Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Tödliche Jagd am Bodensee - hochspannend, geheimnisvoll und vor traumhafter Kulisse. Kommissarin Cora Merlin steckt in einer Zwickmühle. Eigentlich möchte sie ihre Lindauer Altstadtwohnung mit Blick auf den See und die Schweizer Berge nicht verlassen, doch beruflich tritt sie auf der Stelle. Als eine einbalsamierte Frauenleiche gefunden wird, die wie die Figur in einem berühmten Gemälde drapiert wurde, stürzt sich Cora in die Ermittlungen – und gerät mitten in einen Fall von international organisiertem Kunstraub und zwischen die Fronten besessener Sammler, die alles tun, um eines der größten Rätsel der Kunstgeschichte zu lösen. Geht einer von ihnen dafür auch über Leichen?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 453
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Tina Schlegel war Regieassistentin, Drehbuchautorin und Redakteurin, bevor sie als freiberufliche Kulturjournalistin unter anderem für die »Süddeutsche Zeitung« und die »Münchner Abendzeitung« arbeitete. Seit 2012 schreibt sie für die »Augsburger Allgemeine« über Kunst, Theater und Musik. Tina Schlegel lebt mit ihrer Familie im Unterallgäu.
www.tinaschlegel.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Lust auf mehr? Laden Sie sich die »LChoice«-App runter, scannen Sie den QR-Code und bestellen Sie weitere Bücher direkt in Ihrer Buchhandlung.
© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Montage aus mauritius images/Kuttig-Travel-2/Alamy, shutterstock.com/Stephen Cullum
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lothar Strüh
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-560-2
Bodensee Krimi
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie
regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter
www.emons-verlag.de
Abschied
Erst im letzten seufzend TotengrußKehrt in unser aller sehnend Blick,Das, was wichtig ist und war, zurückIns Herz – wo es fortan ruhen muss.
Venedig
Er zwang sich, den Pinsel anzusetzen und der Linie zu folgen. Ruhe, mahnte er sich und tauchte ein in diese geheimnisvolle Welt. Die Frau auf dem Gemälde wandte sich ihm zu, anmutig saß sie dort, blass ihre Haut, den Säugling schützend in den Armen. Die Natur um sie herum nur zur Hälfte an das Paradies erinnernd. Er ließ seinen Blick schweifen über das Grün und die Mauer und die Stadt im Hintergrund, von der niemand genau wusste, wo sie lag. Beruhigung und Verstörung zugleich. Diente der Hirte, der in einiger Entfernung vorbeiging, als Bewacher der jungen Mutter? Oder würde er sie gleich bedrohen? Weshalb nur war sie allein im Wald mit einem Säugling, halb nackt, ausgeliefert den Blicken des Malers und des Betrachters, wo nur würde sie hingehen, wenn es Nacht wurde?
Dieser Blick. Wochenlang hatte er sich nur mit diesem Blick auseinandergesetzt, ihm zu begegnen versucht und doch keine Position gefunden, immer wieder hatte sie sich ihm entzogen. Es war das schwerste Bild seiner Karriere. Und dann, an einem schwülwarmen Sommertag, sollte er ihn endlich verinnerlichen, den Blick, den er gesucht hatte.
Es begann mit Elas Schlüsselbein, das ein wenig zu weit herausragte. Er küsste es. Sie standen in seinem Atelier im dritten Stock des alten Palazzo mit diesem beinahe anrüchig schönen Blick auf die Ponte dell’Accademia. Kein Wort fiel. Sie zog sich aus und legte sich auf sein altes, quietschendes Bett. An der Mauer über ihrer nackten Haut erste Risse, die abblätternde Farbe welkendes Gelb. Er spürte ihre Sehnsucht, von ihm gemalt zu werden.
Draußen spielten Kinder mit einem Ball. Er hörte die hellen Stimmen, die Aufregung und Triumph von den einen, bittere Enttäuschung von den anderen zu ihm trugen. Auch wenn er nicht alles verstand, was aus den Corti zu ihm nach oben drang – die leidenschaftliche Jagd nach dem Ball erfüllte ihn mit Wehmut.
Leise schlich seine Wehmut zu ihrem Hals. Er wollte zu ihr, sich vor das Bett knien und ihrem Atem lauschen. Dann ihren Körper mit dem Pinsel nachzeichnen. Die Augenbrauen entlang, den Nasenrücken hinab, die Wangenknochen, die Lippen … Er wusste, es würde sie zum Zerspringen bringen.
Allein er konnte sich nicht losreißen von dem puren Anblick. Stille. Die Mauer blätterte zärtlich gelb an den Boden, verschwunden die Jagd draußen nach dem Ball, gewichen einer anderen. Und dann sah er ihn vor seinem inneren Auge – den Blick, den er gesucht hatte. Er lag dort auf seinem Bett und wandte sich gerade ihm zu. Er hörte die Vögel und die Stimmen vom Campo San Vidal, wusste, dass der Canal Grande unter ihnen das Leben, aber auch den ganzen Schmutz vorbeitrug. Dies alles einatmend, wusste er, dass es gelingen würde. Er sah die Frau mit dem Säugling dort allein im Wald, die in Einsamkeit gefangen war für alle Zeit – jetzt endlich trafen sich ihre Blicke. Er verstand Ela.
Sie hatte dieser Anblick nicht mehr losgelassen. Das hatte sie von ihrem Vater – Schönheit galt nur, wenn man sie besaß.
***
Theodor Rosenfelder, seit mittlerweile fünf Jahren der Kulturamtsleiter der Stadt Lindau, hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er beobachtete die Segelschiffe auf dem See und meinte, die Zeit sei stehen geblieben. Der Tag hatte zwar viele Segler gelockt, aber mit Wind gegeizt, nichts bewegte sich. Stillstand war hin und wieder eine schöne Sache, dachte er schmunzelnd. Wie ein Gemälde lagen sie dort auf dem See, und Rosenfelder musste an Sorolla denken, den spanischen Maler. So viel wunderschönes Licht im Wasser.
Rosenfelder holte tief Luft. Die vielen Reisen der letzten Wochen steckten ihm in den Knochen, er war nicht mehr der Jüngste, noch zwei Jahre als Kulturamtsleiter, dann würde er aufhören, würde hier am Fenster stehen und auf den See blicken, die Berge in der Ferne, wenn sie im Sonnenuntergang verbrannten. Direkt vor seinem Haus verlief der Gustav-Röhl-Uferweg, im Sommer mit einer Spur zu vielen Spaziergängern, doch das hatte er gern in Kauf genommen für sein neues Domizil.
Das Gebäude im italienischen Landhausstil mit sichtbaren Ziegelwänden, dem eine große Grünfläche vorgelagert war, mit schönen alten Bäumen darauf, hatte eine Weile leer gestanden. Für ihn unerklärlich. Er hatte es gekauft, noch bevor er die Innenräume besichtigt hatte. Die Renovierung war nicht ganz einfach gewesen, zugegeben, die wesentlich größere Hürde, die er in Lindau hatte nehmen müssen, war eine persönliche: In den vierziger Jahren waren seine Vorfahren von hier deportiert worden. Sie gehörten zu den achtzehn Menschen, an die auf einer Gedenktafel an der Peterskirche erinnert wurde. Auch seine Eltern.
Bei seinem ersten Besuch hatte er eine große Distanz zu der Tafel gespürt, als müsse er sich vor der Erinnerung schützen. Die Kirche jedoch hatte ihn sogleich in ihren Bann gezogen. Sie war eine der ältesten Kirchen am Bodensee und wurde manchmal auch »Fischerkirche« genannt. Ihm gefiel vor allem die frühgotische Rötelzeichnung, die den heiligen Christophorus darstellte.
Vom Christophorus mit dem Kind milde gestimmt, hatte er später einen neuen Versuch mit der Gedenktafel gewagt. Sie fiel ihm nicht leicht, die Begegnung mit der Stein gewordenen Erinnerung an die Familie. Einer sei in Auschwitz gestorben, stand dort. Einer von achtzehn. Rosenfelder hatte dennoch gewusst, dass er nach Lindau zurückkehren wollte, gerade deshalb. Zum Trotz gegen das Unrecht, zur Wiederherstellung einer Ordnung.
Kulturamtsleiter der Stadt war eine gute Stelle, Lindau bot alles, was sein Kunstherz begehrte – viel Geschichte, schöne Ansichten, ein Museum, das finanziell gut aufgestellt war und ihm Freiheiten ließ, die sicherlich weit über den Durchschnitt hinausgingen, die Nähe zur Schweiz, wo er gute Kontakte in die Kunstsammlerszene hatte.
