn und flüsterte ihm ins Ohr, dass sein Geschenk draußen warte.

Von der Hand Miriams gezogen, folgte er ihr. Die anderen kamen hinterher. Miriam ging zu ihrem Auto und öffnete die Tür. An einer roten Leine führte sie einen kleinen Hund aus dem Auto. Ein Welpe mit halblangem weißen Fell. Miriam hob ihn hoch und übergab ihn Sito. Der Hund leckte ihm über die Wange, und alle lachten.

Sito biss sich auf die Lippen, schaute hilfesuchend zu Enzig. Ein Blick reichte.

Enzig machte ein paar schnelle Schritte und nahm Sito den Hund ab. »Kommt, lasst uns wieder ins Haus gehen. Es gibt Frühstück.«

Miriam sah freudestrahlend zu Sito. »Ist er nicht supersüß? Er ist so ein Herzchen. Der kleine Kerl ist im Tierheim gelandet, und niemand wollte ihn haben. Er gefällt dir doch?«

Sito stand nur da und sah an Enzig hinab auf den kleinen weißen Hund, der hilflos zwischen den Beinen der Menschen hindurchlugte. Er musste lächeln und nickte dazu. In der Ferne stritten Feuerwehrsirenen.

Wieder im Haus holte Sito die alte Schüssel seines letzten Hundes aus dem Schrank und stellte sie dem Kleinen mit Wasser gefüllt hin. Viel zu groß war sie. Dennoch schlabberte er glücklich und erkundete anschließend die Wohnung. Ein neugieriger kleiner Kerl, dachte Sito und versuchte sich die Zeit ins Gedächtnis zu rufen, als er seinen letzten Hund, Pollux, aus einem Rudel Ausbildungshunde bei der Polizeischule ausgewählt hatte. Viel Zeit hatte er sich damals gelassen und war dafür von einigen Kollegen belächelt worden. Pollux war einer der talentiertesten Fährtensucher gewesen, sein Spieltrieb war groß, gleichzeitig war er still und konzentriert. Pollux hatte Sito sofort ins Herz geschlossen, und auch Sito war von dem Hund vom ersten Tag an begeistert und hatte an jeder Fortbildungsmaßnahme teilgenommen, die ihm die Polizei ermöglicht hatte.

Seit einem halben Jahr war Pollux nun tot, und da saß jetzt dieser kleine weiße Welpe und starrte mit seinen großen Augen und hatte so gar nichts gemein mit seinem stolzen Vorgänger. Sito lächelte. Das Leben, es drehte sich. Auf dem Tisch stand ein großer bunter Blumenstrauß.

Als sie mit dem Frühstück fertig waren, nahm Kerler Sito zur Seite und entschuldigte sich bei ihm für das Fernbleiben seiner Frau Irene.

»Aber das macht doch nichts. Geht es ihr hoffentlich gut?«

»Um ehrlich zu sein– sie ist ausgezogen. Wir haben seit dem Zwischenfall einfach nicht mehr zusammengefunden.«

Sito fühlte sich schuldig. Auch er hatte seinen Freund in Verdacht gehabt, ein Mörder zu sein. Der sogenannte Zwischenfall, über den die beiden sich bis zum heutigen Tag nie ausgesprochen hatten, hatte sie beide beinahe das Leben gekostet. »Tut mir leid, das zu hören. Ist das schon endgültig?«

»Ja, sie will die Scheidung.«

»Weiß Miriam Bescheid?«

»Natürlich. Wir haben mit unserer Tochter gesprochen. Sie ist schließlich alt genug. Ist das mit dem Hund für dich in Ordnung? Sie hat sich das in den Kopf gesetzt. Und wenn sie sich was in den Kopf setzt… Aber wem erzähl ich das, du kennst sie ja.«

Sitos Blick blieb an den gelben Ranunkeln auf seinem Tisch hängen. Alles in ihm war zu einem unsicheren Etwas geronnen. Er sah zu Miriam, die sich auf den Boden setzte und mit dem kleinen Hund spielte. Das Blau ihres Sommerkleides leuchtete mit dem Hundefell um die Wette. Ja, sie war stur. Anfangs hatte er gedacht, es seien nur romantische Gefühle von ihr, ein reizvolles Spiel mit dem Feuer, der Freund des Vaters, aber dafür beharrte sie nun schon zu lange darauf. Er wehrte sich, berief sich auf die zwanzig Jahre Altersunterschied. Sie ignorierte seine Zurückhaltung. Jetzt winkte sie ihm, und ihre Augen strahlten. Sito schaute einfach weg.

»Marc, erzählen Sie mir aus dem Präsidium.«

Marc Busch sah zu Enzig. »Wir warten sehnsüchtig auf Sie, Sito. Wann können wir denn mit Ihnen rechnen?«

»Ich weiß nicht so recht. Soll mich erst noch erholen.«

»Also erst ab übermorgen?«, scherzte Busch.

Sito lachte. »Ja, morgen nehm ich mir noch frei. Montage bringen eh nur Ärger.«

Langsam bekam Sito wieder ein Gefühl für Gespräche. Schwester Raphaela und Griese unterhielten sich angeregt, Enzig lauschte den beiden. Es schien um Musik zu gehen, denn Schwester Raphaela wiegte sich hin und her, und Enzig schnipste unauffällig mit den Fingern. Sicher erzählte Griese von seiner Jazz-Combo. Parson indessen behielt jede von Grieses Bewegungen im Auge. Seine Frau Maria strahlte Sito an, und er fühlte sich nicht mehr so verloren wie noch zu Beginn dieser Überraschungsparty. Maria trug ein helles Etuikleid in Beige mit großen Blumen darauf und hohe Sandalen. Gut sah sie aus, die kurzen Haare standen ihr. Das Grau war verschwunden. Sito lachte, wenn auch zu laut.

Schließlich reagierte er doch auf Miriams Winken, ging zu ihr, hatte den Duft ihrer Haare schon in seiner Nase, noch bevor er sich neben sie kniete. Kurz tauchte er in diesen Duft nach Sonne und Jasmin. Sie sah ihn an. Ihre Hände berührten sich im Fell des Hundes.

»Er braucht einen Namen. Hast du eine Idee?«, flüsterte sie.

Sito schüttelte den Kopf. »Du?«

»Nun ja, ich mag die Götternamen. Wie wäre es mit Zeus oder Perseus?«

Parson ließ sich endlich von Griese ablenken und kam zu ihnen. »Hat der eine nicht Medusa enthauptet?«, fragte er, und es war offensichtlich eine rhetorische Frage.

»Zeus?«, entgegnete Miriam schelmisch. Sie zuckte die Schultern. »Na und? Keiner ist frei von Schuld. Und die Namen können nichts für ihre Besitzer, meint ihr nicht?«

Parson und Sito sahen einander an und mussten lachen.

»Zweifelsohne. Ich würde dennoch zu Zeus tendieren. Und du, Paul? Ich meine, du musst ihn schließlich beim Namen rufen.«

»Zeus ist gut. Ein kurzer, präziser Name. Und das mit Medusa war ja auch Perseus.«

Enzig stand auf. »Vielleicht sollten wir langsam aufbrechen.«

Maria begann sofort, einige Teller einzusammeln, und ging mit Schwester Raphaela in die Küche.

»Wirst du wirklich bald wieder zur Arbeit zurückkehren?« Parson musterte Sito ernst.

»Es wird Zeit. Ich brauch wieder etwas zu tun. Ich kann hier nicht einfach rumsitzen und warten. Das verstehst du doch.«

Parson legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Doch, wenn es einer versteht, dann ich. Du solltest bald wieder beginnen zu arbeiten.«

Kerler, der bis eben am Fenster gestanden hatte, drehte sich zu ihnen um. »Vielleicht solltest du jemanden anstellen, der dir hilft. Fürs Erste, mein ich. Bis du wieder ganz in Ordnung bist.«

»Ich habe doch Frau Wung.«

»Wen hast du?«, fragte Kerler überrascht.

»Sie kam die ganze Zeit über einmal die Woche, und als es Pollux noch gab, hat sie auf ihn aufgepasst. Du kennst sie, Friedrich. Sie hat früher im Restaurant meines Vaters gearbeitet.«

»Ach, das wusste ich nicht. Hm, das ist gut.« Den letzten Satz murmelte Kerler eher zu sich als zu Sito.