Beinahe alles war gut, der Zirkel indessen beschäftigte ihn. Obwohl er ausgestiegen war, wurde die Lage allmählich bedrohlich. Jetzt galt es ein paar Dinge zu regeln, letzte Dinge gewissermaßen. Notfalls mussten sie mit dem Boot hinüber in die Schweiz … Vielleicht lieber nicht mit einem solchen, wie es sich gerade mit seinem leuchtend roten Segel gemächlich in seine Aussicht schob, dachte er und fasste einen Entschluss. Die Hände in seinem Rücken kribbelten vor Aufregung.
Cora Merlin stand vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Die Uhr auf dem Nachttisch hüpfte vor ihren Augen auf und ab.
»Ist ja gut«, murmelte sie.
Es war Samstag, zehn Uhr. Um elf musste sie am Standesamt sein. Lindau an einem sommerlichen Samstag im Juli, Himmel, hilf! Drei Kleider zur Auswahl, keines gefiel ihr. Cora stöhnte. Wieso nur hatte sie ihrer Freundin bei deren letztem Besuch das Standesamt überhaupt gezeigt? Mit diesem umwerfenden Blick auf den See. Schön, gewiss, die Lage, der Toskanapark, aber musste ausgerechnet ihre Freundin dort heiraten?
Cora ahnte, was sie erwarten würde: eine in die Nacht fallende Sonne über der Lindauer Hafeneinfahrt mit dem Leuchtturm auf der rechten und dem riesigen Bayerischen Löwen auf der linken Seite. Sechs Meter hoch der Löwe, geschlagen aus Kelheimer Marmor und stolz sitzend auf einem dreistufigen Podest aus Nagelfluh, dozierte gerade ihre innere Stimme. Nagelfluh. Wo hatte Cora das zuletzt gelesen? Ihre innere Stimme wusste bisweilen mehr als sie, das war nicht immer ein Segen. Nagelfluh, ein Konglomerat, in der Schwäbischen Alb gab es das auch. Der Löwe. Sehnsüchtig sein Blick zu den Schweizer Bergen am Horizont …
Vehement schüttelte sie das Bild aus ihrem Kopf. Schon zerfiel die Schönheit zu Kitsch, ständig angerempelt von hechelnder Romantik, nein, das konnte Cora gerade absolut nicht brauchen. Sie nahm das hellgelbe Kleid mit den weißen Punkten, das sah sehr sommerlich aus auf ihrer sonnengebräunten Haut. Dazu ein weißer Hut auf ihren dunklen … Verflixt! Vom Joggen der letzten Tage in der Sonne hatte sie Ränder auf den Schultern, die genau im Ausschnitt des Kleides lagen und aussahen wie Träger eines BHs. Cora könnte sich die Haare raufen. Sie verbrachte üblicherweise nicht allzu viel Zeit vor Spiegeln, auch nicht vor ihrem Kleiderschrank.
Für ihre Arbeit genügten Jeans und T-Shirt, und zu Hause trug sie im Sommer gern Shorts. Jedoch hatte ihre Freundin ausdrücklich um ein Kleid gebeten. Also das hellgrüne, das mit dem Stehkragen. Cora stieg in das Kleid, mühte sich mit dem Reißverschluss ab und wuschelte sich einmal durch die noch feuchten Haare. Eine Sonnenbrille ins Haar, und fertig war die Frisur. Passende Sandalen, die sie einen Kopf größer machten … Cora winkte ihrem Spiegelbild zu. Hinten hüpfte wieder der Wecker neben ihrem Bett und grinste frech.
Mit dem Fahrrad fuhr sie hoch zur Fischergasse und wenig später über die Chelles-Allee, die über die Landtorbrücke zum Festland führte, wo es rechts zum Gebäude der Stadtverwaltung und dem dort integrierten Standesamt abging.
Dass Cora eine Wohnung auf der Insel gefunden hatte, noch dazu im Gerberviertel mit seinem »geheimen Platz im Himmel«, wie es die Leute manchmal schelmisch nannten, machte sie immer wieder stolz und glücklich. Wohl hatte es auch daran gelegen, dass dem Vermieter ihr Kleid – war es nicht sogar auch das grüne gewesen? – so gut gefallen hatte. Mit nur einem Hauch von schlechtem Gewissen hatte sie damals schnell den Mietvertrag unterschrieben. Allerdings wurde sie immer wieder von Kollegen erwischt, weil sie in der Fußgängerzone Fahrrad fuhr auf dem Weg zur Polizeistation drüben auf dem Festland. Ärgerlich und peinlich. Ärgerlich auch die schmalen Absätze, mit denen sie gerade von den Pedalen schlitterte.
Seit sie als Kriminalhauptkommissarin bei der Polizei Lindau arbeitete, hatte sie kaum noch Schuhe mit Absätzen gebraucht. Turnschuhe lagen ihr ohnehin mehr. Sie staunte, wie geschickt die anderen Frauen über das Kopfsteinpflaster in der Maximilianstraße stöckelten, sie selbst hatte einmal den Fehler gemacht und war prompt mit dem Absatz zwischen zwei Steinen hängen geblieben, gestrauchelt und zwei Schritte ohne Schuh weitergestolpert – vor einem voll besetzten Café auf dem Platz vor dem Stadtmuseum. Sie hatte gelacht, sich einmal verbeugt, den Schuh eingesammelt und sich geschworen, die Schuhauswahl in Zukunft besser zu gestalten.
Vor dem Standesamt hatte sich bereits eine Menschentraube versammelt, ihre Freundin hatte sie gewarnt, sie waren tatsächlich mit einem Rolls Royce vorgefahren. Gewiss mehr als fünfundzwanzig Schaulustige verschoben ihren Stadtbummel und warteten jetzt, dass die Braut endlich ausstieg, dahinter das eindrucksvolle Gebäude mit dem herrschaftlichen Eingang. Am liebsten wäre Cora abgebogen, aber sie gehörte nun einmal dazu.
Und dann stieg Michaela aus, ganz in Weiß mit Blumenhaarschmuck. Das war dann doch zu viel für Cora. Beinahe wünschte sie sich einen dringenden Mordfall.
Eine gefühlte Ewigkeit später, nach der Trauung und dem Sektempfang im Garten am See, nach einem endlosen Fotoshooting mit Braut und Bräutigam, fuhren sie mit dem Boot über den Kleinen See, der Lindau Insel vom Festland trennte, und landeten im »Mole3«, einem schönen Restaurant mit Terrasse am Ufer. Zwar leider zunächst bei einem weiteren Sektempfang, aber schließlich und rettend bei einem Abendessen. Der Leuchtturm lag natürlich längst im Abendrot der untergehenden Sonne, treu thronte der Löwe dort und folgte der Welt in die Nacht. Cora war kurz davor zu seufzen.
Irgendwann gegen vier Uhr morgens kam Michaela zu ihr. »Ich bin ja so froh, dass du in Lindau gelandet bist.«
»War’s der schönste Tag in deinem Leben?«, fragte Cora und legte den Arm um Michaela, die sie schon seit der ersten Klasse kannte.
Michaela nickte und lächelte glücklich. »Tut mir leid, ich hatte dich gewarnt.«
Cora gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange. »Meine kleine Kitschkönigin. Wenn du nur glücklich bist.« So viel Selbstlosigkeit war ihr direkt unheimlich.
Um fünf Uhr endlich fiel sie ins Bett, froh, dass ihre Wohnung nur ums Eck zur Party lag, betrübt allerdings darüber, dass sie morgen ihr Fahrrad vom Standesamt würde abholen müssen, da hätte sie mal besser anders geplant.
Egal, neben sich spürte sie das warme Fell von Gizmo, ihrem weißen dreibeinigen Kater, alles war gut. Nun wollte sie einfach bis Montag durchschlafen. Wenn möglich ohne Mordfall oder sonst eine Störung.
***
Er hatte zu viel getrunken. Eine Flasche Rotwein zum Essen, einige Grappa mit Andrea, dem netten Chef in seinem Lieblings-Ristorante. Nach einem besonders schönen Abend hatte Piet Andrea ein Gemälde geschenkt – die Frau, die darauf zu sehen war, war Ela. Und nun platzierte Andrea ihn natürlich immer an dem Tisch mit rot-weiß karierter Tischdecke, von dem aus Piet die »schöne Frau« am besten im Blick hatte, denn dass er sie lieben müsse, das habe er, Andrea, sofort gesehen. Diese leidenschaftliche Spannung, die da im Bild lag, nein, da sei jedes Leugnen zwecklos.
Piet hatte schnell aufgegeben. Spätestens nach dem zweiten Grappa würde er sowieso stets alles zugeben. Er vertrug nicht viel, und manchmal half eben nur ein ordentlicher Rausch.
Er hatte echte Probleme am Hals. Der Direktor der Gallerie dell’Accademia hatte ihn mit einer unerfreulichen Neuigkeit überrascht. Das war nicht gut, gar nicht gut. Und jetzt saß er auch noch unter dem Bild mit Ela, das er momentan lieber nicht sah, denn sie war schon seit einiger Zeit wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatte ihn abgehängt. Eiskalt.
Ela hatte schon London Hals über Kopf verlassen, dort allerdings hatten sie sich noch getroffen, planmäßig, hier in Venedig nur noch einmal zufällig gesehen. Er kannte ihren Ehrgeiz. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass es ihn derart treffen würde.
Ein letzter Grappa, dann verabschiedete er sich, und Andrea, der schon längst die Violine ausgepackt hatte, um seine treuesten Gäste zu unterhalten, spielte ihm eine Abschiedsmelodie. Viel zu traurig klang sie, er flüchtete. Draußen überquerte er den Canal Grande auf einer kleinen Brücke, blieb in der Mitte kurz stehen und starrte in die dunklen Fluten hinunter.
Es gurgelte. Das Schwarz streckte seine Hände aus nach jenen armen Seelen, die … Schnell ging er weiter. Zwei Straßen später hörte er Schritte, von links und von rechts. Das war nicht ungewöhnlich, aber sie kamen schnell auf ihn zu. Gerade als er überlegte, ob er losrennen sollte, waren sie da, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Er sah einen Schlagring aufblitzen, dann fühlte er tausend Lichter wie Regen auf sich niedergehen.
Ein Montag, der blöder nicht hätte beginnen können. So etwas hatte Cora schon lange befürchtet. Mitten bei der Arbeit, wenn alle es sehen konnten. Ihr schwindelte, gleichzeitig wurde ihr heiß. Hinter ihren Augenlidern spürte sie einen stechenden Schmerz. Ihre Zunge wurde taub, und die Ansätze ihrer Haare schienen Feuer zu fangen. Sie erreichte das absurd zierliche Gestänge der Schreibtischlampe und versuchte, sich daran festzuhalten, taumelte, stolperte und fiel und fiel …
Immer war sie zufrieden mit ihrem Namen gewesen, auch wenn sie deswegen oft belächelt worden war. Cora Merlin, klangvoll und ungewöhnlich, sie hätte sich keinen anderen ausgesucht. Lindau indessen hätte sie sich nicht ausgesucht.
Knapp eineinhalb Jahre war sie nun in Lindau als Hauptkommissarin der Mordkommission, und ihre früher nur etwa einmal im Jahr auftretenden Migräneanfälle hatten sich hier leider gehäuft. Es war schon der fünfte in diesem Jahr, der dritte in diesem Sommer, der bald ein Jahrhundertsommer werden würde und ohnehin schon als der Sommer in die Geschichte einging, in dem ihre Freundin Michaela ihrem alten Schulfreund Max das Jawort gegeben hatte. Vor dem fünfunddreißigsten Geburtstag, das war offenbar wichtig, wenn sich Cora so in ihrem Freundeskreis umsah.
Ihr selbst war allerdings viel wichtiger, wann sie nach München zum LKA umziehen würde. Aber – und dieses »Aber« war vermutlich ebenso für ihre Kopfschmerzen verantwortlich wie das Klima – ein Teil in ihr fing an, sich in Lindau wohlzufühlen. Sie hatte schöne Spazierwege für sich erkundet, als es noch Winter war. Einmal war sie Eislaufen gegangen auf dem Kleinen See zwischen Seebrücke und Eisenbahndamm.
Wenn es richtig kalt war, dann fror auch mal der ganze Bodensee zu, Seegfrörne nannte man das hier. 1963 konnte bei so einer Seegfrörne sogar ein Flugzeug im Hafenbecken landen. Ein altes Foto in einer Schauvitrine am Hafen erzählte davon. Cora hatte davor gestanden und sich für einen Augenblick in die Szene hineingeträumt. Das Bild schmeckte süß, und so verankerte es sich in ihrem Kopf, der einmal gehörig durcheinandergeraten sein musste, sonst würden sich ihre Sinne nicht immer wieder mischen. Sie konnte Zahlen riechen und sah sie in Farbe, sie konnte Musik schmecken und Töne in Formen wahrnehmen.
Immerhin besaß sie als Synästhetikerin ein ganz hervorragendes Gedächtnis. Schon längst hätte sie Stadtführungen in Lindau machen können. Am schönsten fand sie jedoch diesen Ausflug mit einem alten Freund zur Villa Alwind im Stadtteil Bad Schachen. Dort hatte alles nach Erdbeeren geduftet, also in Wirklichkeit. Das Schwäbische Meer machte von diesem Aussichtspunkt aus seinem Namen alle Ehre, schön gerahmt von den Österreichischen und Schweizer Alpen. Postkartenfeeling an der Bayerischen Riviera. Lindau hatte sich gut entwickelt – trotz aller Ressentiments. Es war eine der mondänsten Kleinstädte, die sie kannte. Und nicht zuletzt dieser dusselige Zufall, dass sie ihre Traumwohnung gefunden hatte, verflixt, dachte sie und …
Jetzt hörte sie schließlich einen dumpfen Schlag, von dem sie sich nicht sicher war, ob es der ihres Körpers auf dem Holzfußboden war oder vielleicht doch nur die Lampe. Na toll, fluchte sie in Gedanken, sah aus dem Augenwinkel Christian Fischl, ihren Kollegen, herbeieilen und die Sekretärin Marie Hausner, die etwas ihr Unverständliches murmelte oder rief. Cora hatte noch immer nicht alle Eigenheiten des Lindauer Dialekts, des Bodenseealemannischen, verinnerlicht. Es klang wie »grad no obä gsi«.
Herrje, dachte Cora und tastete in Gedanken ihren Kopf ab, wo der Schmerz nun am heftigsten war. So konnte es nicht weitergehen. Besorgte Kollegen und eine hysterische Sekretärin. Marie Hausner half ihr auf die Beine und nach draußen an die frische Luft.
***
Er erinnerte sich an Venedig. An diesen Moment, in dem ihre Augen aufhörten zu strahlen. Tot starrten sie ihn an, und er konnte mit seinem Werk beginnen.
Es war jedes Mal neu und anders als beim ersten Mal, doch gelang stets ebenso perfekt. Er wusste, dass er in keinem Moment seinem Ziel so nahe war, und schon glaubte er, dass man eigentlich genau diesen Moment festhalten sollte in einem Bild, einem weiteren.
Aber jetzt war er nicht mehr in Venedig, es war nur eine Erinnerung an ihren Körper, wie er sich so schön biegen ließ, noch warm und voller Leben. Wie Wachs hatte er in seiner Hand gelegen. Das Blut war den Abfluss hinuntergelaufen, dann ein wenig stehen geblieben, und er hatte einen riesigen Schreck bekommen. Nicht dass es ihn gestört hätte, eine Blutspur zu hinterlassen, doch Cineast, der er war, wusste er, wie das gerade ausgesehen hatte: Hitchcock, »Psycho«. Jener Moment, als Norman Bates das Auto von Marion Crane im See versenkt, zufrieden beobachtet, wie es eintaucht – und dann stecken bleibt. Das Gesicht. Dieses Gesicht … Da gefror ihm das Blut in den Adern. Ob Anthony Perkins da Angst vor sich selbst bekam, wenn er sich in dem Film sah? Es jagte ihm Schauer über den Rücken, dabei hasste er es, Schreck zu spüren. Er wollte die Macht behalten, und da passte Blut, das in einem verstopften Abfluss stehen blieb, so gar nicht dazu.
Venedig war Vergangenheit. Plötzlich schob sich ein Bild von Ela vor sein inneres Auge, ihre Schönheit, ihr ebenmäßiges Gesicht, die leicht gebogene Nase ihres Vaters. Er war davor zurückgeschreckt, sie auszuwählen, hatte Respekt gehabt vor der Endgültigkeit, gleichzeitig wäre Ela ein Höhepunkt in seiner Arbeit, vielleicht unverzichtbar irgendwann.
Lindau war ein guter Ort für den krönenden Abschluss ihrer aller Reise. Und dann einfach in die Schweiz flüchten, seine Villa am Zürichsee erwartete ihn sehnsüchtig. Ein Platz im Keller bot das richtige Klima für das Gemälde. Gegenüber wollte er eine Frau platzieren, die Pose sollte sich spiegeln, in der Spiegelung wollte er das Rätsel endlich lösen. Der Moment, wenn er das Bild aus der Klimakiste befreien würde … unbeschreiblich.