»Ja«, stimmte Enzig zu und lud das Tablett am Tisch noch einmal voll, »eine Frau Wung zu haben, ist bestimmt gut.« Er grinste verlegen.

Sito bemerkte sehr wohl die Vorsicht und die Fürsorge, die in den Worten der beiden lagen. Und fühlte sich mit einem Schlag wieder so unwohl wie zu Beginn des Tages.

* * *

Das Feuer fraß sich durch die Seiten wie ein gieriges großes Monster, das nicht genug bekam. Immer wieder griff es mit seinen riesigen Pranken nach einem neuen Buch und stopfte es in sein gefräßiges Maul. Gefiel ihm eins, blies es eine umso größere Feuerfahne in die Luft. Dann stieß das Feuer auf ein Stück Leder, darüber helle Haut, dann ein Hosenbein, anschließend der untere Rand von einem Jackett, eine Hand, ein Hemdkragen, ein Gesicht, das blutig schmeckte, eine Brille, deren Glas das Feuer ausspie, und Haare, deren Geruch das Monster verabscheute, und dennoch verschlang es alles, was sich ihm in den Weg stellte…

* * *

Es war etwas ganz Besonderes gewesen, sie zu töten, und nicht so einfach, wie er es sich ausgemalt hatte. Aber das war gut so. Es befriedigte ihn, dass es sogar schwer war. Er liebte diese Schwierigkeit, das Komplexe im Detail. Danach fühlte er sich leicht. Hörte laute Musik, trank tiefroten Wein und schwebte.

Vieles wurde in der Wiederholung sicher leichter. Das galt nicht für das Töten. Man musste diesen Moment finden, der das Leben vom Tod unterschied. Nicht quälen. Da wollte er hin. Ohne Schmerzen, nur auslöschen. In einem Moment. Wie die Guillotine. Sie war exakt.

Er war erleichtert, hatte es tun müssen.

Als er genau hinsah, da bemerkte er, dass das Muttermal unverletzt geblieben war.

Er küsste es. Es schmeckte salzig. Und noch warm.

Plötzlich hielt er inne im Küssen. Er legte sich neben sie, schmiegte sich an sie, drehte ihren Kopf, sodass sie einander in die Augen sehen konnten. So nah waren sie einander. Selten so nahe wie jetzt. Er ließ ihre Augen offen, sie sollten ihn ansehen.

Dann eine Vision. Eine tote Frau zu der anderen. Doppelt schön. Zweifache Schönheit. Er dazwischen. Sich bergen lassen.

Es war kalt.

Montag

Es war ungefähr fünf Uhr, da meldete sich neben Sito eine zaghafte Stimme. Es dauerte, bis Sito begriff, dass es Zeus war. Aber es war bereits zu spät. Zeus saß neben einer kleinen Pfütze und winselte. »Nicht schlimm«, flüsterte Sito und klopfte dem Kleinen den Kopf. Anschließend ging er mit ihm in den Garten. Zurück im Schlafzimmer wischte er schnell den Boden. Zeus schlief schon wieder, und auch Sito konnte wieder einschlafen, kaum dass er die Decke über seine Schultern gezogen hatte.

Als er das nächste Mal die Augen öffnete, ertappte er Zeus bei einem Erkundungsgang in den geöffneten Schrank. Montag. Ein ganz normaler Montag. Das konnte Angst machen. Diese ständige Wiederkehr des Normalen. Im Krankenhaus war klar, dass nichts passieren würde, aber hier zu Hause fühlte Sito sich für die Gestaltung seines Tages verantwortlich. Also überlegte er, was er tun sollte. Noch eine Woche hatte der Arzt ihm Ruhe verordnet, dann könne er wieder zu arbeiten anfangen. Er galt als geheilt, zumindest sein Körper, doch er musste noch vor den internen Ermittlungsausschuss treten. Vor Hohenfels. Und dann würde sich zeigen, wo Enzig stand. Insgeheim hatte Sito keine Zweifel.

Sito und Zeus standen inzwischen in der Küche. Der Hund saß vor der Schüssel, wartete in aller Ruhe. Sito überlegte genau, was wo war. Alles erschien ihm neu und anders. Es klingelte. Zeus rannte jaulend vorneweg. Sito öffnete.

»Hi. Na, wie war deine erste Nacht bei einem Kommissar?«

Miriam. Sie schenkte Sito nicht viel Aufmerksamkeit, sondern kniete sogleich neben Zeus, um ihn an den Ohren zu kraulen; er ließ es geschehen. Sito lächelte innerlich, sein Gesicht jedoch blieb starr. Ihm war, als verliefe eine Barriere zwischen Innen- und Außenwelt.

»Hallo, Miriam. Was gibt es? Überprüfst du, ob ich noch mit einem kleinen Hund zurechtkomme?« Die Worte kamen härter über seine Lippen, als er beabsichtigt hatte. Er zog eine Grimasse, die ein Grinsen sein sollte.

Miriam lachte, ging in die Küche und stellte ihren Rucksack auf die Ablage. Sie leerte ihn aus, und zum Vorschein kamen einige Büchsen mit Welpenfutter. »Die eine Dose von gestern dürfte kaum reichen. Ich hab eingekauft.«

»Oh, sehr nett. Da haben wir ja Glück, Zeus, nicht wahr?« Er tätschelte den Hund und sah Miriam an. »Danke«, flüsterte er.

»Ich hab auch für dich ein paar Sachen eingekauft. Wenn du willst, koch ich dir heute was.«

»Musst du nicht zur Schule?«

»Ich hab mir freigegeben. Keine Sorge. Das Abi ist nicht wirklich ein Problem. Kannst ja meinen Vater fragen.«

»Nein, nein, ich glaub dir. Kochen klingt gut. Ist schon Mittag?«

Miriam lachte. »Was ist los? Hattet ihr beiden eine lange Nacht? Ach, weißt du übrigens, wo es gestern gebrannt hat?«

»Nein. Hatte noch keine Zeit, Nachrichten zu hören. Aber wir haben Sirenen gehört. Ich erinnere mich. Wo hat es denn gebrannt?«

»Die Bibliothek in der Uni hat gebrannt.«

»Was?« Sito dachte sofort an Meisler.

»Ein Teil zumindest.«

»Welcher?«

»Das Antiquariat ist auf jeden Fall zerstört.«

»Oh Schreck. Armer Meisler.«

»Wer ist das?«

»Otto Meisler, ein alter Bekannter. Das Antiquariat war sein Leben. Er hat mich auch ein paarmal im Krankenhaus besucht. Er wird am Boden zerstört sein.«

»Hm, das ist nicht nur für ihn eine Katastrophe. Das Antiquariat war komplett restauriert, und es gab dort einige einmalige Werke.« Miriam stemmte die Hände in ihre Hüften. Sie sah noch dünner aus, unter dem Shirt zeichneten sich ihre Hüftknochen ab. »Aber weißt du was?«

»Was?«, fragte Sito, stemmte seine Hände auch in die Hüften und grinste schief.

Sie lachte. »Ich darf bei der Graffiti-Aktion an der Marktstätte mitmachen.«

»Aha. Sagt mir nichts, entschuldige. Du und Graffiti? Das ist neu.«

»Na, die machen auch andere Sachen. ›Signals under Traffic‹ heißt das, die wollen ein Zeichen für die Kunst setzen. In der Unterführung, ist das nicht toll?«

»Ja, toll.« Sito lachte. »Gratuliere. Was wirst du machen? Musst du live malen?«

»Ja, einen Baum, der eine Fabrik überwuchert. Mauer und Steine sollen irgendwie ineinanderwachsen. Mal sehen, wie das wird. Die Künstler kommen von überallher. Das wird aufregend. Also, was sollen wir uns kochen?«

»Wie?« Sitos Gedanken hingen zwischen Graffiti in der Unterführung, Meisler und Miriams Hüftknochen. »Ach, irgendwas. Ich würde gern kurz telefonieren.«

»Na gut. Dann denk ich mir was aus.«

* * *

3.März

Nirvanas Unplugged-Konzert in New York läuft seit geraumer Zeit. Ekstatisch. Kleine Keime von Leben sprießen. Lese Heiduczeks »Tod am Meer«, fühle mich beschäftigt. Habe wieder schlimm geträumt. Habe aus Spaß mit einem Mann russisches Roulette gespielt. Als ich an der Reihe war, habe ich nicht mir die Pistole an die Schläfe gehalten, sondern ihm und mit einem Lächeln abgedrückt. Sein Gesichtsausdruck war derart entsetzt– beim Aufwachen schloss ich die Augen in dem irrigen Gefühl, dieses Gesicht vergessen zu können. Es war keine Kugel im Lauf gewesen. Keine Wunde in seiner Stirn. Der andere lachte. Ich lachte nicht mehr. Dann flog sein Schädel auseinander. In zwei senkrecht geteilte Hälften…