Seine Wut allerdings machte ihm zu schaffen. Er spürte, dass sie in ihm aufstieg wie das Blut in jenem Abfluss damals. Inzwischen kamen die Wutschübe häufiger und willkürlicher als noch vor einem Jahr. Er aber brauchte Kontrolle für sein Werk. Kontrolle.
Verdammt, dachte er und schob schnell den Apparat, den er bald wieder brauchen würde, in die finstere Ecke seines Schrankes, wobei er sich keine Sorgen machte, dass das Zimmermädchen überhaupt erkennen würde, was das war. Und wenn doch, dann hätte er einen Grund …
Wie Wachs in meinen Händen, dachte er.
Sie verließ ihr Büro in der Kriminalpolizeistation Lindau schon am späten Vormittag. Keiner störte sich daran, oft hatte man sie ohnehin noch nicht in der Kantine gesehen. Doch Cora fuhr nicht in die Stadt, sondern zum Überlinger Krankenhaus. Sie hatte dort bereits nach dem letzten Migräneanfall vor ein paar Wochen einen Termin für ein MRT vereinbart. Heute war es also so weit. Man würde ihr in den Kopf schauen, und sie hoffte, ihre Gedanken würden unsichtbar sein.
Die Anfahrt war abenteuerlich, rund um Überlingen wurde gebaut, zweimal verpasste sie die Abfahrt, musste einen großen Bogen fahren und fluchte, dass sie noch immer nicht das mobile Navigationsgerät in ihrem Privatwagen aktualisiert hatte. »Bitte wenden Sie jetzt«, sagte da gerade wieder die freundliche Stimme mitten auf der Bundesstraße.
Eine Stunde später wurde sie schließlich in die Röhre gefahren. Die Angst war sofort da. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie rang nach Luft, als gäbe es kein Davor und Danach, nur die Röhre um sie herum. In ihrer rechten Hand lag die kleine Klingel für den Notfall. Ihre Finger gruben sich in diese Verbindung zur Außenwelt. Schnell wegträumen, dachte sie.
Eine Wiese. Blumen, deren Farben prächtig konkurrieren. Sanfter Wind, der die Hitze des frühen Sommers angenehm bricht. Ich bin zehn Jahre alt. Ich stehe mitten auf dieser Wiese und wähne mich alleine auf dieser Welt. Mein Blick reicht bis an den Horizont – die Wiese liegt auf einem Hügel. Es gibt nichts sonst. Nur mich und die Welt der Geräusche und Farben. Ich breite meine Arme aus und beginne mich zu drehen, den Blick nach oben gerichtet. Drehen, immer weiter, den Hügel hinab …
Morgen werden sie kommen und mir sagen, dass ich keinen Vater mehr habe. Wenn man die Zeit schon kennt, ist es leicht.
Vorsichtig öffnete sie die Augen. An das Geräusch hatte sie sich gewöhnt, der Anblick indessen war ihr unerträglich. Sie hätte so gerne den Arm gehoben, um ein Gefühl für die Abmessungen zu erhalten. Ihr Fuß zuckte. Schnell schloss sie wieder die Augen, doch die Blumenwiese war verschwunden.
Sie kamen und sagten, der Vater habe einen Unfall gehabt. Nichts Schlimmes, hörte sie ihre Mutter sagen. Es klang nicht wie eine Frage, eher beschwörend. Die beiden Männer, die sie nicht kannte, sahen zu Boden, minutenlange Stille. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen, merkte, dass sie aufs Klo musste, wagte aber nicht zu gehen. Vorsichtig sah sie zur Mutter. Die schrie. Es war nur ein einziger kurzer Schrei. Nicht mehr und nicht wirklich laut. Die Umstände machten ihn lauter, als er wohl überhaupt hätte sein können. Doch der Schrei prägte sich ihr ins Gedächtnis ein wie ein Brandmal. Ein tiefer Schmerz. Sie konnte beobachten, wie die beiden Männer zur Mutter hinstürzten und sie festhielten. Dann halfen sie ihr, sich zu setzen. Die Mutter verbarg ihr Gesicht und weinte lautlos, die Männer standen unschlüssig und hilflos daneben.
Sie erinnerte sich. Warme Flüssigkeit rann ihre Beine hinab. Sie schämte sich und verlor keine Träne.
Ein Klicken verriet ihr, dass sie die ersten fünf Minuten überstanden hatte. Die Endlosigkeit hatte eine Überschaubarkeit erreicht und wirkte dennoch niederschmetternd. Sie dachte über Klaustrophobie nach und über Science-Fiction-Filme, in denen Menschen in dieser Art von Behältnissen eingefroren werden, um Zeitsprünge zu überleben. Und dann dachte sie an diese Hotels, die ihren Gästen Röhren als Schlafnischen anboten. Wie ging das? Der Knopf in ihrer Hand schien mit ihr zu flirten.
Alle Toten dürfen einmal als Wolke an ihren Lieben vorüberziehen, um zu sehen, wie es diesen geht. Besonders liebe oder besorgte Tote bekommen etwas mehr Zeit, dann ist es windstill. Alle Toten kehren wieder, dachte sie und schloss die Augen.
Ein weiteres Klicken verriet ihr – dieses Mal war sie ehrlich überrascht –, dass sie es beinahe geschafft hatte. Wie wohl die Kollegen über sie denken würden, immerhin war sie mitten im Büro umgefallen? Sie, die »Hornisse«, wie einer sie mal genannt hatte, weil sie die Lindauer Kollegen angeblich nur benutzte. Sie hatte mit vierundzwanzig als beste »Dipl.-Verwaltungswirtin-Polizei« in ihrem Jahrgang abgeschlossen. Der Innenminister hatte ihr damals das Diplom überreicht und ihr für die besondere Leistung gratuliert, eine gute Grundlage für eine steile Karriere. Jetzt, zehn Jahre später, wartete sie noch immer auf die richtige Stelle beim LKA. Den Gedanken, ernsthaft krank zu sein, verwarf sie.
Das Geräusch über ihr verstummte, und sie wurde aus der Röhre herausgefahren. Unsanft nahm man ihr die Kopfhörer gegen den Lärm von den Ohren und schickte sie in den Warteraum. Drei weitere Menschen saßen dort, sahen kurz zu ihr, dann vergrub jeder den Blick in seinen Händen, im Hintergrund hörte man zwei Schwestern über ihre Abendplanung plaudern. Angst hing im Raum, dazwischen das Kichern am Empfang. Warten. Tausend Gedanken und doch nur Leere im Kopf.
»Frau Merlin, kommen Sie bitte mit mir«, rief eine hohe Stimme aus dem Nebenzimmer. Cora erhob sich, ihre Beine schienen bleiern.
»Setzen Sie sich«, sagte der Arzt. Schwer saß er hinter seinem Schreibtisch aus Glas, kalt und nüchtern. Über ihm hing die Fotomontage von Coras Kopf. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf.
»Sie sagten, Sie leiden an Migräne, Schwindelanfällen und Sehstörungen?«, fragte der Arzt, ohne von seinen Unterlagen aufzusehen.
»Ja«, brachte Cora mühsam hervor.
»Nun«, der Arzt sah auf, um die Bilder über sich zu studieren, »ich kann nichts Auffälliges feststellen. Ihr Kopf ist gesund.«
Cora blies die Luft aus, die sie angehalten hatte, unabsichtlich. Sie merkte, dass sich ihr Mund zu einem viel zu breiten Lächeln verzog. »Kein Tumor«, flüsterte sie.
»Nein«, antwortete er, zog die Bilder herunter, tütete sie in einen Umschlag ein und reichte sie ihr. »Sie müssen die bei sich verwahren, wir können keine Bilder archivieren.« Er reichte ihr die Hand und wünschte »alles Gute«.
»Aber …«, murmelte sie und nahm den Umschlag entgegen. Sie dachte an den nächsten Migräneschub, die nächste Ohnmacht und die Sorge der Mutter, wenn sie sich mit tiefen schwarzen Rändern um die Augen und nach mehrmaligem Erbrechen aus dem Bad in ihr altes Kinderzimmer schleppte. »… was soll ich nun machen?«
Er sah sie erstaunt an. »Nun seien Sie doch erst mal froh, dass es nichts Ernstes ist. Lindau ist klimatisch nicht gerade ideal für Wetterfühligkeit.«
»Wetterfühligkeit?«
Er drehte seinen Stuhl wieder zu ihr. »Hören Sie, Sie haben keinen Tumor. Das ist gut. Ansonsten: vielleicht umziehen? Jobwechsel? Vielleicht haben Sie zu viel Stress. Migräne ist für uns Ärzte wie eine Fata Morgana, und klassifizieren lässt sich Schmerz auch nicht, die einen leiden, die anderen nicht. Kopfschmerzen hat jeder. Ich grad auch im Übrigen. Ach, und Sie sind ja schon über dreißig, also eine Hormonsache könnte es natürlich auch sein.«
Cora starrte ihn an. »Was erlauben Sie sich!«
Der Arzt sah sie verwundert an.