Enzig hat recht, aufschreiben hilft in gewisser Weise. Schon merkwürdig, hätte ich nicht für möglich gehalten, denn eigentlich ändert sich doch nichts, die Bilder sind da, geträumt, gedacht, phantasiert, halt einfach in mir, da beißt die Maus doch keinen Faden ab, aber anscheinend kann man sie bannen, die Bilder, in diesen kleinen weißen Raum sperren, den das Papier den Bildern eben lässt. Auf jeden Fall scheinen die einzelnen Bilder, sobald ich sie aufgeschrieben habe, fürs Erste verbannt zu sein. Gleichwohl folgen neue, nicht bessere. Was also ist gewonnen? Kommen irgendwann keine Bilder mehr nach? Was passiert dann? Die Energie ist doch wohl noch da, wohin dann mit ihr?

* * *

Während Miriam in der Küche ihre Einkäufe drapierte, blieb Sitos Blick an dem Bild über seinem Schreibtisch im Wohnzimmer hängen. »Der Stier« von Franz Marc. Er wusste, wo dieses Bild ebenfalls hing. Wehmut überfiel ihn. Was tat er hier? Mit einer zu jungen Frau kochen und Leben spielen.

In seiner Küche kein kleiner Stier, dafür das reinste Stillleben. Nichts schien echt. »Wie viele Gäste kommen?«

»Niemand außer uns. Ich wusste nicht, wonach dir der Sinn steht, da habe ich einfach alles Mögliche eingekauft. Hast du Lust, mit mir zusammen zu kochen? Ich hab auch veganen Käse gefunden.«

»Ich geh nur noch mal mit Zeus raus, dann mach ich Musik an.«

»In Ordnung.«

Sito ging pfeifend in den Garten, die Balkontür ließ er einfach offen, und Zeus folgte ihm prompt ohne weitere Aufforderung. Draußen begrüßte sommerliche Hitze die beiden. Sito stand mit nackten Füßen auf den warmen Holzdielen und atmete tief durch. Leben spielen. Zeus schnupperte an den Blumen im Beet. Frauenmantel, Janina hatte den gemocht.

Mai und schon Sommer. Es ging ihm bereits wesentlich besser als am Tag zuvor. Zurück im Haus startete er den CD-Player und erschrak. Albinonis Adagio in g-Moll lag noch im CD-Player wie eine böse Erinnerung. Zuletzt war es in Endlosschleife gelaufen. Schnell suchte Sito nach Ersatz.

Wenig später lief er zu Chopins Walzern in die Küche. Auf dem Weg bremste ihn das Telefon. Seine Mutter. Ihre Stimme wie immer, wenn sie eine bahnbrechende Neuigkeit hatte, eine Spur zu hoch. »Ich komme«, flötete sie ins Telefon. »Ich komme dich besuchen«, flötete sie weiter, und Sito dachte: Wo bleibt die entscheidende Information? Sie hatte Erbarmen. Zum Konstanzer Weinfest würde sie kommen, wie anscheinend der ganze Freundeskreis von früher den Weg zum Stephansplatz Ende Juli eingeplant hatte. Auch alte Stammgäste aus dem Restaurant seines Vaters. Sito staunte. Sprachlos war er. Seine Mutter hatte auf ihren Reisen durch Indien und Kambodscha nicht innere Ruhe gefunden, stattdessen eine schier grenzenlose Fähigkeit zur Euphorie. Man verschob die weitergehende Planung des Besuchs. Auf jeden Fall wollte sie bis zum Seenachtsfest bleiben, denn alles andere wäre ja… »Unsinnig« war das letzte Wort, das Sito verstand, dann riss die Verbindung nach Indien ab– oder woher hatte seine Mutter angerufen? Er wusste es nicht.

Sito eilte in die Küche. Dort eine Schrecksekunde. Miriam und er standen nebeneinander an der Ablage. Er sollte Gemüse schneiden, die Zucchini halbieren. Sie reichte ihm das Messer. Sito griff danach. Für einen Moment berührten sich ihre Finger, ruhte das Messer in ihrer beider Hände– ein Blick, Miriams Augen weit weg, seine eigenen wie gebannt, alles war wieder da. Der Keller, das Gesicht. Doch dann war Miriam schlagartig wieder bei ihrer fröhlichen Geschäftigkeit. Sito machte sich erleichtert an die Arbeit und genoss das Ausführen von einfachen Aufgaben.

* * *

»Wieso müssen wir zu einem Feuer fahren?« Enzig sah Busch ungläubig an.

»Es wurde eine Leiche gefunden.«

»Jemand war am Sonntag in der Bibliothek?«, fragte Enzig.

»Offensichtlich. Irgendjemand vom Personal. Es sieht auch ganz nach Brandstiftung aus.«

»Aber wer sollte denn die Bibliothek niederbrennen? Du meine Güte. Welcher Teil ist denn betroffen?«

»Das Antiquariat ist völlig zerstört, dann noch der anschließende Teil mit der englischen Literatur. Die Leiche wurde im Antiquariat gefunden.«

»Arbeitet dieser Meisler nicht noch immer im Antiquariat?«, erkundigte sich Enzig.

»Ja, an den habe ich auch schon gedacht. Ich habe schon jemanden bei ihm zu Hause anrufen lassen.«

»Und?«

»Keine Ahnung. Können wir dann?«, drängte Busch.

»Gehen Sie schon mal vor. Ich komme gleich nach.«

Kaum war Busch aus dem Zimmer, wählte Enzig Sitos Nummer.

* * *

»Wie geht’s?«

»Hervorragend«, gab Sito kauend zur Antwort und schäkerte mit Miriam, die ihm den Teller zum zweiten Mal mit Gemüse füllte.

»Sie sind gar nicht alleine?«, wollte Enzig wissen.

»Nein, hm, lecker, aber nicht so viel, ich kann nicht mehr.« Sito versuchte Miriams Fürsorge zu bremsen, doch zu spät, schon hatte er eine weitere Portion Reis neben dem Gemüse.

»Paul?«

»Ja, Roman, ja doch, bei mir ist alles in Ordnung. Miriam hat gekocht, ich esse, bin guter Dinge, und Zeus hat schon seit Stunden nicht mehr ins Haus gepinkelt.« Sito lachte so laut, dass Enzig den Hörer weghalten musste.

»Wer?«

»Zeus, mein neuer Hund.«

»Ach ja, klar. Hatte ich vergessen. Klappt es denn?«

»Also, Dr.Roman Enzig«, sagte Sito mit gespieltem Ernst, »mir scheint, Sie sind nicht ganz bei der Sache. Warum genau rufen Sie mich an, und wo sind bloß Ihre Gedanken?«

»Schon gut, alles klar, ich wollte nur wissen, wie es Ihnen geht, aber ich sehe schon, dass alles in Ordnung ist, wie gesagt, alles klar.«

Sito stutzte. Das klang beinahe so, als wäre Enzig eifersüchtig. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, aber ich würde mich freuen, wenn Sie heute Abend auf ein Glas Wein vorbeikämen. Der Wein ist natürlich nur für Sie. Ich nehm Tee.«

»Was ist?«, wollte Miriam wissen, nachdem Sito aufgelegt hat.

»Ts, ts, ts«, Sito schüttelte lachend den Kopf, »Roman, Roman Enzig, stell dir vor, dieser große Mann sitzt jetzt mit hängenden Schultern am Schreibtisch und ist ein wenig enttäuscht, dass er nun nicht mehr gebraucht wird.«

»Was? Ich versteh nicht.« Miriam biss von der Zucchini ab. »Etwa wegen mir?«

»Hatte fast den Anschein.«

* * *

Enzig und Busch trafen bei der Bibliothek ein. Die Luft trug nach wie vor Rauch mit sich. An manchen Stellen qualmte es noch. Der linke Flügel der Bibliothek war völlig abgebrannt, der restliche Teil abgesperrt. Eine Frau kam ihnen aus den Trümmern entgegen.