»Selbstverständlich bin ich froh, vor allem, dass ich nicht einer derart empathielosen Bagage ausgeliefert sein werde!« Cora war aufgestanden.
Der Arzt wurde rot, wohl eher aus Zorn, denn aus Scham. »Sie sollten besser gehen«, sagte er, dann zog er eine Augenbraue hoch – Cora würde diese Geste nie vergessen –, und ohne den Blick von ihr abzuwenden, rief er laut und deutlich: »Schwester, suchen Sie die Adresse eines Therapeuten heraus.«
Doch Cora ließ sich nicht ärgern. »Danke.« Sie zwinkerte dem Arzt zu und ging, nicht ohne sich freundlich von jenen zu verabschieden, die noch warteten.
Bloß raus. Die schwüle Sommerhitze traf sie mit voller Gewalt, und sie musste sich am Geländer festhalten. Als sie sich gefangen hatte, lief sie eilends über den Parkplatz, stieg in ihr Auto, drehte das Radio auf und legte den Kopf zurück. Die leiernde Kassette nahm ratternd ihren Dienst auf. The Doors, »Take it as it comes« in voller Lautstärke, sodass Passanten ihren Schritt verlangsamten und in ihr Auto starrten. Egal, sie war gesund, und was da sonst noch nicht in Ordnung war – es würde sie nicht umbringen.
Ihr Handy klingelte. »Cora Merlin.«
»Cora, meine liebe Zaubermaus.« Gelächter im Hintergrund.
»Sie sind so was von langweilig«, brummte Cora und legte auf. Ihr Partner konnte sich diese Jovialität nicht verkneifen. Cora wusste, dass sie sich energisch dagegen wehren musste, aber sie wusste auch, dass sie nicht gern gesehen war im Lindauer Morddezernat.
Es klingelte wieder.
»Ja?«
Räuspern am anderen Ende.
»Hören Sie, Fischl, kommen Sie zum Punkt, oder ich lege wieder auf.«
»Schon gut, Frau Kollegin, es gibt Arbeit.«
»Aha, geht das auch präziser?« Cora gab ihm in Gedanken eine Kopfnuss.
»Im ›Klein Paris‹ …«, verlegenes unterdrücktes Lachen, »irgendeine Ungereimtheit.«
»Mann, tun Sie nicht so verklemmt und sagen Sie, was Sache ist.«
»Wir dachten, das übernehmen Sie gerne selbst.«
»Nun passen Sie mal auf, Fischl, ich denke, es tut Ihnen ganz gut, wenn Sie das machen. Dann kommen Sie wenigstens mal in die Gesellschaft einiger Frauen.« Gelächter am anderen Ende, offensichtlich war das Telefon auf Lautsprecher gestellt und ihre Reaktion hatte gesessen. Cora legte auf.
Zu einer Weihnachtsfeier hatte Cora ihre Freundin als Begleitung mitgenommen. Michaela. Die war zufällig zu Besuch gewesen, und Cora hatte sie nicht alleine zu Hause lassen wollen. Es hatte als lustiger Abend begonnen, doch mit zunehmendem Alkoholgehalt waren die Kollegen anhänglicher geworden, und weil Cora schon immer gern ein wenig provozierte, hatte sie eng umschlungen mit Michaela getanzt. Schon war das Gerücht, sie sei eine Lesbe, im Umlauf gewesen.
Auf dem Nachhauseweg spätnachts und bei Eiseskälte hatte Michaela gesagt: »Was erwartest du in einer Kleinstadt?«
»Lindau ist doch keine Kleinstadt«, hatte Cora widersprochen und überrascht festgestellt, dass sie gerade »ihre« kleine Stadt verteidigte.
»Was denn sonst? Haha, du hast dich also schon verliebt?«
Cora zögerte noch. Sie verliebte sich nicht so leicht. Nicht in Menschen und auch nicht in Orte. Vielleicht aber sollte sie anfangen, sich einzulassen, nicht mehr an das LKA denken, nicht mehr an ihre Karriere, vielleicht würden die Kopfschmerzen … Die Kassette spielte »California Dreaming«. Wie passend, dachte sie und entdeckte vorne am Scheibenwischer einen Zettel. Jemand wollte ihr Auto kaufen, ihren alten Ford Fiesta mit Kassettenfach. Niemals.
***
Cora stellte ihr Auto auf dem Parkplatz der Polizeistation Lindau ab und lief auf das große weiße Gebäude zu. Kurz vor dem Eingang überlegte sie es sich anders und schlenderte zu den Fahrradständern. Sie hatte hier immer auch ein altes Fahrrad deponiert, damit sie in den Mittagspausen eine kleine Runde drehen konnte. Fischl hatte sich nicht mehr gerührt, geschweige denn entschuldigt, also beschloss sie, jetzt eine verspätete Mittagspause zu machen.
Frei von Schmerzen war es ein herrlicher Sonnentag, und spätestens auf der Landtorbrücke, als Cora ihren Blick über den See im Sonnenlicht schweifen ließ, entspannte sie sich. Als sie sich dem Stiftsplatz näherte, stieg sie ab und schob ihr Rad. Reges Treiben beherrschte die Straßen, die einem eigenwilligen System folgten. Es hatte anfangs eine Weile gedauert, bis Cora sich auskannte. In Lindau, so hatte sie gelernt, sind verschiedene historische Einflüsse parallel erhalten geblieben und haben so die Straßenführung maßgeblich beeinflusst. Das wiederum hatte auch dazu geführt, dass die Insel Lindau komplett unter Denkmalschutz gestellt wurde, was Cora durchaus beeindruckend fand. Ohnehin hatte sie ein Faible für Geschichte, und ihre Fähigkeiten als Synästhetikerin kamen ihr hierbei entgegen. Dass sie nun mitten in einer Stadt lebte, wo die Geschichte sichtbar bis ins frühe Mittelalter zurückreichte, war schon etwas Besonderes für sie.
Cora spähte nach einem freien Platz im »Theater Café«. An einem der kleinen runden Tische saß nur eine junge Frau, und Cora zögerte nicht lange.
»Entschuldigung, ist der Platz noch frei?«
Die junge Frau sah von ihrem Buch auf und hob die Hand über die Stirn, da sie trotz Sonnenbrille offensichtlich geblendet wurde und nicht voreilig antworten wollte. Cora lächelte.
»Na klar, setzten Sie sich.«
Cora drehte ihren Stuhl so, dass auch ihr Gesicht von der Sonne beschienen wurde, und blinzelte zufrieden. Sie bestellte sich einen Apfelkuchen und einen Latte Macchiato.
»Ein Wahnsinnssommer, nicht wahr?«
Cora sah verblüfft zur Seite, sie hatte nicht erwartet, dass die Jüngere sie ansprechen würde. Diese hatte ihre Sonnenbrille abgenommen und strahlte Cora mit ihren dunklen Augen an.
»Hab ich dich erschreckt?«, fragte sie.
»Nein, nein«, antwortete Cora schnell und musterte die andere. Sollte sie die Frau kennen? Sie war recht jung, höchstens Mitte zwanzig. Sie lachte. »Ich war total in Gedanken, war ein blöder Tag. Ich heiße Cora.«
»Ich bin Sara. Nicht so blöd wie meiner.«
»Bitte?«
»Na, dein Tag. Er kann nicht so schlimm gewesen sein wie meiner«, wettete Sara und rollte mit den Augen.
Cora machte eine einladende Geste. »Dann lass mal hören, was du zu bieten hast.«
»Ich habe mich noch vor dem Frühstück am Telefon mit meinem Freund gezofft, dann gleich im Anschluss mit meinem Vater, dann wollte ich frühstücken und habe die Kaffeekanne fallen lassen.«
Cora musste lauthals lachen.
»Du lachst, das war noch nicht alles. Ich bin an die Uni gefahren und dabei vermutlich an einer roten Ampel geblitzt worden – hierbei besteht noch Hoffnung –, und ich habe mich dann gleich noch mit einem Prof angelegt.«
»Aha, dann bist du also Studentin.«
Vor ihnen kämpfte gerade eine Frau mit ihrem Yorkshire Terrier, der partout nicht mehr getragen werden wollte, sondern offensichtlich größtes Interesse an den Tauben hatte.