»Anna von Brohnbach mein Name. Sind Sie die Herren von der Kriminalpolizei?«

Enzig griff schnell nach der Hand. »Ja. Roman Enzig. Das ist mein Kollege Marc Busch. Und Sie sind bei der Feuerwehr?«

Sie lachte. »Ich bin die Brandspezialistin. Ich versuche, den Brandherd ausfindig zu machen, und sage dann, ob Brandstiftung oder Unfall.«

»Und? Haben Sie schon was gefunden?« Grüne Augen unter einem blonden Pony strahlten ihn an. Ein großer Mund, ungeschminkt. Mehr sah Enzig nicht.

»Nun, Herr–?«

»Enzig.« Ihm war ein wenig flau. Als taumelte er in diese wiesengrünen Augen hinein.

»Ja, entschuldigen Sie, Herr Enzig. Es war eindeutig Brandstiftung. Die Überreste des Toten können geborgen werden, das heißt, vielleicht wollen Sie sich ja noch ein Bild machen?«

»Marc?« Enzig sah fragend zu seinem Kollegen, den er noch immer nicht richtig einschätzen konnte. Marc Busch war sechsunddreißig, sehr attraktiv, das konnte Enzig neidlos anerkennen, doch seltsam reserviert. Nie sah er ihn schäkern, stets war Busch ganz auf seine Arbeit konzentriert, wirkte mal beflissen, mal schüchtern, immer höflich.

»Dr.Enzig?« Busch machte eine fragende Geste.

»Was? Ach, entschuldigen Sie.«

»Lassen Sie uns hineingehen.« Busch wandte sich an Anna von Brohnbach: »Kommen Sie mit und erklären uns alles?«

Wieder fiel Enzig die neutrale Höflichkeit von Busch auf. Schnell sah er zu Anna von Brohnbach. Üblicherweise erkannte Enzig sogleich eine Sympathiebekundung bei den meisten Frauen, die mit Busch zu tun hatten. Auch von Brohnbach lächelte ihn offen an, während sie erklärte: »Es war sehr einfach. Der Brandstifter hat sich nicht viel Mühe gemacht, irgendwelche Spuren zu verwischen. Er muss einfach einen Benzinkanister mit in die Bibliothek geschleust haben. Dann hat er das Benzin verteilt und angezündet. Unweit von der Stelle, an der der Tote gefunden wurde. Ich muss Sie warnen, es ist nicht viel übrig von ihm. Der sollte offensichtlich verschwinden.«

»Macht Ihnen das gar nichts aus?«, erkundigte sich Enzig und musterte die Frau. Sie hatte ihre mittellangen Haare hochgesteckt und setzte sich gerade eine Brille mit braunem Rahmen auf. Sie sah sehr intellektuell damit aus; Enzig gefiel, was er sah.

Jetzt hielt sie inne. »Das fragen ausgerechnet Sie mich? Sie sehen doch bestimmt mehr Tote.«

»Na ja, ich bin eigentlich nur der Psychologe und erst seit ein paar Monaten bei der Polizei.«

»Aha, daher der Doktortitel. Wieso schickt man gleich einen Psychologen, wenn es ein Brandopfer gibt?«

»Wie? Ach so, nein, Sie haben das missverstanden. Ich arbeite schon fest in der Mordkommission, ursprünglich als Profiler, nun aber als stellvertretender Dienststellenleiter gemeinsam mit Herrn Busch, bis Hauptkommissar Sito wieder zurückkehrt.« Enzig wunderte sich schon ein wenig, aber diese Anna von Brohnbach motivierte ihn, sich ausnahmsweise mal in den Vordergrund zu spielen. Und dass er Dienststellenleiter war, na ja, das war ja etwas.

Während Busch sicher gehofft hatte, Sitos Nachfolge anzutreten, hatte man die Dienststellenleitung recht überraschend auf zwei Stellen verteilt. Die Bekanntgabe, dass er selbst, Enzig, mit dieser verantwortungsvollen Aufgabe betraut wurde, vorübergehend, weil man auf Sitos Rückkehr hoffte, hatte auch ihn völlig unerwartet getroffen. Ganz sicher über den strategischen Hintergrund dieser Maßnahme war Enzig sich noch immer nicht, dabei hatte er nun beinahe sieben Monate Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Vielleicht hatte die Chefetage einfach Angst, der letzte Fall könnte eine Lawine auslösen, wenn er nicht nur die Laufbahn des Polizeidirektors Friedrich Kerler, sondern auch die des Hauptkommissars Paul Sito beendet hätte. Inzwischen war Enzig überzeugt, dass man eine gewisse Kontinuität vortäuschen wollte.

»Ach ja, ich habe davon gehört. Wird er denn wiederkommen?« Ihre Anteilnahme klang ehrlich.

»Wir hoffen auf nächste Woche.«

»Das ist schön. Wir haben schon zusammengearbeitet, Kommissar Sito und ich. Sehr angenehm mit ihm, ganz anders…« Sie machte eine Pause, dann fügte sie schnell hinzu: »Oh, das war jetzt nicht so gemeint, Sie kenne ich ja noch gar nicht.« Sie zwinkerte Enzig zu.

Enzig schaute schnell weg. Und weiter ging es durch die kohlenden Trümmer bis hin zu der Leiche. Es stank. Nach verbrannter Haut. Enzig hob die Hand vor den Mund und redete mit gepresster Stimme: »Wo ist der Brandherd?«

»Ist Ihnen nicht gut?«

»Macht Ihnen der Geruch nichts?«

»Doch. Der Brandherd ist dort hinten.« Sie zeigte nach rechts.

Enzig winkte Busch zu sich. »Wir sollten einen Plan von der Bibliothek besorgen, um zu sehen, ob es einen Grund gibt, dass der Täter das Feuer dort gelegt hat. Bestimmt kann uns Meisler helfen. Das Antiquariat war doch sein zweites Zuhause.«

Busch nickte und machte sich Notizen.

Enzig schluckte, ein Déjà-vu. Für Busch hatte sich nichts geändert. Er machte die Notizen, erst für Sito, jetzt für ihn, Enzig. »Muss es wirklich Benzin gewesen sein? Und in welcher Menge, schätzen Sie, hat es der Täter hereingeschleppt?«

»Benzin oder Ähnliches. Die Menge ist schwer einzuschätzen, weil hier so viel leicht Entflammbares herumstand, die Regale, die vielen alten Bücher. Das Feuer hat es sehr leicht gehabt, sich auszubreiten, daher wird ein kleiner Kanister wohl gereicht haben.«

»Hallo, ihr beiden.«

Busch und Enzig sahen sich um und erkannten den Rechtsmediziner Samuel Parson.

* * *

Mit Reis gefüllte Zucchini und Salat, dazu Wasser. Sito hatte versucht, Meisler zu erreichen, doch ohne Erfolg. Während er die Nummer ein weiteres Mal wählte, fragte er sich, was er Meisler eigentlich sagen wollte. Ihm fiel nichts Brauchbares ein, sodass er eher erleichtert war, als wieder niemand ans Telefon ging.

Miriam erzählte von der Schule, und Sito glaubte sich in einem grotesken Anachronismus, doch Zeit zum Grübeln blieb ihm nicht, denn allein der Tonfall ihrer Stimme– so viel Glück– reichte aus, ihn trunken zu machen. Sie redete wie ein Wasserfall, klar und rein, und nichts verriet, dass auch für sie damals in dem Verlies die Zeit der Unschuld brutal geendet hatte, dass sie zum äußersten Mittel hatte greifen wollen. Als Jahrgangsbeste würde sie demnächst das Abitur bestehen. Sito spürte Stolz. Hatte er doch väterliche Gefühle für sie? Dann aber spürte er ihren Arm auf seiner Schulter. Er drehte sich zu ihr. Plötzlich hatte sie nicht mehr dieses Strahlen in den Augen, ganz still stand sie vor ihm.

»Bist du wirklich gesund?«

»Ja. Ich fühle mich von Tag zu Tag besser.«

»Warum wolltest du mich nicht mehr sehen?«

»Ich wollte niemanden sehen.«

»Warum nimmst du mich nicht ernst?«

»Wie kommst du darauf?«

»Du nimmst nicht ernst, dass ich dich liebe.«

»Ich nehme dich sehr wohl ernst. Es schmeichelt mir. Aber…«

»Was ›aber‹?«