»Ja, genau. Was machst du denn hier?«
»In Lindau?«
»Nun ja, das ist doch die zweitwichtigste Frage an einem Ort wie diesem, wo im Sommer mehr Touristen sind als Einwohner«, erklärte Sara. »Nun sieh dir die an. Wieso kauft man sich einen Hund für unter den Arm? Es gibt doch Handtaschen.«
Hysterisches Kläffen, endlich durfte »Daisy« auf den Boden, beschämt sah Frauchen sich um.
»Es gibt sogar Handtaschen in Hundeform.« Cora lachte erneut. »Also davon habe ich natürlich nur gehört.«
Der Apfelkuchen wurde mit dem Kaffee gebracht.
»Dann hatte ich wohl Glück, dass ich nicht wie eine Touristin aussehe und auch keinen Hund unterm Arm trage, sonst wäre ich wohl nicht in den Genuss dieses Platzes hier gekommen, hab ich recht?«, scherzte Cora und begann den Milchschaum zu löffeln.
»Hm, schon möglich.« Sara winkte der gestressten Kellnerin, die sich in ihrem rosa Kostüm mit weißer Schürze von Tisch zu Tisch quälte, und bestellte noch ein Wasser. »Also was hat dir den Tag verdorben?«, erinnerte sie an ihre Frage.
»Ich war im Krankenhaus für eine Kernspin von meinem Kopf.«
Sara sah verlegen aus. »Da hätt ich besser meine vorlaute Klappe gehalten.«
»Kein Problem. Mein Kopf ist gesund, aber ich hab mich wahnsinnig über den Arzt geärgert.« Cora trank einen großen Schluck und spülte ihren ganzen Ärger damit hinunter. Sie fühlte sich wunderbar.
»Okay. Und was machst du in Lindau?«
»Ich bin bei der Polizei«, sagte Cora kauend.
Sara stutzte. »Nicht dein Ernst, oder?«
»Doch, wieso überrascht dich das?«
»Nur so. Ein merkwürdiger Zufall.« Sara starrte dem Hund hinterher, der Frauchen in Richtung Taubenschar zog.
»Was studierst du denn?«
»Ach, querbeet, Schöngeisterei. Literatur, Geschichte, Kunst, Medien …« Sara machte eine abwehrende Handbewegung. »Eigentlich wollte ich auch zur Polizei, doch mein Vater hat mir da gehörig den Kopf gewaschen. Und jetzt lerne ich dich kennen. Das ist doch ein Fingerzeig, oder nicht?«
»Wollte dein Vater nicht, dass du zur Polizei gehst?«
Sara schüttelte vehement den Kopf. »Er ist strikt dagegen. Noch ist das nicht ausdiskutiert.« Sie prostete Cora zu.
Später radelte Cora wieder zur Polizeistation zurück. In der Tasche einen Zettel mit Saras Telefonnummer. Ein schöner Zufall. Auf Anhieb hatten sie sich hervorragend verstanden und die ganze Stunde, die sich Cora im Café gegönnt hatte, im angeregten Gespräch verbracht.
Mitten auf der Landtorbrücke klingelte Coras Handy, und sie musste anhalten, um es aus der Tasche zu kramen.
»Fischl, was denn noch?« Sie verdrehte genervt die Augen.
»Sie kommen wirklich nicht?«
»Was meinen Sie?«
»Ich habe Sie doch vor knapp zwei Stunden angerufen, erinnern Sie sich, Cora, oder ist was mit Ihrem Kopf?«
»Keine Angst, mein Kopf funktioniert tadellos«, erklärte Cora und schob ihr Rad. »Im Übrigen bin ich gleich da.«
»Wir waren in diesem Puff, das war schon komisch, vielleicht sollten Sie sich das auch ansehen. Aber wenn Sie eh gleich da sind …« Fischls Tonfall war ruhig und ernst, anders als sonst.
»Gut, dann bis gleich«, brüllte Cora gegen den Verkehrslärm ins Handy, ein Lkw war gerade über die Chelles-Allee vorbeigefahren. Am Kreisel auf Höhe der Parkplätze für den Ausflug zur Insel wildes Bremsen und Hupen.
Als sie Fischls Büro betrat, kochte er gerade Kaffee. Freundlich sah er sie an. »Hallo, Cora, möchten Sie auch einen?«, fragte er.
Verdutzt nickte sie und setzte sich an den Tisch. »Etwas nicht in Ordnung?«
»Nun …« Fischl verteilte den Kaffee. »Milch und Zucker?«
»Nur Milch, danke.«
»Also hier, bitte.« Er stellte einen Teller mit Keksen auf den Tisch.
Cora kratzte sich an der Stirn, das sah alles gar nicht nach Fischl aus, und sogar der Kaffee schmeckte gut.
Gedankenverloren knabberte er an einem Keks. »Scheiße gelaufen die letzte Zeit. So geht es nicht weiter.«
»Hm.«
»Sie wundern sich bestimmt, nicht wahr?«
»Ein wenig schon, um ehrlich zu sein.« Cora nahm einen Schluck. »Das klang vorhin am Telefon ganz anders. Aber ich wollte auch … also, mal reden.«
»Ach Herrgott, Cora. Sie müssen das doch verstehen. Die Kollegen, Ihre nicht ganz leichte Art …«
Cora hob die Hände in die Luft. »Worauf wollen Sie denn hinaus?«
»Ich will mich entschuldigen. Für die letzten Monate, wo ich Ihnen das Leben wirklich schwer gemacht habe. Das tut mir leid, so, jetzt ist es raus.« Fischl grinste verlegen. »Ich werde mich auch nicht mehr über Ihren Namen … Also keine Spielchen mehr. Einverstanden?«
Cora zog die Augenbrauen hoch und nahm einen großen Schluck Kaffee. »Wie das?«
»Nun, Sie mögen mich ja für einen Trottel halten, einen Dorftrampel und Schlimmeres mehr, aber ich bin nicht so. Eigentlich zumindest, eigentlich bin ich ein ganz umgänglicher Typ, und als Sie gestern Morgen umgekippt sind, da bin ich wirklich sehr erschrocken.«
»Das hatte nichts mit Ihnen zu tun«, erklärte Cora.
»Mag schon sein, trotzdem, was ich da vorhin am Telefon gesagt habe, das war absolut unnötig, und ich verspreche, dass es der letzte Ausrutscher dieser Art war.«
»Hm, meinen Sie den ersten oder zweiten Anruf?«
Fischl senkte beschämt den Kopf. »Sie haben ja recht, Cora, beides war ein Fauxpas und wird nicht wieder vorkommen.« Fischl reichte seine große Hand über den Tisch. »Entschuldigung angenommen?«
Cora zuckte mit den Schultern und schüttelte ihm die Hand. »Warum nicht.«
»Also, Cora, dann in Zukunft gemeinsam. Ich heiße Christian.«
»Gut, in Zukunft zusammen«, bestätigte Cora und grübelte, was ihren Kollegen zu diesem abrupten Wandel in seiner Haltung ihr gegenüber bewogen haben könnte. »Was gab es eigentlich im Bordell zu tun?«
»Genau, das Bordell, da hätte ich dich wirklich gebrauchen können«, murmelte Fischl und sah zu Cora, die schon wieder eine Augenbraue hochzog. Schnell beeilte er sich hinzuzufügen: »Oh nein, nicht so, wie du denkst. Es war nur schwierig, die Frauen waren so verstockt. Eine weibliche Kommissarin wäre sicher von Nutzen gewesen.«
Cora musterte Fischl, der müde wirkte. Tiefe Ränder lagen unter seinen Augen, die Frisur war längst keine mehr. Seine dunklen Locken standen wild durcheinander und waren zu lang für einen Kommissar. Sie biss sich auf die Lippen. Hatte sie das gerade gedacht? Zu lang für einen Kommissar? Auf der Stirn lag noch eine Spur Sonnenbrand. Christian also. Ihr war nicht klar gewesen, dass die Offerte des Vornamens gleichzusetzen war mit dem Du. Das war ihr gar nicht recht.
»Ist was?«, fragte Christian jetzt und schielte über den Rand seiner Brille.
»Nein. Du willst also, dass ich noch einmal hingehe?«
»Wir können das zusammen machen, ich weiß nur nicht, ob das viel bringt. Daher: Ja, ich würde dich bitten, dort noch einmal vorbeizuschauen.«
»Wenn du mir noch sagst, warum die Mordkommission bestellt wurde?«
»Ach so, ja, natürlich. Es gab einen Überfall und eine Morddrohung, es hat aber anscheinend die Falsche erwischt. Alles sehr verworren, und, wie gesagt, viel rausbekommen haben wir nicht. Das war eine geschlossene Gesellschaft, man kann das nicht anders nennen.«
»Okay, dann mach ich mich gleich auf den Weg und werde zusehen, dass ich mehr in Erfahrung bringe.«
»Prima.« Christian deutete auf den Keksteller. »Willst du nicht einen Keks probieren? Selbst gebacken.«
»Nein, nein, ich war in der Stadt zum Mittagessen, danke.« Sie sah von Christian auf den Keksteller. »Selbst gebacken?« Irgendwie war er sehr merkwürdig. Gerade schob er sich zwei Kekse in den Mund.
»Wo warst du eigentlich über Mittag? Ich hab mir Sorgen gemacht.«
»Jetzt übertreib mal nicht.« Cora bemühte sich um einen strengen Klang in ihrer Stimme.
»Na ja, du bist gestern einfach so … Ohne Vorankündigung.«
»Das war das erste Mal und wird nicht mehr passieren.« Cora holte sich doch einen Keks. »Wirklich lecker. Und um deine Frage zu beantworten: Ich war vorhin im Krankenhaus für eine Kernspin.«
»Ja?« Christian sah erstaunt auf. »Und? Ich meine, es ist doch alles in Ordnung, oder?«, fragte er vorsichtig, und als Cora kauend nickte, sagte er: »Gott sei Dank.«
Es klang ehrlich erleichtert, und Cora freute sich darüber.
Er schob den Teller in ihre Richtung. »Jetzt greif schon zu. Was willst du mit nur einem Keks?«
Mit dem Geschmack von Vanille und Zimt verließ sie das Büro ihres Partners. Wer bitte schön backte im Sommer Kekse?
***
Das »Klein Paris« war ein Bordell an der Bregenzer Straße im Gewerbegebiet von Lindau. Obwohl es früher Nachmittag war, saßen eine Handvoll Männer am Tresen und hatten ein Bier vor sich stehen. Allein der Anblick machte Cora traurig. Die Fenster waren abgedunkelt, im Hintergrund lief Musik, die nicht zur Tageszeit passte. Es war stickig. Die Männer musterten sie unverschämt, einer zwinkerte ihr zu. Ihre knielangen Shorts kamen ihr plötzlich unangemessen kurz vor.
In einer Ecke entdeckte Cora ein Pärchen. Er lag mit offenem Hemd in einem roten Ledersessel, eine Brünette räkelte sich auf seinem Schoß und gab leidenschaftslose Laute von sich. Ihm schien es zu gefallen, denn er bestellte lauthals noch eine Flasche Sekt, die ihm gleich aufs Zimmer gebracht werden sollte. Die Brünette erhob sich in ihrem Mieder und den Strapsen, beides offensichtlich zu klein.
Der Mann war ebenfalls sehr üppig, die beiden passten gut zusammen. Sein Schritt war bereits wankend. Er trug sein Hemd jetzt lässig über der Schulter und streifte Cora im Vorbeigehen absichtlich mit seinem nackten schweißigen Arm. Cora hielt den Atem an. Sie sah wieder zur Theke und konnte erkennen, wie zwei der drei Männer dem Pärchen neidvoll nachstarrten.
Für einen Moment musste sie die Augen schließen. Die Vorstellung, bei dieser Hitze Sex mit einem Fremden haben zu müssen, dessen Schweiß, dessen Körpergeruch man nicht kannte und dennoch in Kauf nahm. Cora schluckte den angehaltenen Atem schnell hinunter und verdrängte ihre Gedanken. Sie trat an die Theke und bestellte sich ein Wasser mit Eis. Nun, da das Pärchen verschwunden war, genoss sie die ganze Aufmerksamkeit der Anwesenden und warf vorsorglich einen grimmigen Blick in die Runde.
Als die Kellnerin mit dem Wasser kam, fragte Cora, ob sie an einem ungestörten Ort mit einigen der Damen sprechen könne. Das Glas Wasser noch in der Hand, bedeutete ihr die Kellnerin, ihr zu folgen. Cora rutschte von dem Barhocker und beschloss im selben Augenblick, die Shorts am Abend in die Waschmaschine zu packen, da half auch die ganze edle Ausstattung nichts. Dann ging sie hinter der Theke durch die Schwingtür in die Küche, an deren Ende sich eine weitere Tür öffnete.
Eine Terrasse mit wunderschönem Garten tauchte auf, am Tisch saßen fünf Frauen, alle sommerlich, doch völlig normal gekleidet, Shorts, Tops, Kleider. Zwei schnitten Obst, eine dritte blätterte in einer Zeitschrift, die beiden anderen tuschelten und lachten. Als sie Cora bemerkten, blickten sie erwartungsvoll auf.
Cora zeigte ihren Dienstausweis. »Ich habe gehört, Sie hatten Probleme?«, fragte sie ohne Umschweife. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Die Kellnerin stellte bereits ihr Glas vor einen freien Stuhl, und Cora nahm Platz.
Hätte sie nicht gewusst, dass dies die Gartenterrasse eines Bordells war, hätte sie die Frauen nie für Prostituierte gehalten. Allerdings schienen sie alle von auswärts zu kommen, zumindest hatte keine eine süddeutsche Färbung in ihrer Sprache. Zwei sprachen mit einem Akzent, der in Coras Ohren osteuropäisch klang. Alle waren sie hübsche junge Frauen, sicher keine über fünfunddreißig, womöglich nicht einmal über dreißig, die meisten blond. Also doch ein Klischee. Nur eine tanzte aus der Reihe. Sie stammte eindeutig aus Hessen, hatte rot gefärbte Haare und eine Frisur wie Uma Thurman in »Pulp Fiction«. Ohnehin erinnerte sie ein wenig an die Schauspielerin, wirkte etwas zu groß geraten und hatte diesen strengen Ausdruck im Gesicht.
Wie schon bei ihren Kollegen am Vormittag hatten die Frauen keine Lust, über das Vorgefallene zu sprechen. Cora entschloss sich, die Sache anders anzugehen. Sie plauderte einfach drauflos über das Wetter, die Arbeit und die vielen Schweizer, die ihren Weg regelmäßig aus den entferntesten Ecken in dieses Bordell fanden. Die Rothaarige hatte ihren strengen Blick abgelegt und war in hemmungsloses Gelächter verfallen, als sie von einem Kunden erzählte, bei dessen Motivationsrufen auf Schwyzerdütsch sie vor Lachen völlig aus dem Rhythmus gekommen war. Sagt die Hessin, dachte Cora bei sich. Die anderen hatten ihr zugestimmt und ihre peinlichsten Erlebnisse ausgeplaudert. Es herrschte eine durchaus entspannte Atmosphäre. Bei Fischl war das sicher anders, überlegte Cora und nahm eine Schüssel mit Obstsalat entgegen. Plötzlich fiel ihr ein, dass oben im ersten Stock zwei füllige Leiber aufeinanderklatschten. Die Banane in ihrem Mund schmeckte klebrig.
Irgendwann begannen sie vom letzten Abend zu erzählen. Einfach so, ein Wort ergab das andere, und so konnte Cora sich die Geschichte nach und nach zusammensetzen wie ein Puzzle.
In dem Bordell gab es einige Räume, die ähnlich den Vernehmungsräumen in Polizeidienststellen durch ein Spiegelfenster vom nächsten Raum getrennt waren. Dort konnten sich Kunden den Eintritt erkaufen und spezielle Wünsche an die Frauen hinter dem Fenster richten. Damit für sie der Spiegel zu einem Fenster wurde, mussten sie Geld in einen Automaten werfen, dann ging buchstäblich der Rollladen für sie hoch, und sie konnten die Frauen hinter dem Fenster nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Die Frauen jedoch hatten immer nur einen Spiegel vor sich, konnten ihr Gegenüber also nie sehen.
An dem vorangegangenen Abend war ein Kunde da gewesen, der nach der »schönen Ela« verlangt hatte.
Ela, den Namen hatte Cora auch von Fischl gehört. Doch viel mehr eben nicht. Weil Ela nicht da war, der Mann aber die zehnfache Summe geboten hatte, beschlossen sie, Bea mit blonder Perücke als Ela auszugeben.
»Ich hab einfach die Beleuchtung etwas niedriger eingestellt, und das Geld wäre natürlich für alle gewesen«, erklärte Bea und lächelte. »Als ich auf dem Stuhl saß, hatte ich schon ein mulmiges Gefühl. Ich meine, wir wissen doch kaum etwas über –«
»Bea«, unterbrach sie eine der anderen.
»Und was geschah weiter?«, fragte Cora.
»Ich hab gewartet. Das Geld klimperte im Automaten, und der Rollladen fuhr hoch. Aber da kamen keine erotischen Wünsche. Er hat sofort losgeschimpft, und das in einer Sprache, die ich nicht verstanden hab«, erzählte Bea und schluckte.
Cora sah, dass sie Angst hatte bei der Erinnerung. »Wie kommen Sie darauf, dass es Beschimpfungen waren?«
Bea schnaubte. »Glauben Sie mir, daran bestand kein Zweifel. Die Stimme … Das war schrecklich. Und zuletzt hat er gerufen: ›Ich sollte dich einfach umbringen.‹«
»Plötzlich auf Deutsch?«, hakte Cora nach.
»Ja, ich war total in Panik. Und dann ist der Stuhl durch die Scheibe geflogen, und er stand vor mir und lehnte sich hindurch.« Bea machte eine Pause, und die Rothaarige neben ihr legte ihr beschützend die Arme um die Schultern. »Er hat mich gepackt, so schnell, dass ich überhaupt nichts tun konnte. Ich konnte nur hoffen, dass jemand den Lärm gehört hat.« Bea hielt sich die Hände vors Gesicht.
Cora wunderte sich im Stillen, dass die Frauen vor nicht einmal einer Stunde noch behauptet hatten, dass es gar keinen Grund geben würde, mit der Polizei zu sprechen. »Was ist dann passiert?«, fragte sie mit leiser Stimme nach.
»Seine Hände steckten in Handschuhen. Er hat mich zu sich herangezogen, so nah, dass ich seinen Atem fühlen konnte.« Bea schüttelte sich. »Seine Augen waren so voller Wut. Plötzlich hielt er inne, starrte mich einfach nur an. Ich weiß nicht, wie lange das alles gedauert hat, mir kam es hinterher vor, als hätte ich in der ganzen Zeit überhaupt nicht geatmet. Wahrscheinlich waren es nur ein paar Sekunden. Anschließend hat er mich gegen die Rückwand des Zimmers geworfen.«
Eine weitere Frau war aufgestanden und hinter Bea getreten. Sie massierte ihr den Nacken und gab ihr einen Kuss auf die Haare. Bea griff nach ihrer Hand und lächelte nach oben.
Cora erfuhr, dass Bea geistesgegenwärtig nach unten ins Lokal gerannt war, um zu sehen, wer aus den Hinterzimmern nach vorne kam, doch es war zu viel Betrieb gewesen im Lokal. Nachdem sie den anderen von dem unheimlichen Gast berichtet hatte, beschlossen sie einstimmig, zum Schutz von Ela am nächsten Tag die Polizei zu rufen.
Plötzlich wurde es still, und Cora erkannte in den Blicken, dass sich hinter ihr etwas ereignet haben musste. Langsam drehte sie sich um und wusste sofort, wer da vor ihr stand. Wie sich diese große Frau mit den blonden Haaren lässig an den Türrahmen lehnte, eine Sonnenbrille in ihrem Haar, sodass die Strähnen, die ihr sonst zweifellos ins Gesicht gefallen wären, zurückgehalten wurden. Sie war nicht auf Model-Art schön. Sie strahlte vielmehr eine hingeworfene Schönheit aus wie in der ersten Skizze eines Malers. Unverfälscht.
Allein mit ihrem Auftritt brachte sie die Runde zum Schweigen.
»Was gibt es?«, fragte die blonde Frau.
»Wir sprechen über den Vorfall«, sagte Cora, und ihre Stimme klang blechern. Sie lächelte verlegen, in dem sicheren Gefühl, dass ihre Verwirrung offensichtlich war.
»Das war nicht der Rede wert«, kam es nüchtern vom Türrahmen her, und Cora war sentimental berührt von der Stimme. »Ich bin Ela«, fuhr die Frau fort, machte zwei elegante Schritte und reichte Cora die Hand.
Cora erwiderte den Händedruck. Ela, die schöne Ela. Ja, sie verstand. Ihr hatte der Anschlag gegolten. Es war durchaus ein wenig unheimlich, welche Wirkung von Ela ausging und wie unangefochten sie die Führungsrolle im Kreise ihrer Kolleginnen innehatte.
Ela selbst konnte der Geschichte nichts Neues hinzufügen. Ihr tue es leid, dass Bea sich diesen Mist hatte anhören müssen, der doch ihr gegolten habe. Was übrig blieb, war die geschlossene Meinung, in dieser Sache solle nichts mehr unternommen werden. Der Anruf bei der Polizei sei übereilt gewesen und letztendlich gewiss auch überflüssig, und sie, Cora, müsse verstehen, dass man mit den Herren der Polizei ohnehin nicht allzu viel zu tun haben wolle.
Coras Blick blieb an Bea hängen, die stumm zu Boden sah während dieser Beteuerungen. Auf die Frage, ob Ela eine Idee habe, wer ihr nach dem Leben trachten könnte, schüttelte sie den Kopf und erwiderte lapidar, dass es da sicherlich einige Ehefrauen und schwule Freunde von bisexuellen Männern gebe, sie aber keinen im Besonderen verdächtige.
Cora glaubte ihr kein Wort. Plötzlich befiel sie eine innere Unruhe, und sie wollte möglichst schnell weg von diesem Ort.
Die Frauen wirkten nicht mehr »normal«, sie schnitten nicht einfach Obst für einen Fruchtsalat – sie befanden sich auf einer kleinen Insel hier draußen im Garten unter freiem Himmel und führten doch ein völlig anderes Leben. Cora war in diese Idylle eingetaucht und würde nie etwas über deren wirkliche Sorgen erfahren. Sie rügte sich für ihre Vorurteile und hatte mit einem Schlag ein schlechtes Gewissen, dass sie gleich einfach durch die Tür nach draußen spazieren würde, in die Freiheit. Ihr ganzes Leben war im Grunde wie eine idyllische Insel im Vergleich zu dem dieser Frauen. Mittlerweile lebte sie sogar buchstäblich auf einer Insel …
***
Sara machte sich am CD-Player zu schaffen, im nächsten Moment erklang gut gelaunte Gitarrenmusik mit einer schmeichelnden Männerstimme. Ungewohnt in Coras Ohren, doch schon nach wenigen Akkorden und Textzeilen ließ sie sich gefangen nehmen und entdeckte auch inmitten der guten Laune eine gewisse Melancholie des nicht Erreichbaren. Von der Küche aus beobachtete sie, wie Sara das CD-Regal durchstöberte und sich dabei im Rhythmus ihrer mitgebrachten Musik wiegte. Der Anblick wirkte vertraut, als wären sie alte Freundinnen und hätten sich nicht am selben Nachmittag erst kennengelernt. Irgendwie erinnerte Sara sie an Michaela vor etwas mehr als zehn Jahren. Cora wunderte sich, wie wohl sie sich mit diesem Gedanken fühlte, in ihre Vergangenheit abzutauchen. Jetzt drehte sich Sara um und lachte.
»Wie ich sehe, hast du sonst einen eher ausgefallenen Musikgeschmack.« Sie hielt drei CDs von den Nighthawks in die Höhe. »Kenn ich nicht, aber du scheinst sie zu mögen, die Nachtfalken.« Sie grinste. »Ist das überhaupt okay, was ich da mitgebracht habe?«
Cora hob den Daumen. »Klar, warum nicht. Und Gizmo scheint’s auch zu gefallen.«
»Gizmo?« Sara sah sich überrascht um.
»Ja.« Cora lachte. Ihre wenigen Besucher hatten schon oft den schneeweißen Kater übersehen, da sich dieser mit Vorliebe auf ihrem weißen Sofa in die weiße Decke kuschelte. »Dort drüben auf dem Sofa«, erklärte sie.
Sara wandte den Kopf und sah die rosa Innenohren der kleinen Katze. »Du meine Güte, der ist ja nahezu unsichtbar«, sagte sie grinsend und ging langsam auf die Katze zu, um sie zu kraulen. »Mmh, das ist gut, hm?«
Als Antwort stimmte Gizmo ein lautes Schnurren an und streckte seinen Kopf Saras Fingern entgegen.
»Was läuft da eigentlich?« Cora sah wieder zum CD-Player hin.
»Jack Johnson, da steh ich gerade total drauf. Aber deine Musik ist durchgehend auch mein Fall, ohne Frage. Kaputt, bekifft und trauerschwer, da können wir uns, was Musikgeschmack anbelangt, durchaus die Hand reichen. Später legen wir die Nighthawks auf, ja?«
»Die sind nicht trauerschwer«, sagte Cora augenzwinkernd. »Eher Lounge.«
»Umso besser.«
Cora dachte an die vielen Abende, an denen sie mit Kopfhörern und einem Glas Wein auf dem Sofa saß und in die Musik eintauchte. Kopfkino. Wenn sie es sich jetzt so recht überlegte, hatte auch die stringente Leichtigkeit des Jack Johnson eine soghafte Wirkung